Einsegnungsunterricht 1892/7. Stunde
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O HErr GOtt, dessen Augen in das Verborgene schauen, der Du, wo wir arme Menschen äußere Würdigkeit und Tüchtigkeit sehen, das Herz ansiehest in seinem Unwert und in seiner Sünde, wir bitten Dich, neige Dein Ohr zu unserm Gebet, wende in Gnaden ab unsere Sünden und Gebrechen und verleihe, daß die, welche vor Menschenaugen würdig geachtet sind, Dir zu dienen, auch in Deinen Augen es erscheinen mögen aus der Kraft Deines lieben Sohnes, JEsu Christi, unsers HErrn. Amen.
Was die Gemeinschaft stört, ist die Unklarheit über Weg, Weise und Ziel. Man sollte meinen, die Unklarheit über das Ziel könnte nicht eintreten; aber auch in Bezug auf das Ziel gehen die Meinungen auseinander. Das Ziel ist da bei manchen Vorwegnahme Seiner Thätigkeit. Dadurch wird viel Schlimmes hereingebracht, wenn wir in Hinblick auf das Ziel eine Vorwegnahme Seiner läuternden und erlösenden Thätigkeit erbitten, wenn wir da schauen wollen, wo wir glauben sollen und da fassen, wonach wir zunächst nur uns auszustrecken haben. Dadurch, daß man die richtige Wertung der Zeit vergißt, und die Zeit in rascherer Flucht dahintreiben will, als ER es vorhat, dadurch sündigt man in Bezug auf das Ziel. Kein Hasten im Christenleben! Die Zeit an sich| ist ein neutraler Begriff; aber es wird eine Hauptaufgabe im Christenleben sein, die Zeit zu ethisieren, zu versittlichen. Unser Freiheitsverhältnis zur Zeit ist dasselbe, wie unser Freiheitsverhältnis zum Gesetz. Ziel der Freiheit ist, daß GOttes Gebote uns nicht mehr als etwas fremdartiges gegenüberstehen, sondern daß wir sagen können: „Deinen Willen, thue ich gerne, und Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.“ GOtt dienen dürfen, das ist die höchste Freiheit. Was wäre das für eine Freiheit, wenn wir unter den Geboten GOttes seufzen und nach der Freiheit schmachten würden! „Das ist die Liebe zu GOtt, daß wir Seine Gebote halten, und Seine Gebote sind nicht schwer“ dem, der Ihn liebt. Darin steht unsers ganzen Christenlebens Freiheit, ein Gebot nach dem andern in uns so aufzunehmen, daß wir sagen müssen: „Das ist unser Wille.“ So ist es bei der Zeit auch. Niemals darf ein Christ sagen: „Ich habe keine Zeit.“ Es giebt in jeder Gemeinschaft Menschen, die ihre Vergangenheit hinter sich herschleppen, weil ihre Vergangenheit etwas Unverstandenes, für sie selbst ein Rätsel war. Die Vergangenheit ist ihnen eine Summe von Jahren, die ihnen zu schwer geworden. Es ist kein ethischer Gehalt in den Jahren gewesen, sie haben gelebt, nicht die Zeit beherrschend, sondern die Zeit hat sie beherrscht. Darin besteht unsere Sittlichkeit, daß wir die Zeit auskaufen. Man sagt, das kann bloß das Genie. Das ist nicht wahr. Das kann jeder Mensch, in der Nachfolge Christi die Zeit ausnützen.„Wem Zeit wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie Zeit,
Der ist befreit von allem Streit.“
Jede vergangene Stunde war auch ein vergangener Gedanke, eine Auslebung eines ganz bestimmten Willensaktes. Wer so handelt, der handelt sittlich. Wem die Zeit nicht Geld ist, der ist kein Christ. Wer die Zeit nicht mit neuen Lebensgedanken füllt, der verdient nicht, daß er lebt; der wird willenlos vom Strom der Zeit fortgespült.
„Die Buße thun, verjüngen sich täglich.“ (Hirte des Hermas, um 100 nach Christo).
„Das Kind im Mutterschoß ist alt genug, um zu| sterben; ich aber will betrübt sein, wenn ich nicht jeden Tag jünger werde!“ (Meister Ekhart).Dann werden wir jeden Tag jünger (Ps. 92), wenn wir die Zeit täglich mehr versittlichen, sie nicht vom Standpunkt der Vergangenheit ansehen, sondern vom Standpunkt einer zukunftsfrohen Hoffnung, wie sie hinströmt zur ewigen Jugend JEsu Christi. „Die auf den HErrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie die Adler ff.“. Sie müssen mit jedem Tag elastischer werden, jünger, jugendfrischer auch nach außen hin. Dann ruht das Geheimnis ewiger Jugend auf uns, wenn wir täglich uns baden in der Frische der ewigen Gnade JEsu Christi. Es ist traurig, daß es Menschen giebt, die nur eine Vergangenheit haben. Eine Vergangenheit hat auch das Tier. Es lebt dahin, ohne zu wissen, warum. Lassen Sie nicht leicht das Wort über Ihre Lippen kommen: „Ich habe keine Zeit.“ Das wäre eine Anklage gegen Ihn. Wenn Er Ihnen eine Aufgabe gegeben hat, so muß Er auch die Zeit dazu geben. Die Zeit wächst unter den Händen. Wir können den kürzesten Tag verlängern und den längsten Tag totschlagen. Eine Sünde würde ein für allemal schwinden, nämlich die Sünde gegen das achte Gebot, wenn die Zeit ethisiert würde. JEsus sagt: „Ich muß wirken, solange es Tag ist.“ In dieser Wirkung liegt eine Reaktion gegen die Flüchtigkeit der Zeit, welche eine Folge unserer Sünde ist. Wir sollen in unserer ganzen Thätigkeit zeigen, daß wir uns entgegenwerfen der Flüchtigkeit der Zeit, die Zeit füllen mit Seiner Gnade – es ist nichts schrecklicher, als eine ‚unverdaute‘ Vergangenheit. Wir wollen und sollen in der Vergangenheit die Wurzeln unserer Kraft haben, und wenn wir das nicht haben, so haben wir umsonst gelebt. Nützen Sie die Gegenwart aus, kaufen Sie dieselbe aus in der ernstesten Betrachtung, in der treuesten Hingabe an Ihren Heiland, daß Sie von dieser Zeit sagen können, daß manche Wurzeln Ihrer Kraft darin liegen. Diese Einsegnung soll nicht eine gewisse Ceremonie sein, welche eine Phase Ihres Lebens abschließt. Zu einer Ceremonie haben wir uns nicht hergegeben, sind überhaupt zu gut dazu.
| Lassen Sie mich noch an gestern anknüpfen. Es ist nicht zufällig, daß die Gnadengaben in Korinth so reichlich waren. Charismen knüpfen immer an natürliche Gaben an. Was ist ein Charisma anders als eine Veredlung, Läuterung und Verklärung natürlicher Gaben? Wenn dem nun so ist, wäre es nicht auch möglich, daß durch die Gnade Gaben hervorgerufen würden, die scheinbar nicht da sind, in Wirklichkeit aber nur gebunden sind. Wenn sie gebunden bleiben, ist es unsere Schuld, aber Seine Gnade kann auch das Charisma geben, wo scheinbar natürliche Gaben nicht vorhanden sind. Es ist dies eine Erfahrung, die jeder Lehrer macht, daß einem Kinde plötzlich ein Licht aufgeht. Die Gnadenwirkung kann eine natürliche Gabe entfesseln. Bei GOtt ist kein Gegensatz zwischen Natur und Gnade. Jakobus: „So jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte GOtt, ff.“GOttes Natur ist Gnade, GOttes Leben ist Gnade. GOtt giebt, wenn man einfältiglich bittet. (Einfältiglich bitten heißt hier: „ohne weiteres.“)
Lassen Sie uns auch etwas Langmut üben im Gemeinschaftsleben. „Wo ist ein GOtt, wie Du bist?“ ER temporisiert mit uns, Er wartet. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen,“ davon leben wir jeden Tag und trösten uns dessen. Indem wir täglich jünger werden, bekommen wir täglich neue Hoffnung. Es ist ja sehr schnell gethan. jemanden wegzuwerfen, das kann man mit einem Federstrich. Lassen Sie uns um das Auge bitten, das unterscheidet, wo die Pflicht Gerechtigkeit gebietet und wo die Barmherzigkeit. Ich will mich lieber mit dem Hoffen scheinbar kompromittieren, als ohne Hoffen mein Recht behalten. Dies sei besonders gesagt für solche, welche später in leitende Stellung kommen. ER nützt die Zeit aus, um zu warten. Es ist so unendlich leicht, ein Menschenherz aufzugeben und so schwer, ein Menschenherz zu verstehen. Bei unserem HErrn ist Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eins. Aber wir dürfen nicht vorher die Gerechtigkeit hervortreten lassen, ehe wir nicht alle Phasen der Barmherzigkeit haben walten lassen. Alles, alles von Barmherzigkeit soll sich erst erschöpfen, aber dann, wenn die Barmherzigkeit als Schwäche angesehen| wird, dann haben wir das Recht, rechte Barmherzigkeit zu üben, d. h. den Vorhang der Illusionen wegzuziehen und zu sagen: „So, dahin führt es.“ Man erschöpfe sich in der Fürbitte, im Troste, in liebender Umfassung der Eigenart des andern; aber wenn man des gewahr wird, daß die Barmherzigkeit Schwäche wird, dann wird uns der HErr auch Kraft geben, die größte Barmherzigkeit zu üben.JEsus Christus ist uns gemacht von GOtt zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung.
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