Für die vernachlässigten Kanarienvögel
[200] Für die vernachlässigten Kanarienvögel. Im Laufe der Zeit ist der Kanarienvogel zu einem Kultur- oder Stubenvogel im vollsten Sinne des Wortes geworden. Unter der sorgsamen Pflege der Menschen hat der unscheinbare Wildling eine Ausbildung nach verschiedenen Richtungen hin erfahren. Die Engländer erzielen mehr oder weniger rot gefärbte Vögel, indem sie dieselben mit Cayennepfeffer füttern. Im Westen von Europa züchteten die Liebhaber Vögel, die sich durch eine besondere, teils schöne, teils mehr sonderbare Gestalt auszeichneten und die wir heute unter dem Namen „Holländer Kanarien“ zusammenfassen. Deutsche Gebirgsbewohner, zuerst die Tiroler und dann die Bergleute im Harz, wandten dagegen ihre Aufmerksamkeit der Ausbildung des Gesanges zu, und namentlich den Harzern ist es gelungen, ausgezeichnete Edelsänger großzuziehen. Von diesen drei Richtungen der veredelten Kanarienzucht hat die letzte sicher den größten Anklang gefunden und es steht ihr noch eine größere Zukunft bevor, da durch die Vogelschutzgesetze verschiedener Länder der Fang einheimischer gefiederter Sänger erschwert wird. Außerdem bildet der Kanarienvogel in der gewöhnlichen Landrasse den Lieblingsvogel weitester Kreise, die auf die höheren Künste der Kanarienzucht nicht eingehen mögen und sich mit einem munteren fröhlichen Singvogel als Hausgenossen begnügen.
Lange Zeit ließ aber die Pflege des Kanarienvogels sehr viel zu wünschen übrig. Die Erfahrungen der älteren Züchter blieben nur der nächsten Umgebung bekannt, denn niemand dachte daran, dieselben niederzuschreiben und dadurch weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Der Altmeister Lenz war der erste, der in seiner in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts erschienenen Naturgeschichte der Vögel eine eingehendere Schilderung der Zucht der Harzer Kanarien gegeben hat. Das Eis war gebrochen; es regten sich viele Federn für den Kanarienvogel; eine Fachlitteratur entstand, aus welcher als Musterwerke die Bücher „Der Kanarienvogel“ von Dr. Karl Ruß und „Der Kanarienvogel“ von W. Böcker hervorzuheben sind; es bildeten sich auch Vereine, welche die Wohlfahrt der gelben Hausgenossen sich zum Gegenstand ihrer Sorge nahmen; kurz, die Pflege und Zucht des Fremdlings in Deutschland gestaltete sich immer vollkommener.
Trotzdem ist heute noch das Los zahlloser Vöglein ein bemitleidenswertes. Viele Besitzer, welche der berufsmäßigen Zucht fern stehen, kennen nicht die Bedürfnisse der Tierchen, verpflegen sie falsch und bereiten so ihren Lieblingen aus Unwissenheit ein vorzeitiges und oft qualvolles Ende. Dagegen giebt es nur ein Mittel: wiederholte Selbstbelehrung durch Lektüre zweckmäßig geschriebener Bücher. Wir möchten nun die Besitzer von Kanarienvögeln darauf aufmerksam machen, daß diese Belehrung sehr leicht und für sehr wenig Geld zu erlangen ist. In der bekannten Universalbibliothek von Philipp Reclam ist ein Bändchen „Anleitung zur Pflege, Behandlung und Zucht des Kanarienvogels in allen seinen
Rassen“ von Friedrich Arnold erschienen. Der Unerfahrene kann aus demselben das Wissenswürdigste entnehmtn und auch sonst vielfache Anregung sich holen; denn das Büchlein ist nicht nur belehrend, sondern auch unterhaltend geschrieben, so daß es den Leser durchaus nicht ermüdet. Wir glauben, daß diese billige und doch gediegene Anleitung vieles zur Verbesserung des Loses vernachlässigter Kanarienvögel beitragen wird. C. F.