Zum Inhalt springen

Ein Veteran der classischen Musik

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: R.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Veteran der classischen Musik
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 420–422
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[420]

Ein Veteran der classischen Musik.

Am Abend des 26. November 1846 bot die Treppe des „Gewandhauses“ zu Leipzig einen seltsamen Anblick. Vor der noch geschlossenen Eingangsthür des Saales stand auf allen Stufen und Absätzen der breiten Treppe, zwei Stockwerke herab, eine dicht gedrängte Schaar eleganter Damen und Herren – zum Theil den ersten Familien der Stadt angehörend – alle sehnsüchtig des Augenblickes harrend, an welchem ihnen der Eintritt in den Concertsaal endlich gestattet werden würde.

Die damals unter Mendelssohn’s Leitung so ausgezeichneten Abonnements-Concerte des Gewandhauses hatten die Einfachheit der äußeren Erscheinung noch nicht völlig verloren. Im März 1743 von sechszehn Musikfreunden begründet, von ihrem Stifter, dem Buchhändler Gleditsch geleitet; trugen sie anfänglich den Charakter geselliger Familienzusammenkünfte in so hohem Grade, daß nur die Gründer eine Eintrittskarte besaßen, während nach dem Wortlaute der Bekanntmachung „das Frauenzimmer“, sowie nicht minder die „reisenden Passagiers“, freien Eintritt hatten. In gleich ungezwungener Weise verkehrte man im Innern des Saals mit einander. Von dieser Zwanglosigkeit hatte sich noch hundert Jahre später ein gutes Stück erhalten. Zwischen den einzelnen Musikstücken machten sich Freunde gegenseitig Besuche; in der großen Pause zwischen den beiden Theilen erhoben sich Damen und Herren von ihren Plätzen, und das Surren eines riesigen Bienenschwarmes wurde durch das lebhaft geführte Gespräch der Nachbarn hervorgerufen. An Sperrsitze war noch nicht zu denken. Wer also einen Platz nach seinem Wunsche haben wollte, der war gezwungen, möglichst früh sich einzufinden, wo noch die Wahl unter den Plätzen freistand. An jenem Tage aber war die Anzahl derjenigen besonders groß, welche Anderen den Rang abgewinnen wollten, und deshalb schon vor Eröffnung des Saales auf der Treppe erschienen waren; denn – es hatte sich am Morgen wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, daß Moscheles, der berühmteste Pianofortespieler und Claviercomponist, der hervorragendste Veteran der classischen Richtung der Musik, der Meister des Legato-Spieles, auf dessen Schultern die Virtuosen standen, deren Technik man in den vergangenen Wintern bewundert hatte, den Zuhörern einen Pianoforte-Vortrag gewähren wolle. Wir Jüngern aber wollten diesen Genuß auskosten, so gut wie möglich, und wollten so sitzen, daß uns keine Hand- und Fingerbewegung verloren ging.

Moscheles war erst einige Wochen vorher von London nach Leipzig übergesiedelt. Seinem Schüler und Freunde Mendelssohn war es gelungen, ihn dem Vaterlande wieder zu gewinnen und zugleich dem von ihm in’s Leben gerufenen „Conservatorium der Musik“ den hervorragendsten Lehrer zu verschaffen.

Oeffentlich als Pianofortespieler aufzutreten, lag nicht in Moscheles’ Plane. So hatten nur Wenige, und auch diese nur selten, Gelegenheit ihn zu hören. An jenem Tage aber hatte „im 7. Abonnements-Concert“ R. Wehner aus Dresden ein Pianoforte-Concert spielen sollen. Erst am Tage vorher in der Probe traten unüberwindliche Hindernisse dagegen, und um die Concert-Direction aus einer Verlegenheit zu befreien, dem gebildeten Hörerkreise eine Freude zu machen, entschloß sich Moscheles, der beabsichtigten Zurückgezogenheit zu entsagen und an Stelle des jugendlichen Virtuosen einzutreten.

Durch eine mit seltener Liebenswürdigkeit gewährte Aushülfe und mit freundlichem Entgegenkommen für die Wünsche Anderer, führte sich der Hochberühmte und Vielgefeierte in den Kreis der Leipziger Musikfreunde ein. Es kann natürlich nicht Absicht der „Gartenlaube“ sein, heute, nachdem bereits alle bedeutenderen Journale den Lebensgang des berühmten Verstorbenen in mehr oder minder ausführlicher Weise geschildert haben, noch mit derartigen biographischen Mittheilungen nachzuhinken. Wir hoffen unsere Leser vielmehr in anderer Weise reichlich zu entschädigen, wenn die von Moscheles hinterlassenen und am Schlusse diese Artikels erwähnten Aufzeichnungen zur Veröffentlichung vorbereitet sind. Der Zweck dieser Zeilen ist lediglich, heute schon ein deutliches Charakterbild des wackeren Mannes zu geben, auf solche Art wenigstens vorläufig seinem Andenken gerecht zu werden. Denn Moscheles war nicht nur berühmt, er war auch beliebt; und man muß jetzt, nachdem ein Vierteljahrhundert nach dem Eingangs dieser Skizze erwähnten Tage verflossen ist, bekennen, daß die nämliche wohlwollende Freundlichkeit ihn ausgezeichnet hat in allen Lagen des Lebens, und daß es kaum Jemand geben kann, der sorglicher immer darauf bedacht war, die irgendwie berechtigten Wünsche und Ansprüche Anderer zu erfüllen. Dieses rücksichtsvolle Entgegenkommen für die Eigenthümlichkeit Anderer war bei aller sonstigen Energie ein Grundzug im Charakter des Mannes.

Auch auf musikalischem Gebiete bewährte er diese Charaktereigenthümlichkeit. Gebildet in Wien, unter den Einflüssen der classischen Epoche der Donaustadt, vertrat er immer den Grundsatz, daß keine Kunstleistung, weder die schaffende noch die ausübende, der anmuthigen und wohlgegliederten Form entbehren dürfe. Besonders bei musikalischen Compositionen hielt er Correctheit und Schönheit der Kunstformen nebst klarem Ausdruck der

[421]

J. Moscheles.
Geboren 30. Mai 1794, gestorben 10. März 1870.


Intentionen des Tonschöpfers für die drei Haupterfordernisse jedes guten Werkes. Dabei hatte ihn sein großer Lehrer Salieri darauf hingeleitet, dem Uebermaß und der Uebertreibung auszuweichen. Er erzählte gern einen hübschen Zug von der Art, wie Salieri ihm seine Rathschläge gegeben. Als er in seiner Jugend seinem Lehrer einst eine Composition vorlegte, für welche ihm die Aufgabe gestellt war, die Empfindungen eines Mädchens beim Tode eines Vogels zu schildern, und in welcher der werdende Componist heißblütig den Schmerz über den Verlust des Lieblings durch Wühlen in Moll-Accorden wiederzugeben versucht hatte, – [422] da strich Salieri gerade diejenigen Stellen, welche nach der Meinung des jungen Tonsetzers am besten gelungen waren, und sagte zu ihm lächelnd: „Und was würdest Du thun, wenn eine ganze Stadt niedergebrannt ist?“

Daß einen Componisten, der so wie Moscheles Maßhalten und schöne Formen liebte, die neuere Richtung der Musik, die man als ihre Zukunft auszurufen pflegt, unmöglich sympathisch anmuthen konnte, liegt auf der Hand; dennoch hielt er es für seine Pflicht, jeder neuen Erscheinung immer wieder prüfend in’s Antlitz zu schauen, den Aufführungen wiederholt beizuwohnen, um nicht ungerecht zu werden gegen die Zeitgenossen. Und mit liebender Sorgfalt wußte er jedes wirklich Schöne herauszufinden und hervorzuheben. Je weniger man gewohnt ist, in den Künsten Parteilosigkeit zu finden, – je seltener vorurtheilslose Anerkennung von dem einen schaffenden Künstler dem anderen entgegengebracht wird, welcher eine abweichende oder gar entgegengesetzte Richtung vertritt, – um so höher ist diese wahrhaft liebenswürdige Objectivität zu achten, welche Moscheles immer geübt hat. – Es ist etwa ein halbes Jahr vorüber, als der Schreiber dieser Zeilen ihm gegenüber die „geschriebene Musik“ der letzten Quartette von Beethoven, bei aller Anerkennung ihres eigenthümlichen Werthes, als eine Verirrung bezeichnete, da die Tonkunst nicht für das Auge, sondern für das Ohr bestimmt ist.

„Und wenn die Composition derartiger Quartette eine Verirrung ist,“ war die Antwort des Meisters, „so hat doch Beethoven vorher seinen Weg in voller Klarheit und unbeirrt gemacht; die Nachahmer dieser Musikgattung aber waren vorher keine Beethoven.“

In dieser milden Form verurtheilte er eine Kunstrichtung, welche im Stande wäre, die ganze Tonkunst in Frage zu stellen, wenn sie überhandnehmen könnte. –

Der Verlust des weltberühmten Lehrers schädigt das Leipziger „Conservatorium“ um so schwerer, als noch nicht abzusehen ist, wie Ersatz gewonnen werden soll; und doch bedarf die Anstalt desselben auf das Dringendste. Moscheles war für sein Lehramt vorbereitet durch seine Leistungen als Virtuose und durch dreißig Jahre des Lehrens in London. Seinen Schülern war er ein väterlicher Freund; Vielen wurde er Beistand in jeder Fährlichkeit, – Allen war er Vorbild durch unübertroffene Pflichttreue und williges Anerkennen fremder Selbstständigkeit.

Diese innere Tüchtigkeit und Festigkeit, bei aller Milde der Formen, bahnten ihm in England den Weg. Der Geistesadel erwies sich siegreich. Man erkannte in ihm den geborenen „Gentleman“, und was keinem Musiker vor ihm gelungen war, das ergab sich für ihn ohne Widerstand; er war nicht der Diener der guten Gesellschaft, sondern ihr Mitglied. Und doch war Moscheles ein Kind des Volkes. Wenig begünstigt vom Zufall, aber gerüstet mit zähem Willen, mit ausdauernder Kraft und mit ernster Arbeit, errang er sich eine Stellung im Leben.

Wenn auf die Entwickelung bedeutender, geistig hervorragender Männer häufig die Mutterliebe von Einfluß ist, so war es bei ihm nicht diese, welche ihn zur Tonkunst führte, sondern auch hier siegte er durch eigene Arbeit. Der Mutter verdankte er den weichen Sinn, die Milde des Urtheils, die Freude an harmlosen Scherzen, – Eigenschaften, welche ihn bis in die letzten Lebenstage auszeichneten, und welche den Umgang mit ihm für seine Freunde so wohlthuend machten, weil sie freundlich die Kluft überbrückten, welche zwischen dem Hochbegabten und dem Freunde etwa bestand. Der Vater aber war es, dessen Beispiel Moscheles in das Reich der Töne führte.

Der Vater war in Prag Tuchhändler und durch sein Geschäft genöthigt, alljährlich ein oder mehrere Male nach Wien zu reisen. Wenn er dann aus der damals in der Musik tonangebenden Hauptstadt heimkehrte, brachte er nicht nur musikalische Erinnerungen für seine Reiseberichte an Frau und Kinder, sondern auch die neuesten Musikalien mit. In der harmlosen Weise, wie sie den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts eigen war, dienten die Tonstücke, mit Clavier, Guitarre und Gesang ausgeführt, zur Unterhaltung und Freude der Familie wie der musikalischen Genossen. Es war ein Lieblingswunsch des Vaters, daß eines seiner Kinder in der Musik Tüchtiges leisten möge. Die älteste Tochter war hierzu ausersehen. Allein Begabung und Lust waren bei dieser gering. Wie sie nun bei einer Prüfung schlecht bestand und ein ihr aufgegebenes Stück nicht zu spielen vermochte, sollte sich eben die Wolke des väterlichen Zornes über sie entladen, als der jüngere Bruder mitleidsvoll den Unwillen des Vaters beschwichtigte, indem er ausrief: „Ich kann es!“

Der sechsjährige Knabe hatte das Stück beim Einüben der Schwester so viele Male hören müssen, daß er es endlich auswendig wußte und zu seinem Vergnügen sich nach dem Gehör auf dem Clavier einübte. Von nun an ging der musikalische Unterricht zur Befriedigung aller Betheiligten von der Schwester auf ihn über. Die drei Worte aber, welche ihm die Pforten zu dem Vorhofe des Kunsttempels öffneten, die bescheiden stolzen Worte. „ich kann es“ fand er von da ab noch oft Gelegenheit auszusprechen.

Er sprach sie freudig, als er im Alter von dreizehn Jahren dem Vater seine erste gedruckte Composition, einen vierstimmigen Gesang, als Gabe zum Wiegenfeste brachte. Er sprach sie ernst und wehmütig, als wenige Monate nach diesem Beweise, daß der Wunsch des Vaters sich erfüllen werde, das treue Auge des Führers seiner Kindheit sich schloß, und die Mutter den Knaben abmahnte, allein nach dem fernen Wien zu ziehen, um dort seine musikalische Ausbildung zu vollenden.

Er sprach sie muthig, als er – obwohl noch in den Kinderjahren – doch schon zu stolz war, von der Mutter regelmäßig Unterstützung zu empfangen, und der eigenen Kraft und Arbeit für Erwerbung des Lebensunterhaltes vertraute. – Jene vom Vater ihm gelehrte kaufmännische Sorge für Ordnung seiner Angelegenheiten behielt er treulich bei sein ganzes Leben lang. Vom Jahre 1808 bis zu seinem Tode wurde das Buch für „Soll und Haben“ ununterbrochen geführt; dasselbe zeigt, daß bald nach seiner Ankunft in Wien der Unterricht in der Composition durch Albrechtsberger begonnen wurde, während fast gleichzeitig Moscheles anfing, im Clavierspielen Anderen Unterricht zu ertheilen, und so die Worte bewahrheitete, welche er der Mutter entgegnet hatte. Schon im nächsten Jahre wurden die von ihm ertheilten „Lectionen“ so gesucht, daß sie nicht nur den für die damalige Zeit ansehnlichen Preis von fünf Gulden für die Stunde ihm einbrachten, sondern daß sie auch – wie eine Anmerkung im Rechnungsbuche lehrt – unter ungewöhnlichen Verhältnissen genommen wurden. Der Sohn eines Dr. Perger wünschte sich im Clavierspielen auszubilden; sein Vater war Musikfeind; es blieb dem eifrigen Jünger nichts Anderes übrig, als sich heimlich unterrichten zu lassen. Wenn der Vater eingeschlafen, entwich der Sohn zweimal wöchentlich Nachts um elf Uhr dem Hause und eilte zu seinem nicht minder eifrigen Lehrer Moscheles, der ihn dann oft bis zum Tagesgrauen am Instrumente fesselte.

Im Jahre 1809 wurde der nun fünfzehn Jahre alte Moscheles am Kärnthnerthor-Theater als Chordirector beschäftigt, während er gleichzeitig als ausgezeichneter Clavierspieler bewundert, als geschickter Arrangeur beliebter Opernstücke von den Musikalienhändlern gesucht wurde. Er hatte sich seinen Weg gebahnt durch eigene Kraft und beharrliche Arbeit. Von nun an blieb seines Lebens Wahlspruch das Meisterwort: „Ich kann es!

Moscheles hat sein Tagebuch, welches er seit früher Zeit bis wenige Tage vor seinem Lebensende fortführte, seinem Sohne hinterlassen, der als geschätzter Maler in London lebt. Die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen verspricht interessante Beiträge zur Kunstgeschichte.
R.