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Eine Mahlzeit bei den Esquimaux

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Eine Mahlzeit bei den Esquimaux
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 122–123
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Mahlzeit bei den Esquimaux.

Die Theile der Erdoberfläche, welche sich nach dem Nordpol hin um das große Polarmeer lagern und von größerem Flächeninhalt sind, als ganz Europa, bilden jenseits des arktischen Cirkels (zwischen dem 60sten und 70sten Grade nördlicher Breite) eine erhabene Wüste der entsetzlichsten Art. Innerhalb dieses Kreises ist Alles verschlossenes Prachtschloß des ewigen Winters. Tausende und aber Tausende von Meilen baum- und pflanzenlos ohne den bescheidensten Keim eines Gräschens, hier voller himmelstürmender Alpen ewigen Eises, dort ewige, schneeblendende frostgebundene Ebene, durch welche das Renn- und Elennthier jagen, und über welche die uralte Sonne sechs Monate lang, ohne einmal unterzugehen, hinstreift, ohne die Diamantburgen ewigen Eises nur zu erweichen, über welchen dann eine sechs Monate lange Nacht liegt, die oben im Himmel mit den feurigen, wilden Heeren der Nordlichter spielt, ohne daß von diesen elektrischen Feuermassen, welche die härtesten Metalle schmelzen, nur ein Atom von Wärme heruntersteigt. Die eine Hälfte dieses Cirkels auf der amerikanischen Seite, Jahrhunderte lang Kampfplatz der Expeditionen zur Entdeckung eines Seeweges nach den asiatischen und amerikanischen Gestaden jenseits unserer Halbkugel, hat unlängst den Triumph der Entdecker dieser „Nordwestpassage“ gesehen und kurz darauf die Passage und den ganzen Kampf mit furchtbar tragischem Effekt auf ewig geschlossen. Die letzte Scene war eine arktische Eiswüste mit den verstümmelten starren Gebeinen Franklin’s und seiner 158 Helden, die nach langem Kampfe mit Kälte und Hunger sich zum Theil gegenseitig selbst aufgegessen hatten, ehe sie vollends verhungerten und erfroren. Wenigstens fielen die Berichte der Esquimaux über die letzten Schicksale der Franklinianer in diesem Sinne aus. Was auch nähere Untersuchungen, die man jetzt anstellt, ergeben, der 1527 begonnene und 1854 geschlossene Kampf um die Nordwestpassage ist und bleibt durch ewige Eislabyrinthe und die darin einbalsamirten Franklin-Leichen geschlossen. In der Mitte dieser Scene erhebt sieh zugleich das Denkmal des französischen Lieutenants Bellot, der auf einer der letzten englischen Expeditionen, während er mit dem Fernrohre durch die Eismauern zu dringen suchte, plötzlich von dem arktischen Meere verschlungen ward: eine neun Fuß hohe Steinsäule mit einem Erdglobus auf der Spitze und verschiedenen Inschriftem welche es zu einem Denkmale der arktischen Expeditionen überhaupt machen. Am Fuße der Säule steht: Post-Office (Post-Büreau) und darüber ist ein Briefkasten angebracht, in welchem Jeder, der von der Beechy-Insel nach Europa schreiben will, seinen Brief stecken kann, vorausgesetzt, daß sich dort Korrespondenten und Leute finden, die Briefe zu besorgen. Dieser englische Briefkasten hat etwas Lächerliches, wie denn die ganze Säule, insofern sie über den Zweck, ein Monument für Bellot zu sein, hinausgeht, zugleich als das Denkmal der Beschränktheit und Hartnäckigkeit der englischen Admiralität gelten kann. Der Weg von England aus durch die Eis- und Kanallabyrinthe des arktischen Meeres auf der amerikanischen Seite nach der Behringsstraße ist nicht nur von vorn herein ein Hunderte von Meilen langer Umweg um Grönland herum, sondern erwies sich auch, noch ehe man acht Millionen Thaler für Expeditionen dahin verschwendet, als ein unmöglicher, auch vorausgesetzt, daß man durch gebrochene Eismassen die Passage wirklich fände, wie denn auch die jetzt wirklich entdeckte sofort als ganz nutzlos proklamirt ward. Der Weg auf der asiatischen Seite an Sibirien bildet von London aus nach der Behringsstraße fast eine gerade Linie durch lauter offenes Meer hin, welches im Juni vollkommen eisfrei ist, [123] da es jedes Jahr von den gigantischen Strömen Sibiriens aufgerissen und vom warmen Golfstrome sowohl fortgetrieben als aufgelös’t wird.

Der berühmte Geograph A. Petermann bewies dies der Admiralität in einer besondern Broschüre aus den bisherigen Expeditionen auf dieser Seite und durch mathematisch sichere Wissenschaft der Wärmevertheilung auf der Erde und zeichnete ihnen die gerade Linie außerdem noch mit brennendem Roth in eine beigegebene Karte und daneben die krumme, die in ewige Kanal- und Eislabyrinthe auslief. Alles vergebens. Man kann sagen, daß bei der englischen Admiralität selbst das Sprüchwort: „mit der Nase drauf drücken,“ zu Schanden ward. Es ist dieselbe Admiralität, welcher Charles Napier einmal vorwarf, daß sie schon bei einer Fahrt die Themse herunter seekrank würde, dieselbe Admiralität, welche bei den Wahlen auf dem Lande das meiste Geld für Bestechungen ausgiebt, und neuerdings die Flotten im baltischen und schwarzen Meere aus „Diplomatie“, Nachlässigkeit und Unwissenheit theils in Lächerlichkeit, theils in Stürmen, theils in Unthätigkeit verkommen ließ.

Sehen wir uns nach etwas Lebendigem in dem ungeheuern todten Cirkel ewigen Eises um. Wir finden schneeweiße Thiere mit kostbaren Pelzen und gelbbraune, geräucherte, fettglänzende, kleine, listige, lügnerische, tückische Menschen, in einzelne, schneebedeckte, rauchende Haufen verkrochen. Zwar zeigen sie viel Unterschiede, selbst racische, denn während einzelne Lappen kaum die Größe eines Kindes von drei Jahren erreichen, findet man Samojeden, die es an Größe und Kraft mit jedem „Weißen“ aufnehmen. Und die Esquimaux, welche hauptsächlich Zeugen der arktischen Expeditionen waren, übertreffen an List und Diebischkeit die geschultesten londoner Uebertreter des siebenten Gebots. Im Uebrigen sind sie ganz frei von Civilisation. Vom Lesen, Schreiben, Regiertwerden, Steuernzahlen, Kirchen, Kerkern und sonstigen Phasen höherer Kultur wissen sie nichts. Sie jagen und fischen nach Fleisch und Fett, um damit dem eingeathmeten Sauerstoff Brennmaterial zu liefern und sich auf diese Weise selbst einzuheizen. Nach Liebig besteht das Athmen und Verdauen in Heizung des menschlichen Körpers. Je kälter es ist, desto mehr heizen wir unsere Oefen und uns selbst. Der Magen ist nur der Ofen in uns. Die Kälte macht Appetit, d. h. die Natur fordert uns auf, Kohlenstoff und Wasserstoff (welche die Verdauung aus Fleisch, Fett und Oel bereitet) in den Magen zu schaffen, damit sie der eingeathmete Sauerstoff in Kohlensäure und Wasser verwandeln, und dadurch die thierische Wärme erzeugen könne. Diese Verwandlung ist genau dasselbe, was mit dem brennenden Holze im Ofen vor sich geht, nur nicht mit Flammenentwickelung und nicht so rasch.

Wir können uns daher nicht wundern, daß die Menschen jenseits des arktischen Cirkels bei gegen 40 Grad Kälte ganz anders einheizen, als wir. Ein braver, gesunder Mann bewältigt dort auf einmal einen Seehund und schlingt bei festlichen Gelegenheiten ein Pfund Talglichte hinterher oder gießt eine gute Kanne Fischthran oder sonstiges Oel in das Feuer seines Verbrennungs-Verdauungsprozesses. Doch um hier genau zu sein, lassen wir einen Engländer der arktischen Expedition, der bei einem Tusken (einer Sorte von Esquimaux) zu Tische eingeladen war, diese Mahlzeit selbst schildern.

„Der erste Gang bestand in einem großen Klumpen zusammengefrorner, frisch aus dem Wasser gezogener Fische. Um unsern Wirth nicht zu beleidigen, hieben wir uns auch Jeder ein Stück Eisfisch ab, aber sie waren uns wirklich zu frisch. Frisch aus dem Wasser, ungesalzen, ungekocht, unausgenommen, reine Natur und dabei noch in Eis verwandelt, das wie Glas zwischen den kauenden Zähnen der Gierigen splitterte und knirschte! — Der nächste Gang bestand aus einem großen Haufen grünlicher Masse, die zwei Mann auf einem schmutzigen Brette hereintrugen. Die ganze Familie griff gierig hinein und stopfte sich den Mund damit, hinter jeder Hand voll ein Quadrat Wallfischspeck herschiebend, welchen die Dame des Hauses zu diesem Zweck geschnitten hatte. Dieses Grünfutter oder „Gemüse“ schmeckte gar nicht übel, obgleich es weiter nichts war, als die noch nicht wiedergekäute Moosmasse aus dem Magen eines zu unseren Ehren geschlachteten Rennthiers. Die Wallfischquadrate, natürlich auch roh und geeis’t, statt gesalzen, waren uns so viereckig, daß wir kein einziges vertilgen konnten, so wiederholt wir auch eingeladen wurden. Mit ironischem Lächeln über unsern Mangel an Geschmack sah man uns zu, wie wir versuchten, ohne einen einzigen Sieg zu feiern. Nachdem diese „Schüssel“ geleert war, fuhr die Dame des Hauses mit schmutziger, knochiger Hand über das schmutzige Brett, denn sie hielt sehr auf „Reinlichkeit,“ und nachdem sie dieselbe ganz in den Mund gesteckt und auch diese auf diese naive Weise „gereinigt“ hatte, wurden gekochte Stücke Seehund und Walroß auf das Brett geworfen. Das Fleisch erschien uns zwar viel geeigneter zu starken Sohlen für Jagdstiefeln, aber es war doch etwas „Warmes“ und wir hatten längst unsere englischen Ansprüche aufgeben gelernt, so daß wir mit zulangten und unsern civilisirten Zähnen Heldenthaten der Urwelt zumutheten, worüber sich die ganze Familie sehr freute. Demnächst kam eine kohlschwarze, ebenholzartige Masse zum Vorschein, die uns anfangs selbst für die schärfsten Sägen oder Messer unverdaulich erschien, uns aber hernach nur desto mehr überraschte. Es war Wallfisch, den die Dame, welche die Honneurs machte, sehr geschickt in kleine Würfel zerschnitt, die dann von Jedem nach Belieben in den Mund hineingewürfelt wurden. Des Anstandes wegen versuchte ich’s auch. Wie überraschte mich aber der hübsche cacaonußartige, angenehme Geschmack dieser Delikatesse, die eigentlich nicht aus Fleisch, sondern aus der dicken Haut des Wallfisches bestand. Es folgte eine sehr geringe Quantität gekochtes Rennthierfleisch, dann Wallfischgaumen, welcher die Zucker- und Mandel-Näschereien unserer Nachtische vertrat. Die Tusken nennen ihn ihren Zucker, und ich muß gestehen, daß wenn ich an der reichsten Tafel die Wahl zwischen Wallfischgaumen und Konditorwaaren hätte, ich ersteren stets vorziehen würde. Schlecht gerechnet, hatte während dieses Mahles Jeder etwa 5—6 Pfund Fleisch und Fett oder vielmehr Fett mit etwas Fleisch als Brennmaterial in seinen innern Verdauungsofen hineingeschoben. Und das war bei dieser Temperatur gar nicht zu viel auf 6—8 Stunden. Auch darf man dort in Bezug auf die Zubereitung des Brennmaterials nicht zu wählerisch sein: es giebt keine besondere Auswahl und was die Natur bietet, reicht nur eben hin, wenn man sie aufzusuchen weiß. Ohne die thranigen, öligen, fetten Thiere und das Renn- und Elennthier besonders würde sich keine Lebensflamme dort erhalten können.“