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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Passionskapitel 02

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2. Christi Hoheit in Seinem Leiden.
 ES ist mit der Erniedrigung unsers HErrn JEsu Christi eine eigene Sache, meine theuern Brüder. Wie tief ist Er erniedrigt? Um auf diese Frage ein Weniges zur Antwort sagen zu können, sehe man nicht bloß vom Standpunkt unsrer selbstverschuldeten und angeborenen Niedrigkeit in die grausige Tiefe Seiner Leiden, denn damit bekommt man nicht den ganzen und vollen Blick; sondern man sehe auf in die ewigen Höhen und in die Herrlichkeit, welche Er bei dem Vater hatte, ehe der Welt Grund gelegt ward, − dann laße man von jenen ungemeßenen Gipfeln den schwindelnden Blick herab zu uns armen Sündern und von da weiter in die Todesthale JEsu gleiten. Dann erst wird man − nicht erkennen (denn was erkennen wir?), aber ein wenig ahnen und merken, was das heißt: „der HErr ist erniedrigt“ und wir werden Ihn schon um Seiner Erniedrigung willen anbeten, zumal Er auch wieder erhöht ist zu den ewigen Höhen. − Aus diesen Worten möget ihr, meine Freunde, erkennen, daß meine Seele die Lehre von der Erniedrigung des HErrn in tiefer Anbetung annimmt. Ich mußte aber diese Bemerkung hier vorausschicken, weil ich euch einen Eindruck der Leiden Christi auf meine Seele mittheilen möchte, welcher mir den Vorwurf zu Wege bringen könnte, als dächte ich bei Erwägung Seiner tiefsten Schmach und Pein an Ungehöriges. Ich bleibe aber im Gedächtnis Seiner Erniedrigung − und bekenne dennoch, daß ich, je länger ich lebte, beim Lesen der Leiden JEsu immer mehr von der Wahrnehmung Seiner Hoheit und Majestät erfüllt wurde. Er reitet auf einem Eselsfüllen, arm, auf Kleidern der Armen in Jerusalem ein: aber was ist das für ein Angesicht, furchtbar unter Liebeszähren, was für ein Mund, vor Erbarmen weinend und dennoch ein grausiges Schicksal| der Stadt verkündend! Sieh Ihn, geh mit Ihm hinauf unter den Haufen, den Massen, die da feiern, und sieh, wie Er Angesichts von ganz Israel den Tempel reinigt: alles schweigt, alles flieht vor Seiner Majestät. Er hat Sich im Tempel eingestellt als das Lamm zum Opfer, Er ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, Er weiß es, Todesgedanken, Todesgewisheit, Todesnähe haben Ihn innerlich ergriffen; aber wie groß und hehr ist Sein Thun! Lies die Reden, welche Er am Sonntag, Montag, Dienstag hielt und führte, und sag mir: was spricht aus ihnen? Etwa Todesbangen und Sterbensnoth? Nein, das sind lauter Reden vom jüngsten Tag, von Seiner Wiederkunft, von der Rechenschaft, welche Er fordern wird, von den Schrecken des jüngsten Gerichts, von Seinem Lohn, der mit Ihm kommen, und Seiner Strafe, die mit Ihm hereinbrechen wird. Seine letzten Reden ans Volk, Seine letzten Reden an die Jünger: es sind lauter Abschiedsreden − aber nicht mit der Stimme eines Lammes, sondern mit der eines Löwen Gottes gesprochen. Es hat nie, so lange die Welt steht, jemand Worte gesprochen, wie sie aus den letzten Tagen und aus dem Munde JEsu aufgezeichnet stehen. Sie brauchen keines Beweises ihrer göttlichen Abstammung, sie sind sich selbst ein Beweis. Es hat nie ein Mensch auf seinem Todeswege solche Dinge von sich und von der Welt und von der Zukunft geredet, noch auch reden können, wie unser HErr JEsus Christus. Es ist eine Art von Wunder, aber eine teufelische Art von Wunder, daß man diese Reden anders als im Staub und auf den Knieen anhören oder lesen kann. Ich möchte gerne noch stärkere Ausdrücke haben, um zu bezeugen, was für eine unerhörte Majestät in den letzten Reden Christi leuchtet. Aber diese Abschiedsreden sind es nicht allein, welche einen solchen Eindruck machen; sondern die Hoheit und Majestät, welche wir in den Reden im Tempel und auf dem Oelberg und in der Nacht, da Er verrathen ward, beim heiligen Abendmahle wahrnehmen, verläßt den HErrn auch nicht bis zu Seinem letzten Augenblick. Wenn sie Ihn binden und schlagen und verspeien und ausziehen und im spöttlichsten Aufzug mit Dornenkron und Reitermantel hinstellen, wenn sie Ihn geißeln und schleppen, mit Seinem Kreuz beladen, ja wenn Ihn Gott verläßt, wenn Seine Noth in Finsternis gehüllt wird, daß man sie nicht sehen kann, wenn Er leidet, wenn Er stirbt: es ist alles miteinander nicht vermögend, in Ihm das Bewußtsein Seiner Hoheit, Seiner Aufgabe und Arbeit und die Gewisheit Seines Sieges auch nur einen Augenblick auszutilgen. Seine eigene Ergriffenheit, Sein Leiden, unter welchem alle Säulen Seines Wesens erdröhnen und erbeben, Sein Geschrei, Seine Thränen: es ist, wie wenn es nur dienen müßte, die angeborene Majestät desto heller strahlen zu laßen. Es scheint sich das zu widersprechen, aber es widerspricht nicht. Man kann bei diesem furchtbaren Abwärtssteigen in die tiefsten Jammerthale in der That nie vergeßen, von wannen herab Er steigt, und Seinem ganzen Benehmen bis zum letzten Hauche ist ein Siegel der göttlichen Hoheit aufgedrückt, das mitgekreuzigte Schächer und heidnische Hauptleute zur Anerkennung und zum Glauben bringen kann, daß der Erblaßende Gottes Sohn sei. − So wenig Ihn die Gewisheit, zum Tode, zum jammervollsten Tode zu gehen, verlaßen hat, eben so wenig hat Ihn auch nur einen Augenblick das Bewußtsein Seiner heiligen und überwindenden Macht verlaßen − und je tiefer Er in Seine Leiden hinuntersteigt, desto tiefer fall ich, von Seinem Anschauen überwältigt, nieder in Anbetung Seiner Größe, desto mehr verschwind ich vor mir selber, desto mehr verdamm ich meine Seele und ihr Alles, desto tiefer aus der Seele dringt mir der Ruf: „Lob sei Dir ewig, o JEsu!“




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