Ein thüringisches Volksfest

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Textdaten
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Autor: Karl Wartenburg
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Titel: Ein thüringisches Volksfest
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 54–55
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Flurumzug in Saalfelden
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Ein thüringisches Volksfest.

Auf der Heimkehr aus Belgien und Frankreich führte uns der Weg durch die alte Bergstadt Saalfeld, dicht am Fuß des thüringer Waldes gelegen, dessen Berge kaum eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, ihre grünen Häupter erheben. Es war am späten Herbstabend, als wir in dem Städtchen anlangten und Erschöpfung von der Reise und Müdigkeit ließen uns trotz des regen Lebens, welches noch im Gasthof herrschte, sogleich den Schlummer suchen.

Der Tag fing an zu grauen als wir durch Hörnerklang und Trommelschall aus dem unruhigen Schlaf, den man stets hat, wenn man an nicht gewohnter Stätte zum ersten Male schläft, aufgeweckt wurden. Der Gedanke, daß dies Feuerlärm sei, brachte uns schnell aus dem Bett und an’s Fenster, von wo aus wir den ganzen Marktplatz übersehen, zu unserm Erstaunen aber nichts bemerken konnten, als eine Musikbande, welche in größter Ruhe und Gemächlichkeit rings um den Marktplatz marschirte, sich dann vor dem alten Rathhaus aufstellte und aus ihren Blechinstrumenten allerlei lustige Weisen und Märsche in die frische Morgenluft hinausschmetterte. Nach einer kleinen Weile wurde die Musik durch Generalmarsch wirbelnde Trommelschläger, die aus den Seitengassen hervorkamen, unterbrochen, und zugleich strömte aus allen Gassen und Gäßchen allerlei Volks, Männer, Frauen, Mädchen, Kinder, die ersteren fast sämmtlich mit Flinten und Büchsen jeden Kalibers bewaffnet, auf dem Marktplatz zusammen. Wenn man nicht dicht vor sich das ehrwürdige, altdeutsche Rathhaus mit seinen hervorspringenden Erkern, gothischen Fenstern und spitzen Thürmchen und die grün-weißen Cocarden an den Helmen einiger sächsisch-meining’schen Feldjäger, welche im Gedränge hier und da sichtbar wurden, gesehen, so hätte man glauben mögen, man wäre in einer amerikanischen Pflanzstadt des Westens, und aus den dunklen Waldbergen, die sich um die Stadt ziehen, wären die Rothhäute hervorgebrochen, lüstern nach dem Feuerwasser und dem Scalp der weißen Männer.

Rasch kleideten wir uns nun an und eilten hinab auf den Marktplatz, auf welchem eben zwei geordnete Züge, voran Musikchöre und junge Männer in schwarzer Kleidung, grün-weißen Schärpen und Säbeln, denen sich wieder mit Flinten Bewaffnete angeschlossen, erschienen. Dieser feierliche Habitus erregte nur noch mehr unsere Neugierde, und wir wendeten uns an einen der Umstehenden, der auf ein langes französisches Infanteriegewehr mit Feuerschloß, gelehnt, gemüthlich seine kurze ulmer Pfeife rauchte, mit der Frage, was denn das Alles bedeute? Den Mann mochte jedenfalls unsere Unwissenheit befremden, denn er zeigte ein sehr verwundertes Gesicht und sprach, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt, indem er mit seiner kurzen Pfeife über die Menge wies: „Dös ist Flurumzug.“ Wir hatten keine Zeit, eine nähere Erklärung zu verlangen, denn Trommelwirbel und rauschende Fanfaren, die einem aus dem Rathhaus herauskommenden Zug, in dessen Mitte sich mächtig wehende Fahnen mit den Farben und Wappen der Stadt und des Landes und weiß gekleidete Mädchen, an der Spitze aber der Bürgermeister und die übrigen Väter der Stadt befanden, begrüßten – schnitten jede Erörterung ab. Nachdem sich der Zug gruppirt, trat eins der weißgekleideten Mädchen, mit jenem bekannten blonden thüringischen Gesichtstypus, hervor und überreicht einem ebenso blonden jungen Mann mit einigen uns unverständlichen Worten eine roth-goldene Fahne, worauf dreimaliger Tusch und Abmarsch der ganzen Versammlung; voran Musik, dann Fahnen mit Ehrenwachen, Magistrat, Weiber, Kinder, mit Flinten und Büchsen bewaffnete Männer, die Schulen mit ihren Lehrern, Bier-, Wurst-, Schnaps-Marketenderinnen, Alles bunt durcheinander. Noch ehe der Zug das Stadtthor erreicht hatte, attachirten wir uns einem gravitätisch hinter dem Zug einher wandelnden Bürger von mehr als behäbigem Aussehen, dem sein colossaler Körperumfang es höchst wahrscheinlich unmöglich machte, eine Muskete zu schleppen und in der Colonne mit zu marschiren mit der festen Absicht, ihn nicht eher wieder loszulassen, als bis wir wüßten, was hier vor sich ginge. Der Mann wischte sich erst mit dem blau und weißgewürfelten Taschentuch den perlenden Schweiß, der ihm trotz des frischen Herbstmorgens auf die Stirn getreten, ab und antwortete dann in einigen Absätzen:

„Ja, sehen Sie, bester Herre, dös ist der Flurumzug, und den halten wir alle zehn Jahre, und da gehen wir um’s Stadtweichbild und sehen nach, ob die Grenzstein’ noch alle auf dem rechten Fleck stehen, und da zieht Alles mit was nur Bein’ hat, und nun passen’s auf, nun werden Sie sehen, was geschehen thut.“

In dem Augenblick, wir waren während des Gesprächs vor das Thor hinaus in die freie Stadtmarkung gelangt, verging uns aber nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, denn aus mehr als ein Paar hundert Flinten krachte eine Salve, die das Echo in den hohen, steilen Sandbergen an der Saale tausendfach zurückdröhnte. Trommel- und Trompetenschall klang dazwischen und eine dichte Menschenmenge versammelte sich um einen Grenzstein, den ersten des Weichbildes, auf welchen der Zug nach seinem Austritt aus der Stadt gestoßen. Rechtzeitig gelangten wir noch durch’s Gedrängte in den Mittelpunkt des Kreises, wo der Magistrat, umgeben von Fahnenträgern, Musikchören und einer Masse Volkes stand und der Stadtschreiber eben eine Urkunde verlas, durch welche dargethan wurde, daß besagter Grenzstein, ein Grenzstein des städtischen Weichbildes sei und sich Jeder dies merken möge zum ewigen Gedächtniß, wobei er schließlich aus der Menge auf gerade Wohl einen funfzehn- bis sechzehnjährigen Buben an den kurzgeschnittenen, semmelblonden Haaren ergriff und ihn kräftig abschüttelnd, eine dreimalige kräuselförmige Bewegung um den Markstein machen ließ und ihn dadurch gewissermaßen zum testis in memoriam perpetuam stempelte. Dem Burschen, der auf so eigenthümliche Stärkung seines Gedächtnisses höchst wahrscheinlich nicht vorbereitet war, traten vor Erstaunen oder auch vor Stolz über die ihm widerfahrene Ehre die Augen, wie einem nürnberger Nußknacker, aus den Höhlen, und mit weitgeöffnetem Munde schaute er bald den Stadtschreiber, bald den Grenzstein und sich selbst an. Noch lange sahen wir ihn in tiefe Gedanken versunken auf dem selben Stückchen Erde, wo mit ihm die merkwürdige Ceremonie vorgenommen, stehen, als sich der Zug schon längst wieder in Bewegung gesetzt. Jetzt löste sich indessen die Ordnung der Prozession auf und Alles gruppirte sich willkürlich, mit Ausnahme einer kleinen Schaar, die den Magistrat umgab. Im Nu waren die Gebirgskämme und die buschigten Ufer der Saale mit zahlreichen Trupps bedeckt, die nach allen Richtungen hin ein lustig knatterndes Gewehrfeuer eröffneten. Aus jedem Busch, hinter jedem Felsenabhang hervor blitzte und [55] knallte es, und jeder Schuß verkündete den scheel drein blickenden Dörflern, die am Saum ihrer Felder und Wiesen standen, daß die Bürger der ehrwürdigen Bergstadt ihr altes, verbrieftes, hundertjähriges Weichbildrecht geltend machten. Mehrere Dorfgemeinden nämlich, die im Bezirk des städtischen Weichbildes, welches einen Umfang von vielleicht 4–5 Stunden hat, liegen, wollten diese, schon seit vielen hundert Jahren, alle zehn Jahre stattfindende Prozession der Weichbildumgebung nicht mehr dulden und hatten bei der Staatsregierung eine Art actio finium regundorum erhoben, in Folge dessen die Staatsbehörde die Prozession bei 25 Fl. Strafe verbot; indessen die Stadt zahlte die Strafe und übte den alt-germanischen Brauch aus, und den Dörflern blieb nichts übrig als in ihren langen, blauen Sonntagswämsern trotzig auf ihre lange Stecken gestützt und den Pfeifenstummel im Mund, von ihren Dörfern aus den lustigen Zug vorüberrauschen zu sehen. Denn lustig war die Prozession wahrlich, vollends nachdem gegen Mittag sich die ganze Karavane in einem weiten, grünen Waldthal, wie sie das thüringer Gebirge so reizende und viele hat, lagerte. Ringsherum um den Thalkessel dicht mit Eichen, Tannen, Buchen und Buschwerk bewachsene Hügel, unten im Thal eine weite große Waldwiese, mit jenem kurzen, frischen, grünen Rasen, wie man ihn nur in den thüringischen Wäldern trifft, – murmelnde, zwischen den moosbewachsenen Felsen herabströmende Waldbäche mit köstlich klarem, kalten Wasser, und über diesem Thal, das wie abgeschlossen durch die dichten, grünen Waldberge von dem Staub der Heerstraße und dem Geräusch der Städte dalag, ein reiner, blauer Himmel, von dem die milde Herbstsonne ihre goldenen Strahlen durch das hier und da schon roth- und gelb gefärbte Laub, herab auf das dunkelgrüue Moos und den hellen Rasen warf. Und nun auf diesem grünen Stückchen Erde diese nomadisirende Bevölkerung von vielleicht tausend Köpfen jeden Alters und Geschlechts! Hier um die Wagenburg, auf welcher die ungeheueren Bierfässer lagerten, eine zechende und lärmende Gruppe ehrsamer Stadtbürger, die heute einmal den Alltagsmenschen ausgezogen hatten und die, herausgerissen aus dem dumpfen, niedrigen Kramladen und der Werkstatt, mit der frischen würzigen Waldesluft auch frischeres, regeres Leben einathmeten und das Blut ihrer munteren Jugendzeit wieder durch die Adern rollen fühlten; dort am Abhang des Hügels eine bunte Schaar blondhaariger und blauäugiger Mädchen und junge Bursche, die trotz des unebenen Wiesengrunds einen bal champêtre abhielten und ihre Tänzerinnen nach thüringischer Sitte mit kräftigem Arm hoch emporschwangen; um jenes qualmende Bivouac, an welchem auf dem Rost hunderte von Würsten schmoren, lag eine Schaar lauernder, hungriger Musikanten, während um eine andere Musikbande, die drüben auf sonnigen Hügel sich niedergelassen, ein Chor junger Leute, die ihre Studentenjahre noch nicht ganz vergessen, sich gesammelt und um einen auf ein Bierfaß sitzenden Präses gruppirt, die alten lustigen Studentenweisen, von dem: „Stoßt an, Jena soll leben!“ bis zu dem: „Bemooßter Bursche ziehe ich aus,“ in die dunkle, grüne Waldesnacht hineinsangen und dabei den großen schäumenden Humpen voll braunen Gerstensaftes kreisen ließen.

Unter jenen Haselnußbüschen aber träumten ein paar sanft Entschlummerte, die gar zu häufig dort an der Wagenburg von dem gambrinischen Quell gekostet, einen süßen Traum von Malz und Hopfen, ruhig und ungestört, trotz der knatternden Flinten- und Büchsenschüsse, von denen fortwährend die Waldung wiederhallte.

So verflossen drei lustige Stunden, bis von der Wagenburg herüber, wo der Magistrat sein Zelt aufgeschlagen, Trompetenklänge und Trommelwirbel zum Aufbruch riefen. Blitzesschnell wurde das Lager abgebrochen, die zerstreuten Gruppen ordneten sich, voran die Musikbanden mit dem Magistrat und den Fahnen, dann die Sectionen bewaffneter Männer, die Wagenburg mit den ungeheueren Bierfässern, die fahrenden Marketenderinnen mit ihren Bratspießen und Rosten und Kohlenbecken, denen die Mädchen und Frauen und schließlich wieder ein Schwarm mit Flinten Bewaffneter, welche die Arrièregarde des Zugs bildeten, sich anschlossen. Unter fortwährendem Gewehrfeuer stieg die Karavane die waldigen Höhen empor, und nach wenigen Minuten war sie zwischen den Felsen und Wäldern verschwunden, und einsam und schweigsam lag der Grund da, der eben noch einen so lustigen Anblick geboten.

So geht es fort drei volle Tage, bis das große weite Weichbild umgangen, bei jedem Grenzstein Halt gemacht, dieser ausgehoben, die darunter liegenden Urkunden und Zeichen untersucht, neue hinzugefügt und die oben von uns beschriebene Zeugenerwählung zum ewigen Gedächtniß an einem Buben vollzogen worden ist. Da das Fest nur alle zehn Jahre wiederkehrt, in einer andern Stadt, außer Saalfeld, unseres Wissens nach noch die einzige, wo diese Feierlichkeit stattfindet, geschieht es nur alle funfzig Jahre, so ist die Betheiligung daran eine allgemeine und man kann es im strengsten Sinne des Worts ein Volksfest nennen.

Dies und der eigenthümliche altdeutsche Charakter, der sich, wie denen, welche die Grundzüge alt-germanischen Staatenlebens kennen, nicht entgangen sein wird, abgesehen von der echt-deutschen Grenzstein-Ceremonie, in der Sonderung der Gemeinde, von dem was außer der Gemeinde liegt, in der strengen Isolirung durch die gewissenhafte Beobachtung der Marken, manifestirt, haben uns eine kurze Darstellung dieses Festes, mit dem Gedanken, daß diese auch für weitere Kreise, insbesondere aber für solche, welche sich für Eigenthümlichkeiten deutschen Volks- und Gemeindelebens interessiren, nicht ganz ohne Interesse, niederschreiben lassen.

Karl Wartenburg.