Eine verschollene Universität

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Oscar Justinus
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine verschollene Universität
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 764–766
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[764]

Eine verschollene Universität.

Die Empfindung von der erhebenden Wahrheit des Dichterwortes: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht –“ ergriff mich in ihrer ganzen Stärke, als ich die Straßen des alten braunschweigischen Städtchens Helmstädt durchwanderte und mich unter den Wölbungen seiner ehrwürdigen Häuser von den Geistern jener erleuchteten gelehrten Männer umwehen ließ, welche fast drei Jahrhunderte lang hier gearbeitet und geschaffen, gestrebt, gerungen und durch ihr Wort und Beispiel weit hinaus in’s deutsche Vaterland gewirkt haben.

Helmstädt! Wie Wenigen ist der Name überhaupt geläufig, und doch war diese reizend unter dem Elm gelegene braunschweigische Stadt bis in das erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts der Sitz einer Universität, welche einst eine glänzende Blüthezeit durchlebte und nicht nur durch eine Reihe berühmter Docenten, sondern auch durch die große Anzahl ihrer Studenten, die sich zeitweise auf 2000 steigerte, eine geistige Macht repräsentirte.

Die thüringischen, noch mehr aber die Städte des Harzes, vor Allem Braunschweig, zeigen in ihrer ganzen Anlage und ihrem Häuserbau fast durchgängig noch jenen unmittelbaren Charakter des späten Mittelalters und der Reformationszeit, welcher in anderen Städten des deutschen Nordens bis auf wenige Ausnahmen gänzlich geschwunden ist; wenn man sich in eine jener gewundenen Straßen oder auf einen der entlegeneren Plätze hinstellt, wo nicht moderne Kaufläden und Schilder störend in das alte Bild hineinragen, so glaubt man sich vollständig in die „gute alte“ Zeit zurückversetzt und erwartet jeden Augenblick, daß ein Hochweiser mit Sammetbarett, kurzem schwarzen Mantel und Schnabelschuhen oder eine Patricierfrau mit der hohen Spitzenhaube, gepufften Aermeln, knappem Mieder und dem vergoldeten Gebetbuche in der Hand uns entgegentreten müsse.

Helmstädt, zum Theil eine neue Stadt, trägt in seinen älteren Straßen noch ganz jenen Charakter der Reformationszeit; wir freuen uns an manchem charakteristischen Holzbau, an den mehrere Fuß über einander nach der Straße vortretenden Stockwerken, an Giebeln und Schnitzereien, an Inschriften, Figuren und Wahrzeichen; kaum können wir hier eine Straße zu Ende gehen, wo nicht an einem jener Häuser eine große Steinplatte mit goldener Inschrift die kurze Lebensgeschichte jener verdienten Männer erzählt, welche in diesen Häusern gewohnt und – um es gleich dazu zu sagen – docirt haben; denn die Collegien fanden in den Privatwohnungen der Docenten statt, eine Einrichtung, die sich manche Professorenfrau heute entschieden verbitten dürfte; die Gelehrten hatten in ihren Mauern ihre ganze geistige Werkstatt, Bibliothek und Laboratorium, hatten nicht die Störung des Umkleidens und des wenn auch nicht großen Weges nach der Universität, ein Moment, welches bei den riesenmäßigen Arbeiten der Gelehrten des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts gewiß in Betracht gezogen zu werden verdient. Das Universitätsgebäude, die sogenannte Julia Carola, war nämlich bei weitem nicht groß genug, daß sie für mehr als ein paar hundert Studenten hätte ausreichen können. Das jetzt in jenes Gebäude verlegte Gymnasium giebt nur etwa 250 Schülern Platz.

[765] Sämmtliche Tafeln an den Häusern, wie auch die Universität selbst und alle Gebäude, die zu ihr eine Beziehung haben, tragen als Wappen einen Simson, welcher einem grimmigen Löwen den Rachen aufreißt; hinter Mann und Thier sieht man eine Sonne mit den Worten: ex forti dulcedo (Süßigkeit von dem Starken). Dieses von Kaiser Maximilian verliehene Siegel brachte zuwege, daß man alle Diejenigen, welche nicht unter diesem Zeichen standen, also alle Nichtakademiker, mit dem Namen der von Simson bekämpften Philister belegte, eine Sitte, die noch heute durch ganz Deutschland auf allen Universitäten herrscht und deren Zurückführung auf das Städtchen Helmstädt gewiß Wenigen geläufig ist.

Der Stifter der Universität, dessen Bild und Gestalt uns in der Aula und in den vielen Reliefs und Statuen an der Façade des Gebäudes entgegentritt – ich benutze einen sehr ausführlichen, nach authentischen Quellen gearbeiteten Aufsatz des Montagsblattes der „Magdeburger Zeitung“ von 1876 – war der 1529 geborene Herzog Julius von Braunschweig, ein bedeutender Fürst, der, an der Grenzscheide des alten und neuen Glaubens stehend, gegen seinen streng katholischen Vater einen Kampf auf Tod und Leben durchzufechten hatte.

Die „Julia Carola“ (Theatrum Musarum) in Helmstädt. Originalzeichnung von G. Sundblad.

Aehnlich wie bei Friedrich Wilhelm dem Ersten und Friedrich dem Zweiten, spitzten sich in diesen beiden Männern die Gegensätze alter und neuer Zeit derartig zu, daß der junge ketzerische Herzog, für den bereits das Gewölbe zu seiner Einmauerung hergerichtet war, sich vor dem Tode nur durch eine gefahrvolle Flucht retten konnte. Die feste Ueberzeugung, der damals erschrecklichen Unwissenheit der Geistlichkeit nur durch die Gründung einer Hochschule im Herzogthum Braunschweig abhelfen zu können, ließ ihn die Ausführung dieses Planes mit großer Energie betreiben, und so konnte er schon im Jahre 1576 an der Spitze eines aus Fürsten, Grafen, Prälaten, Ritterschaft und Abgeordneten bestehenden farbenprächtigen berittenen Zuges der feierlichen Eröffnung der Universität Helmstädt als ihr Rector perpetuus im schwarzen „bischöflichen Habit“ beiwohnen. Bei seinem Tode, dreizehn Jahre später, hatte die Akademie bereits vier Theologen, fünf Mediciner, sechs Juristen und neun Philosophen zu Lehrern. Die Nachfolger dieses Herzogs hüteten das junge aufblühende Unternehmen mit großem Eifer.

So wurde unter seinem Sohne Heinrich Julius, der, ein wahres Wunderkind, schon in seinem zehnten Jahre die gelehrtesten Professoren in die Enge getrieben haben soll, der prächtige Bau des „Theatrum Musarum“ aufgeführt, der uns noch heute im Wesentlichen erhalten ist – ein Gebäude, wie es zu jener Zeit keine andere deutsche Universität auszuweisen hatte. Derselbe ist nach dem Vorbilde der Oxforder Universität in edlem Renaissancestil gebaut und macht mit seinen säulen- und statuengezierten, den Unterbau kranzartig umgebenden Erkern, seinen mächtigen, mit zierlichem Maßwerk durchflochtenen Fenstern, den beiden wappengeschmückten Portalen und dem zierlichen, hohen, mit steinerner Gallerie umgebenen Treppen- und Uhrthurm einen höchst harmonischen Eindruck. Unter dem Gebäude zieht sich ein Weinkeller hin – damit, wie der Herzog bestimmte, „die Studenten lernen sollen, daß Bacchus von ihnen mit Füßen getreten werden müsse.“

Der Schrecknisse des Dreißigjährigen Krieges, welchen eine große Anzahl öffentlicher Lehrinstitute erliegen mußte, ungeachtet, blühte die Universität weiter und glänzte während derselben durch ein Trifolium von Docenten, theilweise Schülern von Melanchthon, auf dem Gebiete der humanistischen Studien, durch Johann Caselius, den man den „Phönix Deutschlands“ nannte, ferner durch Cornelius Martini und vor Allem durch Georg Calixt, den hochangesehenen theologischen Gelehrten und Redner, einen Apostel der Milde und Toleranz, welcher, beweint „als der Universität Ehrensäule, das edelste Kleinod des lieben Vaterlandes“, und mit Titeln und Einkünften, wie nie zuvor ein Professor, gesegnet, 1656 zu Grabe getragen wurde.

Fast noch als Zeitgenosse von ihm glänzte der berühmte Polyhistor, „das Wunder des Jahrhunderts“, wie auf seinem Grabsteine steht, ein zweiter Faust, „der Theologie, Juristerie, Philologie und Medicin Doctor, Redner, Poet, Geschichtsschreiber“, gar einzig in seiner Art – Herman Conring. In allen Gebieten hatte er Hervorragendes geleistet, durch seine eminente publicistische Thätigkeit die Aufmerksamkeit auswärtiger Könige erregt und war bei diesem weitumfassenden Geiste so unscheinbar von Gestalt, daß er zu allerlei Anekdoten Veranlassung gab, die man sich heute noch in Helmstädt von ihm erzählt. So wartete einmal vor seinem Hause am Ziegenmarkt die herzogliche Equipage nebst Vorreiter, um ihn nach Wolfenbüttel abzuholen. Als Conring sich dem Wagen naht, fragt der Kutscher:

„Nun, Kleiner, willst Du denn auch mit?“ – und sagt, als sich der Geheimrath lachend vorstellt: „Na, wenn das ist, da hätten wir doch nicht vierspännig vorzufahren brauchen; Sie hätte ich in meiner Kiepe nach Wolfenbüttel tragen können.“

Ein einziges Mal, während des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1626, waren die Vorlesungen für ein Semester eingestellt worden, weil die Professoren vor dem Eindringen von Heeresabtheilungen noch dem festeren Braunschweig geflohen waren, die Studenten aber meistentheils Kriegsdienste genommen hatten, um von der Beute im Wintersemester zu studiren. Darnach aber wuchs die Zahl der Akademiker bis auf die imponirende Zahl von 2000, welche allerdings schon bei Gelegenheit des hundertjährigen Jubiläums 1676 wieder auf die Hälfte zurückgegangen war.

Diese Säcularfeier, welche die ruhmreiche Thätigkeit von dreißig Theologen, achtunddreißig Juristen, dreiundzwanzig Medicinern und zweiundsechszig Philosophen registriren konnte, wurde unter dem feierlichen Geläute aller Glocken der Stadt und dem Schalle der Pauken und Trompeten, in Gegenwart einer großen Menge Festtheilnehmer kirchlich und akademisch, durch Umzüge, Bankette, die Promotion von zwanzig Doctoren, Chorgesänge, Denkmünzenprägung und, was den Vergnügungen jener Zeilen immer einen humanen Zug beifügte, eine große Armen-Speisung begangen.

Das zweite Jahrhundert des Bestehens der Universität glänzte durch das Wachsen der inneren Einrichtungen. Die Bibliothek war durch die Munificenz der gelehrten Herzöge auf 6000 Bände angeschwollen, besaß eine Zahl Originalcodices lateinischer Schriftsteller, handschriftliche Chroniken und Correspondenzen, unter ihnen namentlich die Briefe Luther’s und Melanchthon’s. Auch Luther’s Brautring mit dem Motto: „Was Gott zusammengefügt, soll niemand scheiden“ – wurde als Schatz verwahrt. Die Anatomie, die Bildergallerie, astronomische und astrologische Globen, Atlanten, physikalische Instrumente und allerlei Curiositäten, wie sie selbst in den Arsenalen der Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts nicht fehlen durften, erregten in der ganzen gebildeten Welt Aufsehen. [766] Das Rectorat über die Universität Helmstädt hatte seit der Theilung der braunschweigischen Dynastie zwischen den beiden Geschlechtern abgewechselt, doch hatte dieses Verhältniß bei der Ungleichheit an Macht und Mitteln zu vielen Mißhelligkeiten und Reibereien geführt, die schließlich im Jahre 1737 mit der Gründung der Universität Göttingen durch die kurfürstliche Linie ihren Ausdruck fand. Nun hatte die Julia, oder wie sie zu Ehren des um sie viel verdienten Herzogs Karl des Ersten nunmehr hieß: Julia Carola, trotz der wärmsten Pflege doch einen schweren Stand, indem sie siebenachtel der Bevölkerung, auf die sie angewiesen war, verloren hatte. Dennoch lebte der alte Ruhm, welcher am Anfang des Jahrhunderts durch den großen Pandektisten Augustin Leyser und den Theologen und berühmtesten Prediger seiner Zeit Johannes Laurentius von Mosheim neue Nahrung erhalten, in einer Nachblüthe fort, welche bedeutende Namen zeigte.

War auch die Zahl der Studenten auf ein paar hundert gefallen und erreichte solche nur zur Zeit, als während des siebenjährigen Krieges Göttingen militärisch besetzt war, ausnahmsweise die Ziffer 800, so zeugen doch die häufigen und eigenthümlichen Verordnungen, Einrichtungen und Verbote von dem frischen akademischen Leben und dem von oben herab vielleicht allzu sehr gepflegten studentischen Corpsgeist.

Wir finden da wiederholte Verwarnungen an die Bürgerschaft, „keinem Studioso ohne Vorwissen seiner Eltern oder Vorgesetzten baares Geld, es sei solches noch so wenig, zu leihen, bei Aufhebung jedes Rechtsschutzes und willkürlicher Strafe. Versetzte Waaren oder andere Galanterien sollen sofort weggenommen werden, und nur der Credit einer Vierteljahrsmiethe und Kost, Kleidung bis 20 Thalern, Schneider- und Schusterarbeit für Thaler 10 – und Bier und Wein für Thaler 4 soll erlaubt sein“. Bei dem damals billigen Bierpreise konnte man sich für dieses Geld übrigens schon einen ganz respectablen Spitz holen.

Alle ungebührliche Familiarität mit den Bürgern, gemeinschaftliche Gelage, Spiele, Brüderschaften und Divertissements wurden auf’s Schärfste verboten. Die öffentlichen Plätze mußten im Interesse der Herren Studiosi anständig und ruhig erhalten werden. Die Bürgerschaft mußte ihnen ausweichen, das Singen, Schreien, das Umherlaufen im Schlafrocke, mit brennender Pfeife war ihnen aber untersagt. Die jungen Leute waren, wie man sieht, die Herren von Helmstädt, das von ihnen allerdings einen Theil seiner Einnahmen bezog, und führten in dem ruhigen, reizend gelegenen Städtchen ein echt akademisches Leben. Sie arbeiteten in ihren engen Kammern, hörten in den Häusern der Professoren Collegien, speisten zum großen Theile an den von Inspectoren beaufsichtigten Freitischen gemeinsam und fanden auf den Promenaden und in den Waldungen um die Wälle der Stadt Zerstreuung und Sammlung. Das Duelliren und Commersiren war streng verpönt und konnte nur in großer Heimlichkeit betrieben werden.

In der zweiten und letzten Epoche waren es besonders folgende Männer, welche die lernbegierige Jugend um sich versammelten: vor Allem der berühmte Chirurg Lorenz Heister, einer der bedeutendsten Vertreter der Chirurgie im vorigen Jahrhundert, sodann der Historiker und Publicist Franz Dominicus Haeberlein, besonders durch seine umfassende Arbeit der „Deutschen Reichsgeschichte“ berühmt, und sein durch reiche Literatur noch berühmterer Sohn, der Staatsrechtslehrer und Publicist Karl Friedrich Haeberlein, ferner der namhafte protestantische Kirchenhistoriker Heinrich Philipp Conrad Henke und der viel kritisirte, viel verkannte und doch hochberühmte Gottfried Christoph Beireis. Dieser Letzterwähnte, ein Mann, dessen interessantes blasses Gesicht und große schwarze Augen uns noch heute aus einem halbvergilbten Portrait in der einstigen Aula anziehen, war Professor der Physik, Medicin und Chirurgie, Hofrath und Leibarzt des Herzogs, ein vielseitig hochgelehrter und aufopfernder Menschenfreund, ein Original: mit hechtgrauem Rocke und schneeweißem Jabot sah man den kleinen Herrn nur auf Krankenbesuchen, denen er bei Arm und Reich, unbekümmert um Wetter und Zeit, bis zu seinem im Alter von neunundsiebenzig Jahren 1809 erfolgten Tode unermüdlich oblag. Unverheirathet, mit einem einzigen treuen Diener lebend, liebte er es, sich mit einem Nimbus des Wunderbaren zu umgeben, welcher ihn schon oft zum Romanhelden gemacht hat. Der Verkauf und die Verwerthung einiger wichtigen Erfindungen in der Darstellung von Carmin im Auslande hatte ihn ein Vermögen eingetragen, welches er zu seiner weitberühmten Naturalien- und Kunstsammlung verwendete. Dort paradirte die berühmte Vaucanson’sche automatische, fressende und verdauende Ente, die übrigens in neuester Zeit aufgefunden und von dem St. Petersburger Curiositätencabinet von Gaßner angekauft worden sein soll, ein Stein, den er als einen Diamanten von 6400 Karat bezeichnete – der spurlos verschwunden ist –, die Guericke’sche Luftpumpe, Münzcabinete, Gemäldesammlungen und allerlei Wunderlichkeiten, auf deren Besitz er sehr stolz war und die auch Goethe bei einem Besuche des sonderbaren Mannes besichtigte. Er verblüffte gern seine Gäste; so soll er einmal die Farbe der Livreen der aufwartenden Diener aus roth in blau verwandelt haben; wer die eiserne Thürklinke seines stets geschlossenen Hauses berührte, bekam – eine liebenswürdige Ueberraschung, besonders für nervöse, den Arzt consultirende Damen – einen elektrischen Schlag versetzt.

Nun, noch steht das vornehme Haus dieses Gelehrten, aber seine Thür ist weit offen; Geschäftslocale sind hier, wie in den Hallen der meisten ehemaligen Professorenhäuser etablirt worden. So ging es auch mit der Universität selbst: das Gehäuse blieb erhalten, aber der Inhalt dieses Zusammenflusses von strebenden Geistern ist längst ausgestorben.

Als im Anfange unseres Jahrhunderts das braunschweigische Land dem Königreich Westfalen unter Jerôme einverleibt wurde, war die Aufhebung der Helmstädter Hochschule eine beschlossene Sache. Da entstand Verzweiflung in dem damals noch sehr vollzähligen Lehrkörper, unter den Studirenden, in der Bürgerschaft; es gab Reisen, Experten, Vorstellungen. Versprechungen, Hoffnungen und am Schlusse doch unerbittlich das Todesurtheil in Gestalt eines vom 10. December 1809 datirten Decretes:

„In unserem Königreiche sollen in Zukunft nur drei Universitäten sein, nämlich die zu Göttingen, Halle und Marburg, mit welchen diejenigen zu Helmstädt und Rinteln sollen vereinigt werden.“

So wurde ein leuchtender Feuerbrand wissenschaftlicher Bildung und hochbedeutender Förderung freier Forschung aus einander gerissen, aber die brennenden Scheite sind nicht ausgelöscht, sondern haben, wo sie niederfielen, weiter Flamme und Wärme gespendet. Nicht lange blieb der Herd verödet: ein wohl renommirtes Gymnasium hat in den geweihten Räumen der Universität Einzug gehalten, eine große landwirthschaftliche Schule, eine Bürgerschule, ein lutherisches Jungfrauenstift und eine gute Mädchenschule vereinigen in dem heute wohlhabenden industriellen Städtchen eine verhältnißmäßig große Anzahl lernender Jugend. Die meisten Bürgerfamilien haben einige dieser jungen Leute mit ihren in allen Farben schillernden Kappen in Pension, und in den freundlich lichten Räumen des ersten Stockwerkes stehen die Reste der noch immer ansehnlichen Bibliothek – wohl selten werden diese Bücher heute noch consultirt. Die werthvolleren Werke sind nicht mehr vorhanden. In dem Städtchen lebt kaum noch Jemand, der sich an die glanzvolle Zeit erinnert, die kaum vor siebenzig Jahren ihren Abschluß fand: Jeder geht seinen Geschäften nach – für die Interessen vergangener Tage fehlt dem Lebenden, der mit dem Heute und Morgen rechnet, doch die innere Beziehung – und der Fremde wird angestaunt, der vor den Häuser-Inschriften stehen bleibt, welche von Helmstädts glänzender Zeit Zeugniß geben.

Und es ist gut, daß es so ist. – Nur der rückhaltlose Bruch mit ausgelebten Vorstellungen kann den frischen Zug des Wachsthums erzeugen, welcher heute in allen Städten düstere Wälle und enge Gassen durchbricht, gesunde Wohnungen, luftige breite Straßen und grüne Parke hervorzaubert. Sagt doch unser idealster Dichter in richtiger Würdigung dieser Verhältnisse:

„Wir, wir leben – unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat Recht.“

Oscar Justinus.[WS 1]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: I/Jnstinus