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Ein Gottesgericht

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Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Ein Gottesgericht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19–22, S. 257–260, 293–296, 305–308, 317–321
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[257]
Ein Gottesgericht.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


An dem rechten Ufer der Memel, etwa in der Mitte zwischen der Stadt Tilsit und dem kurischen Haff, liegt das adelige Gut Turellen.

Es gehörte schon vor einer langen Reihe von Jahren einer alten, reichen Dame, einer verwittweten Gräfin von Ruthenberg. Sie lebte auch dort, aber ohne allen Umgang mit der Nachbarschaft, selbst mit den allerdings sehr wenigen adeligen Gutsbesitzern der Gegend. Desto häufiger, hieß es, bekomme die alte Dame Besuch von Verwandten und Bekannten aus Kurland. Die reiche Dame aber lebte in ihrer Eingezogenheit außerordentlich comfortable. Sie stammte aus Kurland, und war erst seit wenigen Jahren aus Rußland nach Preußen herübergekommen.

In früheren Zeiten sollte sie sehr schön gewesen sein. An dem Hofe in St. Petersburg, der, als Kaiser Alexander der Erste noch nicht fromm geworden, gleichfalls eben kein frommer war, sollte sie damals lange Zeit eine glänzende, vielfach gefeierte Rolle gespielt haben. In den letztern Jahren sei sie, warum, wußte man nicht, am russischen Hofe nicht mehr gern gesehen; darauf sei sie nach Preußen gekommen, wo das Gut Turellen schon seit längerer Zeit ihrer Familie gehörte. Dies war in den ersten Jahren nach dem Regierungsantritt des Kaisers Nikolaus.

Jetzt, eben weil sie mit Niemandem in der Gegend Umgang hatte, hörte man wenig mehr von ihr, als das Angegebene.

Den Sommer pflegte sie in deutschen Bädern zuzubringen.

Sie war ohne Kinder.

In einem Frühjahre, nachdem sie etwa vier bis fünf Jahre in Preußen sich aufhielt, erhob sich in der Gegend ein sonderbares Gerücht. Sie hatte vor ungefähr vier Wochen Besuch von einem Neffen aus Kurland, einem jungen Grafen Ruthenberg, bekommen. Nachdem der junge Mann beinahe vierzehn Tage da gewesen, sei er plötzlich verschwunden. Am Abende habe er der Dame eine gute Nacht gewünscht, um sich in sein Zimmer gleichfalls zur Ruhe zu begeben. Am andern Morgen sei er fort gewesen. Sein Bett habe man unberührt, alle seine Sachen noch da gefunden. Von ihm selbst keine Spur.

Die Gräfin habe sich anfangs beunruhigt, dann aber die Sache leicht genommen. Die Ruthenbergs hätten alle etwas Besonderes, so eine Art von englischem Spleen. Ihr Neffe werde irgend einem plötzlichen Abenteuer nachgegangen, oder vielleicht von sonst einem augenblicklichen Einfalle, vielleicht weit genug, in die Welt getrieben worden sein; er werde schon wieder zum Vorschein kommen.

Allein es waren seitdem schon vierzehn Tage verflossen, und von dem jungen Grafen war weder eine Nachricht eingetroffen, noch eine Spur aufgefunden. Dagegen, setzte das Gerücht hinzu, wollten Leute in der Nacht seines Verschwindens in unmittelbarer Nähe des Schlosses ein sonderbares, nicht näher bezeichnetes Geräusch, und sogar einen unterdrückten Schrei, wie um Hülfe, gehört haben.

Das Gerücht drang bis zu mir. Ich war damals Kreisjustizrath und Dirigent einer Criminalbehörde in Litthauen. Zu meinem Gerichtsbezirke gehörte auch das Gut Turellen.

Ich hielt es für meine Pflicht, dem Gerüchte nachzuforschen, und schrieb deshalb an das Justizamt, in dessen Untergerichtsbezirke Turellen lag.

Ich erhielt nach einiger Zeit Antwort. Daß der Neffe der Gräfin Ruthenberg vierzehn Tage lang zum Besuche aus Kurland bei ihr gewesen und dann plötzlich, vollkommen unter den oben mitgetheilten Umständen, verschwunden sei, wurde bestätigt. Aber auch, daß die Gräfin völlig unbesorgt sei, und das plötzliche Verschwinden irgend einer Laune des abenteuerlichen jungen Mannes zuschreibe. Von einem sonderbaren Geräusche, gar von einem Hülferufe in der Nacht des Verschwindens habe sich nichts feststellen, nicht einmal die Entstehung des Gerüchts darüber habe sich ermitteln lassen.

Ich konnte, wenigstens vor der Hand, nichts weiter veranlassen. Indeß ungefähr vierzehn Tage später wurde ich durch einen Besuch überrascht. Es war des Abends schon ziemlich spät, als ich einen Wagen vor meinem Hause vorfahren hörte.

Wenige Minuten darauf hörte ich auf meinem Hausflur eine fremde Stimme meinen Namen aussprechen. Es war eine Mannsstimme.

Das Dienstmädchen antwortete, daß ich hier allerdings wohne.

Ob ich zu sprechen sei, und zwar allein?

Ich hörte das Mädchen auf der andern Seite des Flurs die Thür meines Besuchszimmers öffnen. Sie hatte den Fremden in das Zimmer treten lassen.

Gleich darauf kam sie zu mir und meldete, daß sie einen fremden Herrn, der mich dringend zu sprechen gewünscht, aber seinen Namen nicht habe nennen wollen, in das Besuchszimmer geführt habe.

Ein Criminalbeamter erhält oft solche geheimnißvolle Besuche.

Ich begab mich in das Zimmer hinüber, und fand darin einen mit eleganter Sorgfalt gekleideten, schon etwas ältlichen [258] Herrn. Es war eine hohe, sich sehr gerade, aber nichts weniger als steif haltende Figur, ohne Embonpoint; die Gesichtszüge fein, zugleich etwas frivol, wie es schien, das Auge außerordentlich klug. Das Benehmen des Mannes glich ganz seiner eleganten und sorgfältigen Kleidung. Er war sehr höflich. Ich hatte einen Mann vor mir, der unzweifelhaft der höheren Gesellschaft angehörte. Seine Worte bestätigten mir das sofort.

„Ich bin der Graf Alexander Ruthenberg, russischer Gesandter zu –“

„Was steht Ihnen zu Diensten, Herr Graf?“

„Ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit zu Ihnen. Aber darf ich auf Ihre vollständige Verschwiegenheit rechnen? Auf die vollständigste, unbedingteste?“

„Sie können; in so weit meine Amtspflicht nicht etwas Anderes von mir fordert.“

„Gerade in einer amtlichen Angelegenheit komme ich zu Ihnen, und – was ich Ihnen zu sagen habe, bestätigt sich entweder, oder bestätigt sich nicht. Für beide Fälle ist alsdann meine Person gleichgültig. Doch erlauben Sie, daß ich zur Sache komme.“

„Ich bitte darum.“

„Die Gräfin Ruthenberg zu Turellen ist meine Schwägerin.“

„Ah!“

„Ich bin seit drei Tagen zum Besuch bei ihr. Vor einigen Wochen hatte sie den Besuch unseres beiderseitigen Neffen, des Grafen Paul Ruthenberg.“

„Ich habe davon gehört.“

„Er war nach einem Aufenthalte von vierzehn Tagen plötzlich verschwunden.“

„Ich weiß auch das.“

„Hatten Sie schon Verdacht?“

„Das Gerücht hatte ihn ausgesprochen, aber nicht bestätigt.“

„Ich fürchte, ich bringe Ihnen Bestätigung. Meine Schwägerin zwar glaubt nur an einen tollen Streich des jungen Mannes. Aber meine Schwägerin ist eben eine Dame, die gern Alles leicht nimmt. Es ist Gewohnheit bei ihr.“

Ein flüchtiges, spöttisches Lächeln glitt über das feine Gesicht des Diplomaten. Er fuhr fort, und sein Ton wurde nach und nach beinahe so leicht, wie er die Gemüthsart seiner Schwägerin schilderte.

„Ein toller Streich des jungen Menschen mag allerdings vorliegen. Aber ich fürchte, er hat ihm das Leben gekostet.“

„Sie glauben an ein Verbrechen?“

„Darf ich bitten, genau folgende Umstände zu erwägen: Meine Schwägerin war im vorigen Jahre in Bad Ems. Sie hat von dort eine Gesellschafterin mitgebracht, eine junge, sehr schöne Dame. Wenige Tage, nachdem sie die Gesellschafterin genommen hatte, fand ein junger Mann sich ein, und bot ihr seine Dienste als Jäger an. Sie nahm ihn. Sie hat ihn gleichfalls mit hierher gebracht. Er ist ebenfalls ein schöner, junger Mann. Zwischen der jungen Dame und dem jungen Mann besteht irgend ein geheimnißvolles, wenigstens heimliches Verhältniß. Sie scheinen sich vorher schon gekannt zu haben. Sie fragen mich, was das Alles mit meinem Neffen zu schaffen habe?

„In der That, Herr Graf –“

„Haben Sie die Güte, mich weiter anzuhören. Vor etwa acht Wochen kommt mein Neffe in Turellen an. Er war – ich wünschte, er wäre es noch, aber es wird leider nicht der Fall sein – er war ein leichtsinniger Bursch. Dabei sehr ungenirt und, lassen Sie mich es gerade heraus sagen, roh, sehr roh. Meiner Schwägerin gefiel er so. Auch seinem Vater hat er so gefallen. Er hatte in Allem seinen freien Willen.“

In Rußland kann ein junger Edelmann mit ungebundenem Willen viel wagen. Auch ich hatte darüber schon manche Erfahrung an der russischen Grenze gemacht. Ich mußte zu den Worten des Grafen unwillkürlich nicken. Er bemerkte es. Sein feines Gesicht lächelte wieder.

„Zuletzt hat er auf einigen deutschen Universitäten studirt.“

„Und wahrscheinlich die Vollendung seiner Ausbildung in Paris erhalten?“

„Ah, mein Herr, Sie biegen mir ein Paroli.“

Ich verbeugte mich.

„Aber Sie haben in der That Recht. Er war den letzten Winter über in Paris und von dort war er nach dem mardi gras direct zu seiner Tante gereist. Er sah hier die junge, wie gesagt, sehr schöne Gesellschafterin. Die Schönheit der Dame entzündete seine Leidenschaft. Er war nicht gewöhnt, seinen Leidenschaften Zügel anzulegen, und verfolgte die Dame mit Liebesanträgen. Sie wies ihn zurück. Er wurde dringender. Sie wandte sich um Schutz an meine Schwägerin.

„Meine Schwägerin nimmt, wie gesagt, gern die Sachen leicht, besonders dergleichen Sachen. Sie kennt sie aus alter Zeit und, mein Herr – ach, ich bin ja Ihrer Verschwiegenheit gewiß – meine Schwägerin ist in ihren alten Tagen keine Betschwester geworden, die Frau von Krüdener hat sie nicht bekehrt. Sie wies die junge Dame zurück; in fremde Herzensangelegenheiten mischte sie sich nicht.

„Aber das Herz habe mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen, meinte die Gesellschafterin. Um fremde Liebeleien kümmere sie sich noch weniger, erwiderte meine Schwägerin. Die Tante erzählte das scherzend dem Neffen wieder. Der Neffe wurde darauf noch dringender, sehr dringend. Und wenn ein junger, kurländischer Edelmann, der einen ungebundenen Willen hat und seine Studien auf deutschen Universitäten und seine Bildung in Paris vollendete, wenn der sehr dringend wird, so gibt es für ihn keine Rücksichten, selbst keinen Dehors mehr.

„Die junge Dame verschloß sich in ihrem Zimmer. Sie verließ es nur auf den ausdrücklichen Befehl ihrer Gebieterin. Sie scheint zugleich Anstalten getroffen zu haben, das Schloß zu verlassen. Sie hat wenigstens ungewöhnlich viel Briefe geschrieben. Ihre Verhältnisse scheinen überhaupt etwas mysteriös zu sein. Doch gehört das nicht hierher.

„Je mehr sie sich nun den Augen meines Neffen zu entziehen suchte, desto mehr verfolgte diesen mit seinen Augen der Jäger meiner Schwägerin, jener schöne, junge Mann, den sie schon in Deutschland gekannt hatte. Er verfolgte meinen Neffen mit drohendem Blick; war es die Drohung der Eifersucht, war es etwas Anderes, ich weiß es nicht.

„Da kam die Nacht, in der mein Neffe verschwand. Er war erst vierzehn Tage da. Solch’ ein junger Mann marschirt im Geschwindschritt. Die Gesellschafterin hatte des Abends beim Thee erscheinen müssen und hatte sich um zehn Uhr in ihr Zimmer zurückgezogen. Einige Minuten später hatte auch der Neffe der Tante eine gute Nacht gewünscht. Man hat ihn seitdem nicht wieder gesehen. Aber diese Umstände sind Ihnen wohl schon bekannt, Herr Kreisjustizrath?“

Sie waren mir bekannt.

Allein nicht folgende:

„Die Gesellschafterin logirt – sie ist noch in Turellen – Parterre. Ihre Zimmer liegen nach dem Garten hin. Sie bewohnt zwei Zimmer, ein Wohnzimmer und eine Schlafstube; beide sind durch eine Thür miteinander verbunden. An die Schlafstube stößt noch ein drittes Zimmer; es liegt ganz am Ende des Gebäudes. Seine Fenster gehen ebenfalls in den Garten und es ist gleichfalls durch eine Thür mit der Schlafstube der Gesellschafterin verbunden.

„Das Zimmer ist nicht bewohnt; es befindet sich eine alte Bibliothek darin. Nicht meine Schwägerin, aber die Gesellschafterin benutzt diese zuweilen. Sie hat sich daher den Schlüssel zu dem Zimmer geben lassen, so daß sie unmittelbar aus ihrer Wohnstube hinein gelangen kann. Den Schlüssel läßt sie, ließ sie wenigstens früher in der Thür stecken. Sie pflegte ihn auch nicht im Schlosse umzudrehen, so daß man auch, ohne daß sie aufschließen mußte, aus dem Bibliothekzimmer in ihre Schlafstube gelangen konnte. Die Fenster des Wohn- und Schlafzimmers der Gesellschafterin sind inwendig mit starken Läden versehen, die des Bibliothekzimmers nur mit Jalousien.

„Das Parterre ist übrigens hoch. Auf dem Hofe laufen des Nachts wachsame Hunde frei herum. Läden und Jalousien pflegen deshalb nur im Winter verschlossen zu werden.

„In der Nacht, als mein Neffe verschwand, – es war zu Ende April – waren wenigstens alle Jalousien des Bibliothekzimmers nicht verschlossen. Mein Neffe ging nur zum Schein in sein Zimmer. Er löschte dort nach einiger Zeit sein Licht aus; dann verließ er es leise, die Thür zuschließend, als wenn er sich zu Bette gelegt habe; man sollte dies glauben. Leise ging er die Treppe hinunter, schlich durch den Gang, öffnete eine in den Garten führende Thür und begab sich in denselben. Kein Mensch sah ihn. Er wandte sich nach dem Flügel des Schlosses, in welchem sich die Zimmer der Gesellschafterin befinden.

„In den Fenstern der Dame sah er kein Licht mehr. Er [259] horchte eine Zeitlang. Er hörte auch keine Bewegung im Zimmer, und nahm an, sie habe sich zu Bette begeben und schlafe. Er ging weiter, an das Ende des Schlosses, zu dem Bibliothekzimmer und trat unter ein Fenster desselben.

„Vor dem Fenster befindet sich das Spalier eines Obstbaumes. Steigt man in das Spalier, so kann man von da mit um so größerer Bequemlichkeit in das Fenster steigen. Mein Neffe stieg in das Spalier. Er schwang sich aus dem Baume auf das Gesims des Fensters.

„Das Fenster war nicht verschlossen; es war nur fest angelehnt, als wenn es verschlossen sei. Der junge Mann hatte am Tage sich unbemerkt in das Bibliothekzimmer zu schleichen gewußt, und so den Verschluß des Fensters geöffnet. Er brauchte von außen nur anzustoßen und das Fenster ging auf und er konnte durch die Oeffnung in das Bibliothekzimmer springen.

„Er stieß leise an das Fenster; es öffnete sich ohne Geräusch und er sprang durch die Oeffnung in das Zimmer.

„Es war so viel, als wenn er sich schon in dem Schlafzimmer der Gesellschafterin befand; denn Sie werden sich erinnern, mein Herr, daß die Thür zwischen dem Bibliothekzimmer und der Schlafstube der Dame in der Regel nicht verschlossen war.“

Ich mußte den Grafen unterbrechen. Ich hatte ihm schon eine Zeit lang nur mit Verwunderung zuhören müssen. Was er mir anfangs erzählte, hatte er auf leicht erklärliche Weise in Erfahrung bringen können, am meisten durch seine, nach Allem mindestens etwas frivole Schwägerin selbst. Aber die letzteren Mittheilungen, das was sein verschwundener Neffe seit seinem bis jetzt völlig spurlosen Verschwinden gethan, wie konnte das, gar mit allen jenen Specialitäten, zu seiner Kenntniß gekommen sein?

„Herr Graf,“ sagte ich, „von Ihrem Neffen haben Sie keine Nachricht, keine Spur seit dem Augenblicke, da er an jenem Abende von seiner Tante sich verabschiedete?“

„Nicht die geringste Spur, mein Herr.“

„Er kann Ihnen also auch nicht mitgetheilt haben, was er seitdem gethan hat?“

„Unzweifelhaft nicht.“

„Es existiren also andere Zeugen seines späteren Thuns?“

„Meines Wissens nicht.“

„Dennoch erzählen Sie mir Thatsachen, die nur er selbst oder genau beobachtende Zeugen seines Handelns Ihnen entdecken konnten.“

„Allerdings, und ich bin erst am Beginn solcher Thatsachen.“

„Darf ich um eine Erläuterung bitten?“

„Ich bin sie Ihnen schuldig. Ich bin nie Polizeibeamter gewesen.“

„Ich glaube Ihnen das.“

„Auch nie Criminalrichter.“

„Ich glaube auch das.“

„Aber ich bin Diplomat, ein alter Diplomat.“

„Und?“

„Und kann mithin ebenfalls combiniren, obwohl ich nicht zur Polizei oder zur Criminaljustiz gehörte.“

„Und Sie erzählen mir Ihre Combinationen?“

„Mein Herr, ich habe die Menschen studirt. Ich kannte meinen Neffen, kenne meine Schwägerin und habe jene Gesellschafterin kennen gelernt. Ich habe in Turellen beobachtet, Menschen, Verhältnisse, Localitäten. Glauben Sie, daß ich im Stande bin, richtige Combinationen zu bilden?“

„Ueber das Verschwinden Ihres Neffen?“

„Eben darüber. Darf ich fortfahren?“

„Ich bitte.“

„Mein Neffe war also in dem Bibliothekzimmer. Er schritt auf die Thür des Schlafzimmers der Dame zu. Er horchte an der Thür. In dem Schlafzimmer war Alles still. Er öffnete geräuschlos die Thür, ging in das Zimmer, an das Bett. Die Dame schlief. Er rief leise ihren Namen:

„Ottilie!

„Ich glaube, so heißt sie. Sie erwacht, sie will rufen. Er versiegelt ihren Mund mit Küssen. Sie hat ihn erkannt, an der Stimme; die Frühlingsnacht war außerdem nicht sehr dunkel.

„Sie stößt ihn zurück, ringt sich von ihm los und will wiederholt um Hülfe schreien.

„Er ist nicht umsonst der Graf Paul Ruthenberg mit dem ungebundenen Willen, der seine Studien und so weiter.

„Mein liebes Fräulein, sagt er ruhig, wenn Sie Leute herbeirufen, so würden mich diese nur bei Ihnen im Ihrem Schlafcabinete finden.

„Scheusal, Bösewicht, ruft sie, verlassen Sie mich auf der Stelle. Das wäre ein Verbrechen, schöne Ottilie; ein Verbrechen gegen Ihre Schönheit, gegen Ihre Liebe. Ungeheuer!

„Es werden ähnliche Worte gewechselt, auf der einen und auf der andern Seite. Die junge Dame hat wirklich Ehre; sie hat auch Muth, Energie. Er ist – wie ich schon sagte. Er treibt sie zur Verzweiflung. Sie führt einen Dolch bei sich. Die Verzweiflung raubt ihr das Licht des Verstandes. Sie sieht kein anderes Mittel der Rettung.

„Sie greift nach dem Dolche. Sie stößt dem jungen Manne den Stahl in die Brust. Er ist tödlich getroffen und stirbt unter ihren Händen. Sie fällt aus einer Verzweiflung in die andere. Da kommt jener geheimnißvolle Jäger zu ihrer Hülfe herbei. Vielleicht holt sie ihn auch. Was ist zu machen? Das Geschehene entdecken? Es ist ein Mord verübt, kein Act der Nothwehr. Sie brauchte nur ein einziges Mal ernstlich um Hülfe zu rufen und ein Dutzend Menschen waren zu ihrer Hülfe da.

„Also die That verbergen, zunächst den Körper verbergen. Aber wohin mit ihm? Ihn aus dem Hause schaffen?

„Der geringste Zufall mußte Alles entdecken. Draußen mußten Blutspuren entstehen, die, wenn der Leichnam noch fortgebracht werden sollte, zugleich während der Nacht nicht ausgelöscht werden konnten. Zudem wurde am Tage gerade in jener Gegend des Gartens gearbeitet und schon am sehr frühen Morgen fanden sich die Arbeiter wieder ein.

„Auch in der Stube des Fräuleins waren die Blutspuren noch in der Nacht zu vertilgen. Der Körper mußte also im Hause bleiben. Aber wo hier?

„In der Wohn- oder gar in der Schlafstube der Dame? Es war nicht minder gefährlich. Und wer wohnt und schläft gern mit der Leiche eines Ermordeten zusammen? Sie über den Corridor tragen ging vollends nicht an. Es blieb nur das Bibliothekzimmer. Es lag zwar unmittelbar an dem Schlafzimmer der Dame, und sie schlief fast mit der Leiche zusammen, wenn sie dort untergebracht wurde. Allein außer der Dame selbst kam Niemand hin; man konnte da also mit Sicherheit, mit Muße verfahren.

„Die Leiche wurde in das Bibliothekzimmer gebracht. Der Parketboden wurde aufgenommen, in der Erde eine Grube gegraben und in die Grube die Leiche gelegt; alsdann wurde sie wieder zugeworfen und der Parketboden wieder eingesetzt. Die Leiche liegt noch da.“ Der Graf schloß seine Mitteilungen.

Mein Plan war schon fertig, noch bevor er geendet hatte.

„Sie würden sich nicht entschließen, Herr Graf, das, was Sie mir mitgetheilt haben, zum gerichtlichen Protokoll zu wiederholen?“

„Nein, mein Herr. Ich würde mich überhaupt nie wieder dazu bekennen, wenn Sie den Versuch machen sollten, sich auf mich berufen zu wollen.“

„Darf ich fragen, zu welchem Zwecke Sie mir unter solchen Umständen Ihre Mittheilungen gemacht haben?“

„Um Sie zu einem gerichtlichen Einschreiten zu veranlassen, wenn Sie nach dem, was ich Ihnen sagte, dazu eine gesetzliche Verpflichtung haben sollten.“

„Die würde ich nicht haben. Wenn ich Sie recht verstanden habe, so würden Sie später unter allen Umständen mir, wie es in Ihrer diplomatischen Sprache heißt, in Betreff unserer ganzen Unterredung ein vollständiges Dementi geben?“

„Das würde ich.“

„Ihre Anzeige kann also für mich nur den Werth einer anonymen haben.“

„So ungefähr wird es sein.“

„Anonyme Denunciationen soll der Richter nach unsern Gesetzen nicht berücksichtigen.“

„Sie würden also auf meine Mittheilungen nichts veranlassen können?“ Ich zuckte mit den Achseln.

„Ich würde das bedauern. Mein Neffe ist allerdings todt, ich glaube es wenigstens; jedenfalls aber würde eine gerichtliche Untersuchung ihm das Leben nicht zurückgeben können. Ein Mensch, auch ein Graf Ruthenberg, mehr oder weniger in der Welt, ist überhaupt eine gleichgültige Sache. Ich hätte dennoch gern eine gerichtliche Untersuchung gesehen.“

[260] „Und warum, wenn ich fragen darf?“

„Ich will auch darin offen gegen Sie sein. Ich möchte wissen, ob meine Combinationen richtig sind, ob ich Menschen und Verhältnisse richtig taxirt habe.“

Die Frivolität, eigentlich der Cynismus des russischen Diplomaten hatte doch auch etwas Originelles; es lag immerhin Geist darin, wenn auch nicht viel. Man konnte dem Manne nicht gram werden. Zudem hatte ich, wenn auch keine Verpflichtung, doch eine Berechtigung, auf Grund seiner Mittheilungen, obwohl ich sie als anonym auffaßte, weiter zu verhandeln. Und ich konnte ihnen andererseits möglicher Weise eine noch schwerer wiegende Bedeutung verschaffen. Ich versuchte dies.

[293] „Herr Graf, unter einer Bedingung dürfte ich mich zu weiteren Nachforschungen entschließen.“

„Darf ich fragen, welcher Art diese wären?“

„Ich würde mich nach Turellen begeben und zunächst Ihre Frau Schwägerin vernehmen, und wenn diese Ihren Verdacht bestätigen würde –“

„Sie wird. Sie wird sofort, ohne Umstände. Und was würden Sie dann weiter vornehmen?“

„Die übrigen Hausgenossen befragen.“

„Sämmtlich? Auch die Gesellschafterin?“

„Auch sie.“

„Ah, Herr Kreisjustizrath, ich bitte um Ihre Bedingung.“

„Sie haben die Güte, mir Ihr Ehrenwort zu geben, daß die Thatsachen, die Sie mir mittheilten, wahr, und die Combinationen, die Sie danach gebildet haben, nicht gegen Ihre Ueberzeugung waren.“

„Werden Sie mir dagegen Ihr Ehrenwort geben?“

„Worauf?“

„Daß Sie in Turellen meine Anwesenheit nicht erwähnen. Es würde Ihnen, bei dem Dementi, das ich Ihnen entgegensetzen müßte, ohnehin nichts fruchten.“

„Sie haben Recht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“

„So haben Sie hiermit das meinige. Ich wünsche Ihrer Untersuchung Glück, mein Herr, und habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

Damit ging er. Seinen Wagen hörte ich auf dem Straßenpflaster zum Thore hinausrollen.

Er hatte die verschiedenartigsten Eindrücke in mir zurückgelassen. Er war einer jener — nicht blos in der russischen Schule gebildeten – vollkommenen Diplomaten, denen, bis auf Eins, in der Welt nichts mehr heilig ist, nicht einmal ihre eigene äußere Ehre, selbst bis zu einem gewissen Grade nicht die Dehors; denn jenes Eine ist nichts, als die unbedingte Ergebenheit gegen die Regierung, der sie dienen. Ihr opfern sie Alles; damit sie nicht compromittirt werde, nehmen sie Gott weiß was auf sich und schneiden sich zuletzt mit dem Rasirmesser unversehens die Luftröhre durch, wie der Graf Bresson in Turin[WS 1]. Es liegt eine Idee darin; man könnte sie eine große Idee nennen, wenn die Aufopferung zum Heile der Völker geschähe.

Mein Diplomat hatte ferner keinen haltbaren Grund, kein zureichendes Interesse angegeben, die ihn zu seiner Denunciation veranlassen konnten. Konnte bei einem solchen Manne das wirklich vorwaltende Interesse nicht ein verwerfliches sein? Konnte er mich nicht als Mittel für unlautere Zwecke mißbrauchen wollen?

Andererseits hatte er mir im Grunde nur seine Combinationen mitgetheilt und dabei mir alle jene Thatsachen vorenthalten, die die eigentlichen, letzten, concludenten Prämissen seiner Schlußfolgerungen bildeten. Schritt ich auf Grund seiner vagen Angaben ein, so lief ich die dringendste Gefahr, wenn mir nicht eine schwerlich zu erwartende Offenheit oder ein noch weniger zu vermuthender Glückszufall entgegen kam, schon bei meinen ersten Schritten stecken zu bleiben und, wie der Graf Alexander Ruthenberg sicher die Achseln zucken würde, la dupe de l’affaire zu werden.

Endlich – und ich leugne nicht, das hatte den tiefsten Eindruck auf mich gemacht – zu welchem Zwecke wollte und sollte ich eine weitere Untersuchung einleiten? Um einen Mord zu entdecken, allerdings; aber auch um die Mörderin zu ermitteln und zur gesetzlichen Strafe, unter das Beil des Nachrichters, auf das Rad zu bringen.

Und wer war diese Mörderin? Der Graf selbst hatte sie als ein braves, tugendhaftes, edles Geschöpf dargestellt, die, fern von ihrer Heimath und ihren Verwandten, verlassen von aller Hülfe in dem fremden Lande, fast unmittelbar an der russischen Grenze sich in den Händen und in der Gewalt eben so mächtiger als roher, vom Laster durch und durch verdorbener Menschen befand, die im Zustande rath- und hülfloser Verzweiflung zuletzt zu einer That hingedrängt war, die nur nach der Strenge des gesetzlichen Buchstabens nicht als ein Act der Nothwehr aufgefaßt werden konnte.

Und der Ermordete war der rohe, gemeine, nicht Sitte, nicht Ehre achtende Wüstling, der nach der moralischen Gerechtigkeit, nach dem Gerechtigkeitsgefühle wie vieler Tausende edel fühlender Menschen nichts, als seinen verdienten Lohn empfangen hatte.

Dennoch durfte, konnte ich meinem Entschlusse, den ich schon während der Mittheilungen des Grafen gefaßt hatte, nicht untreu werden.

Ich hatte seine Anzeige als eine amtliche erhalten. Zwar unter eigenthümlichen Umständen; aber ich durfte sie dennoch nicht völlig ignoriren.

Seine Combinationen konnten falsch sein; meine Untersuchung mußte das dann herausstellen und ich hatte die unglückliche Gesellschafterin [294] von jedem Verdachte gereinigt. Nach den Aeußerungen des Grafen glaubte ich annehmen zu müssen, daß auch die Gräfin Ruthenberg nicht ganz frei von Verdacht gegen ihre Gesellschafterin sei. Wenn die junge Dame aber wirklich schuldig war, mußte dann nicht über kurz oder lang – schon bei jenem gegen sie vorhandenem Verdachte – dennoch eine Untersuchung gegen sie eingeleitet werden, in der wohl ihr Verbrechen zum Vorschein kam, die zu ihrer Entschuldigung gereichenden Umstände aber desto mehr durch den Ablauf der Zeit verdunkelt blieben?

Mir blieb keine Wahl; ich mußte meinen ersten Entschluß ausführen, machte an demselben Abende meinen Plan und schritt gleich am folgenden Morgen zu seiner Ausführung.

Ich fuhr mit dem erforderlichen Beamtenpersonal, einem Actuar und mehreren Criminalboten, nach Turellen. Ich sagte ihnen nichts über den Zweck der Reise, ließ sie auch in dem nächsten Dorfe vor Turellen zurück, mit der Anweisung, sich nicht kund zu geben, weder zu sagen, wer sie seien, noch woher sie kämen, und fuhr allein zu der Gräfin.

Das Schloß Turellen zeigte schon in seiner Umgebung eine für jene Memelniederung ungewöhnliche Eleganz.

Das Haus war zwar gebaut, wie die meisten Schlösser und Landhäuser der Gegend; es hatte nur eine Etage, ein hohes Parterre; dafür war aber seine Länge eine desto größere. In der Mitte war das Dach erhöht und in dieser Erhöhung befand sich noch eine Reihe Zimmer. Das Ganze war von einem parkähnlichen Garten eingeschlossen, der mit sehr großer Sorgfalt erhalten war und in dem lange Reihen Glasfenster von Treibhäusern in der Sonne glänzten. Auch im Innern des Hauses zeigte mir Alles, daß ich in dem Aufenthalte einer Dame war, die in der großen Welt gelebt und deren Genüsse, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten nicht vergessen hatte.

Ich ließ mich bei der Gräfin melden und wurde sehr bald zu ihr geführt. Ich hatte mir – wohl unwillkürlich – ein bestimmtes Bild von ihr gemacht. Eine im Alter etwas corpulent gewordene Dame, mit deutlichen Spuren ehemaliger Schönheit und mit – als Spur ihres früheren galanten Lebens – einer gewissen Leichtfertigkeit oder Ungenirtheit des Benehmens, die an die Frivolität ihres Bruders wenigstens erinnerte.

In allem Jenem hatte ich Recht gehabt, aber nicht in diesem Letzteren. Ich hatte das Weib nach dem Manne beurtheilt, und das ist immer falsch. Wo der Mann an den Schein nicht denkt, da lebt das Weib nur im Scheine. Es kann auch nicht anders. Erst das Weib, das vollständig mit der Welt, mit Tugend, Ehre, Leben gebrochen hat, kann ihm entsagen; dann liegt es aber auch bei hellem Tage im Straßenkothe.

Die Gräfin Ruthenberg war jene etwas corpulente, aber noch sehr schöne Dame; ihre elegante, aber einfache Toilette hob ihr Alter. Man konnte sie für eine Vierzigerin halten, sie zählte sechzig Jahre. Aber der Ausdruck ihres schönen Gesichts und ihr Benehmen entsprachen dem zuletzt genannten Alter. Sie war ernst, würdig, gemessen, kalt, fast streng. Darin also hatte ich mich vollständig getäuscht; aber ich sollte mich nur noch mehr in ihr täuschen.

Daß sie eine kluge Frau war, zeigten Stirn und Augen. Sie war sogar klüger, als ihr Bruder, weil sie gemessener, zurückhaltender war, freilich, wenn seine Offenheit nicht zu jener Sprache der Diplomatie gehörte, welche die Gedanken verbergen soll.

Die Gräfin empfing mich in einem Gartensalon. Ich mußte bei ihr von vornherein mit meinem Zwecke hervortreten, wenn ich ihn nicht ganz verfehlen und mich zudem in ihren Augen lächerlich machen wollte. Die kluge Frau hatte ihn wahrscheinlich schon errathen, als sie nur meinen Namen gehört hatte.

„Gnädige Frau, die Ausübung meiner Amtspflicht zwingt mich, Sie mit meinem Besuche zu belästigen.“

Sie war trotz ihrer Gemessenheit höflich, selbst verbindlich.

„Ein freiwilliger Besuch von Ihrer Seite würde mir angenehmer gewesen sein. Indeß, mein Herr, seien Sie mir auch so willkommen. Was haben Sie mir mitzutheilen?“

„Vor einiger Zeit hat Ihr Neffe, der Graf Paul Ruthenberg, sich ungefähr vierzehn Tage bei Ihnen aufgehalten?“

„Gerade vierzehn Tage.“

„Er verschwand in einer Nacht plötzlich?“

„Plötzlich, mein Herr.“

„Sie haben seitdem auch keine Nachricht, keine Spur von ihm?“

„Keine Nachricht und keine Spur.“

„Haben Sie auch keinen Verdacht über den Grund und die Art seines Verschwindens?“

„Mein Herr, erlauben Sie mir, eine Frage an Sie zu richten?“

„Ich stehe zu Befehl.“

„Setzen Sie das Verschwinden meines Neffen mit einem Verbrechen in Verbindung?“

„Ich nicht, gnädige Frau, aber das Gerücht, ein Gerücht, das mir amtlich angezeigt ist und das ich daher so viel als möglich weiter verfolgen muß.“

„Nach Ihren Gesetzen?“

„Nach unseren Gesetzen.“

„Auch auf die Gefahr hin, ohne allen Grund Personen zu beunruhigen, gar zu compromittiren?“

„Gnädige Frau, ich bin hierher gefahren, blos als wenn ich mir die Ehre geben wollte, Ihnen meinen Besuch zu machen. Außer Ihnen selbst kennt Niemand den Zweck meiner Anwesenheit hier und nur von dem, was Sie die Güte haben werden mir mitzutheilen, hängt es ab, ob noch irgend Jemand anders in der Welt erfahren soll, was mich hierher geführt hat.“

„Sie üben Ihr Amt mit Rücksicht aus, mein Herr. Daß Sie es auch gegen mich thun, dafür bin ich Ihnen aufrichtig dankbar. Zum Beweise meiner Dankbarkeit werde ich völlig offen gegen Sie sein.“

„Ich darf also um Antwort auf meine Frage bitten?“

„Sie fragten, ob ich einen Verdacht habe?“

„Ja.“

„Ich habe keine Ahnung eines Verbrechens.“

„Und wie erklären Sie das Verschwinden Ihres Neffen?“

„Die Zeit muß es aufklären. Bis jetzt ist es mir allerdings unerklärlich.“

„Und dennoch glauben Sie an kein Verbrechen?“

„Nein, mein Herr.“

„Darf ich fragen, gnädige Frau, woraus Ihr Hauspersonal besteht?“

„Aus meiner Dienerschaft.“

„Und diese?“

„Ich habe eine Gesellschafterin, einen Haushofmeister, sechs Bedienten, drei Kammerjungfern, zwei Kutscher. Wollen Sie auch das Küchenpersonal wissen?“

„Vorläufig nicht. Sie haben auch einen Jäger?“

„Einen Förster eigentlich; zu meinem Gute gehören bedeutende Waldungen. Aber der Mann gehört nicht zu meinem Hauspersonal.“

„Sondern?“

„Er wohnt mit seiner Familie etwa zehn Minuten vom Schlosse, dort hinten im Walde.“

„Der Mann hat Familie?“

„Eine erwachsene Tochter.“

Ich stutzte; der diplomatische Graf hatte von einem eifersüchtigen Jäger gesprochen. Hier mußte irgend eine Verwechselung vorliegen. Und doch fiel es mir so eigenthümlich, mit einer so sonderbaren Ahnung auf, als ich von der Existenz eines Försters hörte, der mit seiner erwachsenen Tochter in der Nähe des Schlosses, im Walde wohnte. Einen Grund, eine bestimmte Richtung meiner Ahnung konnte ich mir auf der Stelle nicht klar machen. Aber ich mußte den entdeckten Umstand weiter verfolgen.

„Wohnt der Förster allein im Walde?“

„Seine Wohnung ist das einzige Haus darin.“

„Wie ist der Charakter des Mannes?“

„Er ist ein pflichtgetreuer, sehr strenger Mann.“

„Und seine Tochter?“

„Wie so, mein Herr?“

„In welchem Rufe steht sie?“

„Ich habe mich nicht um sie bekümmert, aber auch nichts von ihr gehört.“

„Sie haben sie auch nicht gesehen?“

„O doch, sie kommt manchmal zum Schlosse.“

„Ist sie hübsch?“

Die Dame mußte sich einen Augenblick besinnen.

„O ja, sie ist recht hübsch.“

[295] Meine Ahnung bekam eine bestimmte Richtung.

Ich combinirte, aber anders, wie der Graf Alexander Ruthenberg. Des Letzteren Neffe war ein ausschweifender Mensch gewesen. Die Försterstochter war hübsch, sogar sehr hübsch. Das hübsche Mädchen hatte dem jungen Manne gefallen; der reiche, vornehme junge Graf dem Mädchen. Der Vater hatte sie über einer heimlichen Zusammenkunft im Walde ertappt. Er war strenge, er war wahrscheinlich, nach Art der meisten Förster, auch heftig; die tödtliche Waffe war sein täglicher Umgang. Wie nahe lag nun das Weitere!

Die Gräfin hatte meine Combination errathen. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein. Mein Neffe hatte mit dem Mädchen nichts zu schaffen.“

„Wissen Sie das gewiß, gnädige Frau?“

„Ich wüßte es, wenn es der Fall gewesen wäre.“

Ein sehr leises Lächeln flog über ihr Gesicht. Es war das erste Mal, daß sie lächelte. Ich glaubte, in ihrem Auge zu lesen: „Wenn er mit dem Mädchen zu schaffen gehabt hätte, er hätte es mir selbst gesagt.“

Gegen den liederlichen Neffen war die gemessene, strenge Frau nicht gemessen und strenge gewesen.

Ich durfte meine neue Combination nicht ausschließlich verfolgen, und fragte weiter:

„Sie haben keinen zweiten Jäger, gnädige Frau?“

„Gewiß, ich zählte ihn unter die Bedienten.“

„Er wohnt also im Schlosse?“

„In dem Souterrain für die Domestiken.“

„Er ist ein junger Mann?“

„Ich denke, in der Mitte der zwanziger Jahre.“

„Seit wann in Ihrem Dienste?“ .

„Seit beinahe einem Jahre. Ich habe ihn im vorigen Sommer aus Deutschland mitgebracht.“

„Wie lange ist Ihre Gesellschafterin bei Ihnen?“

„Seit derselben Zeit.“

„Sie ist eine noch junge Dame?“

„Sie wird neunzehn oder zwanzig Jahre zählen.“

„Sind Ihnen ihre früheren Verhältnisse bekannt?“

„Nein, mein Herr. Ich suchte in Ems eine Gesellschafterin; das junge Mädchen stellte sich mir vor; sie gefiel mir, und das war genügend, um sie zu mir zu nehmen.“

„Sie haben sich in der jungen Dame nicht getäuscht?“

„Wie so, mein Herr?“

„Sie hat sich Ihren Beifall zu bewahren gewußt?“

„Vollkommen. Sie ist ein gebildetes Mädchen, hat einen sanften, beinahe schüchternen Charakter und ist immer freundlich und dienstfertig.“

„Sie hatte also keinen heftigen, leidenschaftlichen Charakter?“

„Durchaus nicht.“

„Auch ihr sittliches Verhalten – verzeihen Sie mir die Frage, die ich nicht gut umgehen kann – ist keinem Tadel unterworfen?“

„Das junge Mädchen hat im Gegentheil sogar sehr strenge Grundsätze.“

„Gnädige Frau, ich muß auch für die folgenden Fragen, so wie für die Bitte um deren offene Beantwortung vorher um Ihre Verzeihung bitten.“

„Sie sind in Ihrem Amte, mein Herr, und ich weiß, was man der Obrigkeit schuldig ist.“

„Wie war das Verhalten Ihres Neffen und Ihrer Gesellschafterin zu einander?“

Ich hatte bei der Frage wieder ein feines, etwas spöttisches Lächeln auf ihren Lippen erwartet. Ihr Gesicht blieb vollkommen unbeweglich. Und doch, ganz hinten in ihrem Auge glaubte ich einen leisen Schimmer von Unruhe zu bemerken. Keine halbe Secunde lang; ich glaubte ihn kaum zu sehen, da war er schon verschwunden.

Sie antwortete auf meine Frage mit vollkommen ruhiger und klarer Stimme, ein wenig stolz; aber der Stolz kam mir etwas zweideutig vor.

„Mein Herr, das Benehmen der Beiden gegen einander war ganz das eines Grafen Ruthenberg gegen die Gesellschafterin seiner Tante, und so umgekehrt.“

Selbst die Worte konnte ich zweideutig, gar frivol finden, einmal im Munde einer Gräfin Ruthenberg, die nach einem Leben voll galanter Abenteuer nicht fromm geworden war, und andererseits nach der Kenntniß, die ich von dem Charakter zweier Grafen Ruthenberg durch einen derselben selbst erhalten hatte.

Indessen, bei dem Stolze, den sie mir einmal entgegengesetzt hatte, durfte ich nicht darauf rechnen, auf dem eingeschlagenen Wege zu meinem Resultate zu gelangen. Ich mußte einen andern betreten.

„Ihre Gesellschafterin hat ihre Zimmer Parterre, gnädige Frau?“

„Parterre, nach dem Garten hin.“

„Es stößt ein Bibliothekzimmer daran?“

Wieder jener Schimmer einer Unruhe in ihrem Auge; diesmal deutlicher, länger. Sie sah mich zugleich unwillkürlich forschend mit dem unruhigen Auge an. Gleich darauf Verdruß in ihrer Miene, daß sie sich vergessen, daß sie Unruhe gezeigt hatte. Nur ein neuer Verrath, wie unruhig sie innerlich war, und wie vielen Grund sie dazu haben mußte.

Es hatte sich also in der That etwas Ungewöhnliches in dem Hause zugetragen, und ich war auf dem rechten Wege zu seiner Entdeckung. Es kam nur darauf an, den Weg nicht wieder zu verlieren.

Sie hatte trotz jener verräterischen Zeichen rasch geantwortet:

„Ihr Schlafgemach stößt an ein altes Bibliothekzimmer.“

Ich fragte eben so rasch weiter:

„Wann waren Sie, gnädige Frau, zuletzt in dem Bibliothekzimmer?“

„Ich erinnere mich dessen nicht.“

„Nicht seit dem Verschwinden Ihres Neffen?“

„Nein, mein Herr. Seit Jahr und Tag wenigstens war ich nicht dort.“

„Haben Sie seit diesem Verschwinden eine Veränderung in dem Benehmen Ihrer Gesellschafterin gefunden?“

„Ich wüßte nicht.“

„Gnädige Frau, entschuldigen Sie die dringende Bitte, über diesen Umstand nochmals genau Ihr Gedächtniß befragen zu wollen. Ich würde bedauern, wenn ich –“

Sie fiel mir in das Wort, halb aufgebracht, halb wieder in jener eigenthümlichen Unruhe.

„Mein Herr, halten Sie mich für fähig, Ihnen die Wahrheit vorzuenthalten?“

„Gnädige Frau, ich darf vollkommen offen gegen Sie sein?“

Sie nickte stolz mit dem Kopfe.

„Ich habe in unserer bisherigen Unterredung von Ihnen bereits Andeutungen erhalten –“

„Von mir, mein Herr?“

„Die mich als Criminalrichter verpflichten, weitere Nachforschungen vorzunehmen, insbesondere die sämmtlichen Leute Ihres Schlosses zu vernehmen.“

Sie wurde auf einmal beinahe heftig.

„Mein Herr, Sie wollten ganz offen gegen mich sein?“

„Ich war es, und werde es ferner sein.“

„Wohlan, wer war gestern Abend bei Ihnen?“

Sie hatte sich selbst gefangen. Meine Worte hatten den Verdacht, vielleicht die Ueberzeugung in ihr geweckt, daß ihr Schwager bei mir gewesen sei, und mir Entdeckungen gemacht habe. Sie ahnte, sie wußte vielleicht diese Entdeckungen. Sie widersprach ihnen nicht; sie wurde gar durch sie beunruhigt. Ein klarer Beweis, daß sie nicht ganz unbegründet waren, mochte ihr Schwager sie ihr schon vorher mitgetheilt haben oder nicht. Im letztern Falle war sie auf eigenem Wege zu demselben Resultate gekommen, wie er, das Resultat war also noch mehr begründet.

Ich mußte ihr antworten. Die Wahrheit durfte ich ihr nicht sagen. Ich konnte aber auch nicht lügen. Ich ergriff einen Ausweg.

„Gnädige Frau, der Criminalrichter hat gesetzlich die Verpflichtung, auf manche Fragen, die an ihn gerichtet werden, keine Antwort zu ertheilen. Auf einer Beantwortung der Frage, die ich die Ehre hatte, an Sie zu richten, muß ich aber bestehen.“

Sie sann nach. Sie legte ihre feine Hand über ihre Augen. So saß sie fast eine volle Minute unbeweglich. Sie fühlte, daß sie gefangen war. Aber dieses Gefühl hatte in der feinen, klugen, stolzen russischen Gräfin, die bisher nur Triumphe gefeiert hatte, und die nun von einem so tief unter ihr stehenden preußischen Criminalrichter sich besiegt sah, alle Leidenschaften eines stolzen und [296] wahrlich nicht reinen Herzens entzündet. Nur der Stolz und die Selbstbeherrschung der Dame von Welt vermochten den vollen Ausbruch ihres Hasses und ihrer Bosheit zurückzuhalten.

Sie erhob sich rasch von ihrem Sitze und richtete sich stolz vor mir in die Höhe, sie blickte mich mit dem Ausdrucke des verachtenden Hochmuths an. Dann sagte sie langsam und mit einer Stimme, die der haarscharfen und eiskalten Schneide eines Stahles glich:

„Mein Herr, ich für meine Person halte über Alles auf Ehre, und werde mich nie eines Verrathes theilhaftig machen. Thun Sie, was Ihres Amtes ist, auch in meinem Hause. Nur an mich, bitte ich, richten Sie keine Frage mehr. Ich empfehle mich Ihnen, mein Herr.“

Sie nickte stolz wie eine Königin mit dem Kopfe, und ging in ein Nebenzimmer. Aber sie blieb gefangen. Ich hatte gewonnen Spiel. Gewonnen Spiel!

Es ist, es muß das Streben des Inquirenten sein, seine Partie zu gewinnen. Und seine Partie ist eine nothwendige für die menschliche Gesellschaft. Aber wie traurig, wie schrecklich ist sein Spiel in dem einzelnen Falle für die Personen, gegen die es gewonnen wird! Es geht um Glück, um Ehre, wie oft um den Kopf! Und ist dann der, der so sein Alles darin verliert, immer ein schlechter Mensch, ein Schurke, ein Bösewicht? Wie oft war nur Schwäche, Verführung, Aufbrausen der Leidenschaft, gar eine an sich edle Gesinnung da, und die arme Gerechtigkeit, wenn sie ihr Opfer erreicht hat, muß über die Binde des Rechts, mit der sie ihre Augen bedecken mußte, den Schleier der Trauer werfen, der Trauer darüber, daß sie doch nur eine arme, blinde menschliche Gerechtigkeit ist. Und wie gar oft ist sie auch das nicht einmal, sondern nichts, als ein starrer, entsetzlicher, selbst das menschliche Recht höhnender Gesetzes-Paragraph! Gegen wen sollte auch ich jetzt mein Spiel gewinnen? Gegen ein armes, tugendhaftes, schutzloses Mädchen, das ihre Tugend und ihre Ehre gegen die rohesten Angriffe vertheidigt hatte!

Die Combinationen des Grafen stimmten mit denen seiner Schwägerin. Sie waren bei Beiden auf die genaueste Kenntniß der Personen und Zustände gestützt. Der frivole Graf, dem nichts heilig war, hatte auch nichts zu schonen gehabt. Er war offen mit seinem Verdachte hervorgetreten; er hatte dabei vielleicht wirklich nur an das Vergnügen gedacht, seine feine Menschenkenntniß bestätigt zu sehen. Die Gräfin war um so zurückhaltender gewesen. Aber sie war eine Frau, die stets gewohnt gewesen war, den Schein zu retten. Ein Bekanntwerden des Verbrechens machte Eclat, griff die Ehre ihres Hauses, ihrer Familie an. Dafür ließ sie lieber ihren nächsten Verwandten in der Mördergrube, aus der er lebendig doch nicht hervorgezogen werden konnte.

Und brachte ein Bekanntwerden und eine Untersuchung des Verbrechens nicht auch nothwendig ihren eigenen, schweren Antheil an das Licht, dessen sie durch Dulden, vielleicht selbst durch Begünstigen der Verfolgungen des Getödteten gegen die Gesellschafterin an der Tödtung ihres eigenen Neffen sich schuldig gemacht hatte? Darum jene Unruhe, darum zuletzt ihr Zorn, ihr Haß gegen mich. Und konnte sie nicht noch größeren, schwerern, unmittelbareren Antheil an dem Verbrechen haben? Eine blos moralische Mitschuld hätte diese Dame kaum so beunruhigen können.

Allein war es denn gewiß, daß nur überhaupt ein Verbrechen, ein Mord vorlag? Und wenn dies, daß die Gesellschafterin die Thäterin sein müsse? Immer fiel mir wieder die hübsche Försterstochter in der einsamen Försterwohnung mit dem strengen, heftigen Vater ein.

Eins war gewiß, ich mußte meine Untersuchung fortsetzen. Noch wollte und konnte ich es mit solcher Schonung, daß ich die Criminalbeamten zurückließ.

Ich dachte über das Alles noch nach, als der Haushofmeister der Gräfin zu mir in’s Zimmer trat.

„Die gnädige Gräfin hat mich zu Ihrer Disposition gestellt, Herr Kreisjustizrath.“

„Ist die Gesellschafterin der Frau Gräfin zu Hause?“

„Sie ist in ihrem Zimmer.“

„Ich bitte, mich zu ihr zu führen.“

Er führte mich durch einen langen Gang fort bis an das Ende des Gebäudes. An der vorletzten Thür blieb er stehen.

„Hier.“

Ich bat ihn, mich allein zu lassen. Er ging.

Ich klopfte an die Thür.

Mir selbst klopfte das Herz. Eine der grausamsten Operationen meines Amtes sollte wieder beginnen. Und gegen wen, gegen welche Unglückliche sollte ich sie vornehmen?

„Herein!“ rief eine sanfte weibliche Stimme.

Ich öffnete die Thür, und trat in das Zimmer.

Eine junge Dame saß an einem kleinen Arbeitstisch und stickte. Sie war sehr schön. Als sie mich sah, stand sie auf, und empfing mich als Dame von Welt. Aber sie sah mich mit einem gewissen unruhigen Befremden an. Die Farbe ihres Gesichts veränderte sich leicht, und auf einmal wurde ihr Blick ängstlicher.

War das jener ängstliche Blick, womit jeder Verbrecher, wenn er einen Fremden sieht, wenn er nur eine Thür plötzlich aufgehen hört, forschen muß, ob nicht schon Polizei und Gerichte hinter ihm seien? Ich sollte in einer Minute Gewißheit darüber haben.

Mein erster Blick in das schöne, edle, weiche und unglückliche Gesicht hatte mir gesagt, daß ich hier keinen so schweren Stand, wie bei der Gräfin haben werde. Wie bei dem Grafen die Frivolität, so kamen mir hier weicher, edler Sinn und das Unglück entgegen. Auch die Züge eines tiefen Unglücks hatten in das schöne Gesicht sich eingeprägt. Sie hatte bei ihrer Arbeit geweint. Ich glaubte, die Thränen noch zu sehen.

„Mein Fräulein, ich bin der Kreisjustizrath – aus –.“

Sie war die Verbrecherin! So konnte bei dem Namen des bekannten Criminalbeamten nur das Schuldbewußtsein erschrecken. Ihr Gesicht überzog sich mit Leichenblässe. Die Stickerei, die sie noch hielt, flog in ihrer Hand hin und her. Sie konnte kein Wort sprechen. Sie schwankte zu einem Sopha, und lud mich mit einem Wink der zitternden Hand ein, neben ihr Platz zu nehmen. Ich folgte ihr.

Sie war schuldig. Es war mir beinahe kein einziger Zweifel mehr; aber das tiefste Mitleid für die Unglückliche kämpfte in mir mit meiner Amtspflicht. Ich ließ ihr Zeit, sich zu fassen. Sie war ja doch mein. Dann begann ich mein trauriges Fragespiel.

„Darf ich um Ihren Namen bitten, mein Fräulein?“

„Ottilie Braun,“ antwortete sie leise. Sie gewann erst nach und nach ihre Stimme ganz wieder.

„Ihre Heimath?“

„Ich bin eine Rheinländerin.“

.Seit wann sind Sie hier?“

„Seit vorigem Spätsommer. Ich war kurz vorher, in Ems, zu der Frau Gräfin als Gesellschafterin gekommen.“

„Wo waren Sie früher gewesen?“

„Auf einem Gute am Rhein, gleichfalls als Gesellschafterin.“

„Vor einigen Wochen war der Neffe der Gräfin, ein Graf Paul Ruthenberg, zum Besuch hier?“

„Ja, mein Herr.“

Sie sprach die Worte fest. Sie hatte sich mehr gefaßt, als ich erwartet hatte. Das Gefühl der äußern Ehre, die Liebe zum Leben, die Furcht – auch die Furcht – der unwiderstehliche Trieb der Selbsterhaltung hatte auch dieses weiche Geschöpf mit jener großen, manchmal wunderbaren Kraft ausgerüstet, die in solcher Weise fast nur der Inquirent kennen lernt, die so oft alle seine Combinationen, alle seine Versuche, alle seine Mühe zu Schanden macht. Das Gesetz verdammt, straft diese Kraft deshalb. Und doch ist sie so rein menschlich.

„Wie lange blieb er hier?“ fuhr ich fort.

„Er war vierzehn Tage hier.“

„Wohin ging er von hier?“

„Mein Herr, er war hier plötzlich in einer Nacht verschwunden, und man hat seitdem keine Nachricht von ihm.“

Sie sprach auch diese Worte mit großer Festigkeit und Sicherheit.

„Verschwunden? Ueber seiner Entfernung läge also der Schleier des Geheimnisses?“

„Es scheint so.“

„Auch für Sie, mein Fräulein?“

Ich sah sie bei der plötzlichen Frage scharf an. Keine Muskel zuckte in ihrem Gesichte. Sie konnte sogar meinen Blick ertragen. Sie hatte in der That jene wunderbare Kraft gewonnen. Aber ich mußte sie ja brechen.

[305] Ich setzte mein Verhör fort und machte zuerst noch einige schwächere Versuche zur Ermittelung der Wahrheit.

„Hatte der junge Graf Ruthenberg hier Verbindungen angeknüpft?“

„Meines Wissens nicht.“

„Wie war seine Lebensweise?“

„Er verbrachte seine Zeit im Schlosse, in der Gesellschaft seiner Tante.“

„Auch Sie waren in der Gesellschaft der Frau Gräfin?“

„Es war mein Beruf hier.“

„Sah der junge Graf Sie oft allein, mein Fräulein?“

„Selten.“

„War er bei Ihnen hier in diesem Zimmer?“

„Nie, mein Herr.“

Sie sprach die Worte mit Stolz, aber doch ungewiß, zum ersten Male ungewiß, seitdem sie sich wieder gefaßt hatte.

„Mein Fräulein, er hat Sie auch nicht mit Liebesanträgen verfolgt?“

Sie hatte wieder ihre volle Sicherheit.

„Mein Herr, wozu diese Frage?“

Ich mußte zu stärkeren Mitteln schreiten. Vorher hatte ich noch ein paar Fragen nach einer andern Richtung hin.

„Ging der Graf hier auf die Jagd?“

„Nein.“

„Machte er allein Spaziergänge?“

„Ich habe nie davon gehört.“

„Kennen Sie die Tochter des Försters der Gräfin?“

„Sie kommt oft zum Schlosse.“

„Hat der junge Graf Ruthenberg sie gesehen?“

„Ich weiß das nicht.“

„Sie haben auch nie davon gehört?“

„Nie!“

Sie hatte rasch geantwortet, wie vorher. Aber auf einmal sah ich, wie sie nachdenkend wurde. Dann schüttelte sie leise den Kopf, für sich, in einer fast schmerzlichen Weise.

Ich hatte noch eine Frage an sie.

„Im Dienste der Gräfin ist ein Jäger?“

„Ja, mein Herr.“

„Sie hat ihn ebenfalls im vorigen Jahre von Bad Ems mitgebracht?“

„Ja.“

„Hatten Sie ihn schon früher gekannt?“

Durch ihr Gesicht flog eine augenblickliche, helle Röthe. Sie besann sich ein paar Secunden; dann antwortete sie aber ruhig:

„Er hatte in der Nachbarschaft des Gutes gedient, auf dem ich als Gesellschafterin war.“

Ich mußte jetzt meinen entscheidenden Schlag gegen sie ausführen.

„Fräulein, an Ihre Zimmer stößt unmittelbar ein Bibliothekzimmer?“

Die Frage mußte ihr einen furchtbaren Stich in das Herz gegeben haben; sie zuckte heftig zusammen.

„Ja!“ antwortete sie kaum hörbar.

„Darf ich bitten, mich hinzuführen?“

Sie war wieder blaß geworden, wie eine Leiche, und ihre Hände zitterten.

Ich war aufgestanden. Sie erhob sich gleichfalls, vermochte es aber nur schwer, denn sie mußte ihre Arme zu Hülfe nehmen, indem ihre Kniee zu brechen drohten.

„Ich bitte, mir zu folgen,“ sagte sie, sich etwas zusammennehmend.

Sie führte mich durch ihr Schlafzimmer in das Bibliothekzimmer. Die Lage war so, wie der Graf Ruthenberg sie beschrieben hatte.

Ich sah mich in dem Zimmer um. Es war ein geräumiges, regelmäßig viereckiges Gemach. Die Wände waren mit hohen, alten Repositorien bedeckt, in denen überall Bücher, meist mit alten Einbänden, standen. Der Boden war parketirt. Das Parket war altmodisch, aber gut erhalten. In der Mitte standen mehrere längliche Tische mit Schreibmaterial. Das Zimmer war ein Eckzimmer und hatte zwei Thüren und drei Fenster.

Durch die eine Thür waren wir aus der Schlafstube der Gesellschafterin eingetreten. Die zweite war links davon in der innern Seitenwand; sie führte in den Corridor, an dem auch die Zimmer der Gesellschafterin lagen. Die drei Fenster führten sämmtlich in den Garten; eins der Thür des Corridors und zwei der Thür des Schlafzimmers gegenüber. Vor diesen beiden letzten zog sich draußen in geringer Entfernung das Spalier eines Apfelbaumes vorüber. Die Zweige, mit Blättern bedeckt, bildeten jetzt eine dichte Hecke; vor sechs bis acht Wochen waren sie noch kahl gewesen. Das Alles übersah ich leicht beim ersten Eintritt in die Stube; es stimmte gleichfalls überall zu der Beschreibung des Grafen Ruthenberg.

[306] Was Alles sollte ich in diesem Räume noch mehr entdecken? War hier wirklich ein Mord begangen? Lag der Leichnam des Ermordeten wirklich unter diesem Parket? War die Mörderin mir zur Seite? Stand sie auf der Stelle, wo sie ihr Verbrechen verübt hatte? Ueber der Gruft, die ihre Unthat verbarg? Wie lange sollte sie diese noch verbergen? Mußten nicht alle Nerven, alle Muskeln, alle Glieder an dem Körper der Unglücklichen zittern, mußte nicht Todesangst, die Todesangst der Entdeckung, ihren Körper durchrieseln, lähmen, wenn sie wirklich auf dem Schauplatze ihrer That, auf der Gruft des Ermordeten stand, an ihrer Seite der Criminalrichter, der Vorläufer des Nachrichters? Des Richters Vetter heißt der Scharfrichter in den alten deutschen Urkunden.

Ein einziges Bret dieses dünnen Parketbodens aufgehoben und der Mord war entdeckt und der Criminalrichter hatte die Verbrecherin erfaßt, um sie dem Nachrichter zu überliefern.

Und sie wußte das!

Sie hatte sich von ihrem Schreck erholt. Aber zu etwas Anderem, als desto klarer ihrer fürchterlichen Lage sich bewußt zu werden? Konnte sie noch einen Zweifel darüber haben, daß ich, wenn auch nicht Kenntniß, doch dringenden Verdacht ihres Verbrechens habe, und daß ich hergekommen sei, die volle Kenntniß mir zu verschaffen?

Und so war es. Sie verfolgte jeden meiner Blicke, jede meiner Bewegungen mit einer Spannung, welche zeigte, wie wohl sie wußte, daß ihr Leben, ihr Tod in meiner Hand liege.

Ich war mitten in dem Zimmer stehen geblieben. Sie stand mit jener meine leisesten Bewegungen verfolgenden Spannung neben mir. Noch ängstlicher schien sie zu erwarten, was ich ihr sagen werde.

„Fräulein,“ begann ich, „ich will Sie hier nicht ferner mit meinen Fragen quälen und werde Ihnen nur noch eine Geschichte erzählen, aber eine traurige, eine schreckliche. Ob auch eine wahre? Sie werden, wenn ich sie Ihnen erzählt habe, sich überzeugen, daß ich jeden Augenblick ihre Wahrheit feststellen kann, daß ich nach meiner unerläßlichen Amtspflicht es aber auch muß.“

Ein Zittern flog bei diesen einleitenden Worten wieder durch ihren Körper. Sie antwortete nichts, sondern hatte den Blick zu Boden geheftet.

Ich fuhr fort:

„Die Geschichte hat sich hier zugetragen, in diesem Schlosse, theilweise in diesem Zimmer.“

Sie zuckte zusammen. Ihr Auge erhob sich unwillkürlich mit einem Blicke der Angst zu mir empor; aber nur den zehnten Theil einer Secunde lang.

„Ja, mein Fräulein, in diesem Zimmer. Hier war die Katastrophe.“

Sie zitterte heftiger.

„Ein junger Mann war in dieses Schloß gekommen; ein herzloser, roher Wüstling.“

Ihre Augen, die ich nicht von meinen: Blicke befreite, irrten unsicher umher.

„Er verfolgte mit schlechten, ehrlosen Anträgen eine junge Dame, die auf Tugend und Ehre hielt.“

Auf ihrer schönen, schneeweißen Stirn glänzten Schweißtropfen.

„Er drang bis in ihr Zimmer.“

Sie zitterte so heftig, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich führte sie zu einem Stuhle, der in der Nähe stand, ließ sie darauf nieder und blieb selbst vor ihr stehen. Ich handelte grausam gegen das arme Geschöpf; das Herz that mir weh, daß ich so handelte; aber ich mußte es. Hätte ich sie in gewöhnlicher Weise ausfragen wollen, ich hätte sie noch weit länger, weit mehr martern müssen; der furchtbare Kampf zwischen beharrlichem Leugnen und endlichem Geständniß wäre für sie ein weit anhaltenderer, ein weit ergreifenderer gewesen. Aber so kam ich ihrer besonderen Natur entgegen und nach heftigem, aber kurzem Kampfe mußte mit einem Male das Geständniß aus ihr voll hervorbrechen, ihre Brust erleichternd und – ihren Kopf unter das Beil des Henkers legend. Und gestehen mußte sie; die Gerechtigkeit forderte es.

Und, glaubt mir, liebe Leser, nicht blos die menschliche, auch die ewige, göttliche Gerechtigkeit, ja, die göttliche Barmherzigkeit, die göttliche Gnade fordern es.

Der Mensch, der ein wirkliches Vierbrechen in seiner Brust, allein in seiner Brust zu verschließen weiß, ohne einer Mittheilung an Andere, ohne des Trostes, der Erhebung durch Andere, ohne der Sühne durch die Strafe zu bedürfen, er hat in seiner Brust keine Reue, und wenn er sie auch sich und Gott heuchelt, sein Herz bleibt verstockt, hart, er kann keinen Antheil an – doch nein, wie kann der Mensch sich unterfangen, bestimmen zu wollen, wem die unerschöpfliche göttliche Barmherzigkeit nicht zu Theil werden könne?

„Er drang bis in ihre Zimmer,“ wiederholte ich. „Sie suchte vergeblich, sich seiner zu erwehren. Sie bat, sie flehete, sie drohte. Umsonst!“

Ihr Gesicht glich kaltem, nassem Marmor.

„Da ergriff sie den Dolch –“

„Halten Sie ein,“ rief sie plötzlich.

War der Moment schon da, ich welchem ihr Geständniß hervorbrechen mußte? Noch nicht; noch kämpfte sie mit der starken Liebe für das Leben.

Ich sah sie fragend an. Sie senkte die Augen nieder. Ihr ganzer Körper bebte fast convulsivisch; ihre Brust wogte; aber sie schwieg. Noch konnte sie nicht sprechen. Ich mußte fortfahren.

„Da wurde hier ein schweres Verbrechen verübt; hier an dieser Stelle. Dann ergriff die Verbrecherin Todesangst. Aber sie mußte die Spuren ihres Verbrechens vertilgen. Auch das geschah hier.“

Ihre Blicke waren wild, wie in einem wilden Wahnsinne, durch das Zimmer geflogen. In der dunkleren Ecke hinter der Thür, die aus ihrer Schlafstube führte, schienen sie auf einmal wie durch einen Zauber festgebannt zu sein. Ich schritt zu der Ecke hin.

„Hier,“ sagte ich, „an dieser Stelle, unter diesen Bretern.“

Sie war aufgesprungen, stürzte auf mich zu und ergriff krampfhaft meine Arme, um mich festzuhalten, daß ich jene Stelle nicht betreten solle.

„Nein, nein!“ rief sie. „Ich beschwöre Sie!“

Es war ein furchtbarer Schrei; es war der Schrei der Todesangst. Sie fiel vor meinen Füßen nieder. Ich wollte sie aufheben, aber sie umklammerte fest meine Kniee.

„Lassen Sie mich sterben; ich kann nicht mehr leben. Tödten Sie mich. Seien Sie barmherzig! Hier! Hier, an derselben Stelle!“

„Stehen Sie auf,“ sagte ich zu ihr. „Fassen Sie sich, denken Sie jetzt nicht an Ihren Tod; denken Sie an Ihr Gewissen, an die Gerechtigkeit, an den Gott der Gerechtigkeit, vor den der Mensch, wenn er Barmherzigkeit von ihm will, nur mit Reue, nur versöhnt treten darf.“

Meine Worte erhoben sie. Sie war in ihrer fürchterlichen Todesangst einer Erhebung fähig. Ihr Herz mußte zugleich muthig und edel sein.

Sie stand auf. Ich führte sie zu dem Stuhle zurück, auf den ich sie vorhin niedergelassen hatte. Ich setzte mich neben sie; sie faßte um so leichter Vertrauen zu mir.

„Theilen Sie mir Alles mit, denn einmal muß es geschehen. Sie müssen Ihr Herz von der entsetzlichen Last befreien, die es erdrückt.“

Sie hatte sich gefaßt; sie wollte mir antworten. Sie warf schon jenen Blick des besseren, freieren Gefühls auf mich, mit dem der Inquisit, nachdem aller Trotz und alle eitle Menschenfurcht in ihm gebrochen ist, nur der erhabenen Stimme des Gewissens folgt und sein offenes, freies Bekenntniß ablegt.

Aber noch einmal konnte sie nicht. Ein Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen.

„Lassen Sie mich erst ausweinen,“ bat sie.

Die Vergangenheit war wohl plötzlich vor sie getreten. Ich ließ sie ausweinen. Die Thränen konnten ja nach allen Seiten nur wohlthätig auf sie einwirken. Sie weinte lange; über ihr Leben, über ihr vergangenes, über ihr verlorenes Leben.

In diesem Augenblicke mußte Alles vor sie treten. Ihre fröhlichen Kindertage, ihre glückliche Jugend, oder war auch diese schon unglücklich gewesen? Sie war noch so jung und mußte, fern von der Heimath, fern von allen ihren Lieben bei fremden Menschen, in fremdem Lande dienen. Und in diesem fremden Lande, in dem sie allein, ohne Schutz, ohne irgend einen Bekannten, so ganz allein da stand, war sie zur Verbrecherin geworden. Niemand, Niemand, der ihr nur helfen, der ihr nur rathen konnte, war bei ihr. Und wenn sie auch die fernen Lieben hätte herbeirufen können, hätte sie es gedurft, gemocht? Die arme, vielleicht selbst schon unglückliche Mutter, die unschuldigen Geschwister, sie, die sie Alle so liebten, [307] sollte sie sie herbeirufen, als Zeugen ihres Verbrechens, ihrer Schmach, ihres Todes auf dem Blutgerüste? Und nur Tod und Blutgerüst standen noch vor ihr.

O, sie war in ihrer Verlassenheit, in ihrem Jammer so sehr, so über alle Maßen der Liebe und des Trostes bedürftig, aber sollte sie Mutter und Geschwister und was sie sonst liebte, in dieser Lage wiedersehen?

Nein, nein, eher sterben; eher sofort sterben!

Schon indem sie an sie dachte, wollte ihr das Herz brechen. Und doch mußte sie an sie denken, und immer und immer wieder. Aber sie hatte sich ausgeweint und die Thränen hatten wirklich wohlthätig auf sie eingewirkt. Sie war in dem Zustande jener stillen, ergebenen Ruhe, die der klare, bewußte, vollständig abgeschlossene Muth gibt. Sie begann ihre schreckliche Erzählung von selbst.

„Ich bin bereit. Muß ich Ihnen Alles sagen? Auch über mein früheres Leben?“

„Ich muß Sie auch über die geringfügigsten Umstände, selbst aus Ihrer Kindheit, befragen.“

„So sei denn auch das.

„Mein Vater war Beamter am Rhein. Er starb vor vier Jahren, als ich fünfzehn Jahre alt war. Er hatte mir eine sorgfältige Erziehung geben lassen. Er starb ohne Vermögen und hinterließ außer mir meine Mutter und eine ältere, kränkliche Schwester, meiner Mutter zugleich eine geringe Wittwenpension. Sie lebt davon mit der kranken Schwester in Coblenz. Ich mußte den Beruf einer Erzieherin oder Gesellschafterin wählen. Noch anderthalb Jahre bereitete ich mich darauf vor, dann trat ich den neuen Lebenslauf zuerst in einer befreundeten Familie in der Nähe meiner Heimath an. Ich blieb dort bis zum vorigen Sommer, wo ich meine gegenwärtige Stelle annahm.“

Sie machte eine Pause. Sie schien mit sich zu kämpfen, ob sie etwas hierher Gehöriges sagen oder verschweigen sollte. Ich kam ihr zu Hülfe.

„Warum verließen Sie Ihre frühere Stellung?“

Sie hatte sich entschlossen.

„Sie müssen auch das wissen. Ich lernte einen jungen Engländer kennen, der sich mit seiner Familie in unserer Nachbarschaft aufhielt. Er heißt Harry Wrigley. Wir liebten uns, aber seine Eltern wollten eine Verbindung des einzigen Erben ihres Vermögens mit einem armen deutschen Mädchen nicht zugeben. Ich ließ mich von ihm zu einer, heimlichen Trauung bereden. Ein englischer Geistlicher, mit dem er befreundet, und der eine Zeit lang in der schönen Rheingegend verweilte, traute uns. Aber er hatte sich nur unter der ausdrücklichen Bedingung dazu entschlossen, daß wir uns sofort nach der Trauung trennten, und uns nicht eher wiedersähen, als bis es Harry gelungen sei, die Einwilligung seiner Eltern zu unserer Vereinigung zu erhalten. Harry konnte seine Eltern nicht verlassen, und so entschloß ich mich zu einer Entfernung aus der Gegend. Ich nahm meine jetzige Stellung an. Aber ganz allein wollte ich in die ferne Fremde nicht gehen. Harry’s Vater hatte einen deutschen Bedienten, einen uns ergebenen treuen Menschen, Anton Nieder. Er sollte mich begleiten, wenigstens um mich sein, zu meinem Schutze, zu irgend einer Vermittlung, die sich als nothwendig herausstellen könne. Es gelang, daß er fast gleichzeitig mit mir bei der Gräfin Ruthenberg als Jäger eintrat.

„Bis jetzt hat Harry die Einwilligung seines Vaters nicht erlangen können. Aber seine Eltern lieben ihn. Wir sind Beide noch jung, und verzweifeln nicht.

„O Gott,“ unterbrach sie sich schmerzvoll. „Wir verzweifelten nicht, bis jenes unglückliche Ereigniß eintrat. Gibt es denn jetzt noch eine Hoffnung für mich? Auch für ihn nicht!“

Nach einer Pause konnte sie wieder ruhiger fortfahren.

„Ich lebte hier glücklich in meiner Hoffnung. Auf einmal sollte mein Glück zerstört werden. Der Neffe der Gräfin kam hier an. Er wollte nur einige Tage zum Besuch bleiben, und blieb länger.

„Schon nach wenigen Tagen überzeugte ich mich, daß ich die unglückliche Ursache seines Bleibens war. Er sagte es mir offen. Er war ein verworfener Mensch, und machte kein Hehl daraus, daß er es war. Er prahlte mit seiner Schlechtigkeit gegen mich, gegen seine Tante. Er sagte lachend, daß jedes Weib zu verführen sei. Er erklärte mir mit Frechheit, daß er auch mich verführen werde. Seine Tante lachte dazu. Sie lachte mit ihm. Ich setzte ihm ruhige Verachtung entgegen. Ich wußte mich sicher gegen etwaige Gewalt durch den Jäger Anton. Freilich auf Eins hatte ich nicht gerechnet, daß er gar in Gegenwart seiner Tante sich Unanständigkeiten gegen mich erlauben werde. Ich zog mich indeß auch aus ihrer Gesellschaft zurück. Sie befahl mir, zu kommen. Ich forderte meinen Abschied. Sie verweigerte ihn mir, mein Contract laufe noch. Ich wollte ihn brechen, aber ich hatte kein Geld zur Reise, und auch Anton nicht.

„Unsere rückständige Gage von der Gräfin zu fordern, wäre vergeblich gewesen; sie hätte die Absicht gemerkt, und dieselbe verweigert, wie meinen Abschied.

„Das war am zehnten Tage, seitdem der junge Graf da war. Wenige Tage darauf trat das entsetzliche Ereigniß ein.

„Ich hatte des Abends zum Thee kommen müssen. Auch der Graf war da, wie gewöhnlich. Er war den Abend etwas still, gegen mich beinahe kalt. Aber er grübelte über etwas, und seine Blicke, die oft plötzlich und verstohlen auf mich fielen, ließen mir keinen Zweifel, daß sein Grübeln mich betraf. Seine Blicke waren glühend, unheimlich, als wenn er über einen schlechten, unheimlichen Plan nachsänne. Ich konnte ihn ohne Schaudern nicht ansehen, und begab mich zeitig in mein Zimmer zurück. Ich wurde nicht aufgehalten, auch von der Gräfin nicht. Sie pflegte es sonst seit den Verfolgungen ihres Neffen gegen mich zu thun. Daß sie es nicht that, erfüllte mich mit neuer Angst. Man hatte etwas gegen mich vor.

„In meinem Zimmer angekommen, klingelte ich nach dem zu meinem Dienste bestimmten Kammermädchen, und fragte sie nach dem Jäger Anton. Ich wollte ihm meine Angst mittheilen, ihn für diese Nacht um besondere Wachsamkeit bitten.

„Das Mädchen sagte mir, der Jäger sei um neun Uhr ausgezogen, um in dem Mondscheine auf den Anstand nach Füchsen zu stellen. Er werde vor Mitternacht wohl nicht zurückkehren.

„Es war erst zehn Uhr. Meine Angst verdoppelte sich. Gerade heute, gerade jetzt war Anton abwesend, ich ohne allen Schutz. Wollte man diese Abwesenheit benutzen? Wozu? Hatte man den Jäger gar absichtlich entfernt?

„Ich schloß mich fest in meinem Zimmer ein. Eben so sorgfältig verschloß ich die Läden an den Fenstern meiner beiden Zimmer. Sie waren sehr stark; durch sie konnte von außen Niemand zu mir eindringen. So weit war ich gesichert. Aber desto mehr Sorge mußte ein Anderes mir machen. Dieses Bibliothekzimmer ist an seinen Fenstern nur mit Jalousieen versehen. Diese aber sind alt, von dünnen, schon morschen Bretern. Sie gewähren keinen Schutz gegen ein gewaltsames Eindringen von außen. Die Thür, die aus diesem Zimmer in meine Schlafstube führt, ist zwar verschließbar, auch auf der Seite meiner Stube, allein Thür und Schloß sind schwach. Ich wußte es, ich hatte sie in den letzten Tagen oft untersucht. Die Thür ist mit Leichtigkeit einzustoßen. Das Geräusch, das dadurch entstehen würde, kann kaum ein großes sein. Innerhalb der dicken Mauern, der mit den Läden und Jalousieen verschlossenen Fenster würde es zum größten Theile verhallen. Was davon draußen noch gehört werden könnte, würde ohne einen besondern Zufall an diesem entlegenen, am späten Abend selten besuchten Ende des Schlosses Niemand, vernehmen. So war ich in meinen Zimmern gegen einen Ueberfall von hier aus nichts weniger als gesichert.

„Ich sah nur ein Mittel zu meinem Schutze. Ich beschloß, aufzubleiben, bis ich den Jäger Anton würde zurückkommen hören. Drohete mir bis dahin ein Ueberfall, so konnte ich immer um Hülfe rufen. Der Graf konnte nur aus dem Bibliothekzimmer kommen; es mußte dann zuerst die Thür meiner Schlafstube zersprengt werden. Während dieses geschah, hatte ich Zeit genug, in den Corridor zu flüchten, zu den weiblichen Domestiken, die dort in der Nähe schliefen. Für den schlimmsten Fall versah ich mich mit meinem Dolche. Harry hatte ihn mir geschenkt. Ich verbarg ihn in meinem Busen.

„Ich hätte den Versuch machen können, das Kammermädchen zu mir zu nehmen. Allein einerseits hätte ich dadurch, wenn meine Furcht sich nachher als ungegründet erwies, ein unnöthiges, mich und die Gräfin compromittirendes Aufsehen erregt. Andererseits mußte ich gar auf eine Weigerung gefaßt sein, da die Gräfin strenge darauf hält, daß die Dienstboten, besonders des Abends, an den ihnen angewiesenen Orten sich befinden.

„Es blieb mir nur jener Weg. Ich hatte das Alles sehr reiflich überlegt. Ich hatte ja noch Zeit. Im Schlosse waren ja [308] noch sämmtliche Leute auf. Noch konnte er nichts gegen mich wagen. So meinte ich. Ich ging in das Bibliothekzimmer, um in den Garten hineinzuhorchen. Durch die fest verschlossenen Läden meiner Stuben konnte ich es nicht. Vom Garten her aber mußte er sich nahen. Jene auf den Corridor führende Thür des Bibliothekzimmers hatte ich schon vorher, ehe ich in das Theezimmer ging, wie jeden Abend, von innen verriegelt. Er mußte das wissen. Ich sah nach, ob der Riegel noch vorlag. Es war der Fall. Ich untersuchte die drei Fenster des Zimmers. Sie waren verschlossen. An zweien waren auch die Jalousieen noch eingehakt. Am dritten nicht; sie hing offen. Ich selber öffnete jeden Morgen die Jalousieen dieses Zimmers, und verschloß sie jeden Abend wieder. Außer mir kam selten Jemand in das Zimmer. Ich sann nach, ob ich auch die offene Jalousie vorhin eingehakt hätte. Es war leicht möglich, daß es unterblieben. Ich hatte vorher an einen Ueberfall nicht denken können. Ich wollte sie einhaken. War sie auch morsch und gebrechlich, sie gewährte immer einen Schutz mehr. Vorher lauschte ich an den beiden andern, dann an diesem. Auch mit den Augen konnte ich nichts entdecken, nicht die geringste Bewegung. Es war eine klare Mondnacht. Ich konnte durch die aufgeschobenen Jalousieen weit in den Garten hineinblicken. Aber Alles lag in tiefster Ruhe regungslos vor mir. Ich hatte mein Licht in meinem Wohnzimmer zurückgelassen. Die Thüre zwischen diesem und dem Bibliothekzimmer hatte ich angelehnt. In dem letzteren war es daher dunkel, und ich konnte von außen her nicht darin gesehen werden. Ich öffnete das Fenster, dessen Jalousie ich befestigen wollte. Es war jenes Eckfenster. Ich öffnete es langsam, leise. Durch das offene Fenster horchte ich noch einmal schärfer in den Garten und in die Nacht hinein. Ich vernahm nicht den leisesten Laut. Sehen konnte ich hier fast gar nichts.

„Fast unmittelbar vor dem Fenster steht ein hoher, breiter Spalierbaum. Er war damals noch nicht belaubt, aber seine Zweige waren dicht und verschränkt genug, um, trotz des Mondlichtes, mir zu verbergen, was auf seiner andern Seite war. Der Zwischenraum zwischen dem Fenster und dem Baume beträgt etwa zwei Fuß. Ich wollte auch in ihn hineinsehen. Es konnte sich dort unten Jemand verborgen halten. Es konnte eine Vorrichtung zum Einsteigen dort angebracht sein. Ich hatte dann sofort Veranlassung, Hülfe herbeizurufen. Um bis ganz Hinuntersehen zu können, mußte ich mich aus dem Fenster vorbeugen. Ich legte mich nur wenig vor, und blickte hinunter. Der Mond schien in den schmalen Winkel nicht hinein, es war dunkel darin.

„In dem Dunkel, gerade unter dem Fenster, hart an der Mauer, glaubte ich, sich etwas bewegen zu sehen. Ich erschrak. Ich dachte noch an Schutz durch die Jalousie, und wollte sie rasch befestigen. In dem Schreck hatte ich die Besinnung verloren. Ich streckte den Arm aus, die Jalousie zu fassen und zu mir hinzuziehen.

„In demselben Augenblicke fühlte ich meinen Arm ergriffen, festgehalten. Ich wollte ihn zurückreißen. Eine Gewalt hielt ihn, der meine Kräfte nicht gewachsen waren.

„Hülfe!“ rief ich.

„Aber der Schreck über den plötzlichen, völlig unerwarteten Angriff hatte mich überwältigt. Anstatt nach dem Garten hin zu rufen, rief ich in das Zimmer hinein.

„Nach dem Garten gingen bewohnte Zimmer des Schlosses. Man hätte mich hören können, beinahe hören müssen. In dem Zimmer hörte mich Niemand.

„Hülfe!“ wollte ich noch einmal rufen. Ich konnte es nicht mehr. Ein Mensch hatte sich rasch in das Fenster geschwungen. Ich erkannte ihn, es war der Graf Ruthenberg. Er schien eine fast übernatürliche Gewalt und Gewandtheit zu besitzen. Mit seiner Hand hatte er, während er sich in das Fenster schwang, noch immer meinen Arm festgehalten. Die andere Hand legte er mir auf den Mund, daß ich nicht schreien konnte. So wollte er zu mir in das Zimmer springen. Zu meinem Schreck gesellte sich die fürchterlichste Angst. Ich war so allein, so verlassen! Verlassen von aller menschlichen Hülfe, in dem fremden Lande; in der Gewalt eines rohen, gemeinen, zu dem Aeußersten fähigen und bereiten Wüstlings; preisgegeben von meiner Gebieterin, die mich hätte beschützen sollen. Zurückgewiesen, verhöhnt, wenn ich nur wagte, Schutz zu suchen. Der Einzige, der mich hätte retten können, war entfernt. Ich sollte die Beute eines höllischen Complots werden, unglücklich für mein Leben lang, vernichtet an meiner Tugend, an meiner Ehre. Ich durfte meinen Mann nicht wiedersehen; ich konnte meiner Mutter und meiner Schwester nicht wieder unter die Augen treten. Ich wußte nicht mehr, was ich that, was ich thun sollte. Ich hatte mit der linken Hand nach der Jalousie gefaßt; meinen linken Arm hielt der Graf fest; mein rechter Arm war frei. Ich griff mit der Hand in meinen Busen. Dort hatte ich meinen Dolch verborgen. Ich faßte den Dolch. Der Graf war noch in dein offnen Fenster. Er machte eine Bewegung, sich in das Zimmer hinunter zu lassen. Ich schwang meinen Dolch nach seiner Brust. Da –“

Die Unglückliche konnte nicht weiter sprechen. Ihr Gesicht hatte sich wieder mit einer furchtbaren Blässe überzogen. Ihre Augen starrten wie aus einem Grabe. Die Stimme versagte ihr. Die Erinnerung an das entsetzliche Ereigniß hatte sie mit neuem Schrecken ergriffen.

„Da?“ fragte ich sie. „Was geschah?“

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Ein neuer Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen. Dann rang sie verzweiflungsvoll die Hände.

Die Arme! Sie stand so dicht vor der Schwelle des letzten, fürchterlichsten, des für ihr Schicksal entscheidenden Moments ihrer Geständnisse. Sie sollte diese Schwelle überschreiten. Noch ein Wort, und sie überlieferte sich dem Schaffot.

Sie hatte rein und treu in die Arme ihres Mannes zurückkehren, sie hatte mit freiem Blick wieder unter die Augen der Mutter treten wollen! Sie sollte sie nie wiedersehen, nicht den Einen, nicht die Andere. Sie sollte weit, weit von ihnen ihren Nacken unter das Beil des Scharfrichters legen.

„Was geschah?“ fragte ich und die Worte schnitten mir selbst wie ein scharfes Messer in das Herz. Ich konnte nicht anders, ich mußte meiner Pflicht folgen.

Sie hatte ihre Thränen wieder getrocknet und war wieder ruhiger geworden.

„Da,“ sagte sie langsam, fast leise, und indem sie den Blick nicht zu mir erheben konnte, „in demselben Augenblicke sah ich eine andere Hand, die sich nach seiner Brust bewegte, und in der Hand sah ich im Mondschein eine scharfe Waffe blitzen. Und in dem Augenblicke darauf lag der Graf im Zimmer, vor meinen Füßen, eine Leiche. Ich verlor das Bewußtsein.“

Der Schrecken der Erinnerung ergriff sie von Neuem. Sie mußte wieder eine Pause machen.

Und ich, der ich jetzt diese Geschichte erzähle und damals als Inquirent der jungen Dame gegenübersaß? Im ersten Augenblicke athmete ich leicht auf, als wenn die Unglückliche plötzlich vom Tode errettet sei.

[317] Mein Mitleiden mit dem armen, verlassenen jungen Wesen, die Lebhaftigkeit, mit der sie vorhin erzählt hatte, die einfache Wahrhaftigkeit, die sich in jedem ihrer Worte ausgesprochen hatte, das Alles hielt mich unwillkürlich jetzt noch in einem Zauber gefangen, der mir auch ihre letzten Worte als wahr erscheinen ließ. Allein dieser Zauber konnte nur einen kurzen Augenblick vorhalten.

Der Leser eines Romans hätte einer solchen Entwickelung ferner Glauben schenken können, nicht der Inquirent. Dem geschwungenen Dolche dessen, der den Tod eines Anderen beschlossen hat, kommt nicht aus heiterem Himmel, und wenn es auch in einer hellen Mondnacht wäre, ein fremder Stahl zu Hülfe, um gefällig den Todesstreich auf sich zu nehmen. Und sie hatte, als sie die sonderbare Enthüllung erzählte, mich nicht ansehen, sondern nur verwirrt zu Boden blicken können! Und es war bei aller Tugend und edlen Gesinnung, die sie bis dahin gezeigt hatte, so natürlich, daß sie ihr Leben retten wollte!

Aber dennoch! Wie ich als Inquirent ihren Versicherungen nicht unbedingt glauben konnte, so konnte ich sie auch nicht von vornherein als erlogen betrachten. Ich mußte eben untersuchen, erforschen, ob sie wahr oder unwahr waren. Und konnte ihr nicht auch in der That in jenem entscheidenden Augenblicke eine andere Hand zuvorgekommen sein?

Der Jäger Anton war ihr treuer, ergebener Beschützer. Konnte er nicht, durch Zufall oder von Angst für seine Herrin getrieben, gerade zur rechten Zeit zurückgekehrt sein?

Sie war wieder ruhiger geworden.

„Sie hatten das Bewußtsein verloren?“ fragte ich sie.

„Ich war in eine tiefe Ohnmacht gefallen.“

„Und als Sie erwachten?“

„Lag ich am Boden neben der Leiche. Meine Kleider waren blutig.“

„Weiter.“

„Ich war in einem schrecklichen Zustande. Die Leiche war an meiner Seite. An dem Morde konnte ich nicht zweifeln. Aber daß ich ihn nicht verübt hatte, daß eine fremde Hand der meinigen zuvorgekommen war, das war mir wie ein Traum. Und doch! Mein Dolch lag neben mir. Ich besah ihn. Er war rein, kein Tropfen Blut klebte daran.

„Wer hatte die That verübt?“

„Anton? Aber warum war er nicht bei mir? Wie hatte er mich in dieser entsetzlichen Lage allein lassen, sogar den Schein, den Verdacht, nein, die Gewißheit des Mordes auf mich werfen können? Allein das konnte ja nur einen Augenblick sein. Er konnte sofort die Flucht ergriffen haben, um sein Leben zu retten. Aus dem ersten sicheren Aufenthaltsorte theilte er die Wahrheit mit und befreite mich wieder. Auch das blieb mir freilich, wie ich den braven Menschen kannte, nur wahrscheinlich. Aber es war nicht unmöglich. Meine Lage war durch den Gedanken nicht weniger fürchterlich. Ich war allein bei der Leiche. Ich mußte, wenn auch nur für die erste Zeit, für die Mörderin gehalten werden. Ich ging allen Qualen, aller Schmach der gerichtlichen Untersuchung entgegen! Und immer war ich wieder allein.

„O, welch ein armes, unglückliches Geschöpf ist ein Mädchen, das in fernem, fremdem Lande, unter lauter fremden Menschen allein, verlassen dasteht! Das Gefühl hat mich nie drückender überwältigt.

„Das Fenster stand noch offen und der Mond schien hell hindurch. Sein Licht fiel auf den blutigen Leichnam neben mir, auf die verzerrten Gesichtszüge des Todten. Und ich war allein und als Mörderin bei ihm! Ich war der Verzweiflung nahe. Da hörte ich ein Geräusch; es waren Schritte im Garten; sie naheten sich dem Hause, dem Zimmer, in dem ich mich befand, dem offenen Fenster. Es waren eilige Schritte. Ich erbebte in meiner Todesangst und sprang an das Fenster. Es war Anton. Ich stieß einen lauten Schrei aus.

„Habe ich Sie erschreckt, Fräulein?“

„Er mußte mich so nennen, wenn wir auch allein waren.

„Wo kommen Sie her, Anton?“

„Aus dem Walde.“

„Jetzt erst?“

„In diesem Augenblicke. Ich hatte eine so sonderbare Angst, den ganzen Abend, und wäre gern schon früher zurückgekehrt, aber es ging nicht. Als ich durfte, eilte ich hierher, in geradester Richtung nach diesem Flügel des Schlosses. Da sah ich hier die Jalousien, dann gar das Fenster offen stehen; ich mußte wissen, was es war.“

„Er trug noch Gewehr und Jagdtasche bei sich. Sie bestätigten seine Worte. Er war es also nicht gewesen. Wer dann? Was war geschehen?

„Allmächtiger Gott!“ rief ich.

„Da sah er die Leiche.

„Um Gotteswillen!“ rief er.

„Er sprang in das Zimmer und verschloß das Fenster; dann mußte ich ihm erzählen.

[318] „Aber auch er wußte nicht, wer das gethan, was geschehen war. Wir riethen Beide vergebens.

„Aber wir müssen handeln,“ sagte er. „Der Verdacht des Mordes wird auf Sie fallen; der rechte Mörder wird sich nicht melden oder er wäre schon hier. Aller Schein ist gegen Sie. Die Wahrheit werden Sie nie beweisen können. Die mächtige Familie des Ermordeten wird Sie als Opfer fordern und Sie verurtheilen. Ich könnte Sie retten –“

„Ich errieth ihn.

„Nie, Anton! Sie wollten den Mord auf sich nehmen!“

„Darf ich?“ bat der treue Mensch.

„Nie, nie, Anton, so lange ich noch ein Wort sprechen könnte, würde ich es sagen, daß Sie nicht der Mörder sind!“

„Ich fürchtete es. So bleibt nur ein Mittel. Der Tod des Grafen muß verborgen werden. Aber wie?“

„Er sann nach. Sein erster Gedanke war, daß er die Leiche in den Wald tragen wollte; aber das war gefährlich, kaum ausführbar. Er war mit einem der Bedienten zusammen auf dem Anstande gewesen; sie hatten die Hunde zurückgebracht, diese waren des Nachts frei und das geringste Geräusch hätte sie herbeigerufen. Sie hätten die Leiche mit Gebell, Geheul verfolgt; sie hätten die Stelle aufgesucht, wohin sie gebracht, und die Grube aufgewühlt, in die sie gelegt worden wäre. Der Leichnam mußte im Hause bleiben; und hier konnte er nur in dem Zimmer verborgen werden, in dem wir uns befanden. Das Getäfel des Fußbodens war leicht auszuheben und wieder einzusetzen. Die Nacht war noch lang genug, um bis Tagesanbruch eine Grube zu graben, denn es war erst elf Uhr. Selbst bei Tage war keine Störung darin zu befürchten. Das Bibliothekzimmer wurde nur von mir besucht, und außerdem manchmal von Fremden, die zum Besuch da waren. Die Gräfin war seit meiner Anwesenheit im Schlosse nie darin gewesen. Domestiken waren gleichfalls niemals hineingekommen, wenn ich ihnen nicht Auftrag dazu gegeben hatte.

„Auch die Blutspuren, so wie die Spuren des Verbergens der Leiche waren daher ohne Gefahr einer Störung zu vertilgen. Wir arbeiteten die ganze Nacht. Als der Tag anbrach, waren wir fertig, Hier unter meinen Füßen liegt die Leiche.

„Die blutige That blieb unentdeckt. Ob die Gräfin nicht eine Ahnung hatte, weiß ich nicht. Sie zeigte keinen Verdacht. Manchmal kam mir der Gedanke, sie wolle keinen zeigen; in ihrem Gewissen mochte Veranlassung genug dafür sein. Wenn sie in der That an einen Mord glaubte, wenn sie dabei mich und Anton für die Thäter hielt, wie großen Antheil trug sie selbst!“

Das war die Erzählung der jungen Dame.

Wie nahe hatte jener eben so feine als frivole russische Diplomat, der Graf Alexander Ruthenberg, die Wahrheit getroffen! Es sollte ihm in der That die Genugthuung werden, Menschen und Verhältnisse richtig taxirt und daraus richtige Folgerungen gezogen zu haben. Nur etwas zu frivol war er noch gewesen. Aber hatte er denn wirklich auch gerade in der Hauptsache die Wahrheit so nahe getroffen? War die unglückliche Dame die Mörderin? War sie nicht die Mörderin?

Der Name mag hier beibehalten werden. Nach strengen criminalistischen Begriffen lag allerdings, wenn die Dame die Thäterin war, kein Mord, sondern nur ein Todtschlag vor. Und auch bei diesem konnte, nach gegenwärtiger Lage der Sache, die Frage aufgeworfen werden, ob nicht gerechte Nothwehr vorhanden gewesen sei. Indessen kam es darauf für jetzt nicht an. Zunächst mußte festgestellt werden, wer der Mörder, wer der Thäter war.

Auch der Jäger Anton sollte es nach der Versicherung des Fräuleins – auch ich nannte sie so – nicht sein. Die Sache wurde dadurch sowohl in ihren Thatumständen, wie psychologisch, dunkler, verwickelter. War sie, das Fräulein, die Mörderin, und sie hatte noch immer die Hoffnung, durch eine Unwahrheit sich frei zu machen? War der Jäger der Thäter, und sie wollte auch ihn durch eine Unwahrheit retten?

Hatte sie in der That die Wahrheit gesprochen und hatte einer jener Zufälle, die auch in Criminalacten zuweilen, wenn freilich selten genug, hervortreten und bewiesen werden, auch hier sein wunderbares Spiel gespielt? Aber konnte er auch hier bewiesen werden? Und was nicht bewiesen wird, was Niemand weiß, das ist gar nicht dagewesen. Bis jetzt aber wies keine Spur, nicht die Ahnung einer Spur auf einen solchen Zufall hin. Nichts, gar nichts sprach dafür, als die bloße, nackte Versicherung einer schwer Verdächtigen, die sich oder einen treuen Diener, gar einen Mitgenossen ihres verdächtigen Thuns, retten wollte.

Das Inquiriren selbst ist ein Beweisverfahren. Ich mußte mit meinem Inquiriren fortfahren.

Zunächst mußte ich Gewißheit darüber haben, mit wem ich es überhaupt zu thun hatte. War sie eine Abenteurerin, die mir einen Roman erzählt hatte, oder hatte sie über ihr früheres Leben mir die Wahrheit gesagt? Ihr Aeußeres, ihre Worte, ihre Sprache, das Alles redete für sie, stellte sie gar als ein ungewöhnliches, als ein edles Wesen dar. Aber wie oft hat das Aeußere eines Menschen schon betrogen, auch schon Inquirenten!

„Sie sind verheirathet?“ fragte ich sie. „Sind Sie im Besitze eines Trauscheines?“

„Ja, mein Herr; der Geistliche, der uns traute, stellte auf Harry’s Verlangen uns jedem einen Schein darüber aus.“

„Haben Sie auch Briefe Ihres Gemahls?“

„Ich kann Ihnen seine ganze Correspondenz vorlegen.“

Wir begaben uns in ihr Wohnzimmer. Sie schloß in diesem eine Commode, dann ein in dieser befindliches Mahagonikästchen auf. Sie übergab mir Trauschein und Briefe. Die Briefe sprachen die zärtlichste, die innigste Liebe aus.

Ich hatte es mit keiner Abenteurerin zu thun; ich athmete in der That für sie auf.

Jetzt kam es zunächst auf den Jäger Anton an. War er der Thäter und bekannte er sich als solchen, so war sie ganz gerettet. Und wenn er der Thäter war, so zweifelte ich keinen Augenblick daran, ohne große Mühe das Bekenntniß von ihm zu erhalten. War er nicht der Thäter, so kam Alles darauf an, was die Dame, als er sie zuerst nach der That getroffen, zu ihm über diese gesagt hatte. Hatte sie ihm das Nämliche gesagt, wie mir, so war das gleichfalls ein erheblicher Beweis für ihre Unschuld und es war Hoffnung da, daß weitere Ermittelungen diese ganz herausstellen würden.

Vor allen Dingen mußte ich indeß nunmehr, da ein Verbrechen und ein Verdacht gegen einen bestimmten Thäter vorhanden war, den Formen des Gesetzes in Betreff des Untersuchungsverfahrens Genüge leisten. Ich schrieb ein Billet an die Kreisärzte in Tilsit, in dem ich sie aufforderte, zur gerichtlichen Obduction einer Leiche sofort nach Turellen zu kommen; ich rief dann meinen Kutscher und befahl ihm, nach Tilsit zu fahren und die Aerzte in meinem Wagen abzuholen, auf dem Hinwege aber in dem nächsten Dorfe vor Turellen die dort wartenden Criminalbeamten schleunigst zu mir zu bescheiden. Darauf ließ ich mir von dem Fräulein ihren Dolch vorzeigen. Sie übergab ihn mir. Es war eine feine und starke englische Arbeit. Nicht die leiseste Spur von Blut war daran zu finden. Aber auch in dem Bibliothekzimmer, in das ich mich wieder begab, konnte ich durch das sorgfältigste, aufmerksamste Suchen keine Spur entdecken, daß hier jemals nur ein einziger Blutstropfen verspritzt sei. Und doch war noch vor wenigen Wochen das Blut hier geflossen.

Die Unglückliche hatte das Zimmer ja für ihr Leben gereinigt. Unter welcher immerwährenden Todesangst!

Die Criminalbeamten trafen ein. Ich nahm kurz die Geständnisse der Dame zu Protokoll und forderte sie dann auf, in ihrer Wohnstube zu bleiben; ich selbst aber wollte mich in das Bibliothekzimmer begeben, um dort die weiteren Verhandlungen vorzunehmen. Zuerst die Vernehmung des Jägers Anton. Ich befahl einem Criminalbeamten, mir den Jäger vorzuführen. Auf einmal wurde die Dame unruhig.

„Den Jäger Anton wollen Sie vernehmen?“ fragte sie.

„Gewiß. Auf seine Aussage kommt Alles an.“

„Aber er ist nicht hier.“

„Und wo ist er?“

„Ich habe ihn fortgeschickt.“

„Sie?“

„Ich hatte vorhin in meiner Angst nicht daran gedacht, es Ihnen zu sagen.“

„Erzählen Sie.“

„Hier konnte ich nicht länger mehr bleiben. Daß die Gräfin vor Ende der Contractszeit mich entlassen werde, war zweifelhaft. Es fehlte mir also an Reisegeld. Ich konnte, bei der Armuth meiner Mutter, mir es nur von Harry verschaffen. Ich mußte ihm den Grund meiner Bitte wenigstens andeuten, und das konnte ich nicht schriftlich. So mußte denn nun Anton zu ihm reisen.“

„Und er ist noch nicht zurück?“

[319] „Ich kann ihn auch in den ersten acht Tagen noch nicht zurückerwarten. Er hatte nur sehr wenig Geld; er mußte daher die Hinreise fast ganz zu Fuße machen.“

„Er ist nicht hier? Das ist freilich ein sehr schlimmer Umstand.“

Hatte sie mir doch nicht die Wahrheit gesagt? War dennoch der Jäger der Mörder? War er ihr Gehülfe? Jedenfalls gewann der Verdacht gegen sie an neuer, an außerordentlicher Stärke. Ich sann schweigend über diese plötzliche Veränderung der Lage der Sache nach. Sie konnte meine Gedanken errathen.

„Aber er kommt bestimmt zurück,“ sagte sie.

„Erwarten Sie es?“

„Ich bin überzeugt davon; ich schwöre darauf.“

Sie sprach mit festester Zuversicht und konnte nicht gelogen haben. Dennoch mußte ich sie jetzt nach dem Gesetze als verdächtige Mörderin betrachten und behandeln. Sie hatte sich zu Situationen und Handlungen bekannt, auf deren Grund ein französisches Geschwornengericht sie gar schuldig erklärt haben würde. Der einzige Zeuge, der für ihre Unschuld sprechen konnte, war nicht da. Ich erklärte ihr das.

Sie war wieder ruhig geworden. Oder war nach all’ den Stürmen der letzten Stunden eine Erschlaffung, ein erklärlicher Zustand der Unempfindlichkeit bei ihr eingetreten?

„Wie oft, wie lange habe ich mit diesem Gedanken mich vertraut machen müssen!“

Weiter sagte sie nichts. Ein schwerer Seufzer begleitete die Worte. Dann legte sie das blasse, schöne Gesicht in ihre beiden Hände.

Die Unglückliche! Als Verbrecherin in den Händen des Gerichts! So verlassen, fern von Allen, die sie liebte, von denen sie geliebt wurde! So ganz allein, so völlig verlassen.

Aber muß ich sie denn als Verbrecherin behandeln? Soll sie acht Tage lang als solche gelten, bis jener treue Diener wiederkommt, auf dessen Rückkehr sie baut, wie nur je ein frommer Mensch auf seinen Gott?

Wieder trat ein Bild vor meine Seele, das heute schon mehrere Male, immer ohne daß ich eine Veranlassung gehabt hatte, daran zu denken, wie ein dunkler Schatten an mir vorübergezogen war. Es trat Heller, in bestimmteren Umrissen vor mich. Es waren die schöne, leichtfertige Försterstochter und ihr strenger, jähzorniger Vater. Ich mußte es festhalten. Es entschwand mir nicht wieder.

Ich wandte mich wieder an die Unglückliche.

„Sie stutzten vorhin, als ich Ihnen von der Tochter des Försters sprach!“

Aber sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, das war nur ein flüchtiger Gedanke.“

„Sie wissen nichts von ihr?“

„Gar nichts.“

„Sie haben auch keine Vermuthung?“

„Nicht die geringste.“

Ich sandte dennoch zwei Criminalboten fort, um den Förster und seine Tochter – er war Wittwer und wohnte mit ihr allein – herbeizuholen; getrennt zwar, aber als Zeugen und mit aller Rücksicht, die man einem Zeugen schuldig sei.

Unterdeß waren die beiden Kreisärzte aus Tilsit angekommen. Ich ließ das Täfelwerk in dem Bibliothekzimmer aufheben, an der Stelle, wo der Leichnam vergraben sein sollte. Die frisch ausgegrabene Erde lag unmittelbar unter den Bietern. Ich ließ sie aufgraben. Da lag die Leiche in voller Bekleidung; sie war schon ziemlich verweset, aber noch kenntlich.

Die Unglückliche, der That Verdächtige hatte bei dem Aufgraben zugegen sein müssen; ich konnte sie nicht davon befreien. Es war eine fürchterliche halbe Stunde für sie. Aber als endlich der Leichnam offen zu Tage kam, da war es doch, als wenn eine wunderbare Kraft sie wieder erhoben hätte.

Einen andern Eindruck machte der Anblick auf die Gräfin Ruthenberg. Auch ihr mußte ich nach Vorschrift des Gesetzes die Leiche vorzeigen. Ich hatte ihr vorher mitgetheilt, daß ihr Neffe wirklich getödtet sei, daß die That in dem Bibliothekzimmer verübt worden wäre und dort auch die Leiche verscharrt liege. Ueber den näheren Umständen der That und über dem Thäter ruhe noch ein Dunkel. Die Mittheilung hatte sie doch ergriffen. Die Stimme ihres Gewissens mochte laut genug in ihr sprechen; aber sie gewann bald Gewalt über sich, um ihr Inneres zu verbergen. Da führte ich sie zu dem Leichnam. In dem ersten Augenblicke konnte sie noch einen Blick der Wuth auf ihre Gesellschafterin werfen, die sie für die Thäterin hielt; aber als sie den in Gott ergebenen und auf Gott vertrauenden Blick der Reinheit und Unschuld in den Augen des Mädchens sah, da brach sie zusammen; ein fürchterlicher, der menschlichen Stimme fast nicht ähnlicher Schrei entfuhr ihrer Brust. Sie konnte den Anblick, nur die Nähe des Todten nicht mehr ertragen. Sie stürzte aus dem Zimmer.

Es ist doch etwas um Unschuld und Recht, um Schuld und Gewissen und Strafe des Gewissens.

Jene Unglückliche hielt ich immer mehr für unschuldig. In diesem Gegensatze fand ich volle Bestätigung. Aber das war nur für meine alleinige innere Ueberzeugung, und, diese galt vor dem Gesetze gar nichts. Sollte ich auch den Beweis des Gesetzes erhalten? Eine günstige, freilich nur schwache Vermuthung ergab die nähere Besichtigung der Leiche; sie zeigte unmittelbar über dem Herzen eine breite Stichwunde. Wie sich nachher bei der Section auswies, war das Herz fast vollständig in der Mitte durchbohrt, so daß der Tod auf der Stelle hatte erfolgen müssen. Die Wunde aber hatte eine Länge und Breite, die nicht dem feinen Dolche zu entsprechen schien, den die Verdächtige mir übergeben hatte; ein stärkeres und breiteres Instrument schien sie hervorgebracht zu haben.

„Ein Hirschfänger etwa?“ fragte ich die Aerzte.

„Es wäre möglich.“

Aber mit Gewißheit, nur mit einem höheren Grade von Wahrscheinlichkeit konnten sie nichts sagen; die Verwesung war gerade an jener Stelle des Körpers zu weit vorgeschritten. Mit welcher Spannung sah ich dem Verhöre des Försters und seiner Tochter entgegen! Die Criminalboten, die ich zu dem Försterhause abgeschickt hatte, waren zurückgekehrt und hatten nur die Tochter mitgebracht. Der Förster war nicht zu Hause gewesen; er war seit Mittag im Walde. Im Försterhause war die Anweisung an ihn zurückgelassen, gleich nach seiner Rückkehr zum Schlosse zu kommen. Ich ließ das Mädchen zum Verhör vorkommen. Ich vernahm sie ohne die Gegenwart Dritter; nur mein Actuar war, wie das Gesetz es forderte, bei mir, um das Protokoll zu führen. Die Nachricht von dem Tode, von der Ermordung des jungen Grafen, von der Auffindung der Leiche, von der Anwesenheit des Criminalgerichts, um die Sache zu untersuchen, hatte sich schnell verbreitet; weiter war aber nichts bekannt geworden.

Das Mädchen trat befangen herein. Sie war hübsch, frisch; sie hatte den Blick jener leichtfertigen, aber allerdings einfachen Koketterie, die den Männern gefallen will, weil sie die Männer liebt. Sie ist leicht zu berücken, weil sie eben um jeden Preis geliebt sein will. Dem hübschen, gewandten, vornehmen jungen Grafen mochte sie um jeden Preis haben gefallen wollen. Der ausschweifende junge Mensch konnte mit ihr vorlieb genommen haben. Das machte ihre Befangenheit erklärlich; an irgend etwas Anderes konnte man dabei nicht denken. Auch ihr ferneres Benehmen gab keinem weiteren Verdachte Raum.

„Haben Sie den Grafen Paul Ruthenberg, den Neffen der Frau Gräfin, gekannt?“

Sie erröthete, sie mußte die Augen niederschlagen.

„Er war ja ein paar Wochen hier auf dem Schlosse,“ entgegnete sie.

„Sie haben ihn also gekannt?“

„Ich habe ihn wohl gesehen.“

„Auch gesprochen?“

Sie erröthete von Neuem.

„Er hat mich ein paar Mal angeredet.“

„Wo war das?“

„Am Schlosse, im Garten.“

„War er nicht bei Ihnen, in Ihrer Wohnung?“

Sie zögerte mit der Antwort.

„Nun?“

„Nur einmal.“

„Waren Sie allein mit ihm da?“

„Ja.“

„Wo war Ihr Vater?“

„In dem Forst.“

„War es bei Tage oder bei Abend?“

„Es war noch bei Tage.“

„Also gegen Abend?“

[320] „Gegen Abend.“

„Waren Sie nicht noch mehrere Male allein mit ihm?“

„Wo sollte das gewesen sein?“

„Ich frage Sie.“

Sie fing an zu zittern und konnte die Augen gar nicht mehr erheben; ihr schuldhaftes Verhältnis; war mir nicht mehr zweifelhaft. Ich mußte weiter gehen.

„Hat Ihr Vater erfahren, daß er Sie allein gesehen und gesprochen hat?“

„Er hat mir nichts darüber gesagt.“

„Hat er nie mit Ihnen von dem Grafen gesprochen?“

„Ich wüßte nicht.“

„Sie weichen mir aus.“

„Fragen Sie meinen Vater.“

Sie hatte ihren vollen Muth wieder erhalten; selbst ihre Befangenheit hatte sich verloren. Entweder standen sie und ihr Vater in der That außer Beziehung zu dem Verbrechen und sie wußte auch nichts von diesem, oder sie hatte mit ihrem Vater eine genaue, feste Abrede getroffen, so daß sie sich getrost auf ihn berufen konnte, durch diese Berufung sogar an eigener Sicherheit gewann.

Ihre weitere Befragung erschien mir daher wenigstens vor der Hand zwecklos, zumal da ich keinen thatsächlichen Anhalt hatte, um ihr Vorhaltungen über einen unerlaubten Umgang mit dem Grafen machen zu können. Jedenfalls mußte ich vorher hierüber nähere Erkundigungen einziehen. Durch eine Vernehmung ihres Vaters konnte ich übrigens voraussichtlich eben so wenig etwas erreichen. War das Mädchen schon so fest und sicher, so war er es gewiß.

Das war eine traurige Aussicht für die arme Verdächtige, die ich so gern für schuldlos hielt. Nichts als meine tatsächlich völlig unbegründete, von ihr selbst nicht einmal getheilte Vermuthung sprach für sie. Wie schwierig, wie ungewiß war es, irgend eine festere Begründung dafür herbeizuschaffen! Gelang dies auch, es konnte nur erst nach einiger, vielleicht längerer Zeit geschehen. Bis dahin war die Arme eine Verdächtige, eine des Mordes Beschuldigte, eine in Untersuchung und in Untersuchungshaft befindliche Mörderin.

Und wenn ich auch zuletzt jenen Anhalt fand, wie leicht konnte er, kaum gefunden, unter den Händen mir wieder zerrinnen! Er zerrann in nichts, wenn es mir nicht ferner gelang, mit seiner Hülfe ein Geständniß des Försters und seiner Tochter zu erlangen. Und konnte ich auf dieses rechnen, wenn die Beiden bis dahin immer und immer wieder Zeit hatten, sich zu verabreden und sich gegenseitig in ihrer Sicherheit zu befestigen?

Ich wollte zur Vernehmung des Försters schreiten. Er war noch nicht da. Ich hatte mich in Gegenwart der Tochter nach ihm erkundigt. Das Mädchen wurde unruhig, als sie hörte, daß er noch immer nicht da sei. Es fiel mir auf, aber ich konnte keinen Grund dafür ersinnen; sie hätte denn, selbst schuldbewußt, fürchten müssen, daß er in seinem Schuldbewußtsein auf irgend eine Weise dem Gerichte sich entziehen wollte, entzogen habe. Aber dann wäre sie vorhin wohl nicht so sicher gewesen. Und doch!

Der Criminalbote, bei dem ich mich nach dem Förster erkundigt hatte, kam nach einigen Augenblicken mit der Nachricht zurück, daß man ihn vor Kurzem in der Nähe des Schlosses mit einigen Personen habe sprechen sehen, und daß er dann eilig in den Wald, in der Richtung seiner Wohnung gegangen sei.

Das Mädchen erbebte sichtlich, als sie dies hörte.

Ich sann nach, ob ich ein weiteres Verhör mit ihr daran knüpfen, und unterdeß ihren Vater herbei holen lassen sollte.

Ein furchtbares Ereigniß machte mein Nachsinnen überflüssig. Ein Criminalbote führte einen Burschen herein, der mir einen Zettel abzugeben habe. Es war ein Tagelöhnerbursch vom Gute. Er war leichenblaß, und zitterte am ganzen Leibe. Er trug einen zusammengefalteten Zettel in der Hand. Als er ihn mir überreichen wollte, sah er die Tochter des Försters im Zimmer. Er zitterte heftiger. Das Mädchen sprang ihm entgegen.

„Kommst Du von meinem Vater?“ rief sie ihm zu.

Der Bursch konnte kaum Ja antworten.

„Er ist todt?“ schrie sie auf.

„Er ist todt!“ sagte der Bursch.

Er erzählte: Der Förster hatte ihn vorn im Walde getroffen. Er hatte ihm den Zettel gegeben, mit dem Auftrage, ihn zu mir auf das Schloß zu tragen. Er war dann wieder tiefer in den Wald zurückgekehrt. Der Bursch hatte sich auf den Weg zum Schlosse gemacht. Aber kaum war er zwanzig Schritte weit gegangen, so hörte er hinter sich einen Schuß fallen. Der Förster war ihm so sonderbar vorgekommen. Er läuft zurück nach der Stelle, wo er den Schuß hat fallen hören. Der Förster liegt todt da, mit zerschmettertem Gehirn. Er hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Der Bursch war in Todesangst zum Schlosse gelaufen, um mir den Zettel zu übergeben und das furchtbare Ereigniß zu berichten.

Ich wußte Alles! Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen!

Die Unglückliche – die Tochter des Försters war jetzt die Unglückliche. Sie war fast leblos zurückgesunken. In Ohnmacht war sie nicht gefallen, aber ihr Zustand war desto fürchterlicher.

Ich las den Zettel. Nachdem ich ihn für mich gelesen hatte, las ich ihn laut. Der Förster hatte geschrieben:

„Er höre, daß der Tod des Grafen Ruthenberg entdeckt sei. Er erfahre, daß das Fräulein Braun deshalb in Verdacht stehe. Das Fräulein sei unschuldig, er sei der Thäter. Er müsse es jetzt entdecken. Sein Gewissen habe ihm ohnehin schon keine Ruhe gelassen. Seine Tochter werde das Nähere angeben. Er könne die Schande, als ein Mörder in der Welt gesehen zu werden, nicht überleben.“ Noch einmal sprang das Mädchen auf.

„Ja,“ rief sie, „er hat den schlechten Menschen erstochen. Aber ich bin die Mörderin, ich bin die Vatermörderin!“

Sie war zu aufgeregt, als daß ich sie sofort hätte verhören können. Ich hatte auch noch eine dringende andere Pflicht zu erfüllen. Ottilie Braun mußte wissen, daß ihre Unschuld anerkannt war. Sie mußte aus ihrem entsetzlichen Zustande gerissen, dem Leben, der Ehre wiedergegeben werden. Ich theilte ihr den Zettel, den Tod des Försters mit.

Nie werde ich den Anblick des schönen Mädchens, der edlen Frau in jenem Augenblicke vergessen. Die Gottergebenheit, das Gottvertrauen in dem feinen, blassen, angegriffenen Gesichte hatte einen erhabenen Glanz, wie in einem Engelsgesichte, erhalten. Sie reichte mir stumm die Hand und drückte die meinige herzlich. Dann bat sie, sich entfernen zu dürfen, um in der Einsamkeit Gott für die unendliche Gnade zu danken, die er ihr erwiesen habe.

Es ist doch auch etwas um den Glauben an einen Gott, an eine höhere, ewige Gerechtigkeit.

Ich vernahm die Tochter des Försters. Das Mädchen gestand Alles, offen, aufrichtig, reuig. Sie konnte es, denn sie selbst war vor dem Gesetze – unschuldig; ihr Vater war todt.

Sie war die leichte Beute des jungen Grafen geworden. Ihr Vater hatte eine Ahnung davon gehabt, aber keine Gewißheit. Er hatte ihr Vorwürfe gemacht, sie hatte geleugnet, aber ihm seinen Verdacht nicht nehmen können.

An jenem Abende, an welchem das Unglück geschehen war, hatte sie wieder eine Zusammenkunft in einem Bosquet des prächtigen Parks mit dem Grafen verabredet. Sie hatte sich eingefunden. Er war ausgeblieben. Sie hatte, ihm entgegen zu gehen oder nach ihm auszusehen, sich dem Schlosse genahet. Da hatte sie ihn gesehen, in der Gegend des Bibliothekzimmers. Neugierig, was er dort mache, war sie hinter Hecken und Spalieren näher zu ihm herangeschlichen. Auf einmal sieht sie von einer andern Seite ihren Vater. Sie erkennt ihn im Mondscheine deutlich. Er mußte ihr nachgeschlichen sein. Er verfolgte sie. Sie verbarg sich hinter einer dichten Hecke vor ihm. Er verlor ihre Spur. Aber gleich darauf hört er Geräusch am Schlosse, an dem Bibliothekzimmer. Er glaubt, seine Tochter sei dorthin geflohen. Er eilt hin. Er sieht das Fenster des Zimmers offen, und in dem Fenster einen Mann. Er erkennt den Grafen. Der Graf will durch das Fenster in das Innere des Zimmers dringen. Er ringt mit einem Frauenzimmer, das ihm den Eingang verwehrt. Der Förster meint, es sei seine Tochter, die aus Furcht vor dem verfolgenden Vater den Grafen zurückstoße. Aber die Schande seiner Tochter ist ihm dennoch klar. Der heftige, jähzornige Mann geräth außer sich vor Wuth. Er stürzt herbei. Die Ringenden gewahren ihn nicht. In dem Augenblicke, als der Graf in das Zimmer springen will, stößt er ihm sein Waidmesser in die Brust. Der Getroffene fällt in das Zimmer hinein. Als der Förster aufblickt, sieht er seine Tochter neben sich. Sie hatte ihr Versteck in der Nähe gehabt; sie war ihm angstvoll gefolgt. Sie war zu spät gekommen. Sie hatte den Unglücklichen, den Mörder, nach Hause geleitet. Er hatte sich den Gerichten überliefern wollen. Aber die That war verborgen geblieben; da hatte auch er, um der Ehre der Tochter willen, geschwiegen.

Für den Arm der weltlichen Gerechtigkeit war das leichtfertige [321] Geschöpf nicht erreichbar. Was die göttliche Gerechtigkeit aus ihr hat werden lassen, weiß ich nicht; ich hatte keine Gelegenheit, ihr späteres Schicksal zu erfahren.

Was Ottilie Braun, oder eigentlich die Frau Wrigley betrifft, so kam, wie sie fest erwartet hatte, der Jäger Anton nach acht Tagen zurück, aber nicht allein, der Gemahl der jungen Dame, Harry Wrigley, kam mit ihm. Das furchtbare Ereigniß, das seine Gattin betroffen, hatte ihn veranlaßt, seinen Eltern seine Verbindung mit ihr zu entdecken. Es hatte aber auch seine Eltern bewogen, ihm ihre Einwilligung zu geben.

Ich hätte Euch meine Erzählung vielfach romantisch ausschmücken können. Ich hätte zum Beispiel den Gemahl der jungen Dame gerade in dem Momente können erscheinen lassen, als aller Verdacht der schwersten Schuld auf ihr lag. Ich hätte diesen Verdacht durch mancherlei Zuthaten steigern können. Wie viel Jammer, Elend, Thränen und so weiter waren dabei anzubringen!

Ich wollte Euch nur eine wirkliche Criminalgeschichte erzählen, einfach, wie sie sich zugetragen hat. Ach, diese wirklichen Criminalgeschichten haben wahrhaftig des Elends, des Jammers, der Thränen, der Verzweiflung genug. Aber auch das Gericht Gottes zeigen sie oft.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hier irrt Temme: Charles-Joseph Graf Bresson (1798–1847) beging Selbstmord nicht in Turin, sondern in Neapel, wo er französischer Geschäftsträger war.