Ein Shakespeare-Apostel

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Textdaten
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Autor: Heinrich Beta
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Titel: Ein Shakespeare-Apostel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 835–837
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Shakespeare-Apostel.

Seit L. Tieck’s Vorgange ist das Vorlesen Shakespeare’scher Dramen ein besonderer Kunstzweig geworden. Warum gerade der Shakespeare’schen Dramen? Sollte nicht die Kunst des Vorlesens, des schönen, reinen und ausdrucksvollen Sprechens sich ebenso gut, ja noch viel mehr an unseren deutschen Dichtern üben lassen? Unter den neueren Shakespeare-Vorlesern ist ganz besonders Rudolph Genée zu schnellem und großem Ruhme gelangt. Er erzielt ganz neue Wirkungen, nicht allein durch die ungewöhnliche Begabung für den lebendigen, dramatisch gefärbten Vortrag, sondern auch durch seine ganz eigenthümliche Methode, die er selbstständig sich dafür geschaffen hat. Er ist dramatischer Künstler und gleichzeitig Aesthetiker. Als Letzterer will er die Shakespeare’sche Poesie nicht unter dem Wuste eitler Auslegungen erdrücken, sondern den Dichter auf die Einfachheit seiner Riesengröße zurückführen und dadurch eben ihn verständlich und lebendig machen.

Gegen das Vorlesen von Dramen ist eingewendet, daß ja doch das Drama vor Allem für die plastische Darstellung bestimmt sei. Genée wendet dagegen ein: Aber Shakespeare’s Dramen sind von unserer Zeit durch einen Zeitraum von nahezu drei Jahrhunderten getrennt; Shakespeare schrieb für eine scenische Einrichtung der Bühne, die zu unserer modernen und überaus complicirten Bühne im stärksten Widerspruche steht. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, hat sich Genée eben eine besondere Form für den Vortrag dieser Dramen gebildet, eine Form, welche ihn befähigt, den vollen geistigen Gehalt jener merkwürdigen Schöpfungen wiederzugeben, ohne daß dadurch der bestehende Conflict mit unsrer modernen Scenerie fühlbar wird. Und eben deshalb, wegen dieser vermittelnden Form seines Vortrags liest Genée vor Allem Shakespeare.

Die Geschichte dieser Dramen in Deutschland ist eine höchst lehrreiche Geschichte des literarischen und theatralischen Geschmacks. Schon um 1600 brachten die „Englischen Komödianten“ Shakespeare’sche Stücke in Deutschland zur Aufführung. Aber unsere staatliche Zerrissenheit, deren Unheil durch den dreißigjährigen Krieg und den schmählichen westphälischen Frieden erst recht besiegelt werden sollte, ließ jene frühen Keime zu keiner weiteren Entwicklung kommen. Erst im Jahre 1741 wurde das erste Shakespeare’sche Stück (Julius Cäsar) in deutscher Uebersetzung dem Publicum bekannt gemacht.

Zwanzig Jahre später begann Wieland seine Shakespeare-Uebersetzung, und unser großer Lessing wies mit aller Energie seines hellen Geistes auf denjenigen Punkt hin, von welchem aus sich unsere von den französischen Classikern beeinflußte dramatische Literatur zu einer deutsch-nationalen entwickeln könne. Wie sich daran unsere Sturm- und Drangperiode schloß, wie die Dichter derselben brannten und versanken in der feurigen Gluth des über Deutschland wogenden Shakespeare-Genius, der zuerst in unserm nun wiedergewonnenen Straßburg den jugendlichen Goethe entzündete – dies Alles, und die fortwährenden Wandelungen, welche Shakespeare’s Dramen auf der deutschen Bühne durchzumachen hatten – findet man ausführlich und klar dargelegt in der unlängst bei W. Engelmann in Leipzig erschienenen „Geschichte der Shakespeare-Dramen in Deutschland“ von Rudolph Genée. Wahrlich ein reicher, neuer Schatz für unsere Literatur überhaupt, besonders für die Erkenntniß des befruchtenden Einflusses Shakespeare’s auf unsere Dichter, der schon lange vor dem dreißigjährigen Kriege durch englische Komödianten in Deutschland begann. Dies Buch allein würde Genée zum ersten unserer zahlreichen Shakespeare-Apostel erheben. Wie kam er dazu, es zu schreiben? Das nöthigt uns, das Leben Genée’s und dessen Entwickelung wenigstens kurz anzusehen.

Am 12. December 1824 in Berlin geboren, wo sein Vater [836] als Charakterdarsteller und Regisseur am alten königstädtischen Theater eine höchst geachtete Stellung einnahm, hatte sich Rudolph Genée von den Bänken des Gymnasiums zum grauen Kloster auf einen Stuhl im Hinterzimmer des Professor Gubitz befördert und schnitt in Holz. Beim ersten Dichter der Holzschneidekunst und dem mehr als fünfzig Jahre langen (erst jüngst verstorbenen) Theaterkritiker für die Vossische Zeitung gingen die Mimen und wir Literaten fleißig aus und ein. Dies brachte den jungen Eleven schnell vom Holzwege auf die Bretter, welche die Welt bedeuten, erst mit kleinen Bluetten auf verschiedene Bühnen, dann mit der phantastischen Komödie „Das Wunder“ auf das Berliner Hoftheater. Dies „Wunder“ war nicht nur des Glaubens, sondern auch sein liebstes Kind und bei Weitem die anerkannt beste Bühnendichtung Genée’s. Mit dem „neuen Timon“, „Bei Roßbach“ u. s. w. erschien er auf glücklichem Boden der Wirklichkeit; aber sein Genie drängte zu der wahren Entwickelung, die freilich erst nach mehrjährigen Kämpfen in journalistischer Thätigkeit, Redaction der Danziger Zeitung, und später der Herzoglichen Coburger, zur freien Blüthe hervorbrach. Schon in Coburg begann er kritisch-dramatische Shakespearevorträge. Sein „Frauenkranz“, psychologisch-ästhetische Schilderungen weiblicher Charaktere deutscher Bühnendichter, war eine gute Grundlage für diese Blüthe. Aber um immer und überall blos zu kommen, zu lesen und zu siegen, dazu gehört mehr. Einen Theil des Räthsels löst uns sein erwähntes Buch. Wie tief und gründlich hat er den Shakespeare von den Zeiten vor dem dreißigjährigen Kriege an durch die Geschichte und die Herzen deutscher Dichter ausgeforscht! Wie warm und klar pulsirt sein Geist aus dieser Gelehrsamkeit, aus seiner und dieser deutschen Dichter Begeisterung hervor! Diese tiefe Kenntniß und die hohe Begeisterung erklärt viel, aber noch nicht das Wesen der glänzenden Erfolge. In Berlin mußte er seine Vorträge drei Mal verlängern und, dringend eingeladen, auf einzelne Vereine und benachbarte Städte ausdehnen. Bald darauf verkündeten in Posen Theaterzettel, daß wegen des Genée’schen Vortrags ein berühmtes Gastspiel aufgeschoben werden müsse. In Dresden, wo seit ein paar Jahren Genée sein Domicil genommen, ist er mit seinen Erfolgen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise gedrungen. Ebenso hat er ganz neuerdings in Leipzig so schnell und entscheidend zu siegen verstanden, daß – ein seltener Fall! – der große Saal der Buchhändlerbörse seine Pforten öffnen mußte, damit die Hörlustigen alle Platz finden konnten.

Rudolph Genée.

Diese Erfolge erklären sich aus Genée’s eminenter Begabung, Shakespeare’s Riesenschöpfung, die Niemand mehr auf der Bühne darstellen kann, dieses sprudelnde Spiel des tragischsten und lächerlichsten Humors aus seiner einzigen Persönlichkeit und der Methode seines Vortrags packend und plastisch zu dramatischer Geltung zu bringen. Zudem sind die gebildeten Geister unserer Zeit verschmachtet zwischen den Maculaturhaufen unserer Politik und schöngeistigen Strohdreschens, in diesen uniformirten Gesellschaften mit künstlich geschwollenen Hinterköpfen und Hintertheilen, wandelnden Modejournalfiguren und schwarzschwänzigen Schwippen, in diesen Theatern, wo entweder die zu hörende Dichtung durch Decorationsschwindel entwürdigt wird, oder Offenbach, Oper und Ballet Offenbarungen sind. Da kommt Genée und bringt immer auch das vollkommenste Personal von Shakespeare-Darstellern in sich selbst mit, Bühne, Verwandlungen – Alles und noch mehr. Er beginnt mit einführenden, einfachen Worten und erleuchtet und erwärmt die Zuhörerschaft für Würdigung der genialen Gestalten und Gedanken. Das Stück hat die und die besondere Wichtigkeit für unsere Bühne und Literatur, diese und diese psychologische, geschichtlich-tiefe Bedeutung. So und so hängen die einzelnen Dramen zusammen, beispielsweise Lear, Macbeth und Hamlet als Offenbarungen alt-nordgermanischer Entwickelung und Geschichte. Dabei wird auf die localen Farbentöne nordischer Landschaft hingewiesen.

Indem er zum Beispiel den geistigen Vorhang zum Hamlet hebt, läßt er unsern Blick über die Terrasse des Schlosses zu Helsingör schweifen. In kalter Nebelluft mit farblosem, gespenstischem Mondschein ruft die Wache weithin verhallend durch die nächtliche Stille: „Halt! Wer da?“ Damit sind wir mitten im Stück und begreifen dessen Gespenst. Die nun folgenden Dialoge und Personen hören und sehen wir Jeder auf seinem Phantasietheater. Der Tanz der Hexen Macbeth’s, wie sie auf öder, düsterer Haide zwischen Sümpfen wie Schatten auf- und niedersteigen, wird durch die schildernden Einleitungsworte dramatisch viel wirksamer als durch die größtentheils verfehlten Darstellungen auf der Bühne. Den grauenvollen Mord sehen wir nicht dargestellt; aber durch Genée’s Schilderung des Schloßhofes werden der Mörder und dessen geistige Urheberin, wie er sie nachher sprechen läßt, leibhaftiger als etwa durch Herrn Lehfeld und Mad. Wagner. Den Riesen unter Shakespeare’s Giganten, „Coriolanus“, kann Niemand auf der Bühne darstellen. Genée läßt ihn geistig über alle Häupter hervorragen, und die drei Volksscenen, wie die des Helden und seiner Mutter, ja das bloße Herannahen unerhörten, furchtbaren [837] Entsetzens gehen aus seiner einzigen Stimme persönlicher und individueller hervor als aus der einstudirtesten Gesellschaft. Dazu sein überraschendes Talent in Vorführung Shakespeare’scher Lustspiele. Er beginnt mit heiterer Plauderei und stimmt spielend das Zwerch- und Trommelfell zugleich, bis die Narren und Kammerkätzchen, fette Falstaffs und lustige Elfenvölkchen, jedes nach seinem Charakter, auf unseren geistigen Bühnen erscheinen und den überwältigenden Humor des Dichters zur Geltung bringen.

„Der Vortrag macht des Redners Glück“; bei Genée ist es die von ihm geschaffene und meisterhaft entwickelte Methode im Verein mit der Einfachheit und Klarheit der einleitenden und verbindenden Erklärungen, sodann sein Sprachorgan voll reichster Klangfülle in Höhe und Tiefe, in nie heiser werdender Kraft und Ausdauer und der wunderbarsten Modulationsfähigkeit, so daß er Dutzende von Personen männlichen und weiblichen Geschlechts in genau gehaltenen Unterschieden und selbst ganze Volksmassen durcheinander und sogar zugleich sprechen lassen kann. Letzteres Kunststück ward als der Wunder größtes gepriesen; Genée selbst nennt es blos einen kleinen Kunstgriff, den er beiläufig mit erlernt habe. Aber die Art, wie er ganze Volksmassen mit ihren verschiedenen Stimmen bald übereinander thürmt, bald durcheinander wirft, daß man sie deutlicher zu sehen und zu hören glaubt als in Wirklichkeit auf der Bühne, wie im Cäsar und Coriolan, das ist nicht blos ein Kunststück.

Ueberhaupt finden wir in der Shakespeare-apostolischen Thätigkeit Genée’s mehr als ein blos künstlerisches Verdienst. Er wirkt zugleich als der sittliche und ästhetische Befreier aus noch ärgeren Fesseln als denen, die einst den jungen Goethe und die deutsche Literatur einengten und welche Shakespeare brach.

Genée giebt uns in der Blüthe seines Ruhmes und edler, gesunder Persönlichkeit freudige Hoffnung, daß er an diesem Befreiungswerke und dem Aufbau neuer Tempel der Kunst und des Cultus und deutscher Freieinigkeit sich immer noch erfolgreicher betheiligen werde.

Wie weit entfernt Genée in der Ausübung seiner Kunst von der sich selbst genügenden Katheder-Weisheit ist, das zeigte sich recht beim Ausbruch unseres Krieges in Frankreich. Auf einer Erholungsreise in die bairischen Berge begriffen, traf ihn in München das Donnerwort: „Der Krieg ist erklärt!“ Sofort ging Genée in die nächste Volksversammlung, welche in dem stark erregten München stattfand. Nachdem mehrere politische Führer zu der Versammlung gesprochen, ergriff Genée das Wort und sprach mit ganzer Kraft der Begeisterung und des heiligen Zornes eine kleine, frisch seinem Herzen entströmte Dichtung, die mit den Versen schloß:

„Wer fragt nun: Ob Preußen-, ob Baierland,
Ob Schwaben oder ob Sachsen?
Ein einiger, fester, ein deutscher Stamm –:
So sind wir dem Feinde gewachsen.
Und wer kein Feigling, kein Bube ist,
Der sei ein Deutscher zu dieser Frist!“

Mit diesem Liede, wohl eins der ersten und kräftigsten, die der Krieg hervorgerufen, eröffnete Genée den daraus sich entwickelnden Cyclus seiner „Sturmlieder gegen den Franzosen“. Als er nach Dresden, wo er mit seiner Mutter und Schwester lebt, zurückgekehrt war, erging an ihn von Seiten der Dresdener „Liedertafel“ die Aufforderung, bei einer zu einem patriotischen Zwecke auf der Terrasse des „Waldschlößchen“ veranstalteten Production etwas zu sprechen. Es war am 6. August, und Genée brachte gleich ein halbes Dutzend seiner „Sturmlieder“ mit, die bei der Masse des Publicums eine ungeheure Wirkung machte. Die Begeisterung, die jeder neue poetische Apell an das deutsche Herz hervorrief, erreichte ihren Höhepunkt bei dem Gedichte, welches die schandvolle französische Lüge „Das Kaiserreich ist der Friede!“ brandmarkt und mit den Versen schloß:

„Nun vorwärts, Brüder, in’s Gefecht!
Und wenn der Himmel schützt das Recht,
Tönt’s bald im deutschen Liede:
Das Kaiserreich – der Friede!

Minutenlang brauste hiernach der Jubelruf der Versammlung weithin über die Elbe, und die Schlagworte seiner Gedichte, welche fast alle Wahrheit geworden waren, erlangten in den Kreisen, wo Genée durch die hinreißende Gewalt seines Vortrages sie lebendig machte, eine außerordentliche Popularität. Für das Münchener Hoftheater hatte er im Einverständnis mit dem trefflichen Intendanten v. Perfall Heinrich v. Kleist’s gewaltige „Hermannsschlacht“ bühnengemäß eingerichtet und für die politische Situation der Gegenwart umgewandelt. Auch der Eindruck dieser Aufführung war dort ein zündender. Er selbst trug in Wien noch während des Krieges die „Hermannsschlacht“ im akademischen Gymnasium vor und begeisterte damit die deutsch empfindenden Herzen.

Ein so rein sich äußerndes deutsches Mannesgefühl war bei einem Shakespeare-Gelehrten natürlich, der, wie Genée, der modernen verdunkelnden und trockenen, in allerlei eingeschachtelten Systemen sich hinschleppenden Aesthetik mit aller Kraft entgegenarbeitet.

Nach dem wiedergewonnenen Frieden, den uns das deutsche Kaiserreich erhalten soll, kehrte Genée von den Rostris in den Hörsaal zurück. Zunächst aber nahm er seine Friedensthätigkeit wieder damit auf, daß er dem Sieg des deutschen Geistes seine Huldigung darbrachte, in den Vorträgen des Goethe’schen „Faust“ – bis er dann wieder zu demjenigen gelangte, der in der Sturm- und Drangzeit, in der gährenden Epoche des jugendlichen Faust-Goethe, uns im Kampfe gegen die französische Aftermuse ein so kräftiger Helfer war: zu Shakespeare! – Treffend sagt Genée in seinem soeben erschienenen neuen Buche („Shakespeare. Sein Leben und seine Werke.“ Bibliographisches Institut.) über den britischen Dichter: „Nur aus einer großen und kraftvollen Nation konnte eine solche Erscheinung hervorgehen; aber es muß auch eine gute und zum Großen berufene Nation sein, die – wie die deutsche – einen solchen Geist sich anzueignen verstand.“

Und in diesem Sinne möge Genée fortwirken und die Lorbeeren nehmen von einem für die Einheit und Freiheit und den wehrkräftigen Frieden gesicherten Volke.

H. Beta.