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Ein Fall in die Unterwelt Londons

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Textdaten
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Autor: Heinrich Beta
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Titel: Ein Fall in die Unterwelt Londons
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 249–251
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[249]
Ein Fall in die Unterwelt Londons.

In älteren Schilderungen Londons findet man schreckliche Geschichten von Straßen und ganzen Stadttheilen, die ausschließlich von Spitzbuben und andern Verbrechern bewohnt wurden und in welche sich kein ehrlicher Mensch und keine Polizei hineinwagte. Vor etwa vierzig Jahren wurde der letzte auf diese Weise so privilegirte und „über dem Gesetz“ stehende Stadttheil von allen Seiten zugleich in Angriff genommen, niedergerissen, ausgeräuchert, gereinigt und neu aufgebaut. Seitdem haben sich die Verbrecher von Profession in verschiedenen Stadttheilen wieder einzelner Straßen bemächtigt, durch welche zwar Polizei, Gesetz, Menschen, Wagen und Verkehr ungestraft passiren, ohne es aber dahin zu bringen, daß die Menschen und Gesetze darin sich den Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft fügen. Sie setzen der Polizei nicht mehr, wie früher, gewaltsamen Widerstand entgegen, aber unentwirrbare Windungen, [250] List und Ränke, so daß selbst die in London sehr starke geheime Polizei oft die größten Schwierigkeiten hat, die Urheber großer Verbrechen aus diesen Schlupfwinkeln herauszuwittern.

Statt theoretischer Aufzählung dieser Kniffe und Pfiffe, Fallthüren und unentdeckbarer Fluchtlöcher will ich ein Erlebniß erzählen, das mir vor einigen Jahren in Field-Lane passirte und an welches ich neuerdings durch Abbruch und Zerstörung dieser berüchtigten Gasse erinnert wurde.

Field-Lane war ein Ueberbleibsel des berüchtigten Spitzbuben-Stadttheils im Westend, welches vor etwa vierzig Jahren erobert, durchbrochen und ausgeräuchert wurde. Man legte die jetzt stets donnernde und wogende Oxfordstreet hindurch, welche über Holborn hinunter als die zweite Hauptverkehrsader in die City steigt. Field-Lane mündete direct in diese stets wogende, breite Holbornstraße, in welche die Trophäen der Spitzbuben, lauter seidene Taschentücher, zu Tausenden an langen Stangen hereinwinkten, um die als Käufer anzulocken, die es vielleicht vorzogen, ihr gestohlenes Taschentuch wieder zu kaufen, statt sich mit neuen zu versehen. Field-Lane war und blieb Jahrzehende hindurch die eigentliche Verkaufsstraße für gestohlene Taschentücher.

Ein paar zweibeinige Wesen, wie man sie nur in London finden kann, so schmutzig, so zerlumpt, so elastisch und scharf, so kindlich klein und so ausstudirt altklug, so entsetzlich und gräßlich komisch pavianisch, daß man sehr zögert, die allgemeine Annahme, sie gehörten noch zu menschlichen Wesen, zu theilen, ein paar solche zweibeinige Wesen waren in der Oxfordstreet plötzlich gegen mich und in demselben Augenblicke blitzschnell und aalartig durch die Menge davon gesprungen. Ein Herr hatte es gesehen und rieth mir, mich nach einem andern Taschentuche umzusehen, denn das meinige sei eben gestohlen worden.

Richtig. Field-Lane, die enge, schmutzige Seitengasse mit Tausenden bunter, flatternder Taschentücher winkte in der Nähe. Neugierde und Bedürfniß trieben mich hinein. Taschentücher in allen Farben auf Stangen, Leinen und Dächern, aus Fenstern flatternd, von Dach zu Dach oben das schmale Streifchen Himmel verdunkelnd, Taschentücher die Eingangsthür versperrend und um schreiende, schmutzige, zankende, lachende Kinder, Mädchen, Frauen und Greise herumklatschend im Winde, Thüren, Fenster, Wände, Dächer, Himmel und Erde, Alles voll Taschentücher, gestohlner, seidner Taschentücher. Ich ward förmlich umschrieen und einige Male förmlich angepackt und beinahe gewaltsam in einen Laden hineingezogen; aber ich hielt mich tapfer, um mir erst eine Totalansicht zu verschaffen und dann meine Wahl zu treffen.

Endlich trat ich just in einen ganz stillen Laden, vor welchem kein Schreier zum Kaufen einlud, weniger in einen Laden, als in einen leeren, dunkeln Schuppen, dessen Vorräthe alle draußen auf Leinen und an Stangen flatterten. Ich verlangte ein gutes Taschentuch.

„Werd’ Ihnen meine beste Waare zeigen, Sir! Waare nur für Gentlemen!“

Mit diesen Worten lud mich ein unheimlicher Kerl, der gar kein Gesicht, sondern nur struppiges Haar und eine Nase daraus hervor zu besitzen schien, ein, ihm zu folgen. Doch merkte ich, daß er unter dunkeln, buschigen Brauen auch noch ein Paar spitze, stechende Augen verbarg.

„Dann folgen Sie mir gefälligst in’s Waarenlager, Herr! Dort Hab’ ich die reelle Waare für Gentlemen! Dort mögen Sie aussuchen nach Herzenslust die beste Waare im wohlfeilsten Handelshause Londons, Herr!“

So einladend schloß er eine schmutzige Thür auf und winkte mir, ihm zu folgen. Mir war’s einen Augenblick, als ob ich zögern sollte, aber ich unterdrückte diese Regung der Furcht als kindisch und folgte ihm durch die aufgeschlossene, schmutzige, knarrende Thür, durch einen öden, weiß angestrichenen, niedrigen Corridor bis zu einer zweiten Thür, die er mit rostigen Schlüsseln öffnete, um mich mit schnarrender Höflichkeit hinein zu nöthigen. Ich trat in einen leeren, dunkeln, blos durch ein kleines „Himmelsfenster“ in der Decke spärlich erleuchteten, feuchtkalten Raum. Mir fiel dieses „Waarenlager“ als das originellste, das ich je gesehen, auf. Die unheimliche Leere darin wurde blos durch eine alte Breterkiste, einige Stücken Holz und ein Dutzend schmutzige Mauersteine unterbrochen.

„Ist das Ihr Waarenlager?“ rief ich verwundert.

„Ha! ha! Werd’ Ihnen zeigen Raritäten von Schätze, was man nicht seigen thut gemeine Augen!“ rief der struppige Aufsatz von Haaren und Nase, indem er Schlüssel aus der Tasche zog und an dem Schlosse der großen Breterkiste zu arbeiten anfing. Er probirte mehrere Schlüssel, ohne daß das Schloß nachgeben wollte. Er klirrte und klapperte sich dabei in eine immer hitzigere Leidenschaft hinein und schimpfte in immer lauteren, kreischenden Tönen auf ein altes Weib, das er als seine Haushälterin bezeichnete und welches er beschuldigte, das Schloß verdorben zu haben. Die Wuth dauerte und stieg so lange, daß sie mir überhaupt unnatürlich, gemacht erschien.

Es wurde mir plötzlich Angst. Ich war allein in einem Hinterhauswinkel der berüchtigten Spitzbubenstraße und retirirte, mit den Augen den wüthenden Kerl fixirend, rückwärts nach der Thür. Diese öffnete sich rasch hinter mir. Ich wandte mich um und erblickte ein riesiges altes Weib, auf einer Seite unnatürlich auf eine Krücke gelehnt. Indem ich vor dieser wahrhaften Schreckensgestalt unwillkürlich zurückbebte, bemerkte ich deutlich mit einem Blicke, daß ihr Kinn, ihre Oberlippen, ihre Backen mit dicken, dichten Stoppeln eines Bartes bedeckt waren. Dieses Weib war ein starker Kerl etwa in den Vierzigen; das war mir wie ein Blitz klar. Mir ward es grau vor den Augen. Die Ohren summten. Mir versagte die Kraft in den Knieen. Doch behielt ich so viel Geistesgegenwart, zu thun, als merkt’ ich nichts. Ich versuchte, harmlos zu lächeln, wie der Kerl seine Haushälterin komödiantisch auszankte, und dabei um letztere herum durch die offene Thür zu entkommen. Dabei merkt’ ich, wie das verkappte Weib hinter sich nach einer Holzstange an der Wand griff und mir den Weg vertrat. Mit dem „Instincte der Verzweiflung“ griff ich selbst danach und riß sie an mich, wobei mir ein neuer, tödlicher Schreck durch die Glieder fuhr. Das Stück Holz war eine wie Holz angestrichene Eisenstange.

Während ich sie, vor Schreck gelähmt, empor zu schwingen suchte, warfen beide Schurken ihre Masken ab. Das Weib ergriff die Krücke mit beiden Fäusten und holte nach mir aus. Dies gab mir Kraft: ich schleuderte meine Eisenstange gegen die niedersausende Krücke und schlug sie ihm in zwei Stücken aus den Händen. In demselben Augenblicke aber faßte mich das andere Scheusal bei der Gurgel in ganz echter Würgmanier, mit der einen Hand die Kehle, mit der andern den Nacken knochenfäustig zusammendrückend. Es gelang mir, ihm das Ende meiner Eisenstange in das Gesicht zu stoßen, so daß er mit meinem abgewürgten Halstuche in der Hand donnernd auf den hohlen Boden hinfiel. Ich erwartete nun einen neuen Angriff des größeren und stärkeren Helfershelfers, aber dieser stellte sich mit dem Rücken gegen die von ihm geschlossene Thür und machte sich mit dem einen Stück seiner Krücke auf meine Attake gefaßt. Schon sah ich, wie der Andere sich wieder aufraffte: es war kein Augenblick zu verlieren. Mit meiner geschwungenen Eisenstange stürzte ich gegen den Thürhüter, um ihm mit einem Schlage den Schädel zu zerschmettern und die Thüre aufzustoßen. Da schien plötzlich die ganze Scene vor mir und um mich in die Luft zu fliegen. Mein letzter Anblick waren die feuerspritzenden Augen und das teuflische Grinsen meines Gegners. Ich selbst stürzte, stürzte, sank, sank, sank in einen dickfinstern Abgrund.

Dieses Sinken kann nur eine halbe Secunde gedauert haben, aber ich durchblitzte während derselben mein ganzes Leben. Ich erlebte, ich genoß in dieser entsetzlichen halben Secunde, was ich in Dichtungen von der zauberhaften Geschwindigkeit des Gedankens und Gefühls gelesen, was uns zuweilen auch in Träumen begegnet, daß wir in einem Momente des Einschlafens und Wiedererwachens nach einigen Minuten alle Erlebnisse vieler Jahre wieder durchleben, mit längst verstorbenen Freunden und Geliebten ganze Jahrzehende der verschiedensten Freuden und Leiden durchmachen, als Kinder spielen, als Jünglinge lieben, als Männer trotzen und dafür lange büßen u. s. w. Alles in einem Momente vorläufigen Einschlafens, dem dann ein langes Erwachen folgt, um uns zu wundern und zu staunen über diese mysteriöse Energie der Idealität des Raumes und der Zeit, die zu dreißig bis vierzig Jahren Lebensinhalt und Hunderten von Meilen nicht mehr als einige Minuten gebraucht, um sie mit allem Reichthume von Scenen, Leiden und Freuden in uns wieder aufzuerwecken und auf idealem Boden verklärt zu verwirklichen. Ich stürzte und sank eine halbe Secunde (wie ich später ermittelte, denn so tief war der Abgrund etwa), aber während derselben war ich ein Kind auf dem Arme der Mutter, belobter und [251] bestrafter Junge in der Schule, Gymnasiast, Student, Bräutigam, Gatte, Vater, Wittwer, Flüchtling, gefangener, bestrafter und entkommener Preßverbrecher, auf's Neue glücklich, dann erschlagen, beraubt, ausgeplündert, in einen Abgrund geschleudert, versteckt, bedeckt, weggepackt und verloren für ewige Zeiten.

Der letzte Theil dieser Vision lös’te sich jedoch in die Wirklichkeit auf, welche mich aufnahm, in einen entsetzlich stinkenden, unterirdischen, mit Nacht und Ratten und dem Unrath von ganz London gefüllten, trägen Styxfluß, in eine mauergewölbte Ader des riesigen Cloaken-Systems, das London unten zwischen Hunderten von Meilen Gasröhren, Wasserrohren und wieder Gas- und Wasserrohren verschiedener Compagnieen, Eisenbahntunnels und einem endlosen Gewirre elektrischer Drähte in ganzer Länge und Breite durchfurcht und Millionen von Ratten und Hunderten von Menschen eine unterirdische Existenzquelle geworden ist.

Mir sollte es die Quelle des Todes werden! Ich lebte noch, aber mit halbem Körper in einem Fluidum, das mit jedem Athemzuge das Leben ersticken zu wollen schien. Die Fallthür oben war geschlossen. Ohne Führer in dem viele Meilen umherirrenden entsetzlichen Geader – wo sollt’ ich hin? Mit Hülfe meiner Eisenstange, die ich noch festhielt, wand ich mich etwas ab- und seitwärts, und fühlte auf der Seite in dem runden Mauerwerk eine Art Bank, auf der ich Platz nahm, um zu mir zu kommen und den Wahnsinn, der mein Gehirn bedrohte, wo möglich abzuschütteln. Kaum hatte ich mich auf die Bank hinaufgearbeitet, öffnete sich die Fallthür wieder, einige Schritte seitwärts von mir, und ein entsetzlicher Mauersteinregen donnerte und plantschte herunter, hinreichend, einen Ochsen zu zerschmettern. Dann ward es wieder pechfinster. Ich kroch weiter ab mit dem entsetzlichsten Tode um mich, ich weiß nicht, wie lange, bis ich durch einen rothen Schein, der etwa 30 Fuß lang aus dem dunklen Schmutzwasser heraufschoß, aus meiner dunklen Todesmattigkeit aufgeschreckt ward. In dem rothen Scheine entdeckte ich eine Laterne, darüber das noch blutende Gesicht des Schurken, dem ich die Eisenstange in das Gesicht gestoßen, in seiner Hand ein langes Messer. Ich errieth ihn. Mit kaltem Schweiße bedeckt, drängte ich mich in einen kleineren Seitencanal, wobei mein Hut abflog und auf dem trägen Strome fortschwamm. Der Kerl sah ihn, und schien daraus die Ueberzeugung zu schöpfen, daß ich umgekommen sei, denn ich hörte in einiger Entfernung ein Geflüster von oben durch eine Oeffnung, durch welche er, wie ich aus dem Geräusche schloß, in die Höhe gewunden ward.

Werden sie nun nicht kommen, um mich auszuplündern? Ich zweifelte nicht daran. Wie ihnen nun meinen vermeintlichen Leichnam entziehen? In dem Lichtstreifen der Laterne hatte ich gesehen, daß nach der Themse zu abwärts der Cloaken-Inhalt viel höher stand, und an ein Entkommen durch die großen Ausgangsthore an der Themse nicht vor Ablauf der Fluth zu denken war. Ich tappte mich stromaufwärts, wo ich bald etwas Lichtschimmer bemerkte, der durch engere Seiten-Cloaken eindrang. Letztere warm blos durch enge, starke Eisengitter von der Straße oben getrennt. Das Donner- und Knattern des Lebens oben schüttelte zu mir herab, aber ich konnte weder in diese engeren Seitengänge eindringen, noch von da emporschreien. Ich drang weiter aufwärts, nur um zunächst so weit als möglich von meinen Mördern wegzukommen, und sogar in große Verästelungen dieser unterirdischen Steinadern hinein, bis Todesmattigkeit mich zwang, nach einer Stätte zum Ruhen umherzufühlen. Ich fand wieder einen Mauerabsatz unten. Hier schöpfte ich Athem. Hier preßten sich Thränen aus den Augen, als ich das dichte Leben oben donnern hörte, und die Scheidewand um mich festgemauert fand, die mich hier lebendig begraben wollte. Ein entsetzlicher Schmerz an meinem Fuße forderte mich zu einem neuen Kampfe um mein Leben auf. Eine Ratte hatte sich so fest in meine Wade gebissen, daß ich sie nur mit der größten Gewalt abreißen konnte. Kurz darauf hatte ich wohl mit Hunderten zu kämpfen. Ich hörte und fühlte sie von allen Seiten heranspringen, diese entsetzlichen Wölfe der Unterwelt, und mußte mit meiner Eisenstange ununterbrochen stampfen und stoßen, bis ich genug für den Hunger der noch lebenden getödtet haben mochte. Sie schmaußten ihre getödteten Gefährten, und ließen mir einstweilen so viel Ruhe, daß ich meinen Weg weiter fort zu tappen im Stande war. Aber wohin? Unter ein neues Heer hungerwüthender Ratten. Mit den Füßen und meiner Eisenstange verzweifelt dreinschlagend, entkam ich nach langem Kampfe und an Händen und Füßen blutend, athemlos, völlig erschöpft, aber mit der Gewißheit, daß im ersten Augenblicke der Ruhe ich auf’s Neue attakirt und, dem Schlafe nachgebend, bis auf die Knochen aufgefressen werden würde.

Zuweilen fühlt’ ich mich schon ganz fieberhaft bewußtlos, wahnsinnig, und in den Momenten der Besinnung in brausendem, grausendem Entsetzen, daß ich doppelt sterben würde, erst geistig, dann körperlich. Aber ich kämpfte, ich schüttelte das Entsetzen ab, so oft es mich überfiel, und schärfte meine ganze Kraft, auf einen Ausweg zu denken. Kann ich den Ablauf der Fluth der Themse abwarten (das wurde mir als einzige Rettung klar), gibt es einen Ausweg stromab. Deshalb kehrte ich in einem andern entdeckten Hauptcanal um, und verfolgte den Weg abwärts, so lange das träge Gewässer um mich nur die Füße deckte. Mit dem Umsinken und Zusammensinken meines ganzen Körpers kämpfend, bemerkte ich endlich – endlich – wieder einen Lichtschein, vernahm ich ein entsetzliches Geräusch fliehender Ratten und Hundegebell. Dann sah ich Licht und ein Menschengesicht darin. Ein Menschengesicht über einer Hornlaterne, einen Korb hinter sich, einen platschenden, bald schwimmenden, bald am Rande auf mich zubellenden Hund neben ihm, eine ekelhafte, von triefenden Lumpen bedeckte Menschengestalt, aber ich hätte ihn jetzt umarmen und küssen mögen – den rettenden Gott, den ich in ihm begrüßte.

Er folgte dem Hunde und beleuchtete mich lange, ganz erstaunt, ganz sprachlos.

„Wo ist Dein Hund?“ rief er endlich. „Was ist das? Jemand ohne Hund hier? Und noch nicht von den Ratten aufgefressen? Wie kamst Du hierher?“

„Mann, wollen Sie mich an’s Tageslicht bringen?“ rief ich. „Ich will es Ihnen lohnen, lohnen, wie Sie nie belohnt wurden.“

„Freilich will ich das! Aber wie kommen Sie hierher? Fluth noch nicht ’runter, keinen Hund – wie ist’s möglich?“

Ich erzählte ihm mein entsetzliches Abenteuer, nachdem er mir aus seiner Branntweinflasche einen Schluck gegeben. Erst könnt’ er’s lange nicht begreifen, als es ihm aber klar geworden, schwor und wiederholte er unzählige Male, daß er die Kerle in Field-Lane hängen sehen müsse, und sollt’ er die ganze Nacht stehen, um sich einen guten Platz zu sichern.

Er war auf einem extraordinären Wege vor Ablauf der Fluth heruntergekommen, um den Hunderten seiner Collegen, den „Schmutzlerchen“, die in den Kloaken Schätze suchen und zuweilen silberne Löffel, goldene Ringe, Geld und Pretiosen auffischen, zuvorzukommen. Mein Rettungsengel war eigentlich von Profession ein Rattenfänger. In den fashionablen Localen, wo Gentlemen auf die Virtuosität ihrer Hunde im Rattentödten wetten, bezahlt man 8 Pence für’s Dutzend lebendige Ratten. Er hatte schon einen ganzen zappelnden Sack voll und zeigte mir auf unserm noch langen Wege bis zu dem nächsten Ausflußthore noch manche Proben seiner Kunst, auch ein bis zum Skelett abgenagtes Menschengebein, wie man sie nach seiner Aussage öfter da unten findet, ohne daß sich die „Schmutzlerchen“ weiter darum kümmern.

Ich erinnere mich noch, wie er mich an’s Tageslicht führte und wie ich zusammensank. Dann kamen sechs Wochen in einem Hospitale, von denen ich nichts mehr weiß, da sie einem bewußtlos verphantasirten Nervenfieber gehörten. Als ich, zum Bewußtsein gekommen, der Polizei mein Abenteuer erzählt hatte, nahm sie ganz Field-Lane in Angriff. Aber die Schurken hatten Zeit gehabt, die Fallthür unsichtbar zu machen oder ganz zu überdielen. Wenigstens konnte keine Spur davon entdeckt werden. Das alte, professionelle, freche Verbrechen dieser berüchtigten Straße hat aber endlich zu den jetzigen Schritten geführt, durch welche Field-Lane bis auf den Grund und Untergrund zerstört und mit neuen, anständigen Häusern breiter und heiter aufgebaut wird.