Eine Stunde bei Friedrich Spielhagen
Der Sommer des verflossenen Jahres wird mir unvergeßlich bleiben, er erfüllte mir den Wunsch, mit bedeutenden Menschen Verkehr zu pflegen, nach deren persönlicher Bekanntschaft ich mich lange gesehnt hatte.
Nicht Jedermann hegt derartige Wünsche, und Mancher wohl schätzt ihre Erfüllung sogar gering. Ich wundere mich darüber nicht, verstehe vielmehr, wie man entweder wegen der Gefahr, einem Größenculte zu verfallen oder wegen der noch schlimmeren der Enttäuschung sich ängstlich davor hüten mag, Menschen, die man im Geiste verehrt, persönlich zu begegnen. O, hätte ich doch selbst nicht gar so häufig die peinliche Erfahrung gemacht, wie ein Dichter oder Künstler, dessen Werke mich entzückt hatten, mir nachträglich zu einem Alltagsgeschöpfe zusammenschrumpfte, da ein heimtückischer Zufall mir ihn von Angesicht zu Augesicht gegenüberstellte! Steht es so, fragte ich mich dann wohl, mit dem Dichterworte: Es ist der Geist, der sich den Körper baut? Und doch, wenn man, wie ich, von berufswegen in einem gewissen Verhältnisse zur Politik, zur Literatur und Kunst steckt, wenn man jahraus jahrein liest und liest, schaut und schaut, um literarischen und künstlerischen Individualitäten auf den Grund ihres Wesens zu kommen, so folgt man immer wieder der Verlockung, das Buch oder Bild, welches man kennt, an seinem Schöpfer zu messen. Wie etwa, um Kleines mit Großem zu vergleichen, ein Menschenkind nichts sehnlicher zu wünschen vermöchte, als zu der Welt, die es kennt, nun auch deren Schöpfer von Angesicht zu sehen. Ja, es ist ein erhabenes Geheimniß um das Schaffen, die Dichter und Künstler haben es selbst noch nicht ergründet; es lebt in ihnen und herrscht über sie, ohne viel nach ihnen zu fragen. Und oft genug ist es so traumhaft, daß es sich nicht einmal sichtlich ausprägt in Jenen, welche es beseelt. Dann geschieht es wohl, daß ein begnadeter Poet das Aussehen und Wesen eines Spießbürgers, ein genialer Künstler die Physiognomie eines Tagelöhners hat. Und so freilich ist es mehr ein Unbehagen als eine Freude, welche an Dichter- und Künstlerbegegnungen haftet.
Doch getrost, wenn die Enttäuschung die Regel ist, so giebt es auch der Ausnahmen eine Fülle, und was mich betrifft, so werde ich mir das Vergnügen niemals versagen, freudigen Dankes voll von jeder Ausnahme zu erzählen, der ich begegne. Der Corse Napoleon hat doch trefflich verstanden, was es bedeute, einen großen Menschen zu sehen. Als er Goethe kennen gelernt hatte, sagte er bewundernd: Voilà un homme.
Mit solchen Anschaungen als Gast in Berlin zu weilen, diesem Mittelpunkte, der immer mehr nach dem Vorbilde von Paris zur deutschen Metropole auch in literarischer und künstlerischer Hinsicht sich erweitert, das hat seinen großen Reiz und auch sein großes Mißbehagen, die Enttäuschung ist auf allen Gassen zu haben, die Erfüllung auf wenigen. Ich erfuhr es im verflossenen Monat Juni, aber ich berichte für jetzt nur von einer der Erfüllungen. Von den anderen und auch von den Enttäuschungen vielleicht ein anderes Mal!
Es ist nach einer regnerischen Woche endlich wieder einmal ein milder, weicher, träumerischer Sommertag, eigentlich ein verspäteter Frühlingstag. Ich habe, dem Lärm unter den Linden entweichend, das Brandenburger Thor passirt und wandere durch den Thiergarten, im Schatten der Bäume. Mein Ziel ist die Hohenzollerstraße, die weit draußen hereinmündet in das grüne Eiland, das, wie kein anderes, still und erquicklich sich streckt inmitten großstädtischer Bewegung. Dort wohnt Friedrich Spielhagen, dessen letztes Buch mit dem schönen Titel „Quisisana“ ich kurz vorher gelesen habe. Und da ich ihn noch nicht persönlich kenne, so ist es begreiflich, daß mir, bevor ich an seine Thür klopfe, seine schriftstellerische Persönlichkeit, wie ich sie mir aus seinen Werken gestaltet, vor Blick und Gedanken schwebt, gleichsam um sich zu verabschieden, da sie von dem Bilde der wirklichen Persönlichkeit in Bälde abgelöst werden soll. Werde ich bei dem Tausche gewinnen oder verlieren?
Die Generation, der ich angehöre, war, als sie zu lesen anfing, glücklich genug, unter drei hervorragenden vaterländischen Romandichtern wählen zu können. Gustav Freytag’s „Soll und Haben“, Karl Gutzkow’s „Zauberer von Rom“, Friedrich Spielhagen’s „Problematische Naturen“ beherrschten das Interesse der Leserwelt. Aber uns jungen Leuten war Freytag zu reif, Gutzkow zu sehr zerrissen, wir bedurften einer Nährung für unseren Enthusiasmus. Und diese fanden wir bei Spielhagen. So wie für die „Problematischen Naturen“ ist seit jenen Tagen nicht wieder für einen Roman geschwärmt worden. Wir liebten in diesem Oswald Stein ein Stück von uns selbst, gaben dem Baron Oldenburg, wie er, unsere Seele hin, ergötzten uns an diesem Cloten, dem Junker, der gerade das hohe Roß im Staate ritt. Und wie viele Mädchen, die damals geboren wurden, erhielten den Namen Melitta!
Ach, Spielhagen hat vor zwanzig Jahren voraus geahnt, in welcher Richtung das geistige Leben der Nation nach deren vollbrachter äußerer Einigung sich bewegen würde, und bitter genug klang sein Urtheil über die Zukunft. In demjenigen seiner Romane, welcher am schroffsten politischer Tendenz gewidmet ist, in dem Romane „In Reih’ und Glied“, ist es ein Dichter, Walter Gutmann, der, humanistischen Studien ergeben, im politischen Leben die gemeinnützige Wirksamkeit, den Dienst zum Wohle des Ganzen verkörpert, indeß Leo Gutmann, der Vertreter der genialen Gewaltthätigkeit, des isolirten Ehrgeizes und der Herrschsucht, von der Naturwissenschaft ausgegangen ist. Damit soll schwerlich der letzteren ein Makel angeheftet werden, doch es ist für den Dichter charakteristisch, wo er den Dämon unserer Tage sucht.
In den „Problematischen Naturen“ reckt und dehnt es sich wie zu einem gewaltigen Ausholen des von bureaukratischen Fesseln umspannten Armes. Dreiunddreißig Jahre sind vergangen, seitdem das Volk hinauszog, um sein Blut für seine Fürsten zu verspritzen. Man hat ihm Verfassungen versprochen und den Bundestag gegeben, parlamentarische Einrichtungen verheißen und die Karlsbader Beschlüsse über den Nacken geworfen. Dann hat Paris seine Julirevolution gemacht, die deutschen Poeten haben ihre Freiheitslieder gesungen, die Burschenschafter sind wie das Wild auf dem Felde gehetzt und verfolgt worden, Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen hat sich geweigert, zwischen sich und sein Volk ein „Stück weißes Papier“ schieben zu lassen Die Menschen wissen nicht, was sie wollen aber sie wissen, daß sie etwas wollen müssen. So entstehen die „problematischen Naturen“. Die Einen, wie Oswald Stein und Professor Berger, werden durch den Tod auf den Barricaden, die Anderen, wie Baron Oldenburg, durch die Liebe entsühnt. Die Weiber laufen ihnen, wie magnetisch angezogen, dutzendweise in die Arme. Sie taumeln von Begierde zu Genuß und verschmachten im Genuß vor Begierde, genügen keinem Verhältnisse und finden kein Verhältniß genügend, sodaß sie das Leben ohne Genuß und Nutzen verzehren. Das wird gar bald anders werden. Die Märztage werden dem unbestimmten grenzenlosen Sehnen einen festen Inhalt, eine bestimmte Richtung geben. Zwölf Jahre der gewaltthätigsten Reaction werden es nicht hindern, daß die „problematischen Naturen“ sich allmählich in ernste Kämpfer verwandeln, welche in „Reih’ und Glied“ der allgemeinen Wohlfahrt ihre Kraft leihen. Der Militärconflict ist da und mit ihm die sociale Frage. Dort handelt es sich um das Budgetrecht [68] der Volksvertretung, hier um die Wahl zwischen Selbsthülfe und Staatshülfe. Ein genialer, aber in seinem Ehrgeize vereinsamter Streber, Leo Gutmann, will „die Arbeit gegen das Capital organisiren“, und eine Weile hat es den Anschein, als ob der Staat sich seiner bedienen werde, um den Parlamentarismus mit dem Socialismus todtzuschlagen. Aber Leo Gutmann, will sagen Ferdinand Lassalle, wandelt auf Wegen, auf welche er den Geist der Zeit nicht mit sich reißen kann, und wird schließlich das Opfer eines Duells. Der Conflict zwischen Regierung und Volksvertretung endet mit einem Compromiß, der vorläufig jede Entscheidung bis auf Weiteres versagt. Von da zu dem gewaltigen Athemzuge, welchen im Julimonate 1870 die Geschichte that, ist eine schwüle Pause. Verdrossen, mißmuthig, enttäuscht kehrt der Volksgeist den öffentlichen Dingen den Rücken. Ein Krieg ist geführt worden, und es war ein Bruderkrieg. Räthselhaft ist die Zukunft, beängstigend lastet die Gegenwart auf den Gemüthern. In rastloser Arbeit strebt man zu vergessen was war; „Hammer und Amboss“ heißt die Losung. Und als nun endlich die Entscheidung eintrat, als blutigroth die Einheit aus erbarmungslosen Völkerschlachten hervorgegangen, da lacht zwar dem Poeten das Herz über die Erfüllung, und jubelnd klingt ihm das „Allzeit voran“ von den Lippen, aber bald hat er erkannt, daß der heilige Gedanke vaterländischer Wiedergeburt verzerrt und entweiht, mißbraucht und entheiligt zu werden droht von Glücksjägern und Strebern, von Junkern, die Verwaltungsräthe, und von Speculanten, die Cavaliere werden wollen. Und er läßt die „Sturmfluth“ kommen, brausend und mitleidslos, alle Dämme und Deiche, die Menschenwitz aufgerichtet hat, wie Spielzeug zerreißend. Er hat längst die Freude verloren an dem Anblicke des wechselvollen Kampfes, den das Volk gegen die Bureaukratie, der nationale Geist gegen den Moloch des staatlichen Selbsterhaltungstriebes führt. Er ist auf dem Standpunkte angelangt, den der Held seiner ersten Novelle „Auf der Düne“ als den allein erstrebenswerthen bezeichnet, auf dem Standpunkte der Resignation. Was scheert ihn der Monismus, den die Einen, was der Dualismus der Weltanschauung, den die Anderen aufdringlich als die Erlösung von allen Uebeln verkündigen? Was kümmert ihn der Zank zwischen der Naturwissenschaft, die sich alleinherrschend auf den Thron setzen, und der Philosophie, welche von ihm nicht herabsteigen will? Was ihm einst vorgaukelte als beseligender Zukunftstraum, wofür er in kräftigster Manneszeit „In Reih und Glied“ kämpfte, das hat sich kaum halb, jedenfalls anders erfüllt, als er hoffte. Unveränderlich in ihrer Erhabenheit blieb nur die Kunst und unerschöpft seine Lust zu fabuliren. So wandelt er denn wunschlos abseits, auf „Plattland“ seine Gestalten suchend, nach einem weltentlegenen Paradiese forschend, an dessen Eingange die Worte stehen: Qui si sana – hier gesundet man …
So trat mir das Bild von Spielhagen’s dichterischer Persönlichkeit aus seinen Werken entgegen; ich mustere es noch einmal auf dem Wege zur Hohenzollernstraße, wo das Original meiner wartet.
Und aber ein Weilchen sitze ich in dem gewaltigen Arbeitszimmer des Dichters, das auf den ersten Blick voll genialer Unordnung zu sein scheint, aber sich allmählich vor dem Auge in verschiedene Sitzpartien sondert, dort eine, welche von den Bücherkästen, hier eine, die von dem Schreibtische beherrscht wird. Die Nachmittagssonne leuchtet durch die drei hohen Fenster, und malerisch heben sich die Schatten ab von den Gegenständen in dem weiten Gemach. In schräger Linie auf- und niederwärts steigen die Somnenstäubchen; vom nahen Thiergarten klingt Vogelsang und Kinderlachen herüber. Dann tritt der Dichter herein, rasch, fast ungestüm in seinen Bewegungen, ein mittelgroßer schlanker Mann mit länglichem Gesichte, das eine Denkerstirn krönt. Seine Augen, nicht groß, aber beweglich, haben einen Ausdruck, als seien sie stets auf der Suche, vielleicht nach einem Romanstoffe oder einem Blicke der Anerkennung, vielleicht auch nach echten Menschen, so recht einen problematischen Ausdruck.
Und bald ist die Unterhaltung im Gange. Spielhagen ist beredt wie seine Bücher. Wie sie, so spricht auch er mit Schwung und Feuer, gesucht, ohne daß man ihn suchen sieht. Hört man sein helles Organ, vernimmt man seine Meinungen, die aus einer durch und durch idealistischen Weltanschauung herausquellen, so versteht man, warum er allezeit in erster Linie die Jugend begeistert hat und dann die Frauen.
Ich bringe auf sein letztes Buch, aus „Quisisana“, das Gespräch, bemerke, daß zu dem armen Helden desselben, dem Reichstagsabgeordneten Bertram, vielleicht ein bekannter jüngstverstorbener Parlamentarier Modell gesessen habe, bekenne schüchtern, daß dieser jüngste seiner Romane einige todte Stellen enthalte und zwar dort, wo der Dichter allzu umständlich die rein literarischen Anregungen aufdecke, aus welchen anscheinend der Gedanke des ganzen Romans sich entwickelt habe. Daneben betone ich den politischen Zug, der alle seine Bücher charakterisire.
Er hörte mich eine Weile lächelnd an; dann sagte er:
„Todte Stellen, ja, ja. Das haben schon mehrere meiner Freunde eingewendet. Und auch jene Aehnnlichkeit ist ihnen aufgefallen. Berthold Auerbach, dem ich die Arbeit vorlas, fand sie heraus. Was thut’s? Es ist eine lebenswahre Gestalt, und wenn dem hier oder dort widersprochen wird, so ist mir eben dies, daß sie als eine bestimmte Persönlichkeit erkannt wird, der Beweis, daß ich nicht fehlgegriffen. Sie bezeugen es mit den Anderen, daß Sie diesen Bertram schon irgendwo gesehen haben, daß er gelebt hat, leben konnte, und dies ist mir genug.“
Diese Wendung wird fortgesponnen. Der Dichter entwickelt in raschen Sätzen, welche einander fast überstürzen, die Tendenzen die ihn leiten, die Ziele, welche er verfolgt, die Gesetze, die er anerkennt. Er geräth dabei in ein schönes Feuer; ich habe das seltene Schauspiel, die Werkstatt eines Poeten zu sehen, den anmuthigen Genuß, von ihm selbst in ihr herumgeführt zu werden; es ist mir, als beobachtete ich ihn unnmittelbar bei seinem Schaffen. Oswald Stein, Leo Gutmann und all ihr übrigen Gestalten der Spielhagen’schen Muse, ihr schönen Frauen, Melitta und Helene von Granwitz, Sylvia und Eva, Paula, Hedwig und Erna, ich habe euch alle belauscht von eurem erste Athemzuge bis zur Vollendung eures Schicksals; ich weiß nun, wie ihr geworden und warum ihr just so geworden. Und ihr wurdet mir theurer, seitdem ich euer Wachsthum kenne und in eure Seelen hineinschaute mit den Augen eures Schöpfers.
Doch nicht das allein verdanke ich jener Stunde in dem Arbeitszimmer Spielhagen’s. Mir geht auf allen Wegen die Politik nach, und sie verfolgte mich auch bis in die Hohenzollern-Straße am Thiergarten zu Berlin. Ich wollte erfahre, wo in dem Wesen des Dichters jene starken politische Impulse wurzeln, die auf allen Blättern seiner Werke, wenige ausgenommen, so gewaltig zu Tage treten. Und Spielhagen hüllte sich nicht in Schweigen. Seine Bewegungen wurden hastiger, das Spiel der Hände, welches die Rede charakteristisch begleitete, sprach bedeutsam mit, als er den Satz ausführte, daß er durchaus bewußt inmitten seiner Zeit stehe und aus ihr seine Nahrung schöpfe. Ja, es glitt ein Schatten von Wehmuth über sein reges Antlitz, da er im Rückblicke auf die große Romane früherer Jahre ausrief:
„Ich suche und suche, nun schon lange, nach einem entscheidenden Punkte, bei dem ich wiederum diese Zeit zu fassen vermöchte, um von ihr ein breites, umfassendes Gemälde zu entwerfen.“
Dabei fuhr er mit den Armen durch die Luft, als ob er nach Etwas griffe.
„Und ich werde es finden,“ fuhr er zuversichtlich fort, „jetzt, bald, vielleicht später – ich finde es gewiß.“
Ist der Punkt nicht vorhanden? Gleicht der Dichter dem Archimedes, der selbstbewußt sagte: Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde, und ich will sie euch vom Flecke rühren? O nein, der Punkt ist nur verhüllt, und wenn Einer ihn zu erhaschen vermag, so ist es Spielhagen, der eine wundersame Witterung besitzt für die Räthselfragen der Zeit. Heute ist das nationale Leben in Deutschland getrübt, zerrissen; es wird wieder gesunden, und dann, wenn das Kranke sich abscheidet von dem Bestehenswerthen, wird auch der Moment wieder gekommen sein, wo Spielhagen Stoff und Nahrung zu einem großen Zeitbilde findet. Er ist der Mann dazu; denn er war der Erste, welcher die Politik zu einem poetischen Elemente gemacht hat, und vielleicht der Einzige, der es mit unfehlbarer Geschicklichkeit gethan.
Die Schatten wurden länger in dem weiten Gemache. Ich erhob mich, um mich von dem Dichter zu verabschieden. Er streckte mir die Hand entgegen, zog sie aber, wie sich auf Etwas besinnend, zurück.
„Ein Andenken an diese Stunde!“ murmelte er und griff aus einem der Bücherkästen ein zierliches Bändchen heraus, auf dessen Titelseite er mit fliegender Feder ein paar freundliche Worte schrieb.
[70] Und dann schritt ich wieder durch den Thiergarten, entgegen dem geräuschvollen Treiben der Großstadt. Männer und Frauen wandelten, sich ergehend, an mir vorüber, lachende Kinder spielten unter den Standbildern Goethe’s und der Königin Luise. Ich sah Alles und sah es nicht. Meine Gedanken hingen an der Frage, ob nun der Besuch in der Hohenzollernstraße ein Gewinn gewesen oder ein Verlust.
„Ein Gewinn!“ ich sage es, ohne dem Dichter zu schmeicheln. Wie ich mir ihn gedacht hatte, so war er in seinem Arbeitszimmer vor mir gesessen. Blind gegen die Mängel seines Schaffens bin ich nie gewesen, außer in jenen jungen Jahren, wo das Urtheil noch vor jedem Gemüthsaffecte Reißaus nimmt. Aber was mir zur rechten Würdigung gefehlt hatte, war die Beobachtung des Verhältnisses zwischen ihm und dem Boden, aus dem er pflügt. Ueber die allgemeinen Züge seiner Lebensentwickelung (vergl. „Gartenlaube“ 1877, Nr. 14) war ich ja vorher unterrichtet gewesen, ich wußte, was die literarischen Compendien wußten. Daß er als der Sohn eines Magdeburger Regierungsrathes unter glücklichen Bedingungen und seit seinem sechsten Jahre auch in landschaftlich reizvoller Umgebung, nämlich in Stralsund, aufwuchs. Daß das Meer in seine Jugend hineinglänzte, wie er später selbst in einem wunderschönen Vortrage über Homer erzählt hat und wie es im Uebrigen auch aus den meisten seiner Romane zu entnehmen ist, durch welche es bald laut und bald leise tönt, wie der ewige Ruf der Sehnsucht: „Thalatta! Thalatta!“ Daß er in Berlin, Bonn, Greifswald (dem Grünwald seiner Romane) zuerst die Rechte, dann Philologie und Philosophie studirt, sich zu einer Docenten-Carriere vorbereitet hatte und eine Weile Gymnasial-Lehrer – siehe Oswald Stein’s Misere am Grünwalder Gymnasium – gewesen war, um schließlich als dreißigjähriger Mann mit Einem Schlage ein berühmter Schriftsteller zu werden. Aber dieses Wissen war unzulänglich, lückenhaft. Genius loci, der Geist, der zum Menschen aus seiner nächsten Umgebung spricht, der war mir entgangen, und gerade von diesem Geiste Spielhagen’s muß Kenntniß haben, wer den Epiker der letzten Epoche deutscher Geschichte genau verstehen will.
Nun wandelte ich durch den Berliner Thiergarten. Unweit lag das Haus, in welchem Fürst Bismarck wähnt, unweit auch dasjenige, in dem das deutsche Parlament tagt. Das Siegesdenkmal glänzte auf mich nieder, und Moltke’s Haus, der Sitz des Generalstabes, lugte aus den Bäumen hervor. Wenige Stunden vorher hatte ich einer stürmischen Redeschlacht um die Maigesetze im preußischen Abgeordnetenhause beigewohnt. Das waren mir lebendige Zeugnisse der Geschichtswendung, welche Deutschland seit zwanzig Jahren erlebt hat, von ihrem Dichter in der Hohenzollernstraße hatte ich mich just verabschiedet. Ein leichter Windstoß bewegte die Aeste. Die Blätter rauschten, als wollten sie erzählen von den Sorgen und Freuden, welche sie in großer Zeit beobachtet an den Wanderern, die ihren Schatten aufgesucht. Aber der Windstoß wiederholte sich nicht, und die Blätter verstummten wieder. In der Nachbarschaft wohnt Einer, der besser als sie zu erzählen vermag von dem Leid und der Lust seines Vaterlandes.