Ein Buchstabe
Ein Buchstabe!
An hellen Sommertagen sieht man von dem breiten, auf einem Pfahlgerüst ruhenden Holzstege aus, der in dem Ostseebade Cranz fünf Minuten weit über den Seestrand geführt ist, fern im Nordosten die weißen Sanddünen der Kurischen Nehrung aufleuchten.
Keinen trostlos öderen und weltverlasseneren Strich Landes kann es geben als den dort zwischen den beiden großen Wassern – Sand, Sand und Sand, bis zweihundert Fuß hoch aufgeschüttet, im Sturme wandelnd, alles Leben begrabend!
Ich schlenderte mit dem alten Regierungsrat v. D. da über den Steg, als im Sonnenschein einige der entfernten Kuppen blitzten. Er hatte eben Hans Hoffmanns grandiose Erzählung „Der Landsturm“ gelesen, die in dem schrecklichen Winter von Anno Zwölf zwischen jenen Sanddünen spielt, und konnte nicht müde werden, die wahrhaft dichterische Schilderung dieser grausig erhabenen Einsamkeit in immer wechselnden Stimmungsbildern von erstaunlicher Anschaulichkeit zu rühmen. „Der hat’s gesehen,“ sagte er. Er erinnerte dann auch daran, daß ein anderer Hoffmann – Theodor Amadeus, der Verfasser des „Kater Murr“ und der „Kreisleriana“ – auch eine in seiner Jugend vielgelesene, jetzt vergessene Novelle, „Das Majorat“, geschrieben habe, in welcher das Schloß den Namen Rossitten führe. Eine Dorfschaft Rossitten liege dort hinter den Sandbergen auf der Haffseite, „übrigens auf dem einzigen etwas ausgedehnteren Plan fruchtbareren Landes,“ fügte er hinzu. „Die Geologen behaupten, diese sich noch heute weit vorbuchtende Oase habe einst Zusammenhang mit dem gegenüberliegenden Festlande gehabt, sei dann durch die Seefluten als Insel abgesprengt und endlich durch zwei Sandbänder nördlich und südlich gleichsam festgebunden worden. Von alters her befanden sich da Wohnstätten. Der Deutsche Orden baute ein festes Amtshaus und eine Kirche; zum Sprengel gehören die elenden Fischerdörfer auf und ab, deren Insassen aus meilenweiter Entfernung Sonntags sich zum Gottesdienst einzufinden pflegen, oft eine stürmische Bootsfahrt, im Winter eine Schlittenreise über das gefrorene Haff nicht scheuend.“
Nachdem er dann eine Weile nachdenklich neben mir hergegangen war, schien ihm etwas sehr Vergnügliches einzufallen, denn er fing halblaut zu lachen an. „Ich könnte Ihnen auch eine Geschichte von Rossitten erzählen,“ nahm er dann wieder das Wort, „in der ich einmal – es sind viele Jahre darüber vergangen – selbst mitgespielt habe. Sie hat den Vorzug, von Anfang bis zu Ende wahr zu sein, wenn das in Ihren Augen ein Vorzug ist.“
Ich bat natürlich darum.
„Eine Geschichte ist’s eigentlich kaum zu nennen,“ schränkte er sich sogleich ein, „nur eine kuriose Begebenheit, die aber so recht charakteristisch für diesen ganz einzigen Erdenwinkel ist.
Der Tourist findet in Rossitten des Bemerkenswerten genug, um sich ein paar Stunden oder auch einen halben Tag recht gut zu unterhalten. Zur Sommerfrische möchte schon nicht leicht jemand den Ort wählen. Gar Sommer und Winter dort zu hausen, so fast gänzlich abgesperrt von der Welt, dazu muß schon, wenn man nicht zu den eingeborenen Bauern und Fischern gehört, die zwingendste Notwendigkeit nötigen. So eine zwingendste Notwendigkeit bestand aber für zwei Männer, von denen der eine studiert, der andere wenigstens eine gute Bürgerschule durchgemacht hatte: für den Geistlichen und für den königlichen Rentmeister, der zugleich Polizeiverwalter war. Sie repräsentierten in diesem Orte so ungefähr Staat und Kirche.
Ich will keine Namen nennen. Der Rentmeister war einmal Feldwebel gewesen und hier eingesetzt worden, wo ein Mann des unbedingten Vertrauens gefordert wurde. Er hatte diesen Posten nun schon länger als zwanzig Jahre zur Zufriedenheit der Regierung und auch seiner Untergebenen verwaltet und sich in den Gedanken hineingelebt, in ihm auch sein Dasein zu beschließen. Er war kein großer Geist, aber ein starker Charakter und von unerschütterlicher Rechtlichkeit, starrköpfig und gutmütig zugleich und an selbständiges Handeln nun schon so gewöhnt, daß er sich in einer engeren Bureaustellung neben andern Subalternbeamten und unter steter Kontrolle eines sich seiner Würde bewußten Vorstehers kaum noch denken konnte. Hier in Rossitten war er den Leuten mehr als irgend ein Herr Regierungsrat in Königsberg oder selbst als der Oberpräsident, und sie dachten sich eigentlich den König gleich über ihm, an den aber nicht so leicht zu appellieren war. Er that auch gewiß keinem wissentlich unrecht und verlangte nur, daß nicht viel räsonniert würde, da er ja doch immer nur anordnete, was dem Ganzen nützlich und nach seiner langen Erfahrung den besonderen Verhältnissen der Ortschaft gemäß war. Man hütete sich in Königsberg auch, ihm dreinzureden, weil man’s ja unmöglich besser verstehen konnte, und stärkte so das Bewußtsein seiner diktatorischen Unfehlbarkeit. Es ist wahr, er verfuhr mitunter etwas despotisch, aber immer aus aufrichtigem Wohlwollen; so strenge er sein konnte, wenn die Ordnung aufrecht zu halten war, so freundlich nahm er sich auch der armen Insassen mit Rat und That an, wenn sie in Not waren, und verstand gelegentlich durch die Finger zu sehen, wenn der Buchstabe des Gesetzes nicht beachtet wurde.
Mit einem Wort: er regierte patriarchalisch, und das ließ man sich gern gefallen, schon weil die weite Reise vom Beschwerdeführen abschreckte. Er wußte mit den Leuten in ihrer Sprache zu reden, und das will nicht nur gelernt sein, sondern fordert besondere Anlagen. Von Geburt war er ein Litauer. Da er nun meinte, daß er sich nirgends in der Welt in amtlicher Stellung so wohl fühlen könnte als in Rossitten, auch durch einen Orden ausgezeichnet wurde, der ihm in seinem Wirkungskreise womöglich noch mehr Ansehen gab, so schaute er längst schon nicht mehr ehrgeizig über seinen Amtsbezirk hinaus und setzte seinen besonderen Stolz darein, da, wo er war, für unentbehrlich zu gelten. Alles in allem: das Muster eines Beamten vom alten preußischen Schlage, zu dem vor mehr als hundert Jahren der zweite König den sicheren Grund gelegt hat.
Anderer Art war der Herr Pfarrer, ein noch jüngerer Mann. Aus Neigung mochte er schwerlich hierher auf die Kurische Nehrung gegangen sein, zumal das geistliche Amt ihm und seiner Familie knapp genug den notwendigen Unterhalt schaffte. Er besaß keine geringe theologische Gelehrsamkeit, war sogar Licentiat und philosophischer Doktor und arbeitete emsig für Fachblätter. Später sind von ihm auch selbständige theologische Streitschriften ausgegangen, die seinen Namen in weiteren Kreisen bekannt machten. Er gehörte also nicht recht unter die Bauern und hatte die Pfarre auch wohl nur angenommen, weil sie ihm angeboten wurde und die Möglichkeit gab, seine langjährige Braut heimzuführen. Nun predigte er aber schon so manchen Sommer und Winter in der Kirche zu Rossitten, taufte, segnete ein und begrub, immer seiner Gemeinde nicht ganz verständlich, wenn er sich selbst ein Genüge leistete, aber um so mehr von ihr als ein großes geistliches Licht angestaunt und in Ehren gehalten. Er merkte auch bald, daß er keine Gefahr lief, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er seine Predigten in nicht zu langen Zwischenräumen wiederholte, und fand es dann überflüssig, den Vorrat zu vermehren, benutzte aber um so eifriger die freie Zeit zu gelehrten Bibelstudien und pries in voller Gottergebenheit sein Schicksal, an diesen einsamen Ort verschlagen zu sein, der ihm seinen Liebhabereien nachzugehen gestattete. Uebrigens scheute er keine Fahrt durch den glühenden Dünensand und keine stürmische Winterreise, wenn sein geistlicher Beistand erfordert wurde. Die Nehrunger gaben zu, daß sie einen tapfern Pfarrer hätten, auf den jederzeit Verlaß sei. Von seinen Sporteln ließ er sich freilich ungern etwas abbetteln; er war aber auch selbst arm und ging meist wie ein Bauer gekleidet.
Der Rentmeister und der Pfarrer waren gute Freunde. Nicht daß sie in ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen durchaus übereinstimmten. Der Rentmeister war ein Praktiker, der Pfarrer ein Theoretiker. Der ehemalige Unteroffizier und Feldwebel hatte sich früher einschränken müssen und führte dagegen hier, bei aller Bescheidenheit der Haushaltung, ein gewisses Wohlleben. Seine treffliche, aber wenig gebildete Frau spielte ihre eigene Köchin, hatte ihre Kuh im Stall und auf der Weide, ihr Schweinchen im Koben, ihre Hühner auf dem Hof und ihre Gänse und Enten auf dem Teich. Der Rentmeister fühlte sich „herrschaftlich“, während er sonst zu den Honoratioren nicht gehört hätte. So erschien er sich denn als der wohlhabende Mann, während der Pfarrer, wenn er seine Lage mit der vieler seiner Amtsbrüder verglich, immer genötigt war, sich ein wenig unter seinen Stand zu ducken, seiner kränklichen Frau auch keine schweren Haus- und Wirtschaftslasten [274] aufbürden konnte. Freilich war er der studierte Mann, las die alten Klassiker in der Ursprache und hatte die neueren in seiner Bibliothek stehen, durfte aber auf der anderen Seite kein sonderliches Interesse für diese Dinge voraussetzen und mußte daher im Umgang ein paar Stufen hinuntersteigen, um den ungefähr gleichen Boden zu gewinnen. Der Rentmeister wieder bildete sich etwas auf seinen gesunden Menschenverstand ein und war sehr geneigt, ihn überhaupt höher zu schätzen als alle Buchgelehrsamkeit, mit der man doch nicht ‚den Hund vom Ofen locke‘. Ganz ohne Litteraturkenntnis war aber auch er nicht und liebte es, gelegentlich im Gespräch ein Citat anzubringen, das nur öfters den Fehler hatte, nicht gut zu stimmen. Auch brauchte er gern Fremdwörter, mitunter mit größtem Ernst in sehr sonderbarer Bedeutung, worüber der geistliche Herr innerlich lachen mußte. Aber es gab doch auch viel Vereinendes: ihre persönliche Tüchtigkeit, ihre gut preußische Gesinnung, politische Uebereinstimmung im großen Ganzen, Gutmütigkeit und Menschenfreundlichkeit, die jeder auf seinem Gebiet und mit seinen besonderen Mitteln bewährte. Sie tranken beide gern „gemütlich“ ein Glas Bier oder ein Glas Grog, was nur innerhalb ihrer vier Wände geschehen konnte, waren mit den Frauen, die sich gut vertrugen, gerade die erforderlichen Vier zu einer Bostonpartie, spielten auch Domino und Puff und rauchten einen kräftigen Tabak, den sie gemeinsam bezogen, aus langen Pfeifen. Und was sie ganz besonders innig und dauernd vereinigte: jeder hatte einen anderen Thätigkeitsbezirk und keiner konnte dem anderen in die Quere kommen, während bei geselligen Zusammenkünften jeder etwas dem andern Neues mitzuteilen vermochte. Staat und Kirche verkehrten in bestem Einvernehmen, und an eine Trennung dachte gewiß keiner von ihnen. –
Große Verwunderung war daher bei der Regierung, als eines Tages beim Präsidenten ein Brief aus Rossitten einlief, in welchem der Rentmeister so bestimmt seine Versetzung beantragte, daß an der Ernstlichkeit seines Willens gar nicht gezweifelt werden konnte. Es war auch der Grund dieses dringenden Wunsches angegeben. Er hätte sich mit dem Herrn Pfarrer veruneinigt; und da sie beide in Rossitten doch die einzigen Menschen wären, die gesellschaftlich miteinander verkehren könnten, er sich jetzt aber das Pfarrhaus verschlossen habe und in dieser Düneneinsamkeit doch unmöglich als ein Einsiedler leben könne, so bleibe ihm nichts übrig, als eine andere Heimstätte zu suchen. Jedes Amt sei ihm genehm, nur bitte er, recht schnell von der Qual befreit zu werden, dem Herrn Pfarrer in Rossitten aus dem Wege gehen zu müssen.
Das war doch wundersam! Der Rentmeister, der mit der Kurischen Nehrung so fest zusammengewachsen schien, daß man ihn nach seinen Wünschen zeitlebens versorgt geglaubt hatte, wollte plötzlich fort? Ein dort ganz unersetzlicher, höchst pflichttreuer Beamter! Und aus welchem Grunde? Mit dem Pfarrer hatte er sich überworfen, der doch, wie man wußte, sein bester Freund gewesen war! Und gleich so arg, daß er meinte, mit ihm nicht mehr dieselbe Luft atmen zu können! Das war ja ganz unglaublich! Der Präsident berief den Rat, der das Decernat in Angelegenheiten der Kurischen Nehrung hatte, mich selbst nämlich, und schickte mich erst einmal nach dem Konsistorium, dort Rücksprache zu nehmen, was denn in aller Welt geschehen sein könnte, und wie etwa auf den geistlichen Herrn einzuwirken sei, damit der anscheinend tief gekränkte Rentmeister sein Versetzungsgesuch zurücknehme.
Der Präsident des Konsistoriums ließ sich den Fall vortragen, nahm dann aber statt aller Antwort einen Brief amtlichen Formats von seinem Tisch auf und reichte ihn mir lächelnd zu. Ich mußte hell auflachen, als ich ihn gelesen hatte. Der Pfarrer von Rossitten bat darin in Ausdrücken, die seine ganz verzweifelte Stimmung kennzeichneten, um seine schleunigste Versetzung in irgend eine andere Stelle. Er sei bereit, jede anzunehmen, und bitte, über ihn zu verfügen. Nur in Rossitten könne er nicht länger bleiben. In Rossitten seien ‚er und der Rentmeister die beiden einzigen Menschen, die gesellschaftlich miteinander verkehren könnten‘. Sie wären vorher die besten Freunde gewesen. Nun aber sei etwas zwischen sie getreten, was jeden außeramtlichen Verkehr zur Unmöglichkeit mache und selbst den amtlichen aufs äußerste erschwere. Er sei weit entfernt, über den hochgeachteten und in seiner Weise hochverdienten Mann Klage erheben zu wollen, wünsche aber, ihm aus dem Wege zu gehen, möge damit für ihn selbst auch die schwerste Einbuße verbunden sein. Er habe zum Anachoreten keine Anlage und glaube, Gott nicht in rechter Weise dienen zu können, wenn er sich in Feindschaft mit dem einzigen Menschen wisse, auf dessen Umgang er in dieser Einöde angewiesen sei.
Welche sonderbare Uebereinstimmung auch in den Motiven! Einzelne Sätze erschienen fast wie abgeschrieben.
Nun kamen die beiden Präsidenten schnell überein, ich solle nach Rossitten geschickt werden, den bösen Fall an Ort und Stelle zu untersuchen und festzustellen, an wem eigentlich die Schuld dieses Zerwürfnisses liege.
So geschah es denn auch. Da ergab sich denn folgendes:
Die früheren Freunde waren wirklich gegeneinander ganz so erbittert, wie das ihre Schreiben annehmen ließen, aber zugleich auch sehr verwundert, zu erfahren, daß sie zu gleicher Zeit auf den Gedanken gekommen, ihre Abberufung zu verlangen.
Ich verhandelte mit jedem einzeln. Und da zeigte denn der Rentmeister ein verlegenes Gesicht und meinte, die Sache selbst sei ja eigentlich nicht der Rede wert und hätte unter anderen Umständen auch wirklich keine Bedeutung. Die kränkende Absicht habe aber doch zu deutlich zu Tage gelegen und er dürfe sich so etwas in seiner amtlichen Stellung nicht gefallen lassen. Er wisse ja, daß der Herr Doktor ihm in gelehrten Dingen weit über sei; deshalb hätte er ihn aber doch nicht als einen ungebildeten Menschen hinstellen und verspotten dürfen. Und das habe er gethan. Der Pfarrer wieder leitete seine Verteidigung ebenso ein, meinte dann jedoch, der gute Rentmeister sei gar zu empfindlich und vertrage auch nicht die sanfteste Zurechtweisung. Ein geringfügiger Anlaß habe nun beiden die Ueberzeugung verschaffen müssen, daß zwischen ihnen ein Spalt klaffe, der nur mit trügerischen Decken so lange verborgen gehalten sei. Er fügte hinzu, daß er freilich mit christlicher Liebe alle ihm in maßloser Weise zugefügte Unbill verzeihen könne und wolle, daß es ihm aber nicht länger möglich sei, mit einem im Grunde so ungebildeten Mann auf gleichem Fuß zu verkehren. Ein Ausgleich sei schon deshalb undenkbar, weil der Rentmeister ihn hasse und nie die kleinste, wenn auch wohlverdiente Demütigung verzeihen werde.
Nach und nach kam’s denn heraus. Der Rentmeister hatte vor einiger Zeit an das Pfarramt ein Schreiben gerichtet, in welchem er aufs höflichste zu bedenken gab, ob es nicht möglich sei, von der Kanzel herab gewissen Unordnungen der Kirchgänger zu steuern, die gewöhnt wären, nach dem Gottesdienst sofort im „Kruge“ vorzusprechen und dort nach überreichlich genossenen Spirituosen tumultuarisch zu hausen, was bei den ruhigen Einwohnern Aergernis errege. Er habe letzten Sonntag Ordnung zu schaffen gesucht, sei aber mit seiner Autorität nicht durchgedrungen.
Dieses unglückliche Wörtchen „Autorität“ hatte den Zwist entzündet. Wie war das möglich gewesen?
Der Rentmeister hatte es mit einem h in der Mitte – Authorität – geschrieben, und der Pfarrer, der selbstverständlich den Unfug in der Schenke nicht billigen konnte, aber vielleicht den Vorwurf herausfühlte, daß seine Predigt sich nicht wirksam genug erweise, hatte in seiner eigentlich ganz überflüssigen Antwort zwar ein heiliges Donnerwetter für den nächsten Sonntag versprochen, am Schluß jedoch angefügt, übrigens erlaube er sich ganz ergebenst zu bemerken, daß das Wort Autorität ohne h geschrieben werde.
Diese Rüge war dem biederen Rentmeister in die Krone gefahren. So harmlos die Bemerkung scheinen konnte, er witterte böse Absicht. Sie gehörte wirklich nicht in das amtliche Schreiben und mochte trotz der gegenteiligen Versicherung des Pfarrers die Bedeutung eines sanften Stachels gehabt haben sollen.
Jedenfalls setzte sich der Rentmeister, statt eine freundschaftliche Aussprache herbeizuführen, sofort mit rotem Kopf hin und schrieb eine Entgegnung, in der es etwas spöttisch hieß, er danke für gütige Belehrung, glaube aber im besten Recht zu sein, auch künftig und bis an sein hoffentlich seliges Ende Authorität zu schreiben, da er das Wort so wohl hundertmal im Amtsblatt gelesen habe, welches ihm eine bessere Authorität sei als der Herr Pfarrer, dessen Gelehrsamkeit er sonst durchaus in Ehren halten wolle.
Der Pfarrer schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Eine solche Verstocktheit! Noch glaubte er aber nur an einen augenblicklichen Aerger des guten Freundes, der rasch verfliegen werde, wenn dieser sich erst überzeuge, daß er wirklich im Unrecht sei. Er antwortete daher in sehr ruhiger Schreibweise, der Herr Rentmeister sei doch wohl in einem allerdings leicht verzeihlichen Irrtum besangen. Das Wort Autorität stamme aus dem Lateinischen: autoritas oder auch auctoritas, was Würde, Ansehen bedeute. Sollte [275] es zu dem griechischen αύτός Beziehung haben, so sei zu bemerken, daß auch dieses mit einem τ, nicht ϑ geschrieben werde. Uebrigens müsse der Herr Rentmeister sich wohl einer Nummer des Amtsblattes erinnern, welcher ein Druckfehler untergelaufen sei; mehr als eine Nummer werde er ihm wohl als Beweisstelle nicht vorlegen können.
Nun hatte der gute Rentmeister natürlich nichts Eiligeres zu thun, als einen Band des Amtsblattes nach dem andern zu durchblättern, um das böse Wort aufzufinden. Daß er sich geirrt haben könne, war ihm undenkbar. Nachdem er bei diesem Suchen die ganze Nacht zugebracht und doch erst einen kleinen Teil des Materials, leider ohne Erfolg, bewältigt hatte, meinte er, jedenfalls nicht vierundzwanzig Stunden ohne eine gepfefferte Antwort hingehen lassen zu dürfen. Er schrieb also, es sei ihm sehr gleichgültig, ob das Wort aus dem Lateinischen, Griechischen oder Hebräischen herstamme, da es jedenfalls jetzt gut preußisch sei. Dem Herrn Doktor müsse er anheimgeben, künftig an ihn deutsch zu schreiben. Das eine Krixelkraxel könne er gar nicht lesen, von einem großen D sei aber überhaupt keine Rede, sondern von einem th, und das wolle er sich denn auch ausgebeten haben.
Den Pfarrer, Licentiaten und Doktor erfaßte ein tiefes Mitleid über die Unwissenheit und schier unglaubliche Befangenheit des alten Freundes. Er hielt es für Christenpflicht, den sonst so braven Mann aufzuklären, damit er sich nicht auch anderwärts blamiere, und so belehrte er ihn denn in einem langen, freilich etwas schulmeisterlich gehaltenen Schreiben, daß es sich um griechische Buchstaben handle, das tau (τ) unserm t, das theta (ϑ) unserm th gleichwertig sei, autos (αύτός) selbst heiße und mit einem tau geschrieben werde. Er würde sich wohl auch inzwischen überzeugt haben, daß das preußische Amtsblatt ganz unschuldig sei, da der in Aussicht gestellte Nachweis bisher nicht erbracht worden sei. Er möge also einfach seinen Irrtum eingestehen; man könne ja doch ein Ehrenmann und trefflicher Beamter sein, auch wenn man keine alte Sprache verstehe und in der Rechtschreibung einmal einen Schnitzer mache.
Dieser Brief nun, offenbar gut gemeint, aber der verärgerten Stimmung des Rentmeisters schlecht angepaßt, schlug dem Faß den Boden aus. Die Entgegnung war sackbohnengrob. Der Pfarrer möge seine Schulweisheit auskramen, wo er sonst Lust habe, solle sich aber nicht einbilden, es mit einem Schuljungen zu thun zu haben! Sein geistlicher Hochmut sei unleidlich. Uebrigens habe ein preußischer Beamter mehr zu thun als die alten Bände des Amtsblattes durchzusehen. Das überlasse er dem Herrn Pfarrer, der ja überflüssige Zeit genug habe, aber sie besser auf die Ausarbeitung seiner Kanzelvorträge als auf die Korrektur amtlicher Erlasse verwenden könne. Seine Predigten wisse Schreiber dieses schon auswendig und werde sich deshalb künftig des Kirchenbesuchs enthalten. Daß er das Pfarrhaus nie wieder betrete, verstehe sich ohnedies von selbst!
Darüber war nun wieder der Pfarrer beleidigt. Es folgte nur noch eine knappe Anzeige, daß er mit dem Abbruch aller gesellschaftlichen Beziehungen unter bewandten Umständen ganz einverstanden sei, und damit brach auch der Briefwechsel ab.
Die ergrimmten Gegner versuchten nun eine Weile, sich ohne einander zu behelfen. Mit welchem Erfolge, das hatte sich gezeigt.
Vielleicht hätten sie ein freundschaftliches Zusammengehen nicht so schwer vermißt, wenn sie wirklich Feinde gewesen wären. Aber von einer eigentlich feindlichen Gesinnung war auf keiner Seite die Rede. Im Gegenteil bewahrten sie sich beide ein starkes Gefühl von Hochachtung und bedauerten lebhaft, daß das gute Verhältnis durch so ein Nichts gestört worden sei, das sich freilich nicht wieder beseitigen ließe. Sie kamen mit ihren Gedanken gar nicht los von dem Unfall und verrannten sich immer tiefer in die Vorstellung, daß zwischen ihnen eine Scheidewand errichtet sei, die nicht mehr niedergeworfen werden könne. Natürlich standen die Frauen auf der Seite ihrer Männer und sprachen gleichfalls kein Wort mehr miteinander. Selbst die Kinder wurden in Mitleidenschaft gezogen, verhöhnten sich gegenseitig und führten im Dorf Prügelscenen auf, die bei den Bauern allerhand übles Gerede veranlaßten. Es ging so nicht weiter. Zu gleicher Zeit war man im Rentamt und im Pfarrhause zu dieser Erkenntnis gekommen, und da waren nun die beiden Schreiben abgegangen.
Ich gab mir natürlich die aufrichtigste Mühe, eine Versöhnung zustande zu bringen, mußte aber bald ihre Vergeblichkeit einsehen. Freilich reichten der Rentmeister und Pfarrer einander die Hand und versprachen amtlich, wieder in friedlicher Weise zu verkehren und der Gemeinde kein Aergernis zu geben. Aber damit war doch, wie ich sehr gut wußte, nur wenig gewonnen. Es half auch nichts, daß der Pfarrer anerkannte, nicht ganz schicklich in einer amtlichen Korrespondenz einen Schriftfehler berichtigt zu haben, und der Rentmeister zugab, in seiner berechtigten Empfindlichkeit seine Ausdrücke nicht vorsichtig genug gewählt zu haben. Das lag nur so auf der Oberfläche und deckte die Grube nicht haltbar zu. Der Rentmeister fühlte, daß nun für alle Zeit gleichsam ein Strich gezogen sei, bis zu dem er Arm in Arm mit dem Pfarrer gehen könnte, und der Raum davor dünkte ihn plötzlich eng und schmal; jenseits aber lag ein Irrgarten, in dem sein Auge sich nicht zurechtfand, der Herr Doktor sich aber ganz frei bewegte. Der Rentmeister wußte jetzt, daß es nur eine thörichte Einbildung gewesen sei, als ständen sie auf gleichem Fuße. Er hatte sich eine Blöße gegeben, und wenn er nun den Pfarrer sah, merkte er eine Kälte um das Herz herum, als ob da eine Stelle nackt sei und sich nicht verhüllen ließe. Je freundlicher der Pfarrer ihn anredete, um so eisiger wurde der Hauch, der sein Herz erkältete. Er schrumpfte zusammen und kam sich selbst so klein vor, daß er meinte, von den Bauern und Fischern nicht mehr gehörig beachtet werden zu können. Mit dem lumpigen h, das ihm der Pfarrer genommen, hatte er nach seinem Gefühl die ganze Autorität verloren, auf die er so stolz gewesen war. Nein, sagte er, ich kann mit ihm zusammen hier in Rossitten nicht leben. Denken Sie nur – mit einem, der nicht mehr ist als ich, und der doch einmal so über mich hinweggesehen hat und immer wieder es thun wird … Nein, wahrhaftig, es geht nicht!
Ich überzeugte mich, daß dieser Schwäche Rechnung getragen werden müßte. Ich berichtete den beiden Präsidenten, und diese waren menschenfreundlich genug, so schnell als möglich Wandel zu schaffen. Der Rentmeister war an dieser Stelle schwer zu ersetzen, auch mußte sein Selbstgefühl wieder gehoben werden. Er behauptete also den Platz. Der Geistliche aber wurde, gleichsam zur Entschädigung dafür, in eine viel bessere Pfarre versetzt, die ihm, so hieß es, schon lange zugedacht gewesen war. –
Als dann der Pfarrer abzog, war freilich niemand rühriger, ihm etwas Liebes zu erweisen, als der brave Rentmeister. Er hatte dafür gesorgt, daß am letzten Sonntage, an dem dieser die Kanzel der Rossittener Kirche bestieg, von den Bauern weither Tannen- und Laubäste angefahren waren, mit denen nun die Thüren und der Orgelchor und die Kanzelwand von den Weibern und Kindern geschmückt wurden. Mit den Gemeindevorstehern ging er ins Pfarrhaus und überreichte dem gerührten Seelsorger eine große Bibel in Prachteinband zum Andenken, wozu auf seine Anregung die ganze Bauernschaft gesteuert hatte.
Zur Reise wurden ihm die Wagen kostenfrei gestellt, und die vier Pferde vor jedem waren mit Birkenreis und bunten Schleifen ausgeputzt. Und als dann der Pfarrer aufgestiegen war, reichte der Rentmeister ihm die Hand zum Abschied und sagte: ‚Rossitten verliert Sie ungern, aber es ist besser so für Sie, und wir gönnen es Ihnen von Herzen. Reversieren Sie uns eine gute Erinnerung!‘ – Der Pfarrer verbiß das Lachen, beugte sich hinab, küßte ihm rechts und links die Wange und rief: ‚Ihr seid doch ein ganzer Kerl, Rentmeister! Gott mag es Euch lohnen!‘
Dicht an seinem Ohr fügte er hinzu: ‚Und daß ich es Euch nur jetzt beim Abschied verrate – ich habe in einigen amtlichen Schreiben aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts wirklich das h gefunden, und es waren sehr angesehene und gelehrte Männer, die es zum Ueberfluß und sozusagen unrichtig gebrauchten. Aber es steht gedruckt da, und wenn es Euch etwa darum zu thun ist, Euch in Königsberg zu rechtfertigen oder gegen meinen Amtsnachfolger gerüstet zu sein, will ich Euch gern den Nachweis geben.‘
‚So, so!‘ schmunzelte der Rentmeister, dem dieses Anerkenntnis sehr wohl that. ‚Also Ihr räumt nun doch gewissermaßen ein, daß ich recht hatte.‘ Es war gut, daß die Pferde anzogen und die Gemeinde ein volltöniges Hurra nachsendete, sonst wäre am Ende der Streit um das h von neuem losgebrochen.
Der Rentmeister stand seinem schwierigen Amt bis ins hohe Alter ehrenvoll vor.
Den Herrn Pfarrer habe ich erst viele Jahre nach jenem Vorfall wieder gesehen. Er hatte zu dieser Zeit ein Vollmondsgesicht und ein Bäuchlein. Die Versetzung war ihm gut bekommen. Schmunzelnd erzählte er mir, was sich beim Abschied ereignet hatte.“