Ein irrsinniger Dorfschulze
[163] Ein irrsinniger Dorfschulze. In den Aufzeichnungen „Aus den Kriegstagen 1870“ von Georg Friedländer, die sehr frisch und lebendig gehalten sind, findet sich eine Schilderung aus Saint-Privat, welche ein trauriges Bild von dem durch den Krieg verursachten Elend giebt. Der Verfasser hatte bei der Belagerung von Metz in diesem bei der Schlacht von Gravelotte von den Preußen und Sachsen erstürmten Dorfe Standquartier erhalten. Jammer und Verzweiflung herrschten bei den Wenigen, die hier zurückgeblieben waren. Der Sous-Maire, der zweite Dorfschulze, befand sich unter diesen. Er wird uns als ein kleiner lebendiger Mann geschildert, der eigentlich nur umherlief und das Schicksal seines Dorfes noch immer nicht begriffen hatte. „Er fuhr sich in die grauen Haare, seufzte, spuckte, steckte die Hände in die Hosentaschen, so daß die blaue Blouse wie eine Jacke dazwischen saß, und sah ruhelos und unthätig zu, als ich und Tilleck, der trefflichste aller Officierburschen, die Bombenlöcher unseres Gemachs mit Stroh und Kistendeckeln zu verstopfen suchten. Als Seltenheit barg unser Quartier eine Frau, denn die Weiber waren fast alle flüchtig, und so sekundirte die Frau dem Sous-Maire in der Skala jener immer wiederkehrenden Worte: ‚O mein Herr, welcher Krieg, welch ein Elend; mein Gott, welche traurige Zeit, welcher Jammer für Sie und für uns!‘ Gegen Abend holte ich den Wirth herein, daß er uns für einen Franc eine Hand voll Kartoffeln beschaffte; als aber die Frau beim Kochen war, um mir damit nach sieben Fastentagen das erste warme Mahl zu bereiten, da brachte ein heulender kleiner Blousenknabe die Todesnachricht ihrer Mutter, die eben in St. Marie gestorben war.
„Nun war’s mit Allem aus – Madame la Sous-Maire fiel (was ihr Niemand verdenken konnte) in Krämpfe, ich suchte vergeblich zu helfen und zu pflegen, und eilte dann zum Bataillonsarzt, der freilich auch nicht mildern konnte, was die Frau darniedergeworfen hatte. Und wenn’s noch dabei geblieben wäre! Aber dem armen Sous-Maire selbst stieg es vom Herzen in den Kopf, und nachdem er noch ein paar Tage rastlos auf den Trümmern seines Dorfes umhergelaufen war, da wurde er wahnsinnig und mußte weggebracht werden.“
Dies kleine Genrebild ist ein Nachtstück in seiner Art, welches uns den Schrecken und Jammer des Kriegs in einer mitleiderregenden Weise zeigt. Doch auch der frische soldatische Humor und die fröhliche Kampfeslust beleben manche Schilderungen aus jenen Tagen des großen Krieges, denen die Befürchtungen der jüngsten Zeit vor einem neuen blutigen Duell zwischen den beiden Nachbarstaaten ein neues Relief geben. †