Eine seltene Geburtstagsfeier
[219] Eine seltene Geburtstagsfeier. Deutschland ist in unsern Tagen
das Land der wunderbaren Greise, auf welche das Bibelwort: „Des
Menschen Leben währt siebzig Jahre“ keine Anwendung zu haben scheint.
Bis weit über diese Grenze standen Kaiser Wilhelm und der Historiker
Ranke in voller Thätigkeit, stehen heute noch Moltke und Bismarck, ihnen
gesellt sich als Nestor der hochgefeierte Gelehrte Professor v. Döllinger,
der vor kurzem in voller Rüstigkeit und Geistesfrische den neunzigsten
Geburtstag feierte. Wer seine schlanke, kaum etwas gebückte Figur in
schnellem Schritt über die Straße gehen sieht, wird ein so hohes Alter
nicht für möglich halten. Döllinger macht seinen täglichen Spaziergang
von zwei Stunden in jedem Wetter, arbeitet auf der Bibliothek und
an seinem Schreibtisch, wie jeder jüngere Gelehrte, und hält jährlich
zweimal seine großen Reden als Präsident der Akademie, wobei der
Neunzigjährige, anderthalb Stunden vor dem Pulte stehend, mit klarer,
durch den ganzen Saal vernehmbarer Stimme spricht, während sein Haupt,
wenn auch nicht mehr ohne Silberfäden, wie noch vor wenig Jahren,
doch noch entschieden braun über die weißen Häupter der viel Jüngeren
im Kreise emporragt. Selbst diejenige Altersspur, die sonst die rüstigsten
Greise ertragen müssen, ist ihm erspart: sein Gedächtniß blieb unverändert
in jugendlicher Frische, und der Mann, welcher aus persönlicher Anschauung
über Napoleon I. sprechen kann, er erinnert sich zugleich jedes Namens
und jeder Jahreszahl der Weltgeschichte mit einer erstaunlichen Schärfe und
Klarheit. Die in zahlloser Fülle von allen Seiten beiströmenden Huldigungen
zu seinem neunzigsten Geburtstag haben gezeigt, daß Deutschland
die hohe Bedeutung des Gefeierten voll erkennt, dessen erstaunliche Frische
ihm alle Anwartschaft auf die Centenarfeier im Jahre 99 giebt. Br.