Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Passionskapitel 01

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1. Dem HErrn war all Sein Leiden vorausbewußt, und freiwillig gieng Er hinein.
 DIe Evangelien erzählen das Leben unsers HErrn und Heilandes JEsu Christi: also Seine Jugend, die Zeit Seiner Wirksamkeit und die Geschichte Seines Todes und Seiner Auferstehung. Wir wollen den letzten Theil, die Geschichte Seines Todes und Seiner Auferstehung betrachten. Ehe wir aber daran gehen, meine Lieben, laßt uns Eins besonders zu Herzen faßen. Es ist nemlich von eines jeden Menschen Lebenslauf, wahr, was geschrieben steht: „Ein Mann schlägt wohl seinen Weg an, aber der HErr allein ist es, der das Gedeihen gibt“ d. i. ein Mann kann sich wohl Lebensplane machen, aber die Ausführung steht nicht in seinen Händen, er weiß drum auch nicht, ob sie ihm gelingen werde. Bei unserm HErrn aber ist es anders. Sein ganzer Lebensgang ist Ein heiliger, wundervoller Plan des dreieinigen Gottes, aber die Mitwißenschaft ist auf den Menschensohn übergegangen. Wir andern alle werden geführt und wenn unser Leben recht lauter ist, so ist es eine fortgehende, demüthige Unterordnung unter die führende Hand des HErrn. Wir gehen im Dunkel der dunkeln Zukunft entgegen, wißen nicht, wie lang und wie wir leben, wann und wie wir unsern Lebenslauf beschließen werden. Unser HErr aber wird nicht bloß geführt: Er Selbst weiß Seinen Weg. Deßen Lauf und Ziel, alle Seine Werke und Seine Leiden sind Ihm von Anfang her bewußt − Sein ganzer Lebensgang bis zum Tod, ja Sein Gang bis in die Ewigkeit hinein dehnt sich vor Seinem Auge als eine lichte, klare Straße aus. Es erweist sich dieß namentlich an der genauen Kenntnis Seines Lebenszieles. Nicht erst nach dem Gespräch, welches Er auf dem Berg der Verklärung mit Mose und Elias hatte, sondern von allem Anfang an ist Er ein Prophet Seines Endes und Seines Sieges. Sein Vorläufer Johannes hat Ihn als Gottes Lamm, das ist als Opfer für die Welt erkannt, also von Seinem Opfertod gewußt; und Er Selbst, − man lese nur z. B. die ersten Kapitel im Evangelium Johannis, man lese die Evangelien überhaupt mit prüfendem Sinn, − Er Selbst hat von Anfang an Seine Lebensaufgabe, Sein Lebensziel hell und klar erkannt. Und zwar je näher Seine Zeit kam, desto öfter und lauter gibt Er von Seiner heiligen Wißenschaft Kunde, desto mehr sind alle Seine Reden von dem Einen Gedanken durchdrungen: „Ich gehe hin, zu sterben.“ Der heilige Matthäus erzählt vom 19. Kap. an die Reise JEsu nach Jerusalem, Seine Todesreise. Leset sie und sehet, ob nicht alles, was Christus thut und redet, ich sage nicht von Todesahnung, denn das ist viel zu wenig, sondern von Todesgewisheit, von Todesnähe übergeht. Leset weiter vom 21. Kapitel an und achtet darauf, ihr werdet finden, daß dem HErrn nicht bloß Sein Ziel, sondern auch jeder neue Abschnitt Seines Todesweges bekannt ist. Kündigt Er doch jeden neuen Abschnitt Selbst an. Vom 26. Kapitel Matthäi beginnt die Geschichte Seiner letzten drei Tage: von Schritt zu Schritt sagt Er, was Ihm nun geschehen wird, bis Er auch den letzten Augenblick mit den Worten: „Es ist vollbracht; Vater, in Deine Hände befehle Ich Meinen Geist“ ankündigt. „Nach zween Tagen wird Ostern, spricht Er am Mittwoch, und des Menschen Sohn wird überantwortet werden, daß Er gekreuzigt werde;“ „wahrlich, sagt Er am Donnerstage, einer unter euch wird Mich verrathen.“ „Diese Nacht werdet ihr euch alle ärgern,“ spricht Er beim Gang über den Kidron. „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod,“ jammert Er beim Eingang in Gethsemane. „Siehe, die Stunde ist hie, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird“ − ruft Er beim Eingang Judä in den Garten. Alles weiß und sagt Er voraus. Weil| Er alles, was kommt, voraus weiß, hätte Er alles vermeiden können. Er hätte nur nicht von Galiläa nach Judäa und Jerusalem gehen, Er hätte nur bei Jericho umwenden, bei Bethanien umkehren, nur nicht nach Gethsemane gehen, nur da noch weggehen dürfen, ehe Judas kam. Aber nein, Er weiß den ganzen Weg und Sein Ziel, Er weiß jeden Abschnitt Seines Weges, Er weiß alles und Er schrickt nicht zurück, sondern unverzagt, obwohl unter großem Grauen, vielen Aengsten und Nöthen geht Er Schritt für Schritt vorwärts Seinem Ziel entgegen. Thu deine Augen auf, sieh Ihn dulden, leiden, sterben, − lausch Ihm jedes Wort, jede Thräne, jeden Seufzer ab, − du wirst bewegt, zerknirscht, in den Staub gelegt werden über dieser Geschichte ohne Gleichen; aber du wirst auch von Schritt zu Schritt mehr erfüllt werden von Bewunderung Dessen, der all Sein Leidensmeer voraus gekannt, ja erkannt hat, aber keinen Augenblick zauderte, in dieß von Ihm selbst gefürchtete rothe Meer zu steigen. Er ist ein Held: das Meer, der Wind schweigen vor Ihm, die Teufel schreien vor Angst und Pein, wenn sie Sein gewahr werden, wovor hat Er gezittert? Und doch, es kommt für diesen Helden eine Zeit der Furcht, des Schreckens, Zitterns, Bebens, des großen Geschreis und unzählbarer Thränen. Ja, wer kann Seinen Kampf, Seine Last, Seinen Schmerz ermeßen, wem graut nicht, wenn Er weint und schreit? Aber, sag ich, Er geht unter dem Schreien, Weinen, Zittern, Beben nicht rückwärts, vorwärts geht Er: wie ein Held im Kampfe schreit, so schreit Er und ringt durch alle Seine Leiden Seinem Sieg entgegen. Beim furchtbarsten, von keiner Creatur ermeßenen Kampf eine Tapferkeit, eine Willigkeit, eine Ergebung und Hingebung in den Kampf der Leiden, in den Kampf, in diesen erkannten Kampf! Ja, das heißt seinen Lauf vollenden, seine Lebensaufgabe erfüllen: hier ist vorauswißen, wißen und thun beisammen, ja wollen und vollbringen, wie in keinem Lebenslauf. Alles wußt Er, willig that und litt Ers; Er ist ein Heiland, in deßen Wißen Seine Gottheit, in deßen Leiden Seine Menschheit, in deßen Wollen und Vollbringen Seine treue Liebe erkannt wird. Darum sagt auch St. Johannes am Anfang der Geschichte Seiner Leiden 13, 1: „Vor dem Fest der Ostern, da JEsus erkannte, daß Seine Zeit gekommen war, daß Er aus dieser Welt gienge zum Vater: wie Er hatte geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte Er sie bis ans Ende.“ Lob sei Dir ewig, o JEsu! Amen.




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