Ein poetisches Tagebuch
[627] Ein poetisches Tagebuch. Ein mehr als achtzigjähriger Poet, der Nestor der deutschen Lustspieldichtung, der Verfasser von „Bürgerlich und Romantisch“, einem der anmuthigsten und besten Repertoirestücke deutscher Bühnen, Eduard von Bauernfeld in Wien, hat ein „Poetisches Tagebuch“ (Berlin, Freund und Jeckel) herausgegeben, welches die Zeitereignisse von 1820 bis zur Gegenwart mit seinen Glossen begleitet. Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um die Geschichte Oesterreichs, denn Bauernfeld ist ein guter Wiener und Oesterreicher. Diese Glossen zeichnen sich durch ihren Freimuth aus; sie sind eine Art von politischer Beichte, gehen indeß oft nicht über Federübungen und Notizen zur Tagesgeschichte hinaus; sie brauchen ja nicht geistfunkelnd zu sein; ihre Anspruchslosigkeit erklärt sich damit, daß sie nur Selbstgespräche, nur für das verschwiegene Pult des Dichters bestimmt waren. Doch neben diesen Aufzeichnungen, denen es allerdings, einzelnen Persönlichkeiten gegenüber, hier und dort nicht an schneidender Schärfe fehlt, findet sich auch eine beträchtliche Zahl von Sinn- und Denksprüchen, die sich auf die richtige Lebensführung beziehen und manche glückliche Beobachtung enthalten. Freilich giebt es auch hier einige hohle klappernde Nüsse, doch auch andere, welche verdienen, mit Silberschaum geschmückt, den Sterblichen an den Christbaum gehängt zu werden; wir wollen für unsere Leser eine kleine Auswahl derselben mittheilen:
„Fühle zart und denke scharf,
Was nicht jeder kann;
Gieb der Welt, was sie bedarf,
Und du bist ihr Mann.
Wenn man sich nur verstehen möcht’,
Es ließe Manches sich erreichen;
Doch ist man immer ungerecht,
Am meisten gegen seines Gleichen.
Partei zu nehmen ist kein Heil;
Vorliebe ist immer auch Vorurtheil.
Das Glück will Manchem ein Amt bescheren,
Für das er nicht erkoren,
Und kommt ein Esel zu Ehren,
So wachsen ihm noch die Ohren.
Der große Mann eilt seiner Zeit voraus,
Der kluge kommt ihr nach auf allen Wegen;
Der Schlaukopf beutet sie gehörig aus,
Der Dummkopf stellt sich ihr entgegen.
Geselligkeit, was will’s bedeuten?
Nichts als Ennui mit vielen Leuten.
Es ist ein Mühsal, nicht zu sagen,
Sich selbst und die Andern zu ertragen.
Schwatzende Weiber und kitzelnde Fliegen
Sind alleweile nicht los zu kriegen.
Ich kann’s noch immer nicht begreifen,
Daß Rosen welken und Mispeln reifen.
Nur selten findet man, es muß befremden,
Gute Cigarren und gut gemachte Hemden.
Wenn Andere sich im Schlamme wälzen,
So schreite sorgsam drüber hin auf Stelzen.
Gemeinheit und öffentliche Meinung
Kommt oft gleichzeitig zur Erscheinung.