Erziehungsscharlatanerie
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[320] Erziehungscharlatanerie. Die Art, wie sogenannte Gesundheitshäuser, Schweizerpensionen am Genfersee, Bade-Administrationen etc. ihre Leistungen auszuposaunen pflegen, ist allbekannt. Wenn aber die heilige Sache der Erziehung, des Jugendunterrichts den Charakter der marktschreierischen Reclame annimmt, so dürfte doch eine ernste Rüge am Platze sein. So lasen wir z. B. kürzlich, daß eine Erziehungsanstalt in einer berühmten Stadt an der Elbe ankündigt: „Beste Lage, großer Garten, Bäder und Arzt im Hause; Conversation englisch, französisch, russisch (!) und deutsch.“ Wahrlich, da glaubt man sich ganz in die Nesselborn’sche Anstalt versetzt, die Karl Gutzkow in seinem neuesten Roman „Die Söhne Pestalozzi’s“ mit köstlichem Humor und lebenswahren Farben geschildert hat, so daß man oft ein photographisches Abbild unserer Zeit vor sich zu haben glaubt. Das von Anfang bis zu Ende spannende Buch verbindet die Erzählung von dem Findling Theodor Waldner, der, einer vornehmen Familie angehörend, vielfach an Caspar Hauser erinnert, in interessantester Weise mit der Geschichte Lienhard Nesselborn’s, eines talentvollen Erziehers, dem, um ein echter „Sohn Pestalozzi’s“ zu sein, eben nur Charakterstärke fehlte. Gutzkow führt so ziemlich Alles, was seit Rousseau bis in die neueste Zeit auf dem Gebiete der Pädagogik erstrebt und leider – gesündigt worden ist, am Auge des Lesers in Bildern vorüber. Werden wir anfangs widerstandslos fortgerissen von Nesselborn’s glühender Begeisterung für die philanthropischen Ideale, so sehen wir später mit Entrüstung, wie ihre so vielversprechende Verwirklichung mit den verschiedenartigsten und theilweise aus den unlautersten Quellen fließenden Hindernissen, namentlich allerdings auch mit dem lichtscheuen Einfluß der Regierungen, zu kämpfen hat. Wenn auch begründet in der rein humanitären Absicht, „die Kindesseele auf Stufen, die immer höher und höher steigen, dem Ideal der Erziehung entgegenzuführen, dem reinen, unverkünstelten, gottähnlichen Menschenthum“, geräth doch die Anstalt allmählich in jenen Zustand, den einer ihrer Lehrer, der mit einer gediegenen wissenschaftlichen Bildung versehene, talentvolle und energische Doctor Hellwig, ein echter „Sohn Pestalozzi’s“, in bitterer Ironie mit den Worten charakterisirt: „Wir sind Handelsanstalt und Polytechnicum! Wir erziehen für’s Gymnasium, die Kriegsschule, für’s Forstfach! Ihr Herr Sohn will Diplomat werden –? Ha, wir lehren die Geschichte à la Ranke! Oder Theolog? Nein, dann lehren wir sie à la – Leo! Bitte, mein Sohn wird Jesuit! Hurrah! Wir bringen Luther in die Walhalla, aber nur – wegen seiner Verdienste um die deutsche Sprache!“ Die fortgeführte Erzählung schildert die marktschreierische Art, wie das Institut die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich zu ziehen sucht. Die Schulprogramme, anfänglich von der glühendsten Begeisterung für Pestalozzi’s Lehre eingegeben, sinken allmählich zur Reclame hinunter. Die Zöglinge ziehen in Turnerkleidung, militärisch, mit Trommeln und Trompeten, durch die Straßen der Stadt; sie unternehmen während der Ferien unter Führung ihrer Lehrer Reisen bis in die Schweiz mit ostentationssüchtigen Zwecken; das Institut veranstaltet sogenannte Schülerbälle, ladet junge Damen und die Eltern der Zöglinge ein, worüber sämmtliche Schulzwecke in Verwirrung gerathen. Alle Schattenseiten der Privaterziehungsanstalten, die so oft nur Speculationen für die Existenz ihrer Begründer sind, werden dem Leser so anschaulich vorgeführt, daß man, unabhängig von dem sonstigen unterhaltenden Reiz des Sujets, besonders Eltern, Vormünder und Erzieher auf diesen zu den hervorragenden Erscheinungen im Gebiete der schönwissenschaftlichen Literatur zählenden Roman aufmerksam machen darf.
W.