Die Martinsklause/I

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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Die Martinsklause/I
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–8
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Heften 1–30
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[1]

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.


1.

Eine stille Sommernacht war hingegangen über die Berge, und der Tag wollte kommen.

Ueber die regungslosen Wipfel der alten, schwer mit Moos behangenen Fichten fiel schon ein graues Licht und zitterte durch alle Lücken des steilen Waldes. Einzelne Vogelstimmen ließen sich schüchtern vernehmen. Sonst lautlose Stille. Nur in weiter Ferne das gleichmäßige Rauschen eines Wildbaches und manchmal ein helles Klirren, wenn die beiden Männer, die auf schmalem, häufig von dürrem Astwerk versperrten Wildpfad durch den Wald emporstiegen, mit den gestachelten Bergstöcken die schwellende Moosdecke durchbohrten und auf Stein gerieten.

Voran stieg ein Alter mit gebeugtem Rücken und schwerfälligem Schritt; die Beine waren mit verwittertem Ziegenfell umschnürt, den Körper bedeckte ein Hemd aus grobem Hanftuch mit fransig ausgerissenen Aermeln, und darüber hing eine graue rauhhaarige Kotze. Ein Gesicht war kaum zu erkennen; bis tief in die Wangen wucherte der graue struppige Bart, wie Dächlein hingen die weißen Brauen über die Augen herab, und unter der abgegriffenen Lederkappe quollen in dicken Büscheln die schneeigen Haare hervor. Gewand und Arme des Alten waren mit Ruß bestäubt; denn die Kohlhütte war sein Haus und Heim. Das verriet auch der Name, mit welchem der hinter ihm Schreitende, ein Mönch im schwarzen Ordenskleid der Augustiner, ihn anrief: „Kohlmann!“

„Herr?“ fragte der Alte, ohne sich umzuwenden.

„Wie lange dauert der Wald noch?“

„Nimmer lang. Dann kommen die Alben[1]. Und eh’ die Sonn’ noch aufgeht, stehen wir droben auf dem Fels, von dem Du das ganze Land überschauen kannst, das die Grafengademer Dir geschenkt haben.“

„Nicht mir! Der Kirche!“ sagte der Mönch; ein tiefer Atemzug schwellte seine Brust, seine Augen blitzten, und weiter holte er mit dem Bergstock aus, als triebe ihn heiße Ungeduld dem Ziel entgegen.

Scharf umrissen hob sich die schlanke hohe Gestalt im schwarzen Kleid vom grauen Dämmerlicht des Waldes ab. Die Kutte war mit ledernem Gurt geschürzt und zeigte die nackten Füße mit den eisenbeschlagenen Sandalen; beim Führen des Bergstockes fielen die faltigen Aermel zurück und entblößten die Arme: sie waren sehnig und sonnverbrannt, die Hände noch gebräunter und schwielig von harter Arbeit. Das unbedeckte Haupt war nach strenger Regel geschoren; doch war wohl schon manche Woche vergangen, seit die Schere diesen Kopf berührt hatte, denn in dem Ring von [2] Haaren, der vom Nacken aus die Stirn umzog, begannen sich schon wieder schüchterne Locken zu zeigen. Noch lichter als das blonde Haupthaar war der reiche Bart, der die Wangen umkräuselte und in zwei Spitzen auslief. In dem von der Wanderung leicht geröteten Antlitz, aus welchem die blauen Augen wie zwei Sterne strahlten, vermischte sich der Ernst des gereiften Mannes mit der träumerischen Weichheit eines Knabengesichtes. Auch in der ganzen Erscheinung, in jeder Bewegung zeigte sich ein gleicher Gegensatz: abgeklärte Ruhe und Gemessenheit, und dennoch treibendes Leben und jugendliche Kraft, die sich äußerte und gleichsam wieder selbst bezwang bei jedem Schritt, in jeder Wendung des Hauptes, in jedem Griff der Hände.

Immer heller wurde der Wald, und über die zerflossenen Wolken, die am Himmel schwammen, fiel eine leuchtende Röte. Der Kohlmann deutete mit dem Bergstock nach einer nahen Lichtung. „Dort liegen die Alben, Herr!“

„Herr und immer Herr!“ erwiderte der Mönch mit herzlichem Klang in der Stimme. „Ich bin nicht zu Euch gekommen als neuer Herr. Ich will Euch sein wie ein Bruder. Nenne mich bei meinem Namen: Eberwein!“

Der Kohlmann blickte sich um und lachte, als hätte er einen Scherz gehört, dann schüttelte er den Kopf und stieg weiter.

„Und Dein Name?“ fragte der Mönch.

„Eigel heiß’ ich. Aber ich hör’ den Namen nicht oft. Die Leut’, die sagen halt, wie Du sagst: Kohlmann!“

„Und wie nennt Dich Dein Weib? Wie Deine Kinder?“

„Gar nicht!“ lachte der Alte und wandte das Gesicht. „Denn ich hab’ meiner Lebtag’ kein Weib und Kind gehabt.“

Der Mönch sah ihn mit staunenden Augen an. Womit dann hast Du Dein Leben ausgefüllt?“

„Mit Schlaf bei der Nacht, mit Schaffen am Tag. Muß denn eins Weib und Kind haben? Du hast doch auch kein Weib, Herr, und Kinder, mein’ ich, hast Du wohl auch nicht?“

Eberwein lächelte. „Ich habe tausend Kinder: alle Menschen, die ich liebe.“

„Da hast aber viel zu schaffen, mit so viel Lieb’!“ meinte der Alte und nickte mit leisem Kichern vor sich hin.

Eine Weile stiegen sie schweigend weiter, dann blieben sie lauschend stehen. Sie hörten das helle Wiehern eines Pferdes und gedämpften Hufschlag, der sich näherte und wieder verklang. In der Stille des Urwaldes hörten diese Laute sich an schier wie ein Klang aus einem Märchen.

„Ein Pferd in solcher Höhe, in dieser Oede?“ fragte Eberwein.

„Es mag wohl von Wazemanns Söhnen einer sein, der ins Gejaid geritten, oder …“ die Stimme des alten Kohlmanns dämpfte sich, „oder es war von König Wutes Helden einer, der vor Tag wieder heimreitet in sein Berghaus.“

Auf Eberweins Stirne zeigte sich eine unmutige Furche. „Du redest Thorheit, Eigel!“

„Thorheit, Herr? Es ist der Untersberg, auf dem wir stehen! Und das weiß doch ein jedes Kind im Gadem, daß innen drin der ganze Berg ein einziges Gehöhl ist, eine Kemenat’ an der andern, die eine goldig und die andere silberig. Und da drinnen haust mit seinen tausend Helden der König Wute. Der hat nur ein einzig Aug’ und sitzt an einem steinernen Tisch und kann nicht aufstehen, denn sein langer Bart ist zweimal um den Tisch gewachsen. All’ hundert Jahr’ schickt er von seinen Helden einen hinauf in die Welt, und wenn der heimkehrt, fragt ihn der König. ‚Fliegen die Raben noch allweil um den Berg?‘ Und wenn der Bote sagt: ‚Wohl wohl, Herr König!‘ … dann seufzet Wute, daß die Berg’ davon erzittern, und sagt: ‚So muß ich noch schlafen hundert Jahr’!‘ Dann macht er sein Aug’ wieder zu, und der lange Bart hebt wieder zu wachsen an.“

„Schweig!“ unterbrach ihn Eberwein mit harter Stimme. „Ich will solche Rede nicht länger hören!“

Der Alle streifte den Mönch mit scheuem Blick. „Es ist doch Wahrheit, was ich red’! Ich hab’s von meiner Aehnl[2], und die hat’s von ihrem Vater. Und bist Du nicht selber, auf dem Weg von der Salzaburg, über das Walser Feld gewandert? Hast Du nicht selber den dürren Birnbaum gesehen? Er schaut sich an wie ein toter Baum und hat kein Blattl nimmer und keinen Ast. Aber wie das Feuer im Stein, so steckt noch in ihm drin das Leben und die Wachskraft, und einmal, wenn’s schier keiner nimmer hofft, wird der Baum ausschlagen und Laub treiben. Dann wird der alte Wute aus seinem Schlaf erwachen und wird hervorkommen aus dem Berg mit seinen tausend Helden und wird auf dem Walser Feld seinen Schild an den Birnbaum hängen. Und dann wird die gute Zeit wieder anheben für uns arme Leut’ … und keiner mehr wird ein Herr sein und keiner ein Knecht. Und alles, was Leid und Weh heißt, wird weggeblasen sein von der Welt, und jedem wird sein Blüml blühen und ein Glück wachsen.“ Die Stimme des alten Kohlmanns zitterte.

Mit hartem Griff umspannte Eberwein den Arm des Alten. „Eigel! Du bist kein Christ!“

Der Kohlmann nickte. „Doch, Herr, doch! Mein Vater ist älter geworden, als ich bin, und ist auch schon einer gewesen. Und wie ich zwanzig Jahr geworden bin, hab’ ich hinein müssen auf die Salzaburg, und da haben sie mir auch das Wasser über den Kopf geschütt’.“

Eberwein stand auf seinen Stab gestützt, tiefe Kümmernis in den Blicken, mit denen er dem Kohlmann folgte. „Fester sitzen nicht die Wurzeln der Eiche in den Runsen des Gesteins als die alten Mären in dieser Menschen Herzen. Will einer sie roden mit Gewalt, er reißt auch die beste Erde mit und läßt nur kahlen Grund zurück, steinig und unfruchtbar. Und gute Erde muß doch bleiben, soll die Lilie gedeihen an Stelle der Distel!“

„Herr, warum kommst Du nicht?“ rief der Kohlmann von einem Steinwall herab, den er mühsam erklettert hatte.

„Ich komme, Eigel!“ Und Eberwein folgte mit raschen Schritten.

„Wir müssen eilen, Herr, die Sonn’ will steigen!“ mahnte der Alte. „Und wir haben noch ein hartes Stückl Weg bis dort hinauf. Schau nur!“ Er deutete mit dem Bergstock nach einer steilen Felszinne, die sich hoch über ihnen mit silberigem Grau in die rotschimmernden Lüfte hob.

Sie wanderten und stiegen.

Als Eberwein, seinem Führer voraneilend, den Fuß auf die Zinne der kahlen Felsen setzte, tauchte über den Kamm der jenseit eines weiten Thals gelegenen Berge die Sonne empor, groß und strahlend, brennende Pfeile über den Himmel schießend, alle Spitzen der Berge überflutend wie mit glühendem Erz. Von schimmerndem Glanz umwoben, stand Eberwein auf seinen Stab gestützt, und im frisch anziehenden Morgenwind flatterten die Falten seines priesterlichen Kleides.

Vor seinen Füßen senkte sich der Fels in schwindelnde Tiefe, sich verlierend in wirres Gestrüpp und in den dunklen Fichtenwald, welcher alle Rippen und Rinnen der weit sich hinziehenden Berghänge umschlang wie ein grünes Gewand. Je tiefer der Wald sich senkte, desto häufiger mischte sich zwischen die finstere Farbe der Nadelbäume das lichtere Grün der Buchen und Eichen, und wo es zu siegen begann, dehnte sich in farbenbunter Schönheit, überschleiert vom ziehenden Morgennebel, ein stundenweites kesselförmiges Thal, von welchem die schmäleren Seitenthäler nach allen Richtungen griffen wie die gespreizten Finger einer riesigen Hand. Weiß blinkten die schäumenden Bäche, und aus versteckten Bergwinkeln lugten stille Seespiegel empor wie große blaue Augen, die im Erwachen den Tag bestaunen. Und zwischen Wald und Matten spärlich und weit zerstreut, winzig klein und im Morgenschatten nur schwer erkennbar, zeigten sich dunkle Gevierte - die braunen Moosdächer menschlicher Wohnungen. Das mußten armselige Hütten sein, und dennoch winkte jedes dieser Dächer herauf zur starren Bergeshöhe wie ein freundlicher Gruß des Lebens. Und rings umher, das weite Thal im Kreis umspannend, hoben sich die grauen Felsen, steil und ragend, miteinander verwachsend und wieder sich klüftend, bald eine gezahnte Wand, bald eine plumpe Kuppe, bald eine scharfe Zinne in den Himmel streckend, und hinter den Bergen wieder Berge, einer höher als der andere, ein steinernes Volk mit tausend Häuptern, die einen behangen mit grünem Schmuck, die anderen wie vor Alter weiß. Und mitten unter ihnen, alle anderen überragend, erhob sich ein gewaltiger Riese, steil aufgetürmt zur Pyramide, von der Spitze bis herunter zum grünen Wald von Eis und Schnee umgossen, wie blankes Silber leuchtend im Glanz der Morgensonne.

In Eberweins Augen standen die Thränen. Aus seinen zitternden Händen sank der Stab, und seine Arme hoben sich zum Himmel. „Herr, wen Du lieb hast, den lässest Du fallen in dieses Land! Hier laß mich leben und schaffen in Deinem Dienst … und wenn mein Werk gelang – hier laß mich sterben!“ Mit [3] schluchzendem Laut erloschen seine Worte; überwältigt von der Empfindung dieser Stunde, schlug er die Hände vor das Antlitz und weinte in heißer Freude.

„Herr, was ist Dir?“ fragte der Kohlmann.

Doch Eberwein hörte nicht. Wangen und Bart von schimmernden Zähren betropft, ließ er die Hände sinken, athmete tief, drückte die zitternden Fäuste auf seine schwellende Brust, und wieder trank er mit leuchtenden Blicken die Schönheit des ihm zu Füßen gebreiteten Landes - seines Landes, zu dessen Fürst und Hirten er berufen war.

Fürst dieses herrlichen Landes! … …

Das hätte wohl der vierzehnjährige Knabe, der vor zwanzig Jahren auf den Almgehängen des Karwendel die Geißen hütete, auch im Traum nicht geahnt, daß ihn der versteckte Wildpfad, auf dem er einen verirrten Mönch zu Thal geleitete, bis zu solcher Stelle führen würde. Der Verirrte, das war Herr Gosbert gewesen, der Abt zu Scharnitz, ein freundlicher Greis, auf der Suche nach heilsamen Kräutern hatte er Weg und Richtung verloren und war in pfadloses Gestein geraten. Da hörte er die singende Stimme des Geißbuben, der in der brütenden Sonne auf einem Felsblock hockte, halbnackt, mit gebräunter Haut, das brennende Gesicht umfilzt von einer Wirrnis blonder Locken, mit kurzem Messer an einer Zirbenwurzel schnitzend. Als der Bub den Mönch erblickte, erschrak er, daß ihm Holz und Messer aus den Händen fielen. Kaum aber hörte er, daß Herr Gosbert einen Führer nötig hätte, da lächelte er und nickte. „Komm’ nur, Herr, komm’, ich führ’ Dich schon heim!“

„Weißt Du denn auch den Weg zum Kloster?“

„Ich komm’ doch all’ Jahr’ zweimal dran vorbei, wann ich auftreib’ zur Alben und wann ich heimtreib’!“

„Heim? Wohin?“

„Hinüber ins Garmischgau! Weit, Herr, weit hinüber, bis zum Wertofels! Wohl wohl, sell bin ich daheim.“

So plauderten sie weiter, während sie niederstiegen durch den dunklen Bergwald. Der Abend dämmerte schon, als sie das Kloster erreichten, und der Geißbub mußte nächtigen im heiligen Haus. Er durfte im Refektorium an der Tafel des Abtes sitzen, der an dem heiteren aufgeweckten Buben seine helle Freude fand. Lachend füllte Herr Gosbert den hölzernen Teller des Knaben, und da aß der Bub und aß, bis ihm die Schweißtröpflein auf die Stirne traten … er getraute sich nicht aufzuhören, weil immer noch etwas auf dem Teller lag. Nach dem Mahle nahmen die Mönche den Buben in ihre Mitte und hatten Kurzweil mit ihm. „Wie heißt Du?“ fragten sie.

„Eberwein.“

Da lachten sie. „‚Freund des Ebers‘! Der muß gut stehen mit den wilden Sauen! Einen schönen Namen hat Dein Vater für Dich ausgesucht.“

Er schaute sie mit großen Augen an. „Ich hab’ keinen Vater.“

„Keinen Vater? Wem gehörst Du dann? Deiner Mutter, gelt?“

Er schüttelte den Kopf. „Dem Wertofelser Burgherrn bin ich hörig - ich hab’ keine Mutter.“

Nun lachten sie wieder. „Schauet den Buben an! Der hat nicht Vater und Mutter und ist doch zur Welt gekommen! Wie ist denn das nur zugegangen?“

„Ich weiß schon; die Diemud hat mir’s gesagt.“

„Die Diemud? So? Und wer ist denn das?“

„Die Alberin.“

„Und was hat sie gesagt?“

„Sie hat gesagt, die Hulfrau hätt’ mich aufgefischt in ihrem Kindelteich und hätt’ mich auf der Straß’ verloren, bevor sie zu dem Haus gekommen ist, in das sie mich hat tragen wollen.“

Da machten die einen ernste Gesichter und schüttelten die Köpfe; die anderen aber lachten, und während Herr Gosbert schweigend aufhorchte, fragten sie: „Wer hat Dich denn gefunden?“

„Der alte Ostalar von Eibinsee, der Ferchenfischer. Auf der Romstraß’ hat er mich gefunden, die bei der Partenkirch’ vorbeigeht, mitten drin im Buchwald, als ein winzigs Kindl. Und eine Wildsau ist über mir gestanden, und derweil ich alleweil geschrien hab’, hat sie mich umgekugelt mit dem Rüssel. Aber wie sie den Ostalar gesehen hat, ist sie davongelaufen und er hat mich aufgehoben und hinaufgetragen in den Wertofelser Burgstall. Dort hat er alles erzählt, wie’s gewesen ist, und drum haben sie mich Eberwein getauft. Und so bin ich halt aufgewachsen.“

„Bei der Diemud?“ fragte lachend einer der Brüder.

„Nein, Herr, bei den Geißen im Stall.“

„Ohne Vater, ohne Mutter!“ flüsterte Pater Azzo, ein greiser Mönch, und streifte zärtlich mit der zitternden Hand über den Scheitel des Knaben. Der Bub wurde still und machte scheue Augen. Aber Herr Gosbert faßte ihn bei der Hand und zog ihn an sich. „Nicht ohne Vater! Nein, Eberwein, einen Vater hast auch Du. Oder kennst Du ihn nicht? Schau hinauf zu ihm!“ Und Herr Gosbert deutete zur Höhe.

Eberwein hob die Augen, starrte das mit Schnitzereien verzierte Gebälk der Decke an und fragte mit verlegenem Lächeln: „Hockt er da drin im Holz oder ist über der Decken noch eine Stub’, wo er hauset?“

Ein Gelächter erhob sich, daß es einen Hall gab an den Wänden. Sogar Herr Gosbert schmunzelte, und als es wieder stille geworden war, fragte er. „Sag’, Eberwein, was meinst Du wohl, daß aus Dir noch werden soll?“

Da leuchtete das Gesicht des Buben: „Zwei Jahr’ noch muß ich die Geißen hüten, aber dann, Herr, wenn ich noch gewachsen bin um eine Spann’ und so starke Arm’ hab’, daß ich den Näbiger[3] werfen und das große Netz ziehen kann, dann will mich der alte Ostalar in die Lehr’ nehmen, und ich soll ein Fischer werden.“

„Ja, Eberwein, ein Fischer sollst Du werden!“ Herr Gosbert erhob sich und legte die Hand auf des Knaben Schulter. „Aber nicht ein Fischer, der nach Hecht und Ferchen geht, sondern einer, der Seelen fischt. Sag’, Eberwein, gefällt es Dir im Kloster? Möchtest Du nicht bleiben bei uns?“

Der Bub machte verdutzte Augen zu diesen Worten, dann aber streifte er mit flinkem Blick den Tisch, auf dem noch die Reste des Mahles standen - - all’ Tag essen wie die Klosterleut’, warum hätt’ ihm das nicht gefallen sollen?

Lärmend umdrängten ihn die Mönche, und Herr Gosbert wiederholte seine Frage. „Möchtest Du nicht bleiben bei uns?“

Da drückte der Bub das Kinn auf die Brust und stotterte: „Wohl wohl, Herr, ich möcht’ schon, wenn ich nur dürft’!“

„Dein Wille ist Dein Recht! So bleib’ und trage das Kleid der Kirche, das Dich löset von aller Knechtschaft.“ Herr Gosbert wandte sich zu einem der Mönche. „Reich’ mir einen Denar!“ Der Mönch nestelte einen ledernen Beutel von der Kuttenschnur und reichte dem Abt eine blinkende Münze. Schweigend standen die andern umher. „Soviel ist Deine Knechtschaft wert!“ sagte Herr Gosbert und legte den Denar in Eberweins offene Hand. Eine dunkle Röte überfloß das Gesicht des Buben; doch als er die Finger schließen wollte, schlug ihm Herr Gosbert die Münze aus der Hand, daß sie bis an die Decke flog, klirrend niederfiel und über die Dielen in einen Winkel rollte. „Nimmer hörig bist Du, von Dir abgefallen ist die Knechtschaft, Eberwein Frymann sollst Du heißen von Stund’ an und ein Sohn des Klosters sein!“

Der Knabe stand und wußte nicht, wie ihm geschah. Herr Gosbert zog ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn. Dann winkte er jenen greisen Mönch herbei. „Nimm den Knaben, Azzo, ich geb’ ihn in Deine Hut, denn ich hab’ es wohl gesehen. Dein erster Blick für ihn war Liebe. Nimm ihn und schaff’ ihm ein Lager in Deiner Zelle! Scher’ ihm die Locken und reich’ ihm ein Scholarenkleid!“

Pater Azzo schlang den Arm um den Knaben und zog ihn zur Thüre. „Komm’, Büebli, komm’,“ flüsterte er ihm ins Ohr, „ich will Dir ein Vater sein, ein guter, weißt … sollst Dir keinen besseren wünschen!“

Eberwein ließ sich führen; er schien von allem, was mit ihm geschah, nur das eine zu begreifen, daß er im Kloster bleiben sollte, und das schien ihm Freude zu machen, denn er lächelte. Doch als er die Thür erreichte, flog es jählings wie Schreck über seine frischen Züge. Er wandte sich um und stammelte. „Herr, Herr, wenn ich bleib’, wer soll denn morgen meine Geißen betreuen?“

Herr Gosbert lächelte. „Sei ohne Sorge, vor Tag’ noch schick’ ich einen Hüter hinauf.“

Eberwein besann sich, dann sagte er: „Aber gelt, Herr, mußt ihm einreden, daß er nicht unmütig thut mit ihnen. Ich hab’ nie hüten mögen mit Stecken und Geißel, sie hören all’ auf gute Wort’!“

Freundlich nickte Herr Gosbert. „Das will ich ihm sagen.“

„Und wenn er hinaufkommt, soll er das Messer suchen, das [6] ich hab’ liegen lassen . . und . . . und der Diemud soll er sagen, daß ich sie grüßen thu’, und sie soll mich bald heimsuchen!“

Da lachten die Mönche wieder, auch Pater Azzo schmunzelte, während er den Knaben mit sich fortzog. An der Hand führte er ihn durch eine dunkle Halle. Sie betraten eine kleine kahle Zelle; von der Decke nieder hing eine irdene Ampel, deren winziges Licht eine matte Helle über die Wände zittern ließ.

Pater Azzo hieß den Knaben sich auf das Strohbett niedersetzen und holte die Schere. Als die erste Locke fiel und das kalte Eisen Eberweins Stirn berührte, überlief den Knaben ein Schauer. Zitternd sprang er auf und rannte zur Thüre; dort blieb er stehen und blickte scheu zurück.

„Was hast denn, Büebli? Komm doch . . .“

„Muß denn das sein, Herr?“

„Freilich, das muß sein.“

Da kehrte Eberwein zögernd zurück, setzte sich nieder und hielt geduldig still. Pater Azzo schor ihm das Haupt – das war eine schwere Arbeit. Und während die Schere knirschte und die blonden Locken fielen, kollerten dicke Zähren über die Wangen des Knaben.

Zwanzig Jahre waren vergangen seit jenem Abend. Aus dem Geißbuben vom Karwendel war ein Priester geworden, dessen frommer Eifer und hohes Wissen gerühmt wurde, dessen Name einen gar hellen Klang hatte zu Tegrinsee und Buren, zu Ammergau und Altomünster, zu Seon und Raitenbuch, in allen Klöstern der bayerischen Lande, sogar am Hofe des Fürsten. Als Herzog Welf in schwerer Krankheit lag, wurde Eberwein zu ihm berufen als Beichtiger und Tröster, doch als der Herzog genas und den jungen Priester, dem er Freund geworden war, mit Ehren und Würden überschütten wollte, bat Eberwein: „Lasset mich ziehen, Herr! Ich tauge nicht zu Hofe. Ich bin geboren zu Arbeit und schwerem Werk. Mich sehnt nach Kampf und Schaffen, ich will pflügen und säen auf Gottes weitem Feld!“ Wie rasch nun hatte dieser Wunsch sich erfüllt!

Vom Hofe war Eberwein nach Raitenbuch gezogen und der eifrigste Förderer des jung entstandenen Klosters geworden. Da kam die Botschaft, daß Gräfin Adelheid von Sulzbach, auf dem Sterbebett ein Gelübde ihrer Mutter erfüllend, ein großes Land, das in stundenweiter Ferne von der Salzaburg tief in den Bergen lag, dem Orden des heiligen Augustinus als „Seelengerät“ zur Gründung eines neuen Klosters gewidmet hätte. Der „Berchtersgadem“, so heiße das Land. Die Brüder zu Raitenbuch hatten diesen Namen noch nie gehört, niemand wußte von diesem Lande. Als die Brüder Umfrage hielten, erfuhren sie: das sei eine wilde und rauhe Gegend, von finsteren pfadlosen Wäldern bedeckt, umschlossen von riesigen Bergen, wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das Thal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären, Sauen und Luchse, seien hier so zahlreich wie im ebenen Land die Ziegen und Schafe; und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge ein Manne der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein.

Mit Kopfschütteln hörten die Brüder zu Raitenbuch diese Nachricht. Solch ein Land für die Kirche zu gewinnen, für Ordnung und Gesetz – da galt es, ein schweres Werk zu bestehen. Und sie wußten zur Lösung solcher Aufgabe keinen Besseren zu wählen als Pater Eberwein; denn seit er die Weihen trug, hatte er sich erwiesen als ein Hirte nach jenem Wort des Knaben: „Ich hab’ nie hüten mögen mit Stecken und Geißel; sie hören all’ auf gute Wort’!“ In stolzer Freude hatte Eberwein die schwierige Sendung übernommen. Ihm war zu Mute wie einem jungen Helden, dem der greise Vater sagt: „Dort steht der Feind, hier ist Dein Schwert, nimm und siege!“ Mit treibendem Eifer hatte er alle Vorbereitungen für die Ausfahrt getroffen. Drei Männer wurden ihm als Geleit gegeben, Pater Waldram, ein blasser stiller Mönch, den sie um seiner finsteren Strenge willen im Kloster gerne los wurden, und zwei Laienbrüder, Schweiker, der aus Buren stammte, und Wampo von Tegrinsee.

Am Morgen nach Mariä Himmelfahrt brachen sie auf. Rasch ging die Reise von statten. Die letzte Nacht verbrachten sie in der Salzaburg. Eine Stunde vor Mitternacht, während die Brüder in festem Schlafe lagen, verließ Eberwein die Burg und wanderte in der Sternenhelle über das Walser Feld, um in Begleitung des alten Führers, den man aus dem Berchtersgadem für ihn herbeigerufen hatte, den Untersberg zu ersteigen. Er wollte von hoher Felsenwarte das Land überblicken, dessen Schicksal und Völklein in seine Hände gegeben war. Er hatte sein Ziel erreicht . . .

Da stand er nun, umflossen vom schimmernden Glanz der Morgensonne, im tiefsten Herzen ergriffen von all der Schönheit, die ihm zu Füßen lag. Er streckte die Hände gegen das Thal, in das schon die volle Sonne fiel, und fast wie Jauchzen kam es von seinen Lippen: „Ich will sie locken, ich will sie rufen! Ich will sie hüten in Treu’ und Liebe!“

Kopfschüttelnd, mit verwunderten Augen blickte der alte Kohlmann, der sich vorsichtig auf der schmalen Felszinne niedergekauert hatte, an der hohen Gestalt des Mönchs empor. „Was sagst? Ich hab’ Dich nicht verstanden!“ Eberwein hörte nicht. „Oder hast gar nicht mit mir geredt?“

Da erwachte Eberwein; tief atmend strich er mit der Hand über die Stirn und ließ sich an Eigels Seite nieder.

„Schau, Herr, alles, was da herum und drunten liegt, Berg und Thal,“ sagte der Kohlmann, „das alles gehört zum Berchtersgadem. Alles Dein Land! Schau, da drüben, der erste hohe Berg auf der Linkseit’, den heißen sie den Göhl. Drunten am Bergfuß – siehst Du die vier Hütten? – da hauset der Vorderecker mit Vieh und Weib und Kind. Der ist ein Freier, kein Gescherter. Wohl wohl, Herr, schier all die Bauern im Gadem sind freie Leut’ von alters her. Aber Herr Waze macht’s ihnen sauer, das Freisein! Schau nur, sell drüben, nicht weit vom Vorderecker, da hauset der Greinwalder. Dem sein Vater hätt’ einmal fronen sollen, wie Herr Waze die Bärengruben hat schaufeln lassen; aber er hat nicht fort können von Haus vor lauter Arbeit und da ist er trotzig worden und hat gesagt: ‚Ich brauch’ nicht fronen, ich bin ein Freier!‘ Da hat Herr Waze eine junge Ficht’ von seinen Knechten herunterbiegen lassen mit aller Gewalt, die Aest’ haben sie abgehauen, haben den Greinwalder an den Gipfel gebunden und haben den Baum wieder aufschnellen lassen. Und wie der arm’ Teufel droben gehängt ist in der Luft, hat Herr Waze zu ihm hinaufgeschrien. ‚So, jetzt laß Dir wohl sein in der Freiheit!‘ Tag und Nacht hat er hängen müssen, und am andern Morgen, wie ihn Herr Waze wieder ledig gemacht hat, da hat der Greinwalder gern geschaufelt, recht gern!“

„Eigel!“ Eberwein faßte den Arm des Kohlmanns, und dunkle Zornröte flammte in seinem Gesicht.

„Wohl wohl, Herr! Solche Sachen sind ihm all’ Tag’ eingefallen, und seit Herr Waze alt geworden ist, treiben es seine sieben Buben noch ärger. Aber daß ich weiter zeig’: schau, gleich hinter dem Göhl, der ander’ hohe Berg, den heißen sie das Brett, und der nächst’, der mit dem spitzigen Grind, heißt der Jennar. Hinter dem liegen die schönsten Alben bis weit hinaus . . . . von allen die beste, die heißet Reginalb. Und ganz dort hinten, schau, wo die Berg’ den weiten Bogen machen und so gäh herunterfallen in den tiefen tiefen Kessel, da drinnen liegt der Schönsee. Den mußt schon bald heimsuchen – so was hast Deiner Lebtag’ nicht gesehen. Wer den Schönsee zum ersten Mal sieht, dem verschlagt’s die Red’ vor lauter Schauen. Und dort – siehst die Achen, die aus dem See herauslauft wie ein silberigs Bandl – dort hauset der junge Sigenot vom Schönsee, der Fischer, mit seiner alten Mutter Mahthilt und seiner Schwester Edelrot. Der sitzt auf einem Freigut, das nicht zinset noch steuert, und seit die Leut’ denken, gehört zu seinem Haus das Fischrecht in Bach und See. Der Sigenot, weißt, der hat den Leuten schon viel Gut’s gethan und hat schon manchem geholfen, der bei Waze in Buß’ gefallen. Das ist der einzig’ im Gadem, an den sich die Wazemannsbuben nicht trauen.“

„Sigenot heißt er?“ fragte Eberwein, als wollte er diesen Namen seinem Gedächtnis einprägen.

„Wohl wohl, Herr! Sigenot! Aber daß ich zeig’: schau, nicht weit vom Fischer, da hauset der Marderecker. Dann kommt ein Fichtenwald – da drin sitzt der Untersteiner. Und wo die Achen wieder herauslauft aus dem Wald, da steht ein Häusl um das ander’. Siehst das größt’ unter ihnen, das mit dem weiten Hag? Da hauset der alte Schönauer. Der ist Richter im Gadem und seine Nachbarsleut’, der Kaganhart und der Köppelecker, das sind die Schöffen. Die rufen in Zeiten der Not das Thing ein auf dem Totenmann – sell drüben auf dem niedrigen Waldberg, [7] siehst ihn? – und sprechen Recht und Urtel – für die Katz’!“ Der Kohlmann lachte zornig. „Das einzig’ Recht im Gadem ist allweil, was dem Wazemann und seinen Buben taugt!“

„Das soll sich wenden!“ sagte Eberwein mit ruhigem Wort. „Zeige mir Wazes Haus!“

„Schau, dort, wo aus dem Schönsee der endsmächtige Berg aufsteigt, der größt’ von allen, der mit dem weißen Schneekittel – König Eismann heißen ihn die Leut’ oder Wazemanns Bannberg – da schiebt sich aus dem Buchwald eine Nas heraus, die heißt der Falkenstein, da schaut ein spitziges Dach und ein Mauerturm über die Buchengirbel. Das ist Wazemanns Haus!“

Eberwein erhob sich und deckte, in die Ferne spähend, die Hand über die Augen. „Wenn meine Klause steht, soll der Weg nach diesem Haus der erste sein, den ich suche.“ Er bückte sich und nahm seinen Bergstock auf. „Komm, Eigel, wir gehen zu Thal!“

Als sie, von der schroffen Zinne niedersteigend, um die Felswand bogen, öffnete sich vor ihnen ein weiter Ausblick gegen Westen.

„Alles noch Dein Land!“ sagte der Kohlmann, mit dem Bergstock deutend. „Schau, neben dem König Eismann, da liegt ein langes langes Thal und in dem Thal ein See, der größt’ von allen, den heißen die Leut’ den Windachersee. Und über dem Thal drüben – siehst die zwei hohen Berg’? – die heißen der Steinberg und der Schneekalter. Und hinter denen liegt wieder ein Thal und wieder ein See; der hat keinen Namen, die Leut’ sagen nur: ‚der hinter’ See‘. Die Achen, die aus ihm herausläuft, das ist ein böses Wasser! Wenn Wetter losbrechen und viel Regen fallt, treibt der Bach allen Rams[4] mit her, der von den Bergen herunterbröselt. Davon heißt das Thal auch die Ramsau. Wohl wohl, Herr, und in dem Thal, da hausen die besten Christenleut’. Freilich, die haben gut fromm sein, bei denen sitzt ein Pfarrherr. Hiltischalk heißt er.“

„Ein Leutpriester in der Ramsau?“ rief Eberwein, freudig betroffen von dieser Nachricht.

„Jung ist er freilich nimmer, aber ein gutes freundliches Mandl. Und alle Leut’ haben ihn gern . . .“ Eigel verstummte und hob lauschend den Kopf. Auch Eberwein horchte auf. „Was war das?“ fragte er. Es hatte geklungen wie der wild jauchzende Aufschrei einer weiblichen Stimme.

Sie spähten umher. „Dort, Herr, schau!“ stotterte der Kohlmann und deutete nach den dichten Krummföhrenbüschen, welche zwischen der kahlen Felswand und dem tiefer liegenden Almfeld den Berghang bedeckten. Ein mächtiger Bartgeier schwebte langsam, mit klatschendem Flügelschlag, über die Büsche hin; das zappelnde Gemskitz, das er in den Fängen hielt und hinwegschleifte über die schwankenden Aeste, erschwerte seinen Flug. Doch mit jedem Schwingenschlag strebte er höher und gewann schon die freie Luft. Da tauchte unter den Büschen am Saum des Almfelds eine Reiterin auf; rötliches Haar umflatterte den Nacken; das jagende Roß schien nur ihrem Ruf zu gehorchen, denn sie führte keinen Zügel, sondern hielt in erhobenen Armen den gespannten Bogen mit aufgelegtem Pfeil. Nun plötzlich stand das Roß, einen Augenblick erschien die Gestalt des jungen schönen Weibes regungslos, wie aus Erz gegossen – dann schwirrte mit hellem Klang die Bogensehne.

Der Geier machte eine jähe Schwenkung im Flug und ließ die Beute fallen, laut klagend raffte das gestürzte Tierchen sich auf, taumelte hin und her und verkroch sich zwischen die Büsche; der Geier schwankte und gaukelte in der Luft, er mußte tödlich getroffen sein; mit aller Kraft noch kämpfte er gegen den Sturz, doch immer matter wurden seine Schwingen, immer tiefer ging sein Flug, nun verschwand er im schrägen Niedergleiten hinter einer Wölbung des Almfelds – und hinter ihm her, mit jauchzendem Schrei und wehendem Haar, jagte die Reiterin, mit so wilder ungestümer Hast, daß es Sprung um Sprung den Anschein hatte, als müßte das Roß sich überstürzen auf dem steinigen Hang. Aus den Büschen kamen zwei weißgefleckte Bracken hervorgeschossen und suchten mit heiserem Gekläff den Weg, auf dem ihre Herrin verschwunden war.

Eberwein stand und streifte mit der Hand über die Augen. Den Herzschlag lähmend und jeden Nerv erregend, wie ein toller Spuk, war das wildschöne Bild dieser seltsamen Jagd an ihm vorübergeflogen. „Eigel! Wer war dieses Weib?“

„Die rote Recka war es, Wazemanns Tochter. Sieben Söhn’ hat er und diese einzige Dirn’. Aber die Leut’ sagen, sie wär’ kein richtiges Menschenkind. Ihr Vater ist freilich ein Mensch – und was für einer! – aber ihre Mutter wär’ eine Alfin gewesen! Und ich glaub’s auch! Denn die Dirn’ hat Feuer und Luft im Blut. Wie verwachsen ist sie mit ihrem Roß. Für die ist kein Wald zu schiech und kein Berg zu hoch, überall kommt sie hin, als hätt’ sie Flügel am Leib wie eine Walmaid!“

Eberwein schüttelte seufzend den Kopf. „Wute und Walmaid und Alfin – fast hab’ ich noch kein ander’ Wort von Dir gehört! Eigel, Eigel, mit Deinem Christentum ist es schlecht bestellt!“

„Wohl wohl, Herr, kannst schon recht haben!“ meinte der Kohlmann kleinlaut. „Aber wo soll ich denn ein besseres hernehmen? In die Ramsau und nach der Salzaburg ist mir der Weg zu weit, und was einer im Gadem von Wazemann und seinen Buben lernt, das ist alles eher, mein’ ich, nur kein Christentum. Aber komm, Herr – schau, wie hoch schon die Sonn’ steht – wir müssen uns tummeln, daß wir rechterzeit wieder hinunterkommen ins Thal.“

Eigel bahnte den Weg durch die dichten Föhrenbüsche, und Eberwein folgte ihm. Als sie das offene Almfeld erreichten und den Ueberblick über den weiten Hang gewannen, blieb Eberwein stehen und spähte umher. „Ich sehe sie nicht mehr. Sie muß den Wald schon erreicht haben.“

„Wen meinst? Ach so, die Rote!“ Der Kohlmann lachte und schaute mit blinzelnden Augen zu seinem Begleiter auf. „Herr, nimm Dich in acht vor der! Und wenn sie Dir wieder begegnet, dann schau Dich nicht um nach ihr! Weißt, so ein Blick über die Achsel, der hat schon diemal recht schieche Sachen angerichtet.“

Eberwein furchte die Brauen, und fester schloß sich seine Hand um den Stab. „Ich wollte, sie träte mir noch heute in den Weg. Ich hätte Lust, ihr eine Botschaft aufzutragen an ihren Vater.“

Eine tiefe Mulde nahm die Wanderer auf. Als sie wieder den höheren Grund erreichten, lag ein Haufe verkohlten Gebälks vor ihnen. „Eigel! Was ist hier geschehen?“

„Da hat der Gernreuter, der drunten beim Albenbach hauset, seine Albhütte stehen gehabt. Aber die Wazemannsbuben haben gemeint, daß dem Gernreuter sein Vieh den Hirschen zu viel Gras wegfrißt, und drum haben sie den roten Hahn auf die Hütte gesetzt. Im letzten Sommer war’s. Drei Stückl Vieh und dem Gernreuter sein Weib, die heroben gesennet hat, sind mitverbronnen.“

Eberwein stand mit erblaßtem Gesicht und starrte den Kohlmann an. „Und das habt Ihr geschehen lassen, Ihr im Gadem? Und da es geschehen war, habt Ihr nicht Klage geführt?“

„Wohl wohl, Herr! Der Gernreuter hat geklagt. Und auf dem Jahrthing zu Grafengadem hat der Sulzbacher Herr das Urtel gesprochen. Herr Waze hat Wehrgeld zahlen müssen für das Weib – und alles ist gut gewesen! Alles gut!“ Des Kohlmanns Augen funkelten, und unter seinen Händen knirschte der Bergstock.

„Eigel!“ Eberweins Stimme zitterte.

„Und weißt Du, Herr, was die Leut’ sagen? Sie sagen, es wär’ gar nicht hergegangen um das Gras für die Hirschen und Gemsen – es wär’ eine Rach’ gewesen an dem Weib. Bei der sind die Wazemannsbuben an die Unrechte gekommen. Den einen hat sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und den andern hat sie über die Hausgräd hinuntergeworfen, daß er das blaue Mal im Gesicht drei Wochen lang herumgetragen hat. Wären nur alle, wie die gewesen ist! Dann hätt’ das Treiben im Gadem bald ein End’! Aber so! Kein Weib ist sicher! Jede Mutter, die ein Dirndl hat, das sich sauber anschaut, muß zittern vor jeder Stund’!“

Es währte eine Weile, bis Eberwein Worte fand. Er faßte den Arm des Kohlmanns und schüttelte ihn. „Eigel, Eigel – kann es denn Wahrheit sein, was ich höre?“

„Wahrheit, Herr? Als ob ich’s nicht erfahren hätt’ an mir selber! Weit über die dreißig Jahr’ mag’s her sein, da hab’ ich . . . hab’ ich eine Dirn’ gekannt“ – die Stimme des Kohlmanns schwankte, daß die Worte kaum verständlich waren – „ein Gesichtl hat sie gehabt so warm und lichtscheinig wie Rötelstein, wenn die Sonn’ drauf liegt. Und sauber gewachsen wie ein jung’s Bäuml, und Haar’ wie der Hanf so goldig. Und hast ihr in die Augen geschaut, so hast gemeint, Du schaust ins blaue Himmelreich. Und so gut ist das Dirndl gewesen, so brav und gradschlächtig! Und ihre Lieb’ zu mir ist all ihr Um und Auf gewesen. Auf Sonnwend, Herr, da hab’ ich ihr zum Herdverspruch den beinernen Armreif angelegt, den meine Mutter getragen hat . . . und die ander’ Woch’ darauf hätten wir heuern [8] sollen. Ein paar Tag ehnder bin ich hinaufgestiegen auf den Göhl und hab’ ihr ein Kranzl heruntergeholt aus Edelweiß. Es ist schon auf den Abend zugegangen, wie ich heimgekommen bin und hab’s ihr bringen wollen. Aber die Salmued – so hat sie geheißen, Herr – die Salmued ist nicht daheim gewesen. Ihr’ Mutter und ich, wir haben gewart’ und gewart’ – es ist Nacht worden – und eine Stund’ um die ander’ haben wir hingepaßt auf das Dirndl. Am End’ ist mir angst worden, und ich bin umgelaufen und hab’ angefragt in jedem Nachbarhaus. Die ganze Nacht bin ich auf den Füßen gewesen und schier die Seel’ aus dem Leib hab’ ich mir herausgelaufen. Von meinem Dirndl aber hab’ ich nichts gesehen und gehört.“

„Doch als es Tag wurde, kam sie?“ fiel Eberwein dem Kohlmann mit bebender Stimme ins Wort.

Ein heiseres Lachen tönte von Eigels Lippen. „Wie’s Tag worden ist, bin ich gegen den Untersteiner Wald gelaufen, weil ich schon gefürchtet hab’, die Salmued könnt’ in der Finsternis in eine von Wazemanns Bärengruben gefallen sein. Auf einmal, wie ich hinlauf’ zum Achensteg, kommt Herr Waze dahergeritten. Ich hab’ mich auf die Seit’ gehalten, denn der Weg ist schmal gewesen, aber wie er an mir vorbeireitet, da sieht er mich, und da zuckt ein Lacher über sein Gesicht. Mit der Faust hat er dem Roß eins auf den Hals gehauen, daß es einen Sprung gethan hat und davon geschossen ist, als wär’ Feuer hinter ihm. Da hat’s mir auf einmal durch die Seel’ geschrien: wenn du die Salmued finden willst, so mußt suchen in Wazemanns Haus! In einem Sauser bin ich durch den Wald aus und hinauf über den Falkensteiner Weg – das Brückl war aufgezogen und das Thor versperrt – aber wie ein Zeck hab’ ich mich angehängt an die Mauer und bin hinaufgekommen. Und droben – was ich schreien hab’ können, hab’ ich geschrien: ‚Salmued! Salmued!‘ Vier, fünf Knecht’ sind gegen mich hergelaufen, aber aus dem Haus hab’ ich einen Schrei gehört, und wie ich aufschau’, seh’ ich im Dachfenster der Salmued ihr Gesicht … die Arm’ hab’ ich noch in die Höh’ gestreckt, und da hat mich einer von Wazes Knechten mit dem Speerholz vor die Brust gestoßen, daß ich getaumelt hab’ und rücklings hinuntergefallen bin über die Mauer. Der Gelfrat, Sigenots Vater, hat mich gefunden und hat mir das Blut abgewaschen – und seit der selbigen Stund’ hab’ ich von der Salmued kein Wörtl nimmer gehört und hab’ sie meiner Lebtag’ mit keinem Blick mehr gesehen.“ Dem Kohlmann stand das Wasser in den Augen, aber er lachte. „Sie wird halt sein, wo dem Gernreuter sein Weib hin hat müssen!“

Eberwein hörte die letzten Worte nicht. Er stand hoch aufgerichtet, mit flammenden Augen, und seine Blicke spähten hinweg über das sonnige Thal und suchten in der von Schatten umsponnenen Ferne den Falkenstein und Wazemanns Haus. Er hob die geballte Faust, und der zurückfallende Aermel entblößte den sonnverbrannten nervigen Arm. „Herr Waze! Wir wollen rechten miteinander! Fürwahr, es soll anders werden! – Komm, Eigel, führ’ mich zu Thal!“

Dem Alten voran, eilte Eberwein mit ungestümer Hast den Hang hinunter. Der Kohlmann holte ihn mit Mühe ein und schüttelte den Kopf. „Mußt Dich nicht so tummeln, Herr! Auf Bergweg’ gehören langsame Füß’ – und ‚Zeit lassen!‘ grüßen bei uns die Leut’, wenn’s einer gar so nötig hat. Ueberlauf’ Dich nicht, sonst geht Dir vor der Zeit der Schnaufer aus!“

Eberwein mäßigte die Hast seines Ganges und atmete tief. „Dank, Alter, für diesen Rat! Auf den Wegen, die meiner warten, ist mir eines vor allem nötig: Geduld und Ruhe! Komm!“

Sie schritten weiter.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 2, S. 22–26
[22]
2.

Nur mit spärlichen Lichtern drang die Morgensonne in den dichten, wirr verwachsenen Urwald, durch welchen Eberwein und Eigel auf mühsamen Pfaden niederstiegen. Ein leichter Windhauch, feucht und kühl, wehte zwischen den Bäumen und erfrischte die heißen Stirnen der Wanderer. Kein Wort wurde gesprochen. Eigel mußte all seine Aufmerksamkeit dran wenden, um unter den vielfach sich kreuzenden Wildsteigen, zwischen dem wirren Gerank und Unterwuchs den rechten Pfad zu halten. Und Eberwein war tief in Gedanken versunken, fast unbewußt seinem Führer folgend auf Schritt und Tritt. Was er gesehen und erfahren in diesen vergangenen Stunden, brauste ihm durch Herz und Seele wie ein Sturm. Ein schwerer Kampf stand ihm bevor, aber mit siegesfreudigem Mute sah er allem Kommenden entgegen.

Der Wald wurde lichter, und eine grüne Matte schimmerte durch die Bäume. „Da hauset der Gernreuter,“ sagte der Kohlmann. Eberwein erwachte aus seinem Sinnen. „Der Mann jenes unglücklichen Weibes? Führ’ mich zu ihm!“

Sie erreichten den Waldsaum. Eine weite sonnige Wiese lag vor ihnen, und in deren Mitte ein großer viereckiger Hag, dessen dichtes Flechtwerk fast von doppelter Mannshöhe war und von dem verwitterten Moosdach der eingeschlossenen Hütte nur einen schmalen Saum noch gewahren ließ.

„Ein Zaun wie eine Schanze!“ meinte Eberwein.

„Wohl wohl, Herr, so hoch muß der Hag sein, daß im Winter, wenn der Schnee steigt, die Wölf’ nicht drüber springen.“

Sie näherten sich und hörten das Grunzen eines Schweins und die lachenden Stimmlein zweier Kinder. Als sie die Ecke des Hags umschritten, erblickten sie zwei Knaben von etwa fünf und sieben Jahren, welche sich unter lustigem Balgen im Gras umherkugelten; all ihr Gewand war das dunkle Braun, das die Sonne auf ihre Haut gebrannt hatte; und daß das Wasser auch noch zu anderen Zwecken als nur zum Trinken geschaffen wäre, dessen schienen sich die beiden Knirpslein, wenn sie es überhaupt jemals gewußt hatten, seit geraumer Zeit nicht mehr erinnert zu haben. Als sie die näherkommenden Schritte hörten, hoben sie erschrocken die Struwwelköpfe und starrten mit weit aufgerissenen Augen den Mönch an, der ihnen lächelnd entgegentrat, die Hand zum Gruß gestreckt. „Gott grüß’ Euch, Kinderlein!“

Bevor jedoch Eberwein diesen Gruß noch ganz ausgesprochen hatte, erhob das jüngere der beiden Bübchen ein zeterndes Geschrei und flüchtete gegen den Hag; da hielt auch die bleiche Tapferkeit des älteren nicht länger stand, schreiend lief es hinter dem anderen her, in der blinden Angst überrannten sie sich und stürzten, einen Augenblick sah man vier nackte Beinchen in der Luft, sie rafften sich wieder auf, heulend und zeternd verschwanden sie im Hag und warfen hinter sich das Thor zu. Nun verstummte ihr Geschrei, und man hörte den hölzernen Riegel knarren.

Eberwein stand verlegen und ratlos, während Eigel aus vollem Halse lachte; dann ging der Kohlmann auf das Thor zu und rüttelte an den Bohlen. „Bauer! Heia, Bauer!“ rief er mit lauter Stimme, aber es ließ sich aus dem Gehöft keine Antwort hören. „Er wird mit dem Vieh auf der Weid’ sein. Laß gut sein, Herr, die machen nimmer auf.“

„Was mag sie nur so erschreckt haben?“

„Schau Dein Häs[5] an! Der Teufel und ein Pfaff, die sind allbeid schwarz, und Kinder machen halt keinen Unterschied.“

Eberwein lächelte. „Er wird manchmal auch den Großen schwer.“ Einen Blick noch warf er über Thor und Hag. „Zwiefaches werd’ ich erkämpfen müssen: Furcht bei den Wölfen und Vertrauen bei meinen Lämmern.“

Sie folgten dem ausgetretenen Fußpfad, der über die Wiese hinunterführte nach dem Waldsaum. Eigel hatte das Gehölz schon betreten; da blieb Eberwein stehen und griff nach der Ledertasche, die an seinem Gürtel hing; er hatte sie am verwichenen Abend in Bruder Wampos Händen gesehen – da war sie gewiß nicht leer. Er öffnete die Tasche. Zuerst kam ihr gewohnter Insasse, ein kleines in Schweinsleder gebundenes Büchlein, zum Vorschein; dann folgte ein weißes Brot, ein Stück gebratenen Wildprets und eine Handvoll roter Kirschen. Eberwein eilte zum Hag zurück, ließ sich auf die Knie nieder, und durch den schmalen Spalt, der unter dem Thor sich zeigte, schob er Brot und Fleisch und Kirschen in das Gehöft. Der scheue Klang eines wispernden Kinderstimmleins ließ sich vernehmen. „Lueg, Wasli, da lueg hin …“

Lächelnd erhob sich Eberwein. „Für Kindersinn muß auch Gottes Liebe eine verständliche Sprache wählen.^ Und eilenden Schrittes suchte er den Kohlmann einzuholen.

Der Wald, der die Wanderer aufnahm, wurde freundlicher, je weiter es zu Thal ging. Viehsteige liefen kreuz und quer – unter den Buchen gab es saftige Weide – und manchmal verrieten splitterige Baumstümpfe, daß hier schon die Axt gewaltet hatte. Aus der Tiefe des Waldes quoll ein dumpfes Rauschen herauf. Immer näher klang es, und als der Pfad, dem die beiden folgten, auf die Höhe einer steil thalabwärts ziehenden Bergrippe lenkte, senkte sich vor Eberweins Blicken eine tiefe Schlucht, darin ein schäumendes Wasser floß. „Das ist der Albenbach,“ sagte Eigel.

Der Pfad verließ den Rand der Schlucht nicht mehr; bald lenkte er vorüber an engem Geklüft, in dessen Tiefe ein Dunkel herrschte, daß man nur matt noch das weiße Wasser schimmern sah; bald wieder führte er um breite Kessel, in denen das Wasser über hohe Felsstufen niederbrauste oder große stille Tümpel bildete, darin sich ein Stücklein blauen Himmels und die sonnbeglänzten Buchenwipfel spiegelten. Bei einer Wendung des Pfades blieb der Kohlmann stehen. „Heut’ wimmelt ja der ganze Berg von Leut’,“ sagte er und deutete durch eine Lücke des Gezweiges hinunter in die Schlucht, „da ist schon wieder einer! Und ich mein’, es ist der Fischer – freilich, er hat ja die Angelrut’!“

„Der Fischer? Jener Sigenot?“ fragte Eberwein und trat mit raschem Schritt an Eigels Seite. In der Tiefe der Schlucht, jenseit des Baches, welcher hier in breiterem Bett um die Felsklötze rauschte, stand, mit der Angelrute, ein junger Mann von hohem, kraftvollem Wuchs. In dichten Strähnen quoll das braune Haar unter der pelzverbrämten, mit einer langen Schwanenfeder gezierten Lederkappe hervor und schwankte um die Wangen; das dem Wasser zugeneigte Gesicht war nicht zu erkennen, denn bläulicher Schatten lag darüber – man sah nur, daß ein junger Bart, etwas lichter als das dunkle Haupthaar, die Lippen und das Kinn umsproßte. Ein ledernes Wams, ohne Aermel, farblos und verwittert, umschloß die breite Brust, und ein plumper Gurt, an dem ein kurzes Messer in hölzerner Scheide hing, umspannte die Hüfte. Das aus rauhhaariger Kotze geschnittene Beinkleid ließ die Knie nackt, und zottige Fellstücke waren mit Riemen um die Waden geschnürt; ihm zu Füßen lag das hölzerne Fischlägel; der aufdampfende Wasserstaub, farbig schimmernd in der Sonne, verhüllte zuweilen die ganze Gestalt des Fischers.

„Heia, Sigenot!“ schrie der Kohlmann; aber der Fischer rührte sich nicht, das Rauschen des Wassers verschlang den Ruf.

„Er kann Dich nicht hören, steig’ zu ihm hinunter,“ sagte Eberwein, „und führ’ ihn her zu mir, ich will ihn kennenlernen.“

Eigel griff nach den Aesten, um sich hinausgleiten zu lassen über den Hang der Schlucht. Da hob der Fischer die Augen, aber nicht zu den beiden, sondern empor zur Höhe des Baches. Er schien dort oben etwas gewahrt zu haben, was ihn jäh um alle Ruhe brachte. Die Angel aufschnellend, sprang er mit flinkem Satz auf einen hohen Felsblock und deckte spähend die Hand über die Augen. Und dann, zurückspringend an das Ufer, haschte er den Riemen des Lägels, schwang das vom Wasser triefende Fäßlein auf den Rücken und eilte über den steilen Hang der Schlucht hinauf, als wär’ es ebener Grund und müheloser Weg. Hinter schlagendem Gezweig, durch welches er sich hindurchgeworfen hatte, verschwand er.

„Was sagst, Herr? Weg ist er – und den holen meine alten Füß’ nimmer ein!“ brummte der Kohlmann. Da sah er, daß auch Eberwein emporblickte zur Höhe. „Was mag denn nur da droben sein?“ fragte er und drückte die Zweige zur Seite, die ihm den Aufblick verwehrten. Hoch droben, am Rand einer Felsplatte, welche sich über das tief abfallende Geklüft hinausstreckte, sah er ein Pferd erscheinen – den Rappen, der die rote [23] Recka trug. Das Pferd scheute vor dem Absturz und warf die Nüstern auf, aber ein Rutenhieb zwaug es zum Sprung. Mit vorgestrecktem Halse flog es über den Abgrund hinweg, auf ihm das Mädchen mit erhobenem Arm, das Haupt vom offenen Haar umflattert wie von einem roten Schleier. Roch im Sprung verschwanden Pferd und Reiterin hinter dichtem Gebüsch. Steine kamen in die Schlucht herabgerollt, und ihr Aufschlag übertönte das Rauschen des Wassers. Eigel stieg auf den Pfad zurück. „Jetzt, Herr, sag’ selber – hat die da droben Flügel oder nicht?“

„Flügel nicht, doch einen frevlen Sinn, welcher Gott versucht.“

„Sie muß hierher kommen, sie hat keinen andern Weg.“

„So laß uns warten.“

Schweigend standen sie. Nach einer Weile hörten sie seitwärts aus dem Wald eine helle singende Stimme, die sich entfernte.

„Herr, wir haben umsonst gewartet,“ lachte der Kohlmann, „sie ist gradaus geritten durchs Holz. Ist das eine! Wo unsereins kaum durchschlüpft, findet die noch Bahn für ein ganzes Roß!“

Eberwein wandte sich schweigend ab, und so folgten sie wieder ihrem Wege. Ein halbes Stündlein waren sie thalwärts gestiegen, da wurde zwischen sonnig durchleuchteten Bäumen der Pfad so eben, daß er ein gemächliches Wandern gestattete. Von einer Lichtung her, die aus dem nahen Waldthal heraufschimmerte, klangen laute Stimmen. „Herr, Deine Lent’ sind da!“ rief Eigel über die Schulter.

Sie beschleunigten ihren Gang und traten bald unter den Bäumen hervor. Am Ufer der Ache, welche breit und ruhig in ihrem felsigen Bett das Thal durchfloß, lag eine kleine blumige Matte. Vier Saumtiere zogen weidend über das Gras, die Rücken schweißfleckig von der schweren Last, die man ihnen abgenommen hatte; im Schatten eines Gebüsches lagen die Ballen und Päcke übereinandergehäuft. Am Waldsaum, unter alten moosbehangenen Fichten, brannten zwei lustige Feuer; über dem einen hing an gekreuzten Stangen ein kupferner Kessel, in welchem Wasser dampfte. Ein Mönch trug dürres Holz herbei; es war eine stämmige ungeschlachte Gestalt, Arme wie Balken, Fäuste wie Hämmer, und einem Stiernacken gleich der Hals, der den plumpen Kopf in vorgebeugter Haltung trug; heller als Flachs noch schimmerte das geschorene Haupthaar, und der weißblonde Bart hing dick und zottig nieder, als hätte man dem Bruder Schweiker einen ganzen Spinnrocken vors Gesicht gebunden; dazu ein sonnverbranntes gutmütiges Jünglingsgesicht und unter den weißen Brauen zwei wasserblaue Augen, welche so harmlos blickten wie die Augen eines Kindes.

Ueber dem anderen Feuer schmorte an hölzernem Spieß ein mächtiges Rippenstück, und Bruder Wampo, der neben dem Feuer kauerte, Gesicht und Hände dunkelrot von der Hitze, drehte achtsam den von ihm selbst gefertigten Spieß und goß mit hölzernem Löffel reichliches Fett über den rauchenden Braten. In seiner kauernden Stellung verdeckte die schwarze Kutte seine Füße, die aufgezogenen Knie verschwanden unter dem Bäuchlein, und so war er in seines Leibes rundlicher Fülle schier anzusehen wie eine große Kugel, der man ein kleines beinernes Köpflein aufgesetzt hatte. Denn von den Brauen an, über den ganzen Kopf hinweg, bis in den faltigen Nacken hinunter war keine Spur eines Härleins zu entdecken, und bartlos war auch das rote Gesicht mit dem breiten immer lächelnden Mund, mit den rührsamen Hängebacken und den kleinen, tief versunkenen Aeuglein, die so flink und glänzend blickten wie zwei Vogelaugen. Und wie hurtig die Hände gingen! Jeder Griff und jede Bewegung war wie ein Haschen nach einer Mücke.

Um ihn her standen vier Knechte, die Führer der Saumtiere; und im Schatten des Waldes lagen zwei gewappnete Kriegsleute, deren langmähnige Pferde an einen Baum gekoppelt waren. Einer der Knechte, welcher den Kohlmann mit Eberwein aus dem Wald treten sah, puffte den Bruder Wampo mit dem Knie in den Rücken. „Guck, Du, Dein Herr kommt!“

Der Bruder blickte auf. Er machte eine zuckende Bewegung, als wollte er vom Feuer hinwegspringen. Aber seine Hand war wie festgewachsen an der Kurbel des Bratspießes. Einen flinken musternden Blick warf er über die Knechte; dann rief er zum anderen Feuer hinüber: „Komm her, Bruder, und dreh’ den Spieß! Die da können ja nichts als fressen – schau nur, wie sie am Dampf schnuppern, der Hunger hängt ihnen schon zu den Augen heraus und das Wasser läuft ihnen im Maul zusammen.“

Die Knechte lachten und Schweiker kam herbeigestapft, schwer und langsam, wie ein Baum, dem Füße gewachsen sind. „Da bin ich, was soll’s?“

„So, komm her und hock’ Dich nieder! Mit der Linken dreh’ den Spieß …“ Wampo drehte, bis Schweiker die Hand an die Kurbel gelegt hatte. „So, recht so … und da hast den Löffel und da steht das Häfelein mit dem Schmalz. Gieß’ nur allweil schön langsam auf! Und beim Drehen und Aufgießen mußt achthaben, daß nicht zu viel Fett ins Feuer tropft, sonst schlagt die Flamm’ in die Höh’ und sengt mir den Braten an. Hast verstanden?“

„Wohl wohl!“

Wampo stand noch eine kleine Weile und blickte mit prüfendem Ernst auf Schweikers Hände. Dann nickte er befriedigt, wischte die fetten Finger über die Hüften, fuhr mit dem Kuttenärmel vom Nacken herauf über die schweißbetropfte Glatze und sprang über die Matte hinweg auf Eberwein zu, flink und hopsend wie ein Ball, der im Spiel getrieben wird. Bruder Wampo hatte Schwung in den kurzen Beinen, trotz seines Bäuchleins.

„Sei gegrüßt, Herr!“ rief er mit strahlendem Gesicht.

„Gott zum Gruß, Bruder!“ erwiderte Eberwein lächelnd. „Ich sehe, Du bist schon fleißig bei der Arbeit.“

„Freilich, freilich, es schreien doch alle Mägen schon, am lautesten der meinige. Aber saget, Herr, war’t Ihr droben? Wie schaut es aus, unser Landl? Wirklich so, wie uns Pater Meginhart aus der Salzaburg geschrieben: ‚eine wüste Einöde, ein Tummelplatz der wilden Tiere, ein Wohnort der Drachen‘?“

„Von einer ‚wüsten Einöde‘ hab’ ich nichts entdeckt. Unser Land ist blühend in Schönheit und gesegnet von Gottes Hand. Aber,“ fügte Eberwein scherzend bei, „mit den Drachen mag es wohl seine Richtigkeit haben. Einem bin ich begegnet!“

Wampos Aeuglein wurden starr, und mit hurtiger Hand schlug er ein Kreuz über das erschrockene Gesicht. „Herr des Himmels – er hat Euch doch nicht angeblasen mit seinem Gifthauch? Aber nein, nein, sonst stündet Ihr ja nimmer da vor mir, gesund und lebendigen Leibes!“ Er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Saget, saget, wie hat er denn ausgeschaut? Halb wie der Teufel und halb wie Fisch und Vogel? Gelt?“

„Nein, Bruder, ein klein wenig anders. Unten wie ein Pferd und oben wie ein Weib; zwei Köpfe hat er gehabt, sechs Füße und zwei Arme, vier Hufe und zehn Finger, eine schwarze Mähne und rotes Lockenhaar, zwei dampfende Nüstern im einen Gesicht und eine Nas’ im andern …“ Eberwein konnte nicht weiter sprechen, er mußte lachen.

Da schien auch in Bruder Wampos Oberstübchen das Verständnis aufzudämmern. „Ach, Ihr …“ brummte er schmollend. „Aber jetzt kommt, Herr, ich hab’ schon ein Plätzlein für Euch ausgesucht im schönsten Moos und im besten Schatten.“

Eigel ließ sich nieder, wo er stand. Eberwein folgte dem Bruder und blickte mit suchenden Augen umher. „Wo ist Waldram?“

„Ins Holz ist er hineingegangen, wo’s still und finster ist. Beim Feuer war’s ihm zu lustig.“

„Und Herr Friedrich von Haunsperg?“

„Er ist auf dem Wege zurückgeritten bis zum anderen Bach, an dem wir vorbeigezogen. Wie wir dahergekommen sind und Ihr seid nicht dagewesen, hat er gemeint, der Kohlmann hätt’ die Abred’ falsch verstanden und Ihr wärt auf demselben Wege herunter, auf dem Ihr hinaufgestiegen seid.“

„Man muß ihm Botschaft schicken.“

„Wohl wohl, das besorg’ ich schon. Setzt Euch nur!“

Bruder Wampo hatte das Ruheplätzchen für Eberwein prächtig gewählt: zu Füßen einer Fichte, in schwellendem Moos und dicht am Ufer der Ache, deren krystallene Wellen mit sachtem Gemurmel um die grauen Steine spielten. „Hier ist gut sein!“ lächelte Eberwein und streckte tiefatmend die Glieder.

Bruder Wampo hopste geschäftig hinweg, und gleich darauf schwang sich einer der beiden Kriegsknechte aufs Pferd und trabte durch den von zitternden Lichtern erfüllten Wald davon.




3.

Als Wampo zum Feuer zurückkehrte, saß Schweiker breit auf der Erde und quirlte langsam den Bratspieß zwischen den flachen Händen, während einer der Knechte das Aufgießen besorgte.

„Ja was ist denn? Was machst denn da?“

Mit rotem Gesicht und verlegenen Augen blickte Schweiker zu Wampo auf. „Ich weiß nicht … ich muß wohl ein lützel herb zugegriffen haben, da ist mir die Kurbel in der Hand geblieben!“

[24] „Natürlich! Wo so ein Pratzl hingreift, da halt’t kein Holz nimmer stand.“

„Ich hätt’s ja wieder gemacht,“ stotterte Schweiker, „aber ich hab’ mich nicht getraut, daß ich den Spieß rasten laß’.“

„Du Unglücksmensch! Hast mir am End’ gar den Braten schon verbrennen lässen?“ Erschrocken beugte sich Wampo über das kreisende Rippenstück; doch er atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank! Aber lang hätt’s nimmer gedauert, so wär’ das Unglück fertig gewesen. Gieb her!“ Geschäftig schob er mit dem Ellbogen den Bruder beiseite und übernahm wieder die Sorge für den Braten. Schweiker erhob sich, ließ den Kopf hängen und ging davon.

Eberwein saß in Sinnen vertieft und blickte mit träumerischen Augen über die sonnige Matte hinweg oder nieder in das Spiel der Wellen. Da klang vom höheren Bergwald her eine singende Mädchenstimme, hell und jauchzend. Eberwein hob lauschend den Kopf, schaute gegen den Wald hinauf und dann hinüber zu Eigel. Der Kohlmann nickte und deutete über die Schulter, als wollte er sagen. das ist sie schon, da kommt sie! Immer näher klang die Stimme, und die Worte des Liedes wurden verständlich:

„Ich hab’ ein’ trauten Liebgesell,
Heija!
Der ist als wie der Wind so schnell,
Heija!
Und wenn ich reit’ auf grüner Au,
In Wald und tiefen Klüften.
Zieht hoch er über mir im Blau
Und grüßt mich aus den Lüften.
Heia ho! Mein Edilo,
Mein weißgefleckter Falke!

Es lag sein Horst weiß nicht, wie weit,
Heija!
Doch kennt er nicht das Heimeleid.
Heijn!
Und fliegt er noch so hoch und frei,
Mein Wink beruft ihn schnelle;
So minnet er mich fest und treu,
Recht wie ein Trautgeselle.
Heia ho! Mein Edilo,
Mein weißgefleckter Falke!“

Ein heller Jauchzer endete das Lied. Das Knacken brechender Aeste ließ sich im Wald vernehmen, gedämpfter Hufschlag näherte sich, und zwischen weichendem Gezweig erschien der Rappe, welcher Wazemanns Tochter trug. Von der Trense des Pferdes troff der Schaum, und in weißen Flocken hing ihm der Schweiß an Hals und Flanken; eine braune Bärendecke mit niederbaumelnden Tatzen verhüllte den Sattel, auf welchem Recka ruhte; auf der einen Seite hing die Beute des Morgens, der Bartgeier, mit verwirrtem Gefieder und schwankenden Flügeln vom Sattelknopf herab, auf der anderen Seite stak in einem ledernen Köcher der kurze dickbesehnte Stahlbogen mit den gefiederten Pfeilen. In knappen Falten floß das graue Wollkleid, welches schmucklos die stolze schöne Gestalt umschmiegte, bis auf den Schuh hinab, an dem der silberne Stachel blitzte. Ein kleines grünes Käpplein mit einem Büschel zarter Reiherfedern bedeckte – nicht das Haupt, nur den Scheitel und verschwand fast unter dem üppigen Gelock des rotschimmernden Haars und zwischen den zausigen Ringeln, die um Stirn und Schläfe zitterten. Blätter und kleine Reiser hingen im Haar verstrickt, und das unhöfliche Gezweig des Waldes hatte dünne rote Linien auf die halbentblößten Arme gezeichnet. Auch über die eine Wange ging ein roter Strich, wie mit einer Nadel gerissen. doch er störte nicht die Schönheit des Gesichtes, sondern erhöhte nur den kühnen Ausdruck dieser Züge und stimmte so gut zu diesem trotzigen Mund und den dunkel blitzenden Augen.

Eberwein hatte sich erhoben und blickte halb verwirrt und halb in unmutiger Strenge auf das schöne Weib. Recka hatte, von dem Anblick der Mönche überrascht, jählings die Zügel des Pferdes angezogen; hastig glitten ihre Augen über die Gruppe der Männer, über die flackernden Feuer und über die Saumtiere, die auf der Matte weideten. Dann lachte sie. „Bei meiner Mutter Friderun! Sind die Untersberger Raben ausgeflogen? Oder –“ ihr Blick haftete auf Eberwein, „oder bist Du von den Kutten eine, die meinem Vater sein Land nehmen wollen? Mir meinen Wald, meine Jagd und meine Freude?“

Eine dunkle Röte färbte Eberweins Stirne. „Jagen magst Du, wo und wann es Dir beliebt. Der Wald ist frei und hat Wege für jedermann. Deinem Vater aber kann nicht genommen werden, was nicht sein eigen ist.“

„Nicht sein eigen?“ lachte Recka, als hätte sie einen guten Scherz gehört. „Haha! Mein Vater und meine Brüder werden die Ohren spitzen, wenn sie solche Weisheit hören!“

„Nie war Dein Vater dieses Landes Herr! Wer gab es ihm? Wer hat ihn belehnt mit diesen Bergen? Wo steht das Recht geschrieben, das er sich anmaßt?“

„In seiner Faust! Und laß Dich warnen, Mönch! Das ist eine Schrift, die noch keiner gern gelesen hat!“

Eberwein richtete sich auf. „Ich werde sie öffnen, diese Faust, und werde finden, daß alles in ihr geschrieben steht, nur nicht ein Wort des Rechtes. Nie war Dein Vater mehr als ein Diener seiner gräflichen Herrin, welche dieses Landes Geschick in die Hand der Kirche legte, in meine Hand. Ich komme nicht, um Deinen Vater zu verjagen; er mag, als mein erster Diener, auch fernerhin bleiben, was er gewesen, der Spisar dieser Landmark. Doch wird er sich der Ordnung fügen, die ich aufrichte. Gerechte Buße wird er leisten für jedes Unrecht, das er begangen, und dem Greuel und Laster ein Ende machen, das seine Söhne hinaustragen aus ihres Vaters Haus.“

Recka erblaßte; es schien, als wollte sie sprechen, doch sie fand nicht Worte, während Eberwein weiter sprach mit flammender Kraft der Rede. „Erkennen soll er, daß der Aermste in der Hütte mir wert ist als Gottes Geschöpf und meines Landes Kind, das meinen Schutz genießt und meine Liebe. Sicherer Friede und freundliches Glück soll gedeihen unter meinem Stab, und frohe Zeit soll Einkehr halten unter jedem Dach. Will Dein Vater mir helfen bei diesem Werk, dann soll mir sein Dienst willkommen sein. Doch leistet er mir Widerstand, krümmt er einem meiner Leute nur ein Haar, reißt er wider Recht nur einen Strohhalm von eines Bauern Dach – so ist er gewesen, was er war, ich lösche seinen Namen, und sein Wort und Wille soll in meinem Land ein Rauch sein, den der Wind verwehte. Bringe Deinem Vater diese Botschaft – das läßt ihm Eberwein Frymann sagen, der erste Propst im Berchtersgadem.“

Eberwein schwieg; die Knechte hinter ihm sahen sich mit erstaunten Gesichtern an, Schweiker machte zwei Fäuste und hing mit leuchtenden Augen an dem Pater, sogar Bruder Wampo hatte seines Amtes am Feuer so weit vergessen, daß der Braten eine verdächtig braune Kruste bekam. Eberwein fühlte seine Hand ergriffen – der Kohlmann kniete neben ihm. „Eigel,“ stammelte der Mönch, „steh’ auf, wir Menschen sollen nur knien vor Gott.“

„Nein, Herr, auch vor der Lieb’!“ Eigel erhob sich, und vor Eberwein zurücktretend mit einem Lachen, als wären ihm die Thränen nahe, murmelte er in seinen weißen Bart. „Wären nur alle da gewesen! Hätten’s nur alle hören können! Aber laufen will ich, was mich meine Füß’ tragen, und ausschreien will ich’s von Haus zu Haus!“ Er packte seinen Stab, und ohne zu denken, daß man seiner Dienste noch bedürfen könnte, eilte er quer durch den Wald davon.

Reckas Rappe trippelte mit bebenden Hufen und warf, knirschend die Trense beißend, immer wieder den Kopf empor – er hatte den Stachel gefühlt. Schwankend, mit dem Körper jeder zuckenden Bewegung des Pferdes folgend, saß Recka im Sattel, sie nagte an den Lippen, zornig blitzten ihre Augen und in ihrer Hand zitterte die Gerte, die sie im Wald gebrochen hatte. Dann lachte sie plötzlich, und während sie alle Kraft gebrauchte, um die Unruhe des Pferdes zu bändigen, rief sie Eberwein mit spottendem Klang der Stimme zu: „Das war wohl die erste Predigt, die Ihr in Eurem neugebackenen Sprengel gehalten, Herr Propst? Aber sagt mir doch … soviel ich weiß, gehört zu einem Propst ein Kloster wie zum Reiter ein Roß. Wo steht denn Euer Kloster? Ich seh’ es nirgends. Habt Ihr’s vielleicht in der Kutte stecken wie die Katze im Sack? Heraus damit! Ihr seht doch, wie mich die Neugier plagt!“

„Spotte nur,“ erwiderte Eberwein mit schwer erkämpfter Ruhe, „Du und die Deinen, Ihr werdet mein heiliges Haus noch sehen, sicher gebaut auf einen Fels. Noch steht es in Gottes Hand. Doch über Jahr und Tag soll die Glocke rufen von meines Klosters Dach, und ihre Stimme soll freundlich klingen allen Guten.“

„Ach so,“ unterbrach ihn Recka lachend, „und bis dahin werdet Ihr fasten und beten: ‚komm’ uns zu Hilfe, o Herr!‘ … und geduldig warten, bis der liebe Gott so gefällig ist und trägt Euch das Kloster auf der Hand herunter und stellt es hin auf das Flecklein, auf dem es Euch passen möcht’ – mitten hinein in meines Vaters Land.“ Sie lachte hell auf.

Da klang hinter ihr eine zornige Stimme von schneidender Schärfe. „Weh’ Dir, Du hast Gott gelästert!“

[26] Reckas Lachen verstummte, betroffen wandte sie das Gesicht, dabei am Zügel reißend, daß der Rappe sich bäumte.

Pater Waldram war unter den Bäumen hervorgetreten, eine hagere Mönchsgestalt, finster das Antlitz, die Lippen welk und erloschen, schlaff und fahl die Wangen und brennende Augen in tiefen bläulichen Höhlen. Er faßte das Kreuz, das an einer Schnur von Holzperlen an seinem Gürtel hing, hob es mit gestrecktem Arm empor und kam auf Recka zugeschritten. „Sieh dieses Zeichen an! Es ist das Zeichen des Gottes, der Dein frevelndes Wort gehört und der auf Dich sein Gericht herniederschicken wird mit flammenden Blitzen und stürzenden Bergen…“

Recka erhob die Gerte – doch mit beiden Händen mußte sie die Zügel fassen, um nicht die Herrschaft über das immer ungestümer sich gebärdende Pferd zu verlieren. Zornig rief sie: „Schafft mir diesen Narren weg, mein Pferd verträgt seinen Anblick nicht!“

„Schmähe nur!“ eiferte Waldram, „Du sollst noch erkennen, welche Weisheit in diesem Zeichen wohnt. Hier! Sieh’ es an und zittere! Seiner wirst Du gedenken an dem Tag, an welchem diese höllische Schönheit abfällt von Deinem Leib wie faulende Rinde vom Baum. In Ekel wird sich verwandeln jeder Reiz, mit dem Du mein Auge quälst, nach Dir greifen wird die rächende Hand und wird Dich niederziehen…“

Mit zuckenden Fingern griff Waldram nach Reckas Gewand, doch im gleichen Augenblick stand Eberwein an seiner Seite, den Arm des Eiferers umklammernd. „Mäßige Dich, Waldram! Du weißt nicht, was Du redest… und nicht, zu wem…“ Er konnte nicht weiter sprechen – mit beiden Händen mußte er Waldram hinwegreißen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von den schlagenden Hufen des scheuen Pferdes getroffen zu werden.

War es die Erscheinung und das Gebaren Waldrams gewesen oder das plötzliche Herbeitreten Eberweins, was die volle Wildheit des Pferdes entfesselt hatte… mit fuchtelnden Hufen, schäumend und mit schmetterndem Gewieher stieg es in die Luft, drehte sich im Kreis und flog mit tollen Sätzen hinaus in die Wiese. Die Saumtiere flüchteten ins Gebüsch, schreiend rannten die Knechte auseinander, und Bruder Wampo warf im ersten Schreck den Spieß mitsamt dem Braten über die Schulter und sprang in den Wald hinein.

Mit erblaßtem Gesicht, die Lippen eingekniffen, die Augen blitzend unter den gefurchten Brauen, saß Recka im schwankenden Sattel, mit dem Aufgebot aller Kräfte gegen die Wildheit des Pferdes kämpfend. Doch der Rappe schien Zügel und Stange nicht mehr zu fühlen. Bald mit zuckenden Hinterfüßen ausschlagend, dann wieder sich bäumend, bald mit vorwärtsstürmenden Sätzen, dann wieder mit jähen Seitensprüngen, raste das Pferd auf der Wiese hin und her; jetzt kam es dem Ufer zu nah, unter seinen Hufen wich der Grund – um nicht zu stürzen, sprang es in den Bach, tollte darin umher, daß Roß und Reiterin fast verhüllt wurden vom aufspritzenden Wasser – dann wieder stand es mit jähem Sprung am Ufer. Recka wankte im Sattel, ein leiser Schrei zitterte von ihren Lippen, und während sie schon zu sinken drohte, stürmte das scheue Pferd dem Wald entgegen.

Doch als es den Saum erreichte, dicht vor den ersten Bäumen, brach es jählings in die Kniee, als hätt’ es ein Blitzschlag niedergeworfen. Sigenot, der Fischer, den niemand kommen sah, hatte mit eisernem Griff die Zügel gefaßt. Nun that er einen Ruck mit der Faust – das Pferd erhob sich und stand, keuchend und zitternd an allen Gliedern. „Da bin ich zu rechter Zeit gekommen!“ rief Sigenot lachend zu Recka hinauf, welche den festen Sitz im Sattel wieder fand. „Sonst hätt’ es Dir gehen können wie König Davids Sohn, von dem mir der alte Hiltischalk erzählt hat, daß er mit dem Goldhaar hängen blieb an den Aesten …“

„Gieb die Zügel frei!“ stieß Recka mit bebender Stimme hervor, „ich dank’ Dir nicht für diesen Griff!“

Wie ein Wolkenschatten ging es über das sonnverbrannte, männlich schöne Gesicht des Fischers. Doch ruhig blickten die klaren lichtbraunen Augen zu dem Mädchen auf. „Ich hab’ nicht gefragt um Dank – ich hab’ ein scheues Roß gesehen und hab’s zur Ruh’ gebracht!“ Er ließ den Zügel fahren und trat zurück.

In zorniger Gereiztheit, ohne noch den Blick zu wenden, stieß Recka den Stachel in die Flanke des Pferdes. Keuchend machte das Tier einen Sprung und schoß davon, dem schmalen Wege folgend, der zwischen Bäumen verschwand. Vor dem Gezweig sich duckend, haschte Recka mit zurückgreifendem Arm das flatternde Haar und wand es um den Hals.

Verstummt, doch immer noch mit erhobenem Kreuz, stand Waldram da und starrte der Entschwindenden nach. Eberwein wandte sich zu ihm, eine Wolke des Unmuts auf der Stirn. „Ich wollte, Dein Uebereifer hätt’ uns diesen Auftritt erspart!“

Waldram ließ den Arm sinken, wandte langsam die Augen auf Eberwein, und ein trockenes Lächeln glitt über die welken Lippen „Sieh zu, ob Du Besseres wirkst mit Deiner Lauheit! Wir beide verstehen uns nicht – in Dir ist der Menschen Zweifel und Schwäche, in mir ist Gottes ewiger Zorn.“

„Darüber wollen wir nicht rechten,“ erwiderte Eberwein ernst. „Doch merke Dir, Waldram, ich will hier bauen, nicht zerstören!“

Wortlos, mit versteinertem Lächeln, kehrte Waldram sich ab und trat in den dunklen Schatten der Bäume.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 3, S. 37–43
[37]
4.

Sigenot hatte die Angelrute und das hölzerne Lägel, welches schwer war und von Wasser troff, von der Erde aufgenommen. Da stand Eberwein vor ihm. „Du bist Sigenot der Fischer?“

Sigenot nickte nur; seine Brauen zogen sich zusammen, sein Auge hing mit forschendem Blick an Eberweins Zügen. Bruder Schweiker kam herbeigegangen, neugierig mit gutmütigem Lächeln – der Fischer schien ihm zu gefallen.

„Ich habe schon gehört von Dir!“ sagte Eberwein. „Und Gutes! Hier, meine Hand zum Gruß!“

Sigenot rührte keinen Finger; es zuckte nur um seine Lippen, dann entgegnete er: „Ich biet’ meine Hand nur einem, mit dem ich gut bin. Von Dir weiß ich nicht: bist mir Feind oder Freund?“

„Ich bin aller guten Menschen Freund, also auch der Deine.“

Der Fischer schüttelte den Kopf. „Ich kenn’ Dich nicht, und bei mir macht eine linde Red’ noch keine Freundschaft.“

Schweiker bekam einen roten Kopf. „Laß Dir raten, Fischer: red’ ein lützel sanfter! Und nimm die Hand! Der sie Dir bietet, ist Dein neuer Herr!“

Sigenot trat einen Schritt zurück und maß den Bruder vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich versteh’ Deine Red’ nicht.“ Schweiker wollte erwidern, doch Eberwein legte die Hand auf seinen Arm und winkte ihm zu schweigen. „Wie kann da ein neuer Herr sein, wo kein alter gewesen ist?“ sagte der Fischer. „Ich sitz’ auf einem Haus, das nie gezinset und gesteuert hat, und die Fischenz ist mein freies Eigen – ich hab’ keinen Herrn.“

Lächelnd blickte Eberwein in Sigenots Augen. „Das mag ich nicht glauben, Fischer.“

„Ich sag’, ich hab’ keinen Herrn, und meine Red’ ist wie Stein.“

„So wär’ auch jener Dein Herr nicht, der aller Menschen Herr ist, alles Lebens Schöpfer und Erhalter – jener Eine dort oben?“

„Der?“ Mit sinnendem Blick hob Sigenot die Augen empor zum blauen sonnleuchtenden Himmel. „Wohl wohl, den laß’ ich mir schon gefallen als Herrn – wenn’s derselbig’ ist, den der alte Hiltischalk in der Ramsau meint. Aber ich glaub’ schier, es müssen Zwei sell droben hausen: dem Hiltischalk der seinig’ und der ander’ … derselbig’, den der Schwarze mit dem Kreuz gemeint hat.“ Sigenot winkte mit dem Kopf gegen die Bäume, in deren Schatten Waldram verschwunden war. „Derselbig’, der die Pferd’ scheu macht und die Weiber zornig, wenn von ihm gered’t wird, der gehört schon Euch – wenn ich denk’, ich müßt’ da droben einen Herrn haben, so halt’ ich zu dem, den der Hiltischalk meint. Und jetzt laß’ nach in Fried’, ich muß meiner Fischweid nach!“ Er nickte einen stummen Gruß, ließ die Angelschnur durch die Finger gleiten und schritt dem Ufer der Ache zu.

[38] „Ist das ein Lümmel, ein unguter!“ brummte Schweiker; aber es war in seinen Augen zu lesen, daß er den Fischer ungerne scheiden sah. „Soll ich ihn wieder holen?“ fragte er den Pater. Und ohne eine Antwort abzuwarten, rief er dem Fischer nach, der zwischen den Büschen verschwand. „He, Du, noch ein Wörtl …“

Doch Eberwein hielt ihn zurück. „Laß ihn! Um diesen zu gewinnen, bedarf es einer besseren Stunde.“ Er wandte sich ab, und seine Blicke folgten der Richtung, nach welcher Waldram gegangen war. „Sein erstes Wort …“ sprach er leise vor sich hin, „und schon liegt ein Schatten auf meinem hellen Weg!“

Schweiker stand noch immer inmitten der Wiese, mit seitwärts hängendem Kopf, und schaute in die Büsche, hinter denen Sigenot verschwunden war. Da hörte er Bruder Wampos Stimme. „He, Schweiker, komm her da, tummel’ Dich!“ Er ging zum Feuer, bei welchem sich Wampo nach dem überstandenen Schreck schon wieder häuslich mit Spieß und Braten eingerichtet hatte.

„Komm her, dreh’ noch ein’ Weil’, er wird bald gar sein. Ich hab’ ein Wörtl mit dem Fischer zu reden.“

„Du? Mit dem Fischer?“

„Ja. Sein Lägel hat Wasser …“ Wampo kniff die Augen ein und schnalzte mit der Zunge, „es muß auch Fisch’ haben!“ Mit beiden Händen hob er die Kutte und sprang über die Steine davon; hurtig durch die Büsche schlüpfend, erspähte er den Fischer, der gerade das Lägel niedersetzen wollte, um die Angel zu werfen. Geschäftig die Hände reibend, lächelnd und nickend, ging der Bruder auf ihn zu. „Gottes Segen über Dich, mein Sohn!“

Sigenot machte große Augen. „Was willst?“

Wampo zwinkerte, fast bis zu den Ohren verzog sich sein lachender Mund, und während er mit dem Fingerknöchel an das Lägel pochte, fragte er: „Hast heut’ schon was gefangen, mein Sohn?“

„Ich bin meines Vaters und meiner Mutter Sohn, nicht der Deinige. Aber gefangen hab’ ich, denn ich hab’ gefischt.“

„Gefangen? So? So? Schöne Fische?“

„Gering’ Zeug fang’ ich nicht!“

„Freilich, freilich, bist halt ein echter Fischer, gelt? Gefangen also? So? So? Laß doch einmal sehen.“ Wampo wollte nach dem Lägel greifen, aber Sigenot streckte die Angelrute vor. Seufzend legte der Bruder die Hände über das Bäuchlein und blickte den Fischer an mit Augen voll tiefer Kümmernis. Da mußte Sigenot lächeln. „So schau halt!“ sagte er und öffnete den Deckel des Lägels. Hurtig fuhr der Bruder mit der Nase bis dicht an die Lücke. „Ei, ei, ei, da wimmelt ja ein Buckel neben dem andern!“ Er richtete sich auf und sein Gesicht strahlte. „Jetzt sag’, mein Sohn ....“ Da erinnerte er sich der abweisenden Rede Sigenots. Zutraulich klopfte er ihn auf die Schulter. „Schau, von mir kannst Dir’s schon gefallen lassen, daß ich Dich so heiß’! Bin ich nicht so alt, daß ich Dein Vater sein könnt’ … und bist Du nicht so jung, wie mein Bub’ wohl sein möcht’, wenn ich einen hätt’? Gelt, ja? Also, jetzt sag’, mein Sohn, wie wär’ denn das’ wenn Du mir für Gottes Lohn und freundlichen Dank von Deinem Fang ein paar Schwänzlein ablassen thätst? Hm?“

„Fisch’ willst haben? Das hättest kürzer auch sagen können.“

„Kurz oder lang … was meinst dazu?“

„Nichts mein’ ich!“ sagte der Fischer lächelnd; je länger er den Bruder betrachtete, desto fröhlicher wurde sein Gesicht. „Auf die Fisch’ da wartet Herr Waze, ich hab’ ihm die Ferchen zugesagt zum Mahl auf die Nacht.“

„Herr Waze? Ei, ei, ei!“ Wampo spitzte die Lippen wie zum Pfeifen. „Herr Waze? Von dem hab’ ich schon gehört! Der also, der soll die schönen Fisch’ alle haben zum Mahl auf die Nacht? Aber schau, wir haben ein Mahl zu Mittag … und haben nichts dazu als einen großen Hunger und ein kleines Stückl Fleisch. Und Mittag kommt vor Abend, Mittag ist jetzt! Also, thu’ eine gescheite Red’, sag’ Ja!“

„Du red’st Dich aber leicht! Wer bist denn eigentlich?“

„Wer ich bin?“ Wampo legte die Hände ineinander. „Ich bin der gute fromme Bruder Wampo, ein braver Knecht der Kirche.“ Breit legte der Bruder die Hände auf den Gürtel und machte die freundlichstem Aeuglein, die er zustande brachte. „Schau mich an, Fischer … wenn ich Dich gar schön bitt’, kannst da noch Nein sagen?“

„So nimm halt!“ lachte Sigenot. „An mich hat noch keiner eine Bitt’ umsonst gethan.“ Er drehte das Lägel um, und mit einem dicken Wasserguß flossen an die zwanzig der herrlichsten Forellen in das Moos und hüpften silberschimmerig durcheinander.

Bruder Wampo wußte nicht mehr, wohin er mit seinen Händen greifen sollte. „Ei, ei, ei!“ Das war der ganze Ausdruck seiner Freude. Er sah nicht, daß Sigenot sich lachend entfernte, und dachte nicht an Gruß und Dank. Mit beiden Knien warf er sich auf die Erde nieder, höhlte die Kutte zu einem Sack, und schlipp, schlupp, verschwanden die zappelnden Fischlein eines nach dem andern in seinem Schoß. Dann sprang er auf, rannte dem Feuerplatz entgegen, und breit vor Eberwein sich aufpflanzend, mit strahlendem Gesicht, zog er eine pfündige Forelle aus der Kutte und rief lachend. „Schauet, Herr, das ist die erste Steuer, die unser Kloster gehoben hat im Berchtersgadem.“

Eberwein lächelte, und hinter ihm ließ sich eine rauhe Stimme vernehmen. „Ein guter Anfang! Nur lustig fortgehoben! Und wohl bekomm’ Euch, was Herr Waze und seine Buben noch übrig gelassen!“ Während Bruder Wampo hurtig zum Feuer rannte, um die Forellen ihrem Schicksal zu überliefern, ließ sich der Sprecher dieser Worte, ein stämmiger Kriegsmann, neben Eberwein auf einen Steinblock nieder. Es war Herr Friedrich von Haunsperg, der erzbischöfliche Kastellan der Salzaburg. Ein grauer Spitzbart verlängerte das harte knochige Gesicht, darin zwei graue scharfblickende Augen funkelten; am Gürtel trug er ein breites Schwert, einen Dolch an eisernem Kettlein, und unter dem grüngefärbten Lederwams klirrte das Ringhemd. „Ich bin um Euretwillen schön in die Irre geritten,“ sagte er lachend zu Eberwein. „Draußen beim Rotemannsbach wurde mir das Warten zu lang, ich wollt’ Euch ein Stücklein den Berg hinauf entgegenreiten, im dichten Gehölz hab’ ich den Pfad verloren, und wär’ der Knecht nicht gekommen und hätt’ nach mir geschrien wie ein Jochgeier, wer weiß, ob ich den Weg so bald wieder gefunden hätt’.“

„Ich beklage die Uebermüh’, die ich Euch durch mein Zögern verursacht habe,“ sagte Eberwein. „Doch wüßtet Ihr, was alles ich erfahren und gesehen – Ihr würdet mich entschuldigt halten.“

„Entschuldigt seid Ihr für alle Fälle. Aber nun leget los, Herr Pater … oder …“ Die Augen des Kastellans wurden kleiner, und über seine schmalen Lippen zuckte ein kaum merkliches Lächeln, „oder muß ich schon sagen: Herr Propst? Also, erzählet, wie hat Euch das Ländlein gefallen, das Ihr Euch angesehen von oben herab?“ Eberweins Augen leuchteten; er hatte kein Ohr für den versteckten Spott dieser Worte, und in fließender Rede begann er zu erzählen …

Inzwischen schaffte Bruder Wampo drüben am Feuer mit brennendem Eifer und blitzschnellen Händen; bald sprang er zum Bratspieß, bald wieder zum Kessel, in welchem er die Forellen sott. Dabei wußte er für jeden der Knechte ein Geschäftlein; sie mußten durcheinandersurren wie die Hummeln. „Schwitzet nur, heut’ hab’ ich noch gute Zeit!“ kicherte Wampo. „Steht die Klaus’ einmal, dann muß ich alles selber schaffen!“

Nah im Walde klangen wuchtige Beilhiebe; Bruder Schweiker hantierte mit der Axt, und wo er hinschlug, sprangen die Splitter und sanken die jungen Bäume. Nach einer Weile kam er, ein Dutzend dicker Stangen auf dem Rücken schleppend; vier trieb er in den Grund und legte über die Stangen eine Felsplatte als Tisch; daneben errichtete er zwei kleine Bänke. Als sein Werk zu Ende gediehen war, kam Bruder Wampo herbeigeschossen, deckte den Tisch, brachte eine hölzerne Platte mit Fisch und Braten herbei und lief dann, um die Herren zu rufen, die er in heftigem Gespräche fand, auf Eberweins Zügen brannte die Erregung und Herr Haunsperg schien übler Laune zu sein. Der Bruder machte eine Verbeugung, die einem Koch des herzoglichen Hofes zur Ehre gereicht hätte, und sagte: „Das Tischlein ist gedeckt, wohl bekomm’s den Herren!“

Herr Haunsperg sprang auf. „Das erste gescheite Wort, das ich höre!“ Und zu Eberwein sich wendend, meinte er lachend: „Kommt, Pater, lassen wir jetzt die Zungen ruhen und dafür die Zähne arbeiten!“ Er ging zum Tisch.

„Wo ist Waldram?“ fragte Eberwein.

Bruder Wampo rannte davon, daß die Kutte flatterte. Nach kurzer Weile kam er zurück und schüttelte gar bedenklich den Kopf. „Ihn hungert nicht, hat er gesagt – ihn speiset die Gnade Gottes.“

[39] Schweigend wandte sich Eberwein zum Tisch, faltete die Hände und sprach mit leisem Flüstern das Gebet. Herr Haunsperg lächelte kühl, doch er entblößte das Haupt. Auch die Brüder und mit ihnen die Knechte standen betend abseits. Man hörte nur das Murmeln der Ache, das Knistern des erlöschenden Feuers und die sachte Plauderstimme, die der leichte Windhauch in den Wipfeln der Bäume weckte. Dann saßen sie alle und aßen; die Herren am Tisch, Schweiker und Wampo neben dem Feuer, die Knechte tiefer im Wald. „He, Bruder!“ rief Herr Haunsperg. „Mich dürstet, gieb zu trinken her!“

Wampo lief und kam mit einer schweren Bitsche. Herr Haunsperg öffnete den Deckel. „Wasser? Damit bleib’ mir vom Leib, Bruder! Laß Wein anfahren! Ich hab’ doch bei der Ladung ein Fäßlein gesehen. Zapf’ an!“

Bruder Wampo machte ein verlegenes Gesicht, und hustend schielte er nach dem Pater. „Der Wein ist für Gottes Tisch bestimmt,“ sagte Eberwein. „Ach so,“ brummte Herr Haunsperg und hob die größte Forelle von der Platte.

Der Bruder kehrte zum Feuer zurück und nahm die unterbrochene Arbeit seiner Zähne wieder auf. Als die letzte Forelle und das letzte Restlein des Bratens verschwunden war, wischte er die Finger über die Kutte und seufzte.

„Was hast denn?“ fragte Schweiker.

„Ach, Bruder, mir schwant, als hätten wir heut’ auf lang’ hinaus zum letztenmal gegessen, wie’s einem Menschen wohlthut – mir schwant, als käm’ eine böse Zeit für uns!“

Lächelnd zuckte Schweiker die Schultern. „Es kommt halt, wie Gott will! Thu’ Dich trösten, Bruder, und laß den Mut nicht sinken! Laß uns gut und fromm bleiben und laß uns fest halten am lieben Herrn – so schickt er uns wohl in der höchsten Not einen Engel mit Himmelsbrot.“

Bruder Wampo seufzte abermals.

„Himmelsbrot!“ Schweikers Augen blickten träumend ins Blau. „Ich wär’ mit einem Bröserl schon zufrieden. Das thät’ bei mir reichen fürs ganze Leben.“ Leise, als spräche er die Worte eines anderen nach, mnrmelte er vor sich hin: „Wer gespeiset aus Gottes Hand, wer gegessen des Himmels Brot, siehe, der fühlt sein Herz erhoben in Freud’ und reiner Süßigkeit, ihn quälet nimmer Sorg’ und Kummer, und seine Seel’ ist voll des Glückes, das ihr Gott gegeben!“ Er atmete tief, und langsam strich er mit der schwieligen Hand über die Stirne.

Wampo sah ihn von der Seite an; dann erhob er sich, um den Tisch der Herren zu räumen, welche ihre Mahlzeit beendet hatten. Solange der Bruder zugegen war, schwieg das Gespräch; dann sagte der Kastellan mit kühlem Lächeln. „Ich will Euch meinen Rat nicht aufdrängen, aber wenn Ihr ebenso klug seid als fromm, dann richtet Ihr Euch nach meinen Worten. Ich kenne Herrn Waze. Er ist nicht besser und nicht schlechter als alle sind, die an solcher Stelle sitzen. Sein Graf war immer weit und hat sich um Land und Leut’ im Gadem den Teufel gekümmert.“

„Ihr redet derb, Herr Haunsperg!“ mahnte Eberwein in mühsam bekämpfter Erregung.

„Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich wollte nur sagen: Herr Waze hat in seiner Einöd’ nie einen Druck von oben gespürt, und das hat ihn übermütig gemacht. Ich rate, findet Euch im guten mit ihm ab! Ueber die vierzig Jahre sitzt er als Spisar im Berchtersgadem …“

„Und das ist sein einziges Recht?“

„Ihr meinet, nach dem Landgesetz? Wenn ich die Wahrheit sagen soll – ja! Aber muß denn ein Recht immer ein geschriebenes sein? Das Herkommen, Pater, wenn es graue Jahr’ auf dem Buckel hat, ist auch ein Recht – und das hält oft besser als Eure geschriebenen Gesetze.“

„Ich will das Recht des Herkommens, auf das sich Herr Waze stützen mag, nicht verneinen. Ich hab’ es heute schon einmal gesagt, er soll in meinem Lande sein, was er bisher gewesen, er soll seinen gerechten Teil haben an Zins und Steuer und den Wildbann will ich ihm nicht beschränken. Doch soll er meinem Land ein guter Walter sein, nicht ein Wolf in der Herde.“

Herr Haunsperg verzog die Lippen. „Ach was, Wolf! Wen reißt er denn am Fell? Den Bauer! Mit Euch wird er zechen und jagen!“ Eine dunkle Röte flog über Eberweins Züge. „Mich lüstet nicht nach solcher Kurzweil. Mag Herr Waze Unbill über Unbill wider mich begehen, ich will es dulden. Aber das Wohl meiner Bauern, die Unschuld und das Recht in meinem Land werd’ ich vor ihm und seinen Söhnen zu wahren wissen.“

„Man merkt Euch an, Herr Pater, daß Ihr noch niemals Land und Leute in der Hand gehabt! Sonst würdet Ihr anders reden und den Bauer ein wenig billiger schätzen. Aber ich hab’ keine Sorg’ um Euch! Werdet nur erst warm auf dem Herrensessel und Ihr werdet bald hinter das Sprüchlein kommen: Bauernbutter ist Herrenfutter! Ich erleb’s noch!“

„Das glaub’ ich kaum, Herr Haunsperg, und wenn Euch der Himmel auch Methusalems Alter schenkt!“

„Dafür wär’ ich dem Himmel dankbar. Aber genug jetzt! Ich hab’ Euch meinen Rat gegeben, Ihr schlagt ihn in den Wind – über Jahr und Tag wollen wir uns wieder sprechen. Ich meine, Ihr werdet bald dahinterkommen, wie mit Herrn Waze am besten zu fahren ist. Mit Gewalt geht’s nicht, ich sag’s Euch noch einmal voraus!“ Herr Haunsperg lachte spöttisch. „Und ich meine, gerade Ihr hättet die geringste Ursache, seine Art zu schelten. Denn hätten die im Grafengadem nicht seit lang’ gespürt, wie schlecht sich mit Herrn Waze die Kirschen essen, so hätte Frau Adelheid von Sulzbach das fromme Gelübde ihrer Mutter wohl kaum erfüllt.“

Auf Eberweins Lippen schien ein zorniges Wort zu liegen; doch es wurde nicht laut. Ein tiefer Atemzug schwellte die Brust des Mönches, und ruhig klang seine Stimme: „Ihr redet übel, Herr Kastellan, und Euer bischöflicher Herr möchte solche Rede mit Zürnen vernehmen.“

„Meint Ihr?“ war die lachende Antwort.

„Ihr habt so scharfblickende Augen! Aber wie trüb und unklar sieht Euer Blick in dieser Sache! Wollten die frommen Frauen dem Himmel eine Freude machen, welch ein besseres Geschenk hätten sie wählen können als gerade dieses unwirtbare Thal mit seinen armen, von Unrecht und Gewalt bedrückten Menschen, denen noch kaum ein Schimmer des Heils geleuchtet, denen vom Brot des Himmels nur verstreute dürre Brosamen zugefallen sind. Daß zwischen dieser Menschen Hütten ein Gotteshaus sich erheben möchte, von dessen kreuzgeschmücktem First das Licht hinausstrahlt in die Dunkelheit, einen neuen freundlichen Tag erweckend – das, Herr Haunsperg, war der fromme Sinn der Schenkung, welche das Schicksal dieses Landes in meine Hand gelegt.“

„Gut, Herr Pater! Reichet das Himmelsbrot mit vollen Händen – Ihr scheint ja Ueberfluß zu haben. Ich meine nur, es wird Euch die Erfahrung nicht erspart bleiben, daß Eure neuen Herzenskinder den gewohnten Sterz und Sauerkäs besser vertragen als Euer feines Klostergebäck!“ Herr Haunsperg blickte nach der Sonne. „Die Zeit verrinnt, wir müssen an den Aufbruch denken.“

„Für diese Mahnung dank’ ich Euch! Wir haben mit Reden eine kostbare Stunde verloren. Ich könnte das offene Thal schon erreicht haben und Ihr auf dem Heimritt schon das Walser Feld.“

Betroffen blickte der Haunsperger auf. „Was heißt das? Ich reite mit Euch und wähle den Platz, auf dem die Klause stehen soll.“

„Ich danke für Euer Geleit. Reitet heim, Herr Kastellan, ich wähle selbst!“

„Das geht nicht an, Pater! Ihr seid ein Fremder im Land. Und mein Bischos will …“

„Hier gilt mein Wille!“ unterbrach Eberwein die grobe Rede; stolz richtete er sich auf. „Es ist mein Land, auf dem wir stehen.“

Dem Kastellan blieb das Wort in der Kehle stecken; mit eingekniffenen Augen maß er die Gestalt des Mönches. Dann lachte er „Ach so!“ und wandte sich gegen den Wald „He, Ruppert!“ Einer der Kriegsknechte kam gelaufen. „Die Pferde her! Wir reiten heim!“ Ohne Gruß und Abschied folgte Herr Haunsperg dem Knechte. Eberwein legte die Hände auf die Brust und atmete, als hätte er eine drückende Last von sich abgewälzt. „Bruder Schweiker!“ rief er. „Laß die Saumtiere beladen, wir brechen auf!“

Ein geschäftiges Treiben begann. Eberwein selbst überwachte die Ladung und griff mit kundigen Händen zu.

Herr Haunsperg war zu Pferd gestiegen; als er unter den Bäumen hervorritt auf den offenen Weg, trat ihm Waldram entgegen. Vom Pferd herunter reichte ihm der Kastellan die Hand. „Lebt wohl, Pater, wir reiten heim!“

[40] Waldram furchte die Brauen. „Seid Ihr schon müd’ geworden im Dienste Gottes?“

„Ich und müde?“ Herr Haunsperg lachte. „Wenn Ihr mich ungern scheiden seht, so müßt Ihr mit dem Propst vom Berchtersgadem rechten. Ihm ist der ‚Herr‘ zu Kopf gestiegen wie junger Wein – er hat mir bedeutet, wo die Grenzen seines Landes liegen.“ Der Kastellan gewahrte den finsteren Blick, der aus Waldrams Augen zu Eberwein hinüberfunkelte; er neigte sich im Sattel und dämpfte die Stimme. „Er ist mit dem Herrenspielen flink bei der Hand, Euer Propst, das werdet auch Ihr noch fühlen!“

„Ich werde tragen, was Gott mir auferlegt.“

„Eurer Frömmigkeit alle Ehre, Pater! Aber ich meine fast, die frommen Väter zu Raitenbuch hätten besser wählen können.“

„Sie wählten, wie es ihnen gut schien,“ sagte Waldram mit verlorenem Blick.

„Freilich, freilich! Aber ich rede, wie mein Bischof redet. Er hat Euch liebgewonnen, Pater! Gestern vor Schlafengehen sagte er zu mir: ‚Wenn ich zu walten hätte in dieser Sache – und wer weiß, ob die Zeit nicht kommen wird – dieser Waldram hätte mein Vertrauen! Ist das ein Mann! Göttliche Glut jeder Gedanke, göttliche Kraft jedes Wort!‘ Ja, Pater, so sagte er.“

Waldram schwieg; aber eine dünne Röte färbte seine bleichen Wangen, und heißer brannten seine Augen. Herr Haunsperg lächelte. „Ich weiß, Euer frommes Gemüt kennt die Eitelkeit nicht. Doch die Meinung meines hohen Herrn soll Euch Freude machen und Euren Mut heben. Ihr geht einem schweren Kampf entgegen. Und wann bei Eberwein die gähe Hitze verflogen ist, und es kommt bei ihm die Zeit der ratlosen Schwäche …“

Waldram hob mit geballten Fäusten die hageren Arme. „Dann will ich ihn stützen mit meiner Kraft.“

„Das ist ein Wort! Und nun lebt wohl, Pater; Ihr habt mich guten Mutes gemacht!“

„Gottes Geleit auf Euren Weg! Und bringet Eurem Herrn den Gruß seines frommen Knechtes!“

„Das will ich, Pater! Gott befohlen!“ Herr Haunsperg gab dem Pferd die Sporen und folgte den beiden Knechten, die schon ein gut Stück Weges vorausgeritten waren. Bei einer Wendung des Pfades blickte er noch einmal zurück und lächelte. „Geht nur! Rodet und pflanzet, pflüget und säet … wenn die Aehren stehen, komm’ ich wieder und lege meines Herrn große Hand auf Euren Schweiß.“




5.

Hochbeladen standen die vier Saumtiere inmitten der Wiese, jedes von einem Knecht am Leitzaum gehalten. Bruder Wampo, schon den Stab in der Hand, machte ein verdutztes Gesicht, als er den Kastellan davonreiten sah. Er trat zu Eberwein. „Der Haunsperger reitet heim nach der Salzaburg? Wer soll uns denn führen jetzt?“

„Eigel, der Kohlmann. Wo ist er?“

Keiner wollte ihn gesehen haben. Wampo und Schweiker riefen den Namen des Alten nach allen Richtungen, umsonst, es ließ sich keine Antwort hören. „Er ist nimmer da, Herr,“ jammerte Wampo, „jetzt hat uns der auch noch sitzen lassen, der weißhaarige Tropf!“ Aus Eberweins Augen traf ihn ein vermahnender Blick. „Verzeihet das schieche Wort, Herr,“ stotterte der Bruder, „es ist mir halt so herausgerutscht! Aber wer soll uns denn führen jetzt?“

„Einer, ohne dessen Wissen kein Schritt geschieht. Es liegt der offene Weg vor uns, wir wollen ihm folgen.“

Die Fahrt begann, Eberwein aber stand noch, den Stab in der Hand, und wartete auf Waldram; als der Pater kam, hafteten Eberweins Augen mit sorgendem Blick an dem bleichen Gesicht des Mönches. „Waldram, erzählte Dir der Haunsperger, daß wir in Unmut schieden?“

„Nein!“ sagte Waldram mit kaltem Wort und schritt vorüber.

Ein bitteres Lächeln glitt über Eberweins Lippen. Er wollte langsam folgen. Da stockte schon der Zug, und von der Spitze her hörte man die lauten Stimmen Wampos und Schweikers. „Herr, wir wissen nimmer weiter,“ sagte der letztere, als Eberwein hinzutrat, „da scheidet sich der Weg! Welcher ist der richtige?“

Man fragte die Führer der Saumtiere; sie waren Salzaburger Leute, doch keiner von ihnen hatte den Berchtersgadem je betreten. Eberwein lauschte nach der Richtung, aus welcher das Gemurmel der Ache sich hören ließ, und spähte in das dichte hohe Gestrüpp, das jeden weiteren Ausblick verwehrte. Schweiker zupfte ihn am Aermel und flüsterte: „Herr, ich mein’, wir müssen nach links hinaus. Dort auf der Linkseit’ geht eine Furt durchs Wasser.“

Eberwein nickte, und der Zug setzte sich nach der Linken in Bewegung. Sie erreichten die Ache und überschritten den Bach in seichter Furt. Zwischen hohem dichten Gestrüpp von Erlen und Weiden wand sich ein schmaler Pfad; der Boden war feucht, und zuweilen sperrten trübe Pfützen den Weg. Eine Stunde währte die Wanderung; es wurde immer schwieriger, einen Pfad noch zu unterscheiden, denn häufiger und dichter traten die Büsche aneinander, so daß nur schmale Lücken verblieben, durch welche die Saumtiere mit ihrer Ladung sich nur mühselig hindurchzwängten. Und schließlich verschwand jede Spur eines Weges.

Waldram, der den Zug geführt, stand eingekeilt zwischen wirrem Gezweig und suchte sich vorwärts zu kämpfen. Bald versagten seinem erschöpften Körper die Kräfte. Wo er stand, ließ er sich niedersinken. Eberwein drang zu ihm. „Was ist Dir? Hat eine Schwäche Dich befallen?“

Bleich und zitternd richtete Waldram sich auf. „Geh’! Ich habe Dich nicht gerufen zu meiner Hilfe!“ Er faßte das Kreuz an seinem Gürtel und warf sich in die Büsche.

Eberwein hielt ihn zurück. „Ich bitte Dich, Waldram, bleib’ und raste! Wir wollen den verlorenen Pfad wieder suchen.“ Er wandte sich um und rief die beiden Brüder; der eine sollte nach rechts, der andere nach links durch das Buschwerk dringen, er selbst gedachte in gerader Richtung zu suchen.

Bruder Wampo seufzte, blies die Backen auf und fuhr mit dem Kuttenärmel vom Nacken bis zur Stirn. „In Gottes Namen!“ murmelte er und begann, den einen Arm als Wehr über das Gesicht haltend, sich zwischen dichtem Gezweig hindurchzuwinden. Es war eine harte Arbeit, durch Geschling und Ranken und Sumpf sich durchzuarbeiten. Endlich gewahrte er im Schlamm Spuren von Dritten. „Da müssen doch Leut’ gegangen sein! Oder Küh’? Oder Geißen?“ Seufzend schüttelte er das runde, von Tropfen überronnene Köpflein und arbeitete sich weiter. Wieder geriet er in Sumpf und rettete sich auf einen Stein, der wie eine kleine weiße Insel aus dem Schlamm hervorragte. Aber wie nun weiter? Aus einem Wuste dürrer Blätter lugte ein schwarzer Klotz – es war wohl ein vermoderter Baumstrunk? Mit beiden Händen faßte Wampo zwei hängende Aeste und gab sich einen kühnen Schwung. „Hopsa!“ Glücklich erreichte er mit den Füßen den Klotz – aber das schwarze Ding unter ihm wurde jählings lebendig, sprang auf und rannte grunzend davon, während Bruder Wampo rücklings niederpurzelte in den Schlamm, Arme und Füße in die Höhe streckte und mit zeternder Stimme schrie. „Rette mich, Herr – unter mir thut die Höll’ sich auf und will mich schlingen! Hilfe! Hilfe!“

Da ging ein Rascheln, Knacken, Surren und Grunzen los in allen Büschen, überall ward es lebendig unter den welken Blättern, und nach allen Richtungen stoben die aus ihrem Mittagsschläfchen aufgescheuchten Wildschweine durcheinander in wirrer Flucht, mit breiten borstigen Rücken und dicken Köpfen, Alte und Junge. Schreiend raffte Wampo sich auf und überkollerte sich wieder … zwei Frischlinge waren ihm zwischen die Beine gefahren. Quieksend rannte das eine Tierchen davon, während Wampo mühsam sich aufrichtete, triefend von Schlamm. Im fernen Gebüsch verstummte das Brechen und Rauschen, und der Bruder stand da, zum Himmel aufblickend, mit seitwärts gestreckten Armen und gespreizten Fingern. „Herre, Herre! Deine Straf’ hat flinke Füß’ … schön hast mich eingetaucht für meine Sünden!“ Da rührte sich etwas vor seinen Füßen, ein ganz klein wenig nur, dann war’s wieder ruhig. Mit starren Augen blickte Wampo zu Boden und sah eine behaarte Ohrmuschel aus dem Schlamm hervorlugen. „Ei, ei, ei!“ stotterte er, griff mit beiden Händen zu und hob einen Frischling auf, den er im Sturz erdrückt hatte mit seines Leibes Gewicht. Nur einen Augenblick besann er sich, dann schwang er das Tierchen hurtig über die Schulter. „Das giebt einen guten Braten auf die Nacht!“ Und freundlich zwinkerte er zum Himmel auf. „Er schickt halt doch mit aller Not auch allweil einen Trost!“

Es rauschte in den Büschen. „Bruder, Bruder!“ klang die [42] Stimme Eberweins, der mit zwei Knechten kam, von Wampos jammervollem Geschrei herbeigerufen. Es hatte weithin durch Gebüsch und Wald geklungen.

Auch bis an Schweikers Ohr. Der hatte in lichterem Gebüsch einen Hügel erstiegen, als er das Geschrei vernahm. In Besorgnis lauschte er und wollte schon zurückkehren, da hörte er das laute Gelächter der Knechte und meinte: „Hat’s ein Unglück gegeben … arg kann’s wohl nicht sein, wenn die Leut’ so lachen mögen!“ Und beruhigt schritt er weiter. Immer lichter standen die Büsche auf dem steiler werdenden Gehänge, über das er emporstieg. Er hoffte, eine Höhe zu erreichen, die ihm einen freien Ausblick über das dicht bewachsene Thal gewähren möchte.

Da hörte er vom höheren Hang herab einen Jodelruf, der hell und rein wie ein Geigenstrich über das Thal hinweg klang, und dann setzte eine helle Mädchenstimme mit einer Weise ein, so flink und munter, so leicht und gaukelnd wie ein Schmetterling über sonniger Wiese:

„Ein Wassert, ein hell’s,
Huliö dilio,
Ein lustig’s und schnell’s,
Huliö dilio,
Das treibet im Bacherl
Die Steiner und Fels’,
Huliö dilijuchhaha ho!

Ein Trumm, so ein Glach[6],
Huliö dilio,
Liegt mitten im Bach,
Huliö dilio,
Der stemmt sich und wehrt sich
Und giebt nimmer nach,
Huliö dilijuchhaha ho!

Das Wasserl, das hupft,
Huliö dilio,
Und grabelt und schupft,
Huliö dilio,
Geh’ weiter! Kommst wieder,
So hat’s ihn derlupft,
Huliö dilijuchhaha ho!

Und da liegt er im Eck,
Huliö dilio,
Thut nimmer so keck,
Huliö dilio,
Ein Wasserl, ein richtigs,
Bringt alles vom Fleck,
Huliö dilijuchhaha ho!“

Dem Klang der singenden Stimme folgend, hatte Schweiker den Saum der Büsche erreicht und einen freien, von Geröll halb überschütteten Hang betreten. Da stand er nun, machte einen schiefen Kopf und riß die blauen Augen auf. Das heitere Lied und die fröhliche Weise, der frische jugendliche Laut der Stimme, über ihm die warme Sonne und der helle Himmel, und noch irgend etwas in ihm selbst … das alles hatte in Schweiker die Erwartung eines freundlichen Anblicks erweckt. Und was fand er? Im spärlichen Schatten eines kümmernden Dornstrauchs saß eine kleine schmächtige Gestalt, mit einer grauen Kotze dürftig bekleidet. Wie von einem Reisigbüschel war der Kopf von wirrem dick verfilzten Haar umstarrt, das keine Farbe zu haben schien. War es blond, braun oder grau? Und das Gesicht, war es hübsch oder häßlich? Schweiker grübelte, aber eine Lösung dieser Frage wollte ihm nicht gelingen. Denn Gesicht und Arme des Mädchens, alles an ihm, was die Kotze zu sehen gab, war dick überkrustet von veraltetem Schmutz. Neben dem Mädchen lag ein zottiger Geißbock und hielt den bärtigen Kopf mit dem krummen Gehörn an die Hirtin angeschmiegt; weiter draußen auf dem Hang, zwischen sonnigem Geröll, weideten vier gefleckte Ziegen.

Langsam hatte sich die Hirtin erhoben; sie schien erschrocken, denn der Stecken in ihren Händen zitterte, und die Augen waren weit aufgerissen, daß man rings um die Sterne das Weiße sah.

„Grüß’ Dich Gott, Kindl!“ sagte Schweiker und streckte zum Gruß die rechte Hand hin. Aber die Hirtin stand nur und zitterte und schaute. „Grüß’ Dich Gott, Kindl!“ wiederholte Schweiker und machte ein Gesicht, so freundlich, als er es mit aller Müh’ zuwege brachte. „Grüß’ Dich Gott!“ Die Hirtin schwieg. „So gieb mir den Gruß doch heim!“ Keine Antwort. „Aber so red’ doch! Mußt ja doch reden können … ich hab’ Dich ja singen hören.“

Keine Antwort.

Schweiker kraute sich hinter den Ohren. „Da muß ich halt selber schauen, wo ein Weg geht.“ Einen stummen Blick noch warf er auf den sprachlosen Schmutzfleck, schüttelte den Kopf und stieg über den freien Hang hinauf. Langsam drehte die Hirtin das Gesicht und folgte jedem Schritt des Mönches mit staunenden Blicken. Nun stand er, auf seinen Stab gestützt, in heller Sonne; sein Haar und Bart schimmerte wie Silber. Lauschend spähte er in das Thal hinunter, hörte die Stimmen Wampos und der Knechte, und am Schwanken der hohen Buschwipfel erkannte er die Stelle, an der sie sich befanden. Nun sah er auch, daß ein Ausweg aus dem Gestrüpp nicht schwer zu finden war. Schief gegen den ansteigenden Hügel mußte der Zug sich halten; so konnte man eine kleine Blöße erreichen, von welcher ein deutlich sichtbarer Weg hinausführte gegen einen lichteren Hochwald. Dem freien Hang, auf welchem Schweiker stand, lag dieser Wald noch näher; so dachte er, daß es am besten wäre, wenn er durch den Wald hinunterstiege und seinen Leuten auf dem Weg entgegenkäme, den sie zu nehmen hatten. Kaum hatte er die ersten Bäume erreicht, da hörte er hinter sich ein Knacken und Brechen, als er sich umblickte, stand die Hirtin vor ihm, und die Ziegen kamen ihr nachgerannt.

Schweiker lachte, spreizte den Stab vor sich hin und legte das Kinn auf die Hände. „Ja Kindl, warum laufst mir denn nach?“

„Hast ’was fragen wollen?“ sagte die Hirtin mit hellem und weichem Stimmlein.

„Schau, schau, jetzt kannst ja auf einmal reden! Aber was ich hab’ fragen wollen, weiß ich schon.“ Der Struwwelkopf senkte sich, und die grauen Hände drehten den Stecken. „Aber sag’, Kindl, wer bist Du? Und wie heißt Du denn?“

„Hinzula heiß’ ich.“

„Uuh! Das ist aber ein schöner Nam’! Der gefallt mir besser als …“ Schweiker hatte sagen wollen: „besser als Du“, doch er verschluckte das Wort. „Und wem gehörst denn, Kindl?“

„Dem Greinwalder.“

„Und wo hauset denn der?“

„Sell droben,“ sagte die Hirtin und deutete mit dem Stecken durch den Wald hinauf.

„Gelt, Kindl, hast wohl keine Mutter nimmer?“

„Freilich hab’ ich eine. Warnm fragst denn so …“ Jetzt verschluckte sie ein Wort.

„Ich hab’ halt gemeint … weißt … sag’, Kindl, wie lang’ hast Dich denn nimmer gewaschen?“

„Vier Jahr’,“ sagte sie, so kurzweg, als wäre das eine selbstverständliche Antwort.

Bruder Schweiker brach in helles Gelächter aus. Die Hirtin schien verlegen zu werden; sie stotterte: „Weißt, ich darf halt nicht!“

„Ja wer verbietet’s denn?“

„Die Mutter!“

Schweiker hörte zu lachen auf und schüttelte bedenklich den Kopf. „Kindl, Kindl, Du bist ein kleines Saubartele, aber Deine Mutter ist ein großes!“

„Warum thust denn schelten drüber? Es muß doch sein. Und … und warum sagst denn allweil ‚Kindl‘ zu mir?“ Die Hirtin hob zögernd das Gesicht. „Ich bin doch schon eine Dirn’!“ Sie atmete tief und streckte sich; unter der mürben Kotze verrieten sich schüchtern die sprossenden Formen des jungen Körpers.

Bruder Schweiker wurde rot bis unter die Haarwurzel. „So? So? Eine Dirn’?“ stotterte er. „Schau, das ist halt schwer zu merken gewesen. Bist ja schier noch so klein wie ein Kindl. Mußt halt noch ein lützel wachsen, gelt? Wohl wohl! Und jetzt – behüt’ Dich halt Gott jetzt!“ Schweiker nickte zum Gruß und ging davon. Aber Hinzula sprang ihm nach und hielt ihn am Aermel fest. „Und Du? Wer bist denn Du?“

„Ich?“ Bruder Schweiker machte ein ernstes Gesicht. „Ich bin ein Gottesmann. Wohl wohl! Und jetzt bauen wir im Berchtersgadem eine Klaus’ und ein Kirchl daneben. Paß nur auf, wirst das Glöckl schon läuten hören! Nachher komm’ nur und bet’ für Deine junge Seel’!“ Er machte mit der Hand das Kreuzzeichen über Hinzulas Gesicht und schritt dem Thal entgegen.

Als er zwischen den Bäumen schon die Helle der nahen Lichtung gewahrte, blickte er über die Schulter zurück. Dort oben, immer noch auf dem gleichen Fleck, stand die Hirtin wie angewurzelt. „Eine Dirn’, und hat sich vier Jahr’ lang nimmer gewaschen!“ Er schüttelte den Kopf und begann zu grübeln. Was hatte sie nur sagen wollen mit dem Wort: „Es muß doch sein?“

Schweiker blickte auf. Er mußte irrgegangen sein. Richtig, dort drüben lag die Blöße. Nun schritt er eilig aus und hörte auch bald die Stimmen der Seinigen. Durch das wirre Buschwerk kämpfte er sich zu ihnen. „Ich hab’ einen guten Weg gefunden!“

Bruder Wampo that einen tiefen Seufzer. „Gott sei Dank!“

Da fielen Schweikers Blicke auf ihn. „Ja mein, Bruder, wie schaust denn Du aus! Wie der Hinzula aus dem Gesicht geschnitten!“

„Wen Du meinst mit der Hinzula, weiß ich nicht. Aber wenn sie ausschaut wie ich, dann kann einem grausen vor ihr!“

Nun lachten sie alle.

„Aber red’ doch,“ fragte Schweiker, „was ist denn geschehen?“

Mit sprudelnden Worten erzählte Wampo sein Abenteuer; [43] den erbeuteten Frischling von der Erde hebend, sagte er: „Einen Weg suchen bin ich ausgegangen und hab’ ein Ferkel gefunden!“

Schweiker schmunzelte. „Da haben wir es allbeid’ gleich getroffen! Aber komm’, jetzt heißt’s schaffen!“

Er suchte aus der Ladung die Axt hervor und begann, im Gestrüpp einen Pfad für die Saumtiere auszuhauen. Die Arbeit ging ihm flink von statten, jeder Hieb gab aus; aber es währte doch eine Stunde, bis der Zug die Blöße erreichte und den Wald gewann. Eine Strecke zogen sie den Saum entlang und gerieten in eine kleine freundliche Thalmulde. Schweiker, der den Zug geführt, blieb stehen und blickte um sich. „Was suchst Du?“ fragte Eberwein.

„Ich schau mir das Platzl an und mein’, wir könnten ein besseres nicht finden für die Nachtrast. Die Sonn’ geht hinter die Berg’ … und ein Wetter steigt auf!“

„So laß uns bleiben!“

Der Platz war gut gewählt, nach allen Seiten gegen Wind und Sturm geschützt: im Rücken der ansteigende Wald mit riesigen Bäumen, hohes Gestrüpp zur Rechten und Linken, und im Vordergrund die von blühendem Heidekraut überwucherte Mulde, an welcher die rauschende Ache vorüberfloß.

Nun gab es Arbeit. Man nahm den Saumtieren die Ladung ab, und während die Knechte sich anschickten, zwei Reisighütten aufzuschichten, ging Schweiker mit der Axt in den Wald, um feste Stangen für die Zelte zu holen. Als er zurückkam, die langen Hölzer schleppend, zog Wampo aus einem der Ballen eine frische Kutte hervor. „So, Bruder, jetzt reit’ ich mich in die Schwemm’! Und nachher wird fein aufgekocht. Wenn die Zelt’ stehen, so sei so gut, mach’ ein Feuer an und such’ mir ein Eisen heraus, mit dem ich das Ferkel brennen kann. Das soll Dir ein Brätlein werden, daß Dir das Wasser auf der Zung’ zusammenlauft, wenn Du nur dran hinriechst.“

Er nickte, zwinkerte mit den Aeuglein und sprang mit flinken Beinen durch das blühende Heidekraut. Vor dem Ufer der Ache blieb er stehen und schnitt eine bedenkliche Miene; wohin er blickte, überall sah er im Bach nur Schaum und Wirbel. Einen ruhigen Tümpel suchend, folgte er dem Ufer und verschwand in dichten Büschen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 4, S. 53–58
[53]
6.

Die Sonne tauchte hinter die Berge, alle Lüfte mit gelbem Schimmer füllend und das ziehende Gewölk verbrämend mit grellem Glanz. Ein langer Schatten schlich von den Gehängen hernieder und glitt über Hügel und Thäler, bis er den Schönsee erreichte. Da konnte er nimmer weiter dringen, denn der Falkenstein, über dem sich Wazemanns Haus erhob, versperrte ihm den Weg mit der kahlen Felswand, welche sich weit hineinschob in den See, von ihm einen kreisförmigen Weiher abschneidend gleich einem bescheidenen Flur vor dem großen Prunkgemach. Glatt und mit blaßgrünem Schimmer, die Felswand und über ihr das steile Dach von Wazemanns Haus und seine plumpe Ringmauer spiegelnd, lag die durchsichtige Flut über seichtem und sandigem Grunde. Von allen Seiten trat der Wald bis an das Ufer heran und ließ nur eine schmale Lände frei. Auf Steinwurfweite zog sich dichtes [54] Schilf in den Weiher und dunkles Röhricht umschloß auch die kleine Insel, welche, der Falkenwand zu Füßen, den Eingang in den See verschloß. Träumende Schattenstille lag über dem Weiher. Nur die zwischen dünnerem Schilf dem See entströmende Ache rauschte eintönig, und zuweilen klang, von Wazemanns Haus herunter, ein gellender Pfauenschrei oder das heisere Gekläff der Hunde.

In der Ecke zwischen See und Ache erhob sich aus dem Waldgrund ein freier Hügel, welcher rings um den Fuß von hohem Hag umzogen war. Nur wenige Bäume standen auf dem Hügel, aller übrige Grund war blumige Wiese; hier schwang ein Knecht die Sense, und eine Magd raffte das gefallene Gras in ein Stück Netz und trug es auf dem Kopf in den niederen Stall. Zwischen Stall und Wohnhaus lag ein ebener Platz, auf welchem die Geräte zum Fischfang unter einem langgestreckten Dächlein an Stangen hingen. Das Wohnhaus war aus mächtigen, vor Alter schon grau gewordenen Balken gefügt, plump und schmucklos, nach der Seeseite blickte die offene Thür; vor ihr war ein breiter Gang mit groben Felsplatten gepflastert, und ihr zu beiden Seiten zogen sich schwer gezimmerte Bänke an der Wand entlang. Ueber der Thüre, in einer Runse des Gebälkes, staken dürre Kräuter und Stäudlein, die „Heilbuschen“, welche das Haus vor Blitzschlag bewahren und die bösen Geister von der Schwelle scheuchen sollten. Unter den Bänken lagen die aus Weidenruten geflochtenen Fischreusen, die „Burden“, darüber waren zwei Fischgeier mit ausgespannten Flügeln und eine lange Reihe eingeschrumpfter Fischotterköpfe an die Wand genagelt.

Nah vor der Thüre war der Brunnen gegraben, ein Flechtwerk umzog den offenen Schacht, und unter einem Dächlein war die Winde angebracht, mit welcher der Eimer an dickem Hanfseil gesenkt und gehoben wurde. Nicht weit davon – wo der Hügel sich gegen die Lände senkte – stand eine Gruppe von sieben Eichen; die größte, zwischen deren knorrigen Wurzeln ein eckig behauener Stein hervorragte, mochte wohl zweihundert Jahre zählen, während die jüngste nur erst ein kleines Bäumlein war, kaum über die fünfzehn Jahr’ alt. Von den Eichen führte ein aus Balken und Aesten gefügtes Gerüst über den Abfall des Hügels hinüber zur Höhe des Hags, ein luftiger Altan mit einem Tischlein und zwei Bänken. Das war ein freundliches Plätzchen, gleich einer Laube vom niederhängenden Geäst der Eichen überwölbt.

Auf diesem Lugaus saß ein junges Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, ein schlankes zartes Figürchen mit schüchtern knospenden Formen. Ein blau gefärbtes Röcklein aus körnigem Hanftuch floß bis auf die Knöchel nieder und ließ die mit zierlichem Geschick aus Bast geflochtenen Schuhe frei. Um die junge Brust spannte sich ein Miederchen aus braunem Hirschleder, welches locker genestelt war mit dünnen Riemschnüren, zwischen denen das weißgebleichte Pfaid mit kleinen Puffen hervorlugte. Eine Schnur mit blinkenden Otterzähnen hing als Schmuck um das schlanke Hälschen, und an den rosigen Ohrläppchen baumelten zwei bräunlich glänzende Beinringe, jeder gefügt aus den zwei krummen Nagezähnen eines Murmeltiers. Das war Edelrot, Sigenots Schwester, sie glich ihrem Bruder – freilich wie ein junger Trieb dem Baum. wie eine Quelle dem Bergbach. Ein Gesichtchen wie von Milch und Blut, mit träumerischen Kinderaugen und einem schwellenden Mündlein: lockig fiel das lichtbraune Haar um die Schultern, und mit den schimmernden Strähnen spielte der laue Windhauch, den der nahende Abend vor sich her schickte.

Edelrot saß über ihre Arbeit gebeugt; aus feinen hanfenen Fäden flocht sie eine Angelschnur. Während sie so saß, hurtig flechtend, kam drüben am Waldsaum ein junger Bursch unter den Bäumen hervorgegangen; er war ein Freier, denn das schwarze glänzende Haar war ungeschnitten und reichte bis zur Schulter; und der Sohn eines Bauern mußte er sein, denn er trug den grauen ärmellosen Spenzer aus zottigem Loden, den Ledergurt mit Messer und Maserlöffel in hölzerner Scheide, die kurze Berghose und die schweren Schuhe, deren Holzsohlen klumpig benagelt waren. Ein Sträußlein von Almenrosen schmückte die mit weißem Lammfell umsäumte Kappe und ein dicker Rosenstrauß war oben an den Schaft des langen Bergstocks, des „Grießbeils“, angebunden.

Hastig eilte der Bursche über die Lände hinweg – der weiche Sand dämpfte seine Schritte – und als er den Hag erreichte, duckte er sich und löste flink die Almenrosen vom Grießbeil. Rasch sich aufrichtend warf er sie mit beiden Händen in die Höhe, daß die Blumen, auseinanderfallend, wie ein blühender Regen über Edelrots Köpfchen niedergingen. Erschrocken sprang sie auf und blickte ratlos umher. Aber der Bursche konnte das Kichern nicht halten. Edelrot lauschte und streckte das Hälschen über den Zaun.

„Ruedlieb! Du! Hab’ mir’s doch gleich gedacht!“

Lachend gab sich der Bursch einen Schwung, haschte den Ranft des Gerüstes, und hui, saß er auf dem Tisch und ließ die Füße über den Zaun hinunterbaumeln. Da lachte auch das Mädchen. „Bei Dir geht’s aber flink! Gut, daß Du kein Wolf bist ... für Dich wär’ der Hag noch allweil nicht hoch genug.“

Seine ganze Antwort war wieder nur ein Lachen. Mit leuchtenden Blicken hingen seine Augen an dem Gesicht des Mädchens und folgten jedem Griff der kleinen Hände, welche die zerstreuten Blumen zusammenlasen. Als sie alle auf dem Tische lagen, eilte Edelrot zu den Eichen hinüber, pflückte ein paar lange Schmelen und begann die Röslein mit diesen Halmen aneinander zu winden.

„Gelt, die sind schön!“ sagte Ruedlieb, und als Edelrot nickte, streckte er die Hand hin. „Krieg’ ich kein Vergelt’s dafür?“

„Wohl wohl!“ Sie legte ihre Hand in die seinige. „Vergelt’s!“ Sie befreite ihre Hand, die er festhielt, und griff nach einer Rose. „Wie so was Schön’s nur wachsen kann aus der schwarzen Erd’.“

„Meinst wegen der Farb’? Weißt, die Almenros’ ist halt ein Blutblümel.“

Sie blickte fragend zu ihm auf. „Ein Blutblümel?“

„Ja. Oder weißt gar nicht, wo die Röserln herkommen?“

„Sie wachsen halt.“

„Jetzt, freilich, weil ein jedes wieder Samen tragt. Aber einmal, da hat’s eine Zeit gegeben, wo noch kein Almenröserl geblüht hat. Und selbigsmal, da hat eine junge Dirn’ gelebt, eine arme Wittib ist ihre Mutter gewesen, und das Dirndl war so gut wie ein Täuberl und so lieb zum anschauen, wie ... wie ... ich weiß nicht, wie!“ Ruedlieb fand keinen Vergleich, obwohl seine Augen an Edelrots Zügen hingen.

„Wie hat’s denn geheißen, das Dirndl?“

„Das weiß ich auch nicht. Aber ich mein’ halt, sie hat Rösli geheißen, weil die Blümerln da den Namen von ihr haben. Ja, und wie das Dirndl achtzehn Jahr’ geworden ist, da hätt’ sie einen Buben heuern sollen, den hat sie lieb gehabt, und der Bub das Dirndl auch, treu und fest. Und kein Glück hat’s noch auf der Welt gegeben, wie die zwei eins gehabt haben. Aber selbigsmal, da hat auch ein Jäger gelebt, ein Herrischer, der hat Unfirm geheißen und hat ein Aug’ auf das Dirndl geworfen.“

„Das muß aber einer gewesen sein! Recht ein schiecher!“

„Ja, Rötli, da hast recht! Das war einer! So einer, wie ...“ Ruedlieb verstummte und langsam blickte er über die Schulter hinüber nach Wazemanns Haus. „Auf Schritt und Tritt ist er dem Dirndl nachgegangen, aber sie hat von ihm nichts wissen mögen. Da hat die Mutter gefürchtet, ihr Dirndl möcht’ nimmer sicher sein, und hat es hinaufgeschickt auf die Alben. Aber der Unfirm hat das Dirndl aufgespürt und ist hinaufgestiegen auf die Alben. Das Dirndl, wie’s ihn kommen sieht, hat geschrien in der Angst, aber kein Mensch ist in der Näh’ gewesen, und so hat sie zu laufen angefangen und ist allweil zugelaufen und allweil zu ... und weil sie so arm gewesen ist, daß sie keine Schuh’ gehabt hat, so haben ihr die Stein’ und Stauden die Füß’ zerrissen. Das helle Blut ist davon getropft ... und wo ein Tröpfl hingefallen ist, hat der Boden das unschuldig Blut getrunken und ein Blümerl ist gewachsen, wie Blut so rot ... wohl wohl, und seit der Zeit sind die Albenröserln in der Welt.“

„Aber das Dirndl?“ stammelte Edelrot.

„Der Unfirm ist halt flinker gewesen, weißt ... und das Dirndl hat nimmer gewußt, wo aus und wo ein, und vor ihr sind die Wänd’ hinuntergefallen in den See. Da ist sie hinuntergesprungen, mit einem lauten Schmerzensruf, zu tiefst ins Wasser – und kein Mensch mehr hat von dem Dirndl ’was gehört.“

Edelrots Lippen zitterten, ihre Augen waren mit Thränen gefüllt. „Und der Bub’? Hat sich der denn gar nicht gerührt, daß er dem armen Dirndl geholfen hätt’?“

„Gelt, ja? Das hab’ ich auch gefragt, wie mir der alte Eigel die Geschicht’ erzählt hat!“ Ruedliebs Augen blitzten, und seine Wangen wurden heiß. „Wär’ nur ich der Bub’ gewesen, der Unfirm hätt’ was zu spüren gekriegt zwischen Ripp’ und Fleisch!“ Seine Hand zuckte nach dem Messer.

„Ruedlieb!“ stammelte Edelrot erschrocken und haschte die Hand des Buben, als sähe sie die Klinge schon blitzen, das Blut [55] schon fließen. Dann lächelte sie verlegen. „Geh’! Du bist ja selber ein rechter Unfirm!“ Sie griff nach den Blumen und begann an dem Kränzlein weiter zu flechten. Eine Weile war Stille. Endlich fragte das Mädchen. „Hast die Röserln weit hergebracht?“

„Von meiner Alben.“

„Hast droben nachgeschaut?“

„Wohl wohl, aber viel Gut’s hab’ ich nicht gefunden. Der Bär hat uns schon wieder ein Kalb gerissen, und eins dem Kaganhart, und Deinem Nachbar, dem Marderecker, zwei Geißen. Aber ich hab’ dem Untier einen Riegel geschoben ... ich hab’ ihm in der Reginwand eine Grub’ gestellt.“

Edelrot blickte scheu zu ihm auf. „Ruedlieb! Wenn sie das merken – droben in Wazemanns Haus!“

„Sie merken’s nicht. Der Bär wechselt durch eine schieche Wand auf die Alben ein ... und ich hab’ die Grub’ in der Wand drin aufgerissen. Da steigt von Wazemanns Buben keiner hinein, das lassen sie bleiben!“ Edelrot schüttelte bedenklich das Köpfchen und seufzte. „Ich hab’s für die armen Leut’ gethan,“ sagte der Bub mit ruhigem Ernst. „Sie sollen nimmer Schaden leiden von dem Untier! Und warum hat Herr Waze den Bären nicht gejagt? Die Leut’ haben ihn drum angegangen, aber er hat sie angeschrien: ‚Ich hetz’ den Bären, wann’s mir paßt, nicht, wann’s Euch taugt!‘ Jetzt soll er nur hetzen! Ueber eine Woch’, dann suchen seine Hund’ umsonst!“

„Wenn’s nur nicht aufkommt, Ruedlieb! ... Ich hab’ so viel Angst.“

Er strich mit der Hand über ihre zitternden Finger. „Hab’ keine Sorg’! Ich fürcht’ mich nicht! Vor denen da droben so wenig wie vor Berg und Wasser ...“

„Bered’ das Wasser nicht!“ flüsterte das Mädchen erschrocken. „Der Bid könnt’s hören!“

Mit unsicherem Blick streifte der Bub den See. „Meinst, er liegt heroben?“

„Freilich, schau nur hinüber zur Insel! Siehst im Röhricht nicht die Gasserln? Da steigt er aus und ein, wenn er sich warmen will in der Sonn’. Wird der Wassergeist in seiner Ruh’ gestört, so springt er im hellen Zorn in den See hinunter, daß alles Wasser sich aufbäumt und völlig weiß wird vor lauter Schaum.“

„Hast ihn schon einmal gesehen?“

„Aber Ruedlieb!“ Mit scheuen Augen blickte das Mädchen auf. „Wer den Bid gesehen hat, muß hinunter zu ihm, eh’ der Mond wieder voll wird!“ Erschrocken streckte der Bub die Hände, als möchte er Edelrots Augen bedecken, sie verstand ihn und lächelte; wortlos flocht sie an dem Kränzlein weiter, und Ruedlieb schaute ihr schweigend zu. Als das Gewinde vollendet war, sagte das Mädchen: „Schau nur, wie lieb das Kränzlein geworden ist!“

„Wie gewachsen für Dein Köpfl!“ meinte Ruedlieb; er nahm die Blumen und wollte mit ihnen die Stirne des Mädchens schmücken. Aber Edelrot wehrte ihn ab. „Laß, Ruedlieb, laß ... ich mag das Kränzlein nimmer tragen, seit ich die Geschicht’ von dem armen Dirndl gehört hab’ ... das müßt’ ja sein, als hätt’ ich ihr unschuldigs Blut im Haar!“

„Rötli!“ stotterte der Bub, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. „Das mögen die guten Stern’ verhüten ...“

„Was meinst?“ fragte sie verwundert. „Ja was hast denn auf einmal? Bist ja ganz weiß im Gesicht! Hab’ ich denn was Unsinnig’s geredt?“

Er schüttelte wortlos den Kopf.

„Komm, gieb das Kränzlein her!“ sagte sie und nahm das blühende Gewinde aus seinen Händen. „Ich weiß ihm schon ein Platzl!“ Sie eilte auf die kleinste der sieben Eichen zu und hob die Arme.

Mit bebender Stimme rief der Bub ihr zu. „Thu’s nicht, Rötli, thu’s nicht! Häng’ die Blumen nicht an Dein Bäuml!“ Doch eh’ er noch ausgesprochen hatte, lag das Kränzlein schon zwischen den schlanken Aesten der jungen Eiche.

„Aber geh’, was hast denn?“ fragte Edelrot. „Warum soll’s denn da nicht hängen? Schau nur, wie gut die Blumen meinem Bäuml stehen! Warum denn nicht ... ?“

„Weil – weil –“ Ruedlieb brachte die Antwort nicht heraus.

Da klang ein schrilles Gelächter aus dem Innern des Hauses.

„Hörst? Die Mutter hat gelacht!“ flüsterte das Mädchen. „Sie wiltl ’was, ich muß hinein.“ Einen Augenblick zögerte sie noch, als ginge sie jetzt nicht gerne. „Ich muß ... ich muß ja, die Mutter braucht mich!“ Sie nickte und eilte davon.

„Rötli! Rötli! So laß Dir doch sagen ...“ stotterte Ruedlieb und streckte die Hände. Doch Edelrot war schon im Haus verschwunden. Der Bub streifte mit der Hand über die Stirne; er blickte hinauf zu Wazemanns Haus und starrte wieder das Kränzlein an, wie Blutschimmer hing es an Edelrots Bäumchen, dessen junger Stamm in handbreiten Zwischenräumen siebzehn Kerbschnitte zeigte; sie waren alle vernarbt und schon wieder von Rinde überwachsen, bis auf einen, der noch frisch und weiß war; vor wenigen Wochen erst, an dem Tag, an welchem Edelrots Geburt sich jährte, hatte Sigenot diese Kerbe in den Baum geschnitten. „Ich weiß nicht, wie mir nur so ’was einfallen kann!“ murmelte Ruedlieb und atmete tief. „Hätt’ ich die Blumen nur niemals hergebracht!“ Da fühlte er einen leichten Gertenschlag an seinem Arm; als er aufblickte, stand Sigenot unter dem Hag, mit Angelrute und Lägel.

Der Bub wurde rot und ließ sich rasch zu Boden gleiten.

„Zeit lassen!“ grüßte der Fischer. „Was machst denn da?“

„Mit dem Rötli hab’ ich ein’ Weil’ geplauscht.“

„Was denn? Unsinniges Zeug, gelt?“

Ruedlieb schüttelte den Kopf und schielte nach der jungen Eiche.

Sigenots Brauen furchten sich. „Warum schaust denn auf die Seit’? Schau mir ins Gesicht!“ Der Bub hob die Augen; je länger der Fischer in sein offenes Gesicht blickte, desto freundlicher wurden seine Züge. „Bist wohl von der Alben gekommen, gelt?“

„Wohl wohl, zwei Tag’ und Nächt’ bin ich droben gewesen!“

„So geh’ halt heim jetzt! Ich hab’ eine Botschaft für Deinen Vater, den Richter. Sag’ ihm, heut’ sind sie gekommen, und draußen beim Albenbach haben sie auf Mittag Rast gehalten.“

„Wer?“

„Dein Vater weiß schon, wen ich mein’. Geh’ nur!“

Der Bub nickte und faßte sein Grießbeil. „Zeit lassen, Fischer!“

„Zeit lassen auch!“

Sigenot stand und blickte dem Burschen nach, der mit raschen Schritten davonging. Ein freundliches Lächeln glitt über seine Züge. „Der Bub möcht’ mir taugen für das Rötli wie keiner! Aber das hat noch Weil’!“ Er trat in den Hag. „Heia, Wicho!“ rief er laut.

Der Knecht kam aus dem Stall herbeigelaufen. „Was schaffst?“

„Da, nimm das Lägel und trag’ die Ferchen hinauf in Wazemanns Haus.“

„Wohl wohl!“ Der Knecht nahm das triefende Lägel auf die Schulter und wollte davongehen.

„Aber halt’ Dich nicht auf und laß Dich nicht ein mit den Burgknechten. Sonst kommst mir am End’ wieder heim mit blutigem Kopf wie das letzte Mal ... und ich müßt’ Dir wieder Unrecht geben. Wer Streit sucht, muß Hieb’ leiden.“

„Streit suchen! Wer hat denn Streit gesucht?“ brummte der Knecht und fuhr mit der Hand nach dem Hinterkopf, als wäre hier durch die Erinnerung ein schmerzliches Empfinden wachgerufen worden. „Hätt’ ich vielleicht ruhig stehen sollen, wie die Knecht’ allweil gestichelt und gespöttelt haben, Du wärst auch nur ein Freier, so lang’ ihr Herr ein Aug’ zudrückt?“

„Laß Du die Knecht’ reden, was sie mögen. Thut einmal Herr Waze oder einer von seinen Buben eine solche Red’, so will ich ihm schon die richtig’ Antwort geben.“

Murrend verließ der Knecht den Hag. Draußen nahm er das Lägel ab und öffnete den Deckel, Sigenot hatte seit Mittag fleißigen Fang gehalten, es wimmelte im Lägel von Forellen. „Eine fetter wie die andere!“ brummte Wicho und sah mißmutig nach Wazemanns Haus hinauf. „Und die soll er all’ wieder haben ... der da droben? Thät’ ihm nur eine Grät’ im Hals stecken bleiben!“ – –

Sigenot hatte die Angelrute an das Brunnendächlein gelehnt. Da hörte er vom Waldhang des Jennar herüber das Läuten zweier Jagdhunde. Ein Schatten flog über sein Gesicht. „Mir scheint, sie ist schon wieder um den Weg!“ Er lauschte gespannt. Die Hunde schienen ein wundes Tier zu jagen; bald gaben sie Standlaut, dann nieder näherte sich die Jagd unter hetzendem Gekläff, wandte sich bald zur Rechten, bald zur Linken, nun klang das Geläut der Hunde schon im Thalwald, und immer näher kam es dem See. Unter den Bäumen stolperte ein Hirsch auf die freie Lände hervor, das Wasser suchend, taumelnd und keuchend, mit pumpenden Flanken und hängendem Lecker; aus seiner Schulter ragte ein Pfeilschaft, in Fetzen hing zerrissenes Schlingwerk von dem mächtigen Geweih, und vom Aeser tropfte die helle „Roten“. Das Tier streckte den Grind nach dem See und schwankte vorwärts, aber schon waren die Hunde hinter ihm her, sprangen ihm an die Kehle und suchten den Hirsch in den Sand zu reißen.

[56] Sigenot stand mit finsterem Gesicht, und seine Hand zuckte nach dem Messer, ihn erbarmte das Tier, dem nur eine einzige Wohlthat noch zu spenden war: der Gnadenstoß. Aber er hatte noch keinen Schritt gethan, da hörte er Hufschlag im Wald. Auf ihrem schäumenden Rappen sprengte Recka auf die Lichtung hervor, das Antlitz brennend, das Haar zerrauft; mit jauchzendem Laut sprang sie aus dem Sattel, und während das wohlgeschulte Pferd keinen Huf mehr von der Stelle rührte, riß sie den blinkenden Genicker aus der Scheide und durchschnitt mit raschem Streich dem Hirsche die Sprungsehnen der Hinterläufe; stöhnend setzte sich das Tier – und da fuhr ihm auch schon der wohlgezielte Stoß ins Herz. Lachend sprang Recka zurück, um dem schlagenden Geweih zu entrinnen. Noch ein kurzer Kampf des erlöschenden Lebens, dann stürzte der Hirsch lautlos in den rotgefleckten Sand. Die Hunde ließen von ihm ab, gaben langgezogenen Standlaut, und von Wazemanns Haus herunter antwortete die Meute im Zwinger.

Recka schnitt dem Hirsch die Grauen aus dem Aeser, verwahrte sie hinter dem Gürtel und stieß den Genicker in die Scheide. Aufatmend warf sie das Haar zurück und preßte die Arme über die Brust, als wollte sie den ungestümen Atem jählings geschweigen. Dann wieder trat sie auf ihre Beute zu, legte die Hand auf die klaffende Wunde des Hirsches und berührte mit den rotgefärbten Fingern die Lippe. „Heil zum Gejaid!“ Es war alter Jägerbrauch, den sie übte: sie „trank die Roten“. Nun blickle sie am Waldsaum entlang, die Büsche musternd; aber sie schien nicht zu finden, was sie suchte; nach allen Seiten spähte sie und gewahrte die über den Hag des Fischerhauses niederhängenden Aeste der Eichen. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie rasch auf das Hagthor zu und streckte die Hand aus. Aber da trat Sigenot hinter dem Hag hervor und faßte ihren Arm. „Rühr’ den Baum nicht an!“

Eine dunkle Röte flog über Reckas Gesicht. „Laß meine Hand!“ Mit zornigem Ruck befreite sie den Arm. „Dort liegt der Hirsch, den ich geworfen, ich will meinen Eichbruch haben nach Weidgesetz!“

„Brich ihn, wo Du magst, aber nicht von diesem Baum! Das ist meines Vaters Jahrbaum.“

Während der Fischer sprach, war Edelrot aus dem Hause getreten und herbeigekommen. Schüchtern legte sie die Hand auf ihres Bruders Arm. „Sigenot!“

„Sie will einen Zweig brechen von Vaters Baum,“ sagte er, „und das leid’ ich nicht!“

Recka zögerte mit der Antwort; Edelrots Anblick schien das heftige Wort zu beschwichtigen, das schon auf ihrer Zunge lag. „Du bist dem Baum ein guter Hüter, das muß ich sagen ... aber das wird Deinem Vater wohl nimmer viel helfen!“

„Laß die Toten in Ruh’!“ sagte der Fischer mit finsterem Ernst. „Keiner soll einen Zweig brechen von dem Baum oder nur ein einzigs Blattl davon abstreifen und meines Vaters Schlafruh’ stören. Wenn Du Deinen Bruch schon haben mußt und der Weg in den Wald ist Dir zu weit ... dort steht mein Baum, reiß Dir einen Zweig von ihm ... und wär’s auch der letzt’, ich will’s nicht wehren.“

Ein spottendes Lächeln zuckte über Reckas Züge. „Dein Baum hat Ruh’ vor mir! Bist ja ein Fischer und mußt all’ Morgen auf sein vor Tag ... es müßt’ Dir schaden am Gesund, wenn ich Dir die Schlafruh’ stören möcht’!“ Lachend wandte sie sich ab.

„Recka!“ stammelte Edelrot, eilte auf ihr Bäumchen zu und brach einen Zweig, sie bemerkte nicht, daß das Almrosenkränzlein aus dem Geäst herunterfiel und über den Hügel niederrollte zwischen die Balken und Knorren, welche die Plattform des Lugaus trugen. Unter dem Hagthor holte sie Recka ein und reichte ihr den Zweig. „Nimm, da hast Du einen Bruch!“

„Ich dank’ Dir!“ sagte Recka, und freundlich streifte sie mit der Hand über Rötlis Lockenkopf.

Schweigend kehrte Sigenot sich ab und schritt dem Hause zu.

„Mußt ihm nicht harb sein!“ flüsterte Rötli. „Schau, er hat halt ein Herz, das hebt wie Stein und Eisen! Viel’ Jahr’ sind schon vergangen, seit der Vater im See versunken ist, und noch allweil hängt der Bruder an ihm mit heißer Lieb’ – wie Du an Deiner toten Mutter. Mußt ihm nicht harb sein! Schau, ich verrat’ Dir was dafür.“

„Und was?“ fragte Recka lächelnd.

Edelrot zeigte eine wichtige Miene. „Du, ich weiß ein Völklein Enten, dort im Weiher!“

„Das hör’ ich gern! Die wollen wir heut’ noch jagen, Rötli!“ „Heut’ noch?“ stotterte das Mädchen. „Aber schau doch, es schattet schon, und Gewölk zieht auf!“

Recka blickte zum Himmel. „Ein grob’ Wetter wird kommen zur Nacht. Aber ich mein’, es hat noch Zeit ... wir fahren vor Nacht den See ohne Müh’ noch auf und nieder. Wart’ auf mich, ich hol’ meine Falken.“ Sie ging auf ihre Beute zu, streifte den Eichenbruch über die von Blut umronnene Wunde und steckte ihn hinter die Reiherfedern auf ihrem Käpplein. Bellend sprangen die beiden Hunde um sie her. „An die Wach’!“ befahl ihnen Recka und deutete mit dem Finger zu Boden. Da verstummten die Bracken und legten sich vor dem Hirsch in den Sand. Mit einem Zungenschlag rief Recka das Pferd herbei. Leicht schwang sie sich in den Sattel, nickte dem Mädchen, das unter dem Hagthor stand, noch einmal zu und trabte davon.

Wicho kam mit dem leeren Lägel von Wazemanns Haus zurück. Als er den Hirsch liegen sah, riß er die Augen auf und wollte näher treten, aber mit gefletschten Zähnen fuhren ihm die Hunde entgegen; erschrocken wich er zurück und brummte: „Hui, hui, hui! Das sind die richtigen Wazemannshund’! Gleich beißen!“

Unter der Thüre kam Sigenot ihm entgegen. Wicho schob das Lägel unter die Hausbank. „Herr Waze laßt Dir Vergelt’s für die Ferchen sagen, und Du sollst heut noch hinaufkommen zu ihm.“

Betroffen blickte der Fischer auf. „Was will er von mir?“

Der Knecht zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht! Aber was Gut’s, mein’ ich, wird’s schwerlich sein, er hat gar so freundlich gethan. Sag’ ihm, er thät’ mir einen Gefallen, hat er gesagt – sag ihm, es wär’ mir lieb, wenn er heut’ noch käm’, hat er gesagt! Ich bin nur allweil gestanden und hab’ die Augen aufgerissen.“

Sigenot lächelte. „Das ist freilich eine ungewohnte Red’ an ihm. Da bin ich selber neugierig, was er will.“ Er besann sich. „Gut, ich geh’ hinauf zu ihm!“ Dann fragte er den Knecht. „Ist das Gras schon eingethan?“

„Wohl wohl!“

„Dann hast Feierabend für heut’.“ Sigenot nickte einen Gruß und wollte gehen.

„Willst Dein Schwert nicht umhängen?“ fragte der Knecht.

„Das braucht’s nicht. Ich hab’ meine Fäust’ bei mir.“

Zwei wilde Schwäne kamen über das Fischerhaus einhergestrichen. Sigenat hörte ihren rauschenden Flügelschlag und blickte zur Höhe. „Die bringen bösen Sturm!“ Er folgte mit den Augen den weißschimmernden Vögeln, sah sie über dem Seeweiher kreisen und niederfallen ins Röhricht. Dann machte er sich raschen Ganges auf den Weg. Vor dem Hag begegneten ihm zwei Wazemannsknechte mit einem Karren, um den erlegten Hirsch zu holen.

Zwischen dem schilfigen Ufer und dem vom Hag umschlossenen Hügel zog sich ein schmaler Waldstreif hin. Sigenot durchschritt ihn und kam zum Ausfluß der Ache; eine aus vier breiten Balken gefügte Brücke überspannte den rauschenden Bach. Er ging hinüber, und wieder nahm der Wald ihn auf. Ein breit ausgehauener Reitweg führte in weitem Bogen gegen den Berg und zu Wazemanns Haus empor; aber diesem Weg folgte der Fischer nicht, sondern einem schmalen Fußpfad, der am Seeufer hinlief und unter dem Falkenstein auf einer Lichtung mündete; ein Steig lenkte über die jähe Wand hinauf, mit schmalen, in die Felsen eingehauenen Stufen und einem dicken Seil als Halt und Stütze. Ueber der Felswand hob sich die plumpe Ringmauer aus wirrem Gestrüpp hervor, und ein niederes Thürchen führte in den Burghof.

Der Fischer wollte emporsteigen. Da öffnete sich droben das Pförtlein, und Recka betrat die Felsentreppe; sie hatte das Reitgewand abgelegt und trug ein weißes Unterkleid mit braunem Ueberwurf, dessen Säume mit dem zarten gelblichen Rauchwerk von der Kehle des Edelmarders verbrämt waren; ein Netz umschloß das aufgeknotete Haar, so daß sich der schöne stolze Kopf frei aus den Schultern hob, auf ihrer rechten Hand saß ein Habicht mit der Falkenhaube und ein zweiter auf ihrer linken Schulter; rasch kam sie, ohne das Seil zu berühren, über den steilen Pfad herabgestiegen. Sigenot trat zur Seite, um den Weg nicht zu sperren. Kaum merklich neigle sie den Kopf, als sie an ihm vorüberschritt.

Der Fischer betrat den Felsensteig; doch schon auf der ersten Stufe wandte er sich. „Recka!“ Sie drehte das Gesicht und sah ihn verwundert an. „Du willst auf die Beizjagd?“ fragte er. „Heut’ noch?“

„Frag’ Du um Deine Fische! Was kümmert’s Dich?“

„Nichts. Aber ich mein’ nur, grob Wetter steht am Himmel.“

Sie warf einen raschen Blick empor nach dem dicht ziehenden Gewölk, dessen Säume blutrot schimmerten. „Ich fürcht’ es nicht!“

„Es könnt’ aber doch wohl schneller da sein, als Du meinst!“

[58] „Dann schau nur, daß Du bald unter Dach kommst!“ Lachend drehte Recka dem Fischer den Rücken und schritt davon. Raschen Ganges gelangte sie zur Lände am See. Edelrot hatte sie schon gewahrt und kam mit einem Ruder aus dem Hagthor hervorgeschlüpft. „Ich hab’ eine Stang’ mitgebracht!“ flüsterte sie. „Aber ich mein’, wir sollten nimmer fahren. Horch’ nur, wie’s im Röhricht zischelt … Du, das ist kein gutes Zeichen!“ Und scheu blickte sie zum Himmel. „Der König Eismann hat schon die Haub’.“

Recka lächelte. „Hast Du Furcht?“

Edelrot schüttelte das Köpfchen. „Furcht nicht, aber der Bruder wird schelten.“

„So laß ihn schelten! Komm’!“ Mit dem Knie schob Recka den leichten Fischernachen, den „Gransen“, ins Wasser und bestieg das Schifflein. Edelrot folgte, und während sie im Spiegel des Nachens das Ruder in den Weidenring schob, setzte sich Recka auf das Schnabelbrett, legte das Federspiel mit den weißen Taubenflügeln, das sie in lederner Tasche getragen hatte, vor sich hin, nahm die unruhig gewordenen Beizvögel auf ihren Schoß und streichelte ihnen mit einer langen Feder Hals und Rücken.

„Gelt,“ fragte Rötli, „da ist Dein ‚Schätzel‘ nicht dabei?“

Recka lachte. „Schau doch, Du kannst ja schon den Stockfalk unterscheiden vom Edelfalk! Gieb acht, Du wirst noch ’was lernen! Mein ‚Schätzel‘ sitzt daheim … ich hab’ die groben Stößer mitgenommen, die taugen besser auf das Wasser und machen flinke Arbeit. Aber jetzt tauch’ an!“

Stehend führte Edelrot das Ruder, gleichmäßig und geschickt, wenn auch mit schwachen Kräften. Sachte, mit leisem Plätschern, glitt das Schifflein hinaus auf die glatte schattenstille Flut. Ueber dem Wasser webte der violette Schimmer des entschlummernden Tages, tiefblau lagen in der Ferne die Gehänge des Untersberges, und über die Zinnen des Göhl hin leuchtete noch ein letzter Anflug helleren Lichtes. Doch zwischen dem hochtreibenden Gewölk, dessen wallende Säume in allen Farben spielten, lag es schon wie dunkle Nacht. Eine finstere Wolkenhaube hatte sich über den Schneegipfel des König Eismann gestülpt. Dort oben quollen und wirbelten die Nebelmassen durcheinander wie Dampf über einem Kessel – aber im Thal und über dem Wasser rührte sich noch kein Lufthauch.

Da raschelte es im Röhricht, und ein leises Geschnatter ließ sich vernehmen. „Da drinnen sind sie,“ flüsterte Rötli.

„Die Enten? Die lassen wir heut’ in Ruh’. Ich weiß uns bessere Jagd! Ein Elbißpaar[7] ist eingestrichen in den See, von meinem Fenster hab’ ich sie erschaut. Halt’ hinüber in die Ecke, wo aus der Tiefe der kalte Brunn aufsteigt – dort liegen sie im Schilf.“

„Recka,“ stammelte Edelrot, den Gransen verhaltend. „Du wirst doch nicht die Elbiß’ beizen!“

„Was soll mich hindern?“

„Die Leut’ sagen: wo der Elbiß rauscht, da ist der Bid nicht weit.“

„Ich fürcht’ ihn nicht,“ entgegnete die Wazemannstochter lächelnd. „Fahr’ zu!“ Rötli zögerte. „Fahr’ zu!“ wiederholte Recka ungeduldig. Unter stockendem Atem tauchte Rötli das Ruder ein und schob den Gransen. Nahe bei der Insel kamen sie vorüber, und Edelrot lugte mit scheuen Blicken in das Röhricht. „Schau,“ lispelte sie, „dort schau hin! Siehst die kleinen Weglein im Geröhr? Da steigt er aus und ein, der Bid.“

Recka lachte. „Närrlein, das sind Ottersteige! Fahr’ weiter!“

Rötli gehorchte; der Nachen glitt über eine Stelle des Wassers, an welcher sich auf dem Spiegel kleine wallende Kreise zeigten; hier stiegen die Quellen auf. Immer näher glitt das Schiff dem Röhricht. Recka hatte sich auf die Knie erhoben und setzte die Stößer auf den rechten Arm; durch die Schleifen der Falkenhauben hatte sie eine Schnur gezogen, um die Kappen lösen zu können mit einem Ruck. „Mach’ Lärm mit dem Ruder!“ flüsterte sie. Rötli war bleich und zitterte; aber sie folgte der Weisung. Es rauschte im Röhricht, klatschende Flügelschläge ließen sich hören, und die beiden Singschwäne hoben sich schweren Fluges über das Schilf, mit offenen Schnäbeln fauchend, die Hälse lang gestreckt. Schneeweiß leuchtete ihr Gefieder in der dämmernden Luft. Rasch löste Recka die Falkenhauben und hob den Arm. Die Stößer drehten hastig die Köpfe, und ihre gelben, bösartig blickenden Augen funkelten … jetzt wurden sie starr, das Gefieder sträubte sich – sie hatten die Schwäne eräugt. Und in diesem Augenblick sprang Recka auf und unter jauchzendem Ruf warf sie mit kräftigem Armschwung die Vögel. Pfeilschnell schossen die Stößer ihrer Beute nach. Schon hatten sie den Schwänen die Höhe abgewonnen, da fiel ein Windstoß aus den Lüften und rauschte an der Falkenwand entlang.

Mit klagendem Laut teilten die Schwäne ihren Weg, der eine suchte das Land, den tieferen See der andere. Diesen hatten die Stößer zu ihrem Opfer gewählt und schlagend fielen sie ihm an den Hals. Im Fluge trug sie der klagende Schwan und tauchte mit ihnen um die Ecke der Falkenwand.

„Er fällt in den Weitsee!“ schrie Recka in brennender Erregung. „Gieb mir das Ruder … wir müssen nach, oder der Schwan ist verloren und meine Vögel dazu!“ Sie hörte nicht auf Rötlis Stammeln und Bitten, mit ungestümen Händen griff sie nach dem Ruder und schlug das Wasser, daß vor dem Schnabel des Nachens eine weiße Welle aufrauschte. Wieder fiel ein Windstoß aus den Lüften, dumpf und brausend, und über das ganze Wasser lief ein jähes Zittern.

Hinter der Insel verschwand das Schiff mit den beiden Mädchen.

Im Röhricht erwachte ein Glucksen und Plätschern, jählings war aller Glanz von der Flut gewichen, grau und finster lag das Wasser, überwirbelt von kleinen stoßenden Wellen. Und weit aus dem Thal herein, plötzlich, hörte man das Rauschen der Ache.

Es kam der Sturm.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 5, S. 69–74
[69]
7.

An dem Burgpförtlein über dem Felsensteig hatte Sigenot den hölzernen Hammer gerührt. Ein Knecht Wazes öffnete. „Komm nur, der Herr wartet schon!“

Der Fischer zögerte. „Sind die Buben daheim?“

„Nein. Gestern vor Mittag sind sie nach dem Eismann hinauf ins Gemsgejaid. Ich weiß nicht, ob sie heut’ noch heimkommen“

Sie überschritten den wenig geräumigen Burghof; der Steinwall um das Haus war eng gezogen, nach dem alten Sprichwort: je kürzer die Mauer, so länger die Wehr’. An der Mauer entlang, unter den Pfeilscharten und Luglöchern, lief eine hölzerne Brustwehr mit Wächterhäuschen und kleinen Treppen; aber das Holzwerk war morsch und zerfallen. Wazemanns Haus hatte nie einen Angriff erfahren und schien auch keinen mehr zu befürchten. In die Ecken der Mauer waren Schuppen und Scheuern eingebaut, und die Wächterhäuschen dienten als Trockenkammern für die Wilddecken. Ein paar alte Ulmen standen im Hof, von Holzbänken umzogen und an den Stämmen behängt mit verwitterten Hirschgeweihen und Steinbock- und Gemshörnern, welche zumeist noch auf den weißgebleichten Schädeln saßen. Zwischen den Bäumen erhob sich ein aus dicken Fichtenstangen gefügter Käfig, in welchem ein brauner Bär, ein Wolf und eine Luchskatze einträchtig hausten, träg und schläfrig, mit abgeschundenem Fell. Nicht weit davon, in einer Ausbuchtung der Ringmauer, befand sich der hochvergitterte Hundezwinger, in welchem die Bollbeißer und Saufinder bei Sigenots Eintritt einen tollen Lärm erhoben.

Inmitten des Hofes stand, wie ein plumper riesiger Block, Herrn Wazes Wohnhaus. Der Unterbau war aus unbehauenen Felsbrocken gemauert und umschloß die Küche, die Falkenkammer, die Gesindestübchen, den Keller und die Bußlöcher, von deren zweifelhafter Wohnlichkeit so manch ein Bäuerlein im Gadem [70] erzählen konnte. Der Oberbau, den ein steiles, gebrochen vorspringendes Schindeldach bedeckte, war aus Balken gefügt. Eine hölzerne Freitreppe führte in eine Vorhalle; hier standen zwei lange Tische mit Holzbänken und dreibeinigen Stühlen; Jagdnetze, Schneereifen und eiserne Raubtierfallen hingen an der Wand. Saufedern und Grießbeile lehnten in den Ecken, und an den höheren Balken reihte sich eine Trophäe an die andere. Eberköpfe, Bärenhäupter, Hirschgeweihe und Luchsköpfe. Von dieser Halle führten zwei niedere Thüren in das Haus, und aus der einen, welche offen stand, hörte man zwei Stimmen, rauh und zornig die eine, die andere scheu und stammelnd.

„Der Herr ist drin, geh’ nur hinein!“ sagte der Knecht zu Sigenot, nickte und ging davon.

Der Fischer trat über die Schwelle. Der Raum vor ihm, das war die Herrenstube in Wazemanns Haus; sie hatte vier Fenster, aber der Schliem[8], mit dem die Fensterrahmen überzogen waren. ließ vom späten Licht des Abends nur noch eine trübe Helle ein. Gebräunte Balken bildeten die Decke, von welcher an Ketten ein eiserner Reif mit aufgesteckten Hirschtalgkerzen niederhing. Darunter ein Tisch mit Stühlen; in einer Ecke der massige Lehmofen. Die von Geweihen starrenden Balkenwände waren rauh mit Mörtel beworfen und geweißt. Entlang der Mauer liefen Holzbänke. unterbrochen von Truhen und drei niederen Thüren. Hier ein Sattelbock, dort ein Gestell mit Waffen und Jagdgerät, und dazwischen in der Wand ein alkovenartiger Ausbau mit dem Spanbett, in welchem Herr Waze die Nachtruh’ zu halten pflegte, seit Frau Friderun, sein Eheweib, das Zeitliche auf blutigem Weg gesegnet hatte.

Heute aber schien die Stunde, um welche sich Herr Waze nach Schlaf und Ruhe sehnte, noch lange nicht gekommen. Seine Stimme klang in dem Raum wie Bärengebrüll in der Grube; mit beiden Fäusten hielt er den Bauer, welcher stotternd vor ihm stand, am Bart gefaßt, rüttelte und schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht. „Wart’, Du, wart’! Dir will ich zeigen, wer Dein Herr ist! Du sollst mir den Zinstag merken! Dir will ich’s einbläuen!“ Mit der Fanst holte er zum Schlag aus.

Da faßte Sigenot seinen Arm. „Aber Herr, lasset doch den Bauer aus! Ihr redet ein lützel gar zu grob! Wenn Ihr ihm das Hirn in die Ohren beutelt ... wie soll er denn hören?“

Herr Waze ließ den Bauer fahren und schrie: „Wer untersteht sich denn ...“ da verstummte er wieder. Er hatte den Fischer erkannt und schien Ursache zu haben, seinen Zorn gewaltsam zu bezwingen. Er packte die Säume seines langen Hausrockes, schlug sie über dem Leib zusammen und brummte: „Du? So? Du bist da?“

Sigenot wandte sich an den Bauer, in welchem er seinen Nachbar erkannte, den Marderecker. „Was hast denn angestellt?“

„Der Lump und Gauchdieb!“ schrie Herr Waze. „An Sonnwend’ hätt’ er zinsen sollen – und heut’, im halben Augst[9], kommt er und heult, ich soll noch warten bis nach der Albenzeit.“

„Aber guter Herr, habet doch Einsicht!“ stammelte der Bauer mit halb erstickter Stimme. „Wie hätt’ ich denn käsen sollen? In sechs Wochen hat mir der Bär vier Geiß’ gerissen, meine besten Milchgeiß’.“

„Freilich! Steiner frißt halt der Bär nicht.“

„Aber ich kann doch aus Steiner auch kein Schmalz machen!“

„Schau den an!“ schrie Herr Waze. „Spitzwörteln will er auch noch!“ Und wieder wollte er mit beiden Fäusten zugreifen.

Sigenot trat dazwischen. „Lasset ihn doch in Ruh’, Herr, der arm’ Hascher hat ja eh’ keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht. Und daheim bei ihm schaut’s grausig aus. Eine Kuh ist ihm umgestanden, und sein Weib kann nimmer schaffen.“

Herr Waze that einen langen Fluch, spuckte aus und griff nach der Metbitsche auf dem Tisch. Als er sie leer fand, klapperte er mit dem Deckel und schrie. „Ulla! Ulla!“ Eine greise Magd erschien, um den Krug zu holen.

Inzwischen fragte Sigenot den Bauer. „Wie viel macht Dein Zins?“

„Auf Sonnwend’ zwanzig süße Geißkäs’.“

„So komm’ halt morgen zu mir. Ich red’ mit meiner Mutter – die leiht Dir den Zins. Kannst ihn ja wieder heimgeben, aber Eil’ hat’s keine. Und wenn’s halt gar nimmer sein kann ... liegt auch nichts dran!“

Der Bauer fand kein Wort des Dankes, aber seine Augen redeten. Herr Waze lachte. „Die Käs’, Fischer, die hast gesehen! Aber thu’, was Du magst, es geht ja um Dein’ Sach’, nicht um das meinig’! Und Du“ – das ging den Bauer an – „Du mach’, daß Du weiter kommst!“ Ein Tritt, und der Marderecker brauchte die Thür nicht mehr zu suchen.

Die Magd brachte den Krug. „Steck’ die Kerzen an!“ brummte Herr Waze und wandte sich wieder zum Fischer. „Was ich sagen will ... die Ferchen sind sauber gewesen. Was willst denn haben dafür?“

„Stahlsteften könnt’ ich wieder brauchen auf Angelhaken.“

„Die sollst haben. Und meine Dirn’ hat einen Hirsch geworfen; von dem schick’ ich Dir eine Keul’.“

Sigenot schüttelte den Kopf. „Nicht von dem! Ich hab’ ihn sterbem sehen.“

Herr Waze stieß einen schmerzvollen Laut aus, als hätte er einen Stoß auf den Leib bekommen. „Die Leut’ sterben,“ schrie er, „die Hund verrecken ... aber der edle Hirsch verendet! Ein Fischer! Soll ein halber Jäger sein und kann nicht einmal reden! Und grausen thut ihm vor Wildpret! Meinetwegen!“ Er schüttelte den Kopf, und um seine Fassung wiederzufinden, griff er nach der Bitsche.

Auf dem Eisenring brannten die Kerzen, und ihr rötlicher zuckender Schein beleuchtete den Trinker. Der lange aus Hirschleder genähte Hausrock umhüllte eine klobige, vom Alter schon etwas gebeugte Gestalt, ein grauer langsträhniger Bart umrahmte die von Zeit und wüstem Leben zerstörten Züge; alles an diesem Gesicht war welk und schlaff, nur die grauen Augen hatten noch Glanz und festen Blick. Straffes Haar hing an den Schläfen und im Nacken, das Oberhaupt war kahl, doch über der Stirne sträubte sich ein vereinsamter Haarbusch, als hätte die Zeit ihn eigens verschont, damit ihn ein zausendes Schicksal doch endlich noch zu fassen bekäme.

Herr Waze hatte einen tiefen Zug gethan und stellte die Bitsche nieder; mit einem Augenwink wies er die Magd aus der Stube. „So, Fischer, jetzt laß uns reden miteinander! Komm’ her, hock’ Dich nieder!“ Sie setzten sich. „Und fürs erste ... da, trink!“ Herr Waze schob seinem Gast die Bitsche hin.

„Ich hab’ keinen Durst,“ sagte Sigenot und steckte seine Kappe hinter den Gürtel.

Herr Waze schielte den Fischer von der Seite an. „Meinetwegen!“ brummte er; dann legte er die Arme über den Tisch, blickte eine Weile schweigend mit spähendem Blick in Sigenots Gesicht, als prüfe er seinen Mann, und sagte: „Also, jetzt red’! Was meinst denn Du dazu.“

„Wozu? Ich versteh’ nicht!“

„Hast sie doch auch schon gesehen heut’!“

„Wen, Herr?“

„Die Kuttenlupfer! Bist ja dazugekommen, wie meine Dirn’ mit ihnen zusammengeraten ist.“

Langsam hob Sigenot die Augen; aber keine Miene zuckte in seinem Gesicht. „Wohl wohl!“

„Also! Jetzt red’! Was sagst dazu?“

„Ich? Und sagen? Was gehen denn mich die fremden Leut’ an?“

„Fremde Leut’?“ Herr Waze blinzelte. „So? Du bist aber schnell fertig.“ Er lachte und legte die unruhigen Hände um die Bitsche. „Wenn aber der Oberste von ihnen morgen kommt und sagt zu Dir: ‚Du, Fischer, jetzt paß’ auf, jetzt bin ich der Herr im Gadem, und Ihr all’ seid Kirchenknecht’, da giebt’s keinen Unterschied – und Fron und Zins und Steuer, alles gehört mir, mein ist der Wildbann, und das Fischrecht über Bach und See, das laß’ ich auch nicht aus, her damit!‘ Was sagst denn nachher, Fischer?“

Sigenot lächelte. „Da könnt’ ein jeder kommen und könnt’ so reden. Es fragt sich nur, wie viel er ausricht’ bei mir.“

„Gelt, ja? Gelt?“ lachte Herr Waze. Die Antwort schien ihm zu taugen. „Also? Was wirst denn sagen, wenn er kommt?“

„Da müßt’ ich mich erst besinnen. Aber ich mein’, ich find’ schon die richtige Red’.“

„Hast recht! Laß’ Dir nur nichts gefallen! Und wenn [71] Dir die Wort’ ausgehen, red’ nur gleich mit der Faust. Bei Dir giebt’s aus ... wo Du hinhaust, da wachst sieben Jahr’ kein Gras nimmer. Und ich, Fischer, ich halt’ zu Dir! Dich hab’ ich gern, das weißt. Du bist der einzig’ im Gadem, den ich stehen hab’ lassen wie Herr neben Herr. Das wirst mir zugeben – nie hab’ ich mit einem Finger an Dein Sach’ und Recht gerührt.“

„Das hat wohl einen guten Grund gehabt,“ sagte der Fischer trocken.

Herr Waze zog die Brauen hoch. „Wieso? Wie meinst Du das?“

„Ich mein’, es wär’ schiech ausgegangen. Kann sein, für mich ... für Euch aber auch! Wenn ein Baum fallt, Herr, giebt’s Trümmer.“

Herr Waze machte zu dieser Rede ein schiefes Gesicht, und dunkle Röte stieg ihm ins Antlitz. Aber er lachte und griff nach der Bitsche. Abermals that er einen tiefen Zug, klappte den Deckel zu und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Schau, Fischer, das gefallt mir, daß Du so redest! Wer was ist, den laß ich gelten! Und drum wär’s mir leid, wenn es Dir an den Leib ging’. Aber ich halt’ zu Dir.“

„Ich mein’, ich brauch’ keinen Helfer.“

„So? Paß’ nur auf! Du, freilich, Du bist noch nie hinausgekommen aus dem Gadem. Aber ich, Fischer, ich weiß, wie sie’s machen!“ Mit hohler Hand strich Herr Waze über die Tischplatte, als lägen goldene Schätze vor ihm, die er einstreifen möchte in seinen Schoß. „Beim Kleinen fangen sie an, schön langsam, und allweil schneller geht’s, und beim Großen hören sie auf. Mit Gotteslieb’ und Himmelsgnad’ aißen[10] sie die Gruben an, und was drauf hereinfallt, das kommt in den Klostersack. Und der hat kein Loch ... was da einmal drin ist, das bleibt!“

Sigenot schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin.

„Warum lachst Du?“ brummte Herr Waze, während draußen der erste brausende Windstoß um das Haus fuhr.

„Der Ramsauer Pfarrherr ist mir eingefallen, der alte Hiltischalk.“

„Was willst mit dem?“

„Der hat mich als Bub getauft ... das ist der einzig’, den ich kenn’. Und wenn die vier, die heut’ gekommen sind, dem Ramsauer nachgeraten, so könnt’ man allweil hausen mit ihnen. Denn vom Ramsauer hab’ ich noch nie gehört, daß er ’was eingestrichen hat in seinen Sack. Ich hör’ nur allweil, daß er giebt ... das letzte Haftl und das letzte Pfaid und Herz und Leib dazu.“

Herr Waze hatte regungslos gesessen, mit funkelnden Augen an dem Munde des Fischers hängend. Jetzt sprang er auf und warf den Stuhl beiseite. „Hol’ ihn der Teufel, den er predigt!“ schrie er mit zitternden Lippen. „Der gerad’, der ist von den Aergsten einer! Der weiß, wie man’s machen muß, daß die Roß’ nach dem Fuhrmann schlagen! Die ganzen Leut’ in der Ramsau hat er mir verdorben in Grund und Boden. Da steht ja einer neben dem andern wie Stein bei Stein in der Mauer!“

Sigenot erhob sich. „Ich mein’, Herr Waze, das hat ein anderer fertig gebracht als der Ramsauer Pfarrherr.“

Herr Waze hörte diese Worte nicht; der zweite Windstoß rauschte um das Haus, daß alles Gebälk erzitterte; an einem der Fenster riß der dünne Schliem, ein zischender Luftstrom fuhr in die Stube und machte die Kerzen flackern. Mit zorniger Faust stieß Herr Waze den Laden vor. „Und jetzt,“ so schrie er, „jetzt will sich gleich ein ganzes Bündel festsetzen im Gadem. Und eine Klaus’ wollen sie bauen, und aus der hölzernen Klaus’ soll ein steinernes Kloster wachsen mit Mauer und Türm’ ... und wie man der Sau das Blut ablaßt, langsam, aber sicher, so soll ich Stückl um Stückl herlassen, was ich halt’ in meiner Faust. Aber die sollen den Waze kennenlernen! Wenn ich nur wüßt’, wer hinter ihnen steht! Ob der Salzburger? Oder gar noch ein Stärkerer, der mir ans Fleisch kann! Wenn ich nur das wüßt’ ... dann möcht’ ich ihnen morgen ein Wörtl sagen, daß ihnen die Zung’ in den Hals fallt! Aber so ...“ Herr Waze schluckte die Worte und griff sich mit den Fäusten an die eigene Brust.

Sigenot stand schweigend, mit ernstem Blick. Keuchend trat Herr Waze an den Tisch und hob den Krug. Als er ihn niedersetzte, schnitt er ein Gesicht, als wär’ ihm die Zunge bitter geworden. „Was nur das wieder für ein Gesüff ist! Den Met hat der Schönauer gesteuert ... und hat mir mit Fleiß den Honig verdorben!“

„Nein, Herr!“ sagte der Fischer. „So was thut der Schönauer nicht. Aber wenn einer zu oft in den Immstock greifen muß und mehr vom Stock verlangt, als er geben kann, so sind die Immen bald nimmer heikel im Blumensuchen und heimsen auch auf schlechtem Kraut und auf Giftblumen. Das merkt man halt nachher im Met ... obenauf schmeckt er freilich süß, aber der Satz wird bitter auf die Letzt.“

„So? Meinst?“ brnmmte Herr Waze und roch in die offene Bitsche. Er stieß den Krug von sich und schrie: „Was mich am meisten ärgert, was mir alles umdreht im Leib –“ die beiden Fäuste schlug er an seine Stirn’ – „ich selber bin schuld, daß ich die Schermäus’ jetzt im Land hab’!“ Er trat vor den Fischer hin und mit fuchtelnden Armen begann er zu erzählen: „Vor Jahr’ einmal, da sind der Sulzbacher und seine Gräfin auf den Einfall gekommen, sie möchten Nachschau halten im Gadem. Ohne Troß und Knecht’ sind sie draußen weggeritten von der Herrenburg; und unterm Lokistein, wo der Goldenbach in die Achen fließt, sind sie in die Irr geraten. Da haben sie aus dem Sattel steigen müssen und zu Fuß weiter suchen. Und auf einmal, da bricht unter ihnen die Erd’ ein, und halb verschüttet sind sie in der brunnentiefen Grub’ gelegen, zwei Tag’ und eine Nacht. Und was sagst? Da muß mich mein Unstern dazuführen ...“ Herr Waze lachte zornig auf und streckte die Fäuste gegen die Decke.

„Unstern?“ Sigenot furchte die Brauen. „Es sind doch Menschen in der Not gewesen, und Eure Herrenleut’ dazu!“

„Paß’ nur auf, was weiter kommt!“ schrie Herr Waze. „Auf der Sauhatz hab’ ich die ledigen Roß’ gefunden, hab’ vom Sattelzeug richtig auf die Reiter geraten und hab’ mich mit meinen Leuten ans Suchen gemacht. Und finden hab’ ich sie müssen! Finden! Und hab’ noch eine Freud’ gehabt, weil ich gemeint hab’: jetzt, wo mir der Graf und die Gräfin ihr Leben danken müssen, hätt’ ich einen rechten Stein im Brett. Und weißt, was geschehen ist?“ Mit beiden Händen faßte Herr Waze den Fischer am Wams. „Wie der Graf und die Gräfin wieder daheim waren, hat der Burgpfaff angefangen, der Frau Adelheid ins Ohr zu reden: ihr Unglück und die Rettung ... hörst, Fischer, die Rettung! .. das wär’ ein Vermerk von Gott gewesen, daß Frau Adelheid das alte Gelübd’ ihrer Mutter erfüllen müßt’ und den Berchtersgadem hingeben an die Kirch’!“ Herr Waze schlug die Fäuste auf den Tisch und lachte mit bleichen Lippen. „Und wie schon allweil der Zwölfer fallt, wenn die Schwarzkittel ihre Knöchel werfen ... so hat’s nicht lange gedauert, da kommt das Siechtum über Frau Adelheid und auf dem Totenschragen hat sie den Eid gethan und zwölf Edelleut’ haben mitschwören müssen, daß der Berchtersgadem an das Kloster fallt!“

Sigenot hob den Kopf und zog die Kappe aus dem Gürtel. „So wär’ das richtig und wahr? Die Schenkung ist beschworen und gethan?“

„Ja, ja, ja!“ schrie Herr Waze. „Und das ist der Dank, den ich hab’! Was sagst, Fischer? Was sagst?“

„So muß ich sagen, daß die Leut’ ein Recht haben, wenn sie kommen ... daß sie die Herren im Gadem sind.“

„Was Herr? Wer Herr?“ klang die kreischende Antwort. „Ich bin der Spisar im Gadem, und ich bin nicht gefragt worden, ich hab’ der Schenkung nicht zugestimmt – und ich thu’s auch nimmer!“

„Wer hätt’ Euch denn fragen müssen? Wenn ich mein Wesen verschenken will, muß ich denn da mein Gesind’ erst fragen?“

Herrn Waze blieb die Antwort in der Kehle stecken; seine Augen erweiterten sich, und ein Zittern befiel seine Knie. Er lachte nur gepreßt und heiser. Mit zuckenden Fäusten zog er die Rocksäume über der Brust zusammen und schritt in der Stube auf und nieder. Draußen kam der Sturm gezogen. Es pfiff und heulte um das Haus, dumpf rauschten die Wipfel der Bäume, man hörte das Krachen brechender Aeste, das Geklapper fallender Schindeln, und in weiter Ferne rollte der erste Donner.

Herr Waze blieb vor Sigenot stehen, mit funkelnden Augen und fahlem Gesicht. „Fischer! Da steh’ ich vor Dir ... und [72] draußen beim Lokistein liegen die Klosterleut’ … zu wem willst halten?“

„Warum eine solche Frag’, Herr? Ich bin doch nur einer – kommt’s denn auf einen an?“

„Du gehst für hundert. An Dir hängen die Leut’ im Gadem wie die Schaf’ am Salz. Zu wem willst halten?“

„Fürs erste halt’ ich zu mir selber. Und wenn mich noch ein anderer braucht, so muß das allweil einer sein, bei dem ich ein Recht seh’.“

Langsam trat Herr Waze von Sigenot zurück und maß ihn mit stechendem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. „Fischer!“ Und drohend hob er den Finger. „Fischer, besinn’ Dich! Da steh’ ich vor Dir, und da draußen sind die andern. Schau fest hin! Auf welcher Seit’ ...“

„Ich seh’ nur Euch, Herr!“ unterbrach ihn Sigenot mit ruhigem Wort. „Daß ich mir die andern anschau’, dazu brauch’ ich Zeit!“

Wazemanns Augen blitzten, und ein tückisches Lächeln verzerrte seine Lippen. „Gut, Fischer, so haben wir ausgeredet miteinander … für heut’!“

„Wohl wohl, Herr! Und somit gut’ Nacht!“ Sigenot nickte und schritt der Thüre zu.

Als er im Dunkel der Vorhalle verschwunden war, eilte Herr Waze zu einer der beiden Thüren, welche in das Innere des Hauses führten, riß sie auf und that einen leisen Pfiff.

Ein Knecht kam gesprungen. „Herr?“

Wazemann besann sich; dann schüttelte er den Kopf und drückte die Thüre wieder zu. Er ging zum Tisch zurück; aber da sah er betroffen auf. Sigenot stand auf der Schwelle.

„Hast Dich besonnen, Fischer?“ kam es über Wazes Lippen gesprudelt.

Sigenot blickte zu Boden. „Herr dranßen geht ein schieches Unwetter los und mir ist eingefallen … Eure Tochter ist außer Haus.“

Herr Waze machte ein verblüfftes Gesicht. „Was geht meine Dirn’ Dich an? Die wird wohl wissen, wo sie bleibt!“ Damit drehte er dem Fischer den Rücken zu. Sigenot stand noch eine Weile; dann zuckte er die Achseln, warf einen zerstreuten Blick durch die Stube und ging.

Wazemann schielte ihm nach und lächelte. „Ich laß Dir freien Weg aus meinem Haus …geh’, Fischer, geh’ nur! Aber ich mein’ schier, Du gehst Deinem Vater nach.“

Graues Dunkel lag schon über dem Hof, als Sigenot aus der Vorhalle niederstieg. Jagendes Gewölk bedeckte den Himmel. An dem Pförtlein über dem Felsenstieg wartete der Knecht, der den Fischer ins Haus geführt hatte. „Willst heimzu nicht lieber den Reitweg nehmen?“ fragte er.

Sigenot schüttelte den Kopf. „Ich geh’ hinunter, wo ich herauf bin.“

„Der Sturm blast aber bös hin an die Wand.“

„Mich wirft er nicht! Mach’ auf!“

Der Knecht öffnete das Pförtlein und Sigenot betrat den steilen und dunklen Weg.

Von der Bergseite der Mauer her ließ sich wirrer Stimmenlärm vernehmen. Wazemanns Söhne kehrten von der Jagd zurück. Das Gesinde lief zusammen und zwei Knechte kamen mit Windfackeln, deren rußende, vom Sturm gepeitschte Flammen den Burghof mit rötlichem Schein erfüllten. Zwei Jägerknechte, welche mit heimkehrten, trugen ein schweres Stück Fahlwild[11] an einer Stange. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig, die ältesten von Wazemanns Söhnen, warfen die Gemsböcke nieder, mit denen ihre Rücken beladen waren. Eilbert trug die Stahlbogen und Köcher der älteren Brüder. Gerold und Otloh, die beiden jüngsten, führten in ihrer Mitte einen Buben, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren. Sie alle trugen, mit geringem Unterschied, das gleiche Gewand: die Marderkappe mit der Adlerfeder, das Lederwams, die kurze Berghose und am Gürtel den Wildfänger. Rauhe verwegene Gestalten, denen das wilde zügellose Leben, das sie führten, aus Gesichtern und Augen blickte.

Geschrei und Hundegeheul erfüllte den Hof und übertäubte das Schluchzen des gefesselten Buben, der sich kaum mehr aufrecht zu erhalten vermochte. Herr Waze kam von der Vorhalle herabgestiegen, und während ihm der Sturm den Bart zauste und den Hausrock um den Körper peitschte, musterte er beim Schein der Fackeln das erlegte Wild. Der erste Gemsbock schien ihm zu gefallen. „Der hat den Schuß auf dem rechten Fleck. Wer hat den Schuß gethan?“

„Ich!“ sagte Rimiger und stellte sich breit vor den Vater hin. „In voller Flucht ist mir der Bock gekommen und ist hergesaust durch die Latschen … ich hab’ schon geflucht und hab gemeint, ich muß ihn durchlassen ohne Schuß … aber grad’ noch hab’ ich ein Gaßl durchs Latscheret gefunden, hab’ die Senn’ klingen lassen, und wie vom Blitz erschlagen hat’s ihn hingehaut.“

„Recht so, Bub’, Du hast ’was gelernt von mir!“

Beim zweiten und dritten Gemsbock nickte Herr Waze nur. Jetzt aber sah er das Fahlwild und dunkle Zornröte schoß ihm ins Gesicht. „Höll’ und Pest! Wer hat mir das gethan! Das ist ja eine Geiß!“

„Ich kann nichts dafür, Vater!“ stotterte Eilbert. „Der Nebel ist eingefallen da hat mir das Stückl stärker geschienen, und ich hab’ gemeint, es wär’ ein Bock.“

„Gemeint hast, so, gemeint?“ schrie Herr Waze. „Ein Jäger soll nicht meinen, ein Jäger muß wissen! Wo sollen denn die Böck’ herkommen, wenn mir so ein Schinder wie Du die Geißen wirft! Da hast einen Merk!“ Und ein klatschender Schlag fiel auf Eilberts Wange. Alle andern lachten; Eilbert aber erbleichte bis in die Lippen, schoß einen funkelnden Blick auf den Vater und ging wortlos ins Haus.

Da gewahrte Herr Waze den gefesselten Buben. „Was soll’s mit dem?“

„Rühr’ Dich, Du!“ schrie Otloh und versetzte dem Buben einen Stoß ins Genick, daß er vor Wazemanns Füße taumelte.

Wieder lachten alle, während der Bub sich stöhnend aufrichtete. Er mochte kaum fünfzehn Jahre zählen; sein ganzes Gewand war ein alter Sack, der mit einer Weidenrute um die Hüften gebunden war und drei Löcher für den Kopf und die Arme hatte; das Gesicht war leichenfahl, die Lippen bluteten, und die vor Angst und Erschöpfung schlaffen Wangen waren von Zähren überronnen.

„Was hat der Bub gethan?“ fragte Herr Waze. Und Gerold sagte: „Unter der Eismannwand, mitten im besten Wildbogen, ist er uns in die Händ’ gelaufen.“

Wazemanns Brauen zogen sich zusammen. „Was hast Du auf dem Eismann zu schaffen, Du Rabenaas?“

„Ach, Herre, Herre,“ schluchzte der Bub, an allen Gliedern zitternd vor Angst, „ich hab’ ja nur meine Geißen gehütet, hinter dem Eismann drüben, bei der Oedhütt’, und zwei, Herre, zwei haben sich halt verstiegen … die hab’ ich doch suchen müssen!“

„Weißt Du nicht, daß der Eismann mein Bannberg ist, auf den mir keiner steigen soll und mein Fahlwild scheuchen, bei Leib und Leben?“ Der Bub rührte die Lippen, aber es wollte kein Wort mehr von seiner Zunge.

Herr Waze winkte einen Knecht herbei. „Pack’ ihn, und hinunter mit ihm ins Bußloch! Und daß ihm für ein andermal die Lust vergeht, auf meinem Bannberg herumzusteigen … stich ihm über den Fersen die Sehnen ab!“

„Herre, Herre! Habet doch Barmherzigkeit – ich thu’s ja nimmer, nimmer, nimmer!“ schrie der Bub in herzzerreißendem Jammer. Aber der Knecht packte ihn, riß ihn mit sich fort, und hinter den dicken Mauern des Unterbaues erstickte das Geschrei des Knaben.

Herr Waze stieg zur Vorhalle hinauf; er mußte auf der Treppe das Geländer fassen, mit so ungestümer Macht fuhr der Sturmwind auf ihn ein. Aus der Halle rief er herunter: „Schauet, daß Ihr bald hereinkommt in die Stub’! Ich hab’ mit Euch zu reden.“

Gerold und Otloh folgten ihm. „Was meinst denn, daß er hat?“ fragte der erstere den Bruder. „Was er hat? Schiech Wetter unter dem Hirndach!“ lachte Otloh. Hinter den beiden stiegen Rimiger und Hartwig die Treppe hinauf. Sindel, welcher mit Henning noch bei den Gemsböcken stand, fragte den Bruder mit halblauter Stimme: „Meinst nicht, der Vater hat’s mit dem Eilbert ein lützel zu grob gemacht? Was ein Vater darf, hat auch seine Grenz’, und der Bub ist doch ein ausgewachsener Mensch.“

„Die Maulschell’ hat ihm gehört! Warum wirft er eine Geiß!“

[74] „Er muß rein blind gewesen sein, oder er hat schon wieder eine Dirn’ im Kopf. Das macht ihn wirblig wie der Drehwurm die Gems. Ich mein’ schier, er hat’s auf die Fischerdirn’ abgesehen.“

Henning hob langsam das Gesicht. „Auf das Rötli? Da wird ihm wohl der Schnabel sauer bleiben.“

„Warum?“

„Das hat seinen guten Grund!“

Sindel schaute dem Bruder ins Gesicht und lachte. „Deinen Grund, den kann ich mir denken.“

Sie gingen der Treppe zu. Da fragte einer der Knechte, welche mit dem erlegten Wild beschäftigt waren, den an seiner Seite Schaffenden. „Wer ist denn der Bub, der da drin gebüßt wird? Kennst ihn Du?“

„Wohl wohl. Huze heißt er und ist dem Schapbacher hörig, dem er die Geißen hütet. Seine Mutter ist die Heilka gewesen, die Sennin. die man aus der Windach gezogen hat.“

Sindel blieb auf der Treppe stehen und stieß den Bruder lachend mit dem Ellbogen an. „Hast gehört? Die Heilka ist seine Mutter gewesen.“

„Laß mich in Ruh’!“ brummte Henning.

„Da solltest den Buben doch laufen lassen!“

„Was geht der Bub mich an! Ich hab’ seiner Mutter ...“ Ein tobender Windstoß erstickte die folgenden Worte. Henning und Sindel traten in die Herrenstube, in welcher ihre Brüder schon um den Tisch saßen.

„Jetzt sind wir all’ da, Vater!“ sagte Hartwig. „Aber wo ist denn die Schwester?“

„Gut, daß sie fort ist. Sie braucht nicht zu hören, was ich mit Euch zu reden hab’.“ Herr Waze trat an den Tisch und stemmte die Fäuste auf. „Wißt Ihr schon die neueste Botschaft?“

„Heraus damit!“ lachte Rimiger.

„Wart’ nur, gleich wirst nimmer lachen. Wir haben Gäst’ im Gadem. Die Schermäus’ sind gekommen. Draußen beim Goldenbach, unterm Lokistein, haben sie die Zelt’ geschlagen.“

Um den Tisch war lautlose Stille, nur einen Augenblick, dann sprang Henning auf, und sein Faustschlag dröhnte auf der Tischplatte. „Mein Roß her! Das giebt noch eine lustige Hatz auf die Nacht! Die Kutten sollen mir laufen, daß der Wind, der draußen wettert, zurückbleibt hinter ihnen!“

Die Brüder sprangen auf, die Stühle kollerten und wirres Geschrei erfüllte die Stube. Hennings Wort hatte die Meinung aller getroffen. Wie die Wespen aus einem Nest, in das der Fuchs gegriffen, so stoben sie auseinander.

„Ihr Narren! So bleibt doch!“ überschrie Herr Waze den Lärm. Ringsum an den Thüren blieben sie stehen und schauten den Vater an. „Her wieder an den Tisch!“

„Vater! Was soll denn das?“ rief Rimiger. „Willst gar Du uns die Händ’ binden, wo doch der Schlag am besten ausgiebt, wenn er gleich fallt?“

„Her an den Tisch!“ befahl Herr Waze, und seine Stirne wurde rot. Zögernd kamen sie und nahmen ihre Plätze wieder ein.

„Und jetzt haltet die Mäuler! Keiner soll mir dazwischen reden!“ Herr Waze atmete tief und warf sich auf einen Stuhl. „Gekommen sind sie – und fort müssen sie auch wieder. Aber wie? Mit Gewalt geht’s nicht, das hab’ ich mir lang gesagt. Sie haben die Kutten an, und wer hinrührt an den schwarzen Rock, der könnt’ sich bös die Händ’ verbrennen. Das Mittel, das Euch taugen möcht’, wär’ von allen das schlechteste. Schlagt die Viere nieder, und zehne wachsen nach ... schlagt die Zehne nieder, und zwanzig stehen auf. Nein, Buben, mit dem Schlagen und Jagen geht’s nicht ... von selber müssen sie wieder gehen.“

„Wenn sie nur mögen!“ lachte Henning.

„Daß sie mögen. das laß Du meine Sorg’ sein! Ich hab’ zwei gute Helfer: Hunger und Winter. Euch aber brauch’ ich auch dabei. Und so hat’s von morgen an ein End’ mit dem Gejaid einen Tag um den andern. Drei von Euch mögen hetzen und jagen wie allweil ... aber viere bleiben all’ Tag daheim. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig. Ihr macht für morgen den Anfang. Vor Tag wird gesattelt und Ihr reitet hinaus ...“ Zwei Mägde traten ein, um den Tisch für das Nachtmahl zu bestellen. Herr Waze verstummte und gab seinen Söhnen einen Wink, zu schweigen. Er trat unter die offene Thür der Vorhalle und blickte hinaus in das Stürmen und Toben der sinkenden Nacht. „Henning!“ rief er und ging langsam in die Vorhalle. Der Aelteste folgte ihm. „Was willst, Vater?“

„Was meinst wohl, wer wird der Erste sein, der’s mit denen da draußen hält?“

„Gieb nur acht, Vater ... ich leg’ meine Hand dafür ins Feuer: der Fischer!“

Herr Waze nickte schweigend.

„Hast am End’ schon einen Beweis dafür?“ fuhr Henning fort.

„Ich hab’ geredet mit ihm. Und wie ich ihn gefragt hab’: willst zu mir halten oder nicht, da ist er gestanden wie ein Stock.“

Henning lachte. „Das ist der Dank dafür, daß Du alleweil die Hand über ihn gehalten hast!“

„Damit hat’s ein End’!“ sagte Herr Waze und wollte die Vorhalle verlassen. Aber Henning faßte ihn am Arm. „Vater! Wie soll das gemeint sein?“

„Wenn Du’s nicht verstanden hast, so horch ein andermal besser auf!“ Herr Waze löste seinen Arm und trat in die Stube. Henning aber stand und blickte durch die rauschenden Bäume hinunter auf das vom Sturm umtobte Fischerhaus. Er lachte und hob die geballte Faust.

Ein greller Blitz zuckte über die Wolken hin, und dumpfer Donner füllte das weite Bergthal.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 6, S. 85–88
[85]
8.

Sigenot überschritt auf dem Heimweg die Achenbrücke. Das Wasser rauschte und klatschte im wogenden Schilf, und der wirbelnde Sturmwind trieb den weißen Schaum über das Ufer. Kein Regen fiel, aber ohne Unterlaß rollte der Donner, und in schneller Folge zuckten die Blitze über das Gewölk. Thal und Berge leuchteten auf in grellem Glanz, um jählings wieder in tiefes Dunkel zu versinken. Zwischen den Bäumen, welche ächzten unter der Wucht des Sturmes, lag, wenn die blendende Blitzhelle erlosch, so schwarze Finsternis, daß Sigenot den Weg nur tastend fand. Als er das Hagthor seines Hauses erreichte, hörte er aus der Nähe des Stalles die kreischende Stimme der Magd. „Wicho! Heidoooh! Wicho!“ Und aus dem Inneren des Hauses klang Mutter Mahtilts schrilles Gelächter. Sigenot erschrak, denn er kannte die Sprache dieses Lachens, und eilte hastig über den Hügel empor. Matter Feuerschein leuchtete aus der offenen Hausthür. Der Fischer trat in eine weite Halle, welche Flur, Wohnstube und Küche in einem war. Die Balken der Decke waren berußt, und quer unter dem offenen Rauchfang hing die Bretterklappe, welche durch einen Kettenzug geschlossen werden konnte, um die Wärme im Raum zurückzuhalten oder dem Eindringen des Windes zu wehren. Eine Thüre führte in Sigenots Kammer, eine zweite in die Schlafstube seiner Mutter und Schwester. Zwischen den beiden Thüren war der niedere offene Herd an die Balkenwand angebaut; über ihm, auf schmalem schwarz berußten Gesims, standen die den Herd beschützenden Alraunen und geschnitzten Feuermännlein. Auf der Herdstatt flackerte, den dampfenden Dreifuß umzüngelnd, eine rauchlose Flamme. Ihr Schein beleuchtete Sigenots Mutter, welche neben dem Herd in dem mit einem Wolfsfell überhängten Lehnstuhl saß. Das Kleid aus gelblichem Hanftuch und die regungslose Ruhe der gelähmten Füße gab ihrem Körper den Anschein eines steinernen Bildes. Aber die Arme waren [86] dem Sohn entgegengestreckt, Angst und Jammer sprachen aus dem Gesicht, über dessen Wangen vier straff geflochtene graue Zöpfe niederhingen auf die Brust; die weit offenen Augen waren mit Thränen gefüllt und die schwere Zunge lallte. In der Unglücksnacht, in welcher das Wasser Sigenots Vater verschlungen, hatte Mutter Mahtilt die Sprache verloren; nur Lachen und Weinen waren ihr noch geblieben – das Weinen für die Freude, das Lachen für Wunsch und Angst.

„Mutter?“ stammelte Sigenot. „Was hast? Was ist denn geschehen?“ Das Weib lallte und lachte.

Er schien sie zu verstehen und blickte um sich. „Das Rötli? Wo ist das Rötli?“

Mutter Mahtilt deutete mit den Armen, während ein Windstoß unter dröhnendem Donner das Haus umfuhr. Da erblaßte Sigenot. „Draußen? Auf dem Wasser?“ schrie er und stürzte zur Thüre. Auf der Schwelle blieb er stehen, kehrte zurück, faßte die Hände der Mutter und sagte: „Mußt keine Angst haben, Mutterli, ich bring’ Dir das Kind!“ Mutter Mahtilt klammerte die Finger um seine Hände, blickte zu ihm auf und nickte; ihre Hände zitterten, und glänzende Zähren rollten über ihre Wangen.

Sigenot lächelte und ging zur Thüre. Kaum aber war er hinausgetreten ins Freie, in den tobenden Sturm, da überfiel ihn zitternde Unruhe; mit zuckenden Händen griff er nach einem Ruder. „Wicho! Wicho!“ schrie er. Aber es kam nur die Magd gerannt.

„Der muß im Heimgart’ sein, ich weiß nicht, wo!“ stotterte sie.

Sigenot schwang das Ruder über die Schulter und rannte über den Hügel hinunter, dem Hagthor zu; hinter ihm her die Magd. Als sie die Lände erreichten, über welche jede anrauschende Welle einen schäumenden Wasserguß herausspültc, zuckte ein greller Blitz. In der brennenden Helle sah Sigenot den Einbaum am Ufer liegen. „Ach Du meine Not,“ stammelte er, „sie hat nur den leichten Gransen!“ Er warf das Ruder in den Einbaum und stemmte, auf die Knie gebückt, von Wasserschaum umflattert, die Schulter gegen das schwere Boot. Die Magd wollte ihm helfen, aber sie kam zu spät; ehe sie noch die Hände ausstreckte, schwankte der Nachen schon auf den Wellen, und Sigenot stand darin und zerrte das Ruder durch den Weidenring. Mit wuchtigen Schlägen trieb er den Einbaum, dessen Schnabel auf die ansteigenden Wellen klatschte. Blitz um Blitz erhellte die Finsternis, Sigenot spähte hinaus über den Seeweiher, doch er sah nur das Gewirbel des weißen Wassers.

„Rötli! Rötli!“ schrie er mit hallender Stimme; aber sein Ruf erstickte im Brausen des Sturmes, und keine Antwort erklang; nur droben in Wazemanns Haus heulten und kläfften die Hunde.

„Rötli! Rötli!“ schrie Sigenot immer wieder und holte mit dem Ruder aus, daß die Stange knirschte. Jeder neue Wellenschlag erschütterte den Einbaum und machte ihn steigen und sinken; aber das Boot hielt feste Fahrt. Nun fuhr es knirschend durch Geröhr, rauschte vorüber an der Insel und vor Sigenot öffnete sich der Weitsee. Brausen, Rauschen, Donner und Echo füllte den nachtschwarzen gewaltigen Felsenkessel.

„Rötli! Rötli!“

Da klang von der Falkenwand herüber ein schluchzender Schrei.

„Ich komm’ schon, Rötli!“ jauchzte Sigenot und warf sich mit dem ganzen Körper auf die Ruderstange. Jeder Schlag trieb den Einbaum über sprühende Wellenkämme, und immer näher rückte die schwarze Wand. Ein Blitz fuhr nieder über die Berge, und in dem Feuerschein, der über das kochende Wasser floß, sah Sigenot den Gransen an der senkrecht aus dem Wasser steigenden Felswand hängen und anschlagen wider das Gestein aber zwei Gestalten trug der Nachen, und vier Arme hingen angeklammert an das dürftige Gestrüpp, das in den Runsen der Felswand wurzelte. Ein heißer Schreck durchzuckte Sigenots Herz und über seine Lippen rang sich ein stammelnder Laut. Da lag schon wieder die Finsternis um ihn her. Aber der Einbaum schoß der Felswand zu, die Ruderstangc ächzte und der Schaum der gebrochenen Wellen, vom Sturm getrieben, übersprühte Schiff und Schiffer. Wieder flammte ein Blitz – dicht neben dem weißumbrandeten Gransen glitt der Einbaum vorüber – Sigenot ließ das Ruder sinken, griff zu mit beiden Armen, faßte mit eisernem Griff die Tochter Wazes um die Hüften und schwang sie herüber in das Boot. Recka taumelte, ihre Arme klammerten sich um den Hals des Fischers und schwer hing sie an seiner Brust; Sigenot hielt das Mädchen umschlungen, er fühlte ihren bebenden Körper, den Schlag ihres Herzens, den heißen Hauch ihres Mundes – und plötzlich ging es ihm wie strömende Glut durch Leib und Herz, und ein jähes Zittern rann ihm durch die Arme. Da klang durch das Rauschen und Stürmen in schreiender Angst Edelrots Stimme: „Ich sink’! Ich sink’!“

Sigenot erwachte. „Rötli!“ rief er mit ersticktem Laut und seine Arme ließen von Recka, welche wankend niederstürzte auf den Boden des Einbaums. „Rötli! Ich komm’ schon!“

„Sigenot!“ Hart neben dem Einbaum klang der gellende Ruf, nicht mehr an der Felswand, sondern zu Sigenots Füßen, zwischen den Wellen.

Mit heiserem Schrei warf sich der Fischer auf die Knie und griff in der Finsternis mit beiden Händen hinaus über den Einbaum; seine Finger stießen noch an den Rand des sinkenden Gransens. Da kreischte Recka: „Hilf mir, ich hab’ sie gehascht!“

„Rötli! Rötli!“ Sigenots Hände tauchten in eine steigende Welle, er fühlte einen schlagenden Arm und griff ihn. Im Nu stand er aufrecht im Boot, hob die Schwester mit zitternden Armen empor und ließ sie niedergleiten in Reckas Schoß. Er sprach kein Wort, nur ein Stöhnen rang sich aus seiner schwer atmenden Brust.

Krachend stieß der Spiegel des Schiffes an die Felswand, und eine Welle überschlug den Einbaum. Sigenot wankte – aber seine Hände hatten schon das Ruder gefaßt; er stieß sich von der Felswand ab, und mit weit ausholenden Schlägen trieb er das auf- und niederschwankende Boot durch Sturm und Wellen. Floß die Feuerhelle eines Blitzes über das Wasser, so sah er vor sich im Einbaum Wazemanns Tochter sitzen, mit blassem steinernen Gesicht, das die vom Sturme gelösten Haare umringelten gleich roten Flammen; und vor ihr lag Edelrot auf dem Boden des Einbaums, Reckas Hüfte umklammernd, das Gesicht in ihren Schoß gedrückt, mit ersticktem Schluchzen, umschwankt von dem Wasser, das die Wellen in den Kahn geworfen.

Im Röhricht, welches die Insel umzog, stockte der Einbaum; aber ein Stoß der Ruderstange befreite ihn wieder – und nun wies in der Finsternis die rotleuchtende Thür des Fischerhauses den Weg zur Lände. Die Magd am Ufer, da sie den Nachen klatschen hörte, stieß einen hellen Schrei aus und rannte dem Hause zu.

Knirschend fuhr der Einbaum in den Sand. Sigenot sprang an das Ufer; stammelnd beugte er sich über Edelrot, umschlang sie mit beiden Armen und hob die Schwester, deren Gewand von Nässe troff, empor an seine Brust. Wazes Tochter erhob sich und sprang aus dem Kahn. Sie stand, preßte die Hände auf den Busen und starrte hinaus über den tobenden See. Grell leuchtete ein Blitz.

„Recka!“ stotterte Sigenot. „Hast Schmerzen – ist Dir ’was geschehen?“

„Mir? Nein!“ klang ihre harte Stimme. „Aber meine Stößer hab’ ich verloren. Um die ist mir leider, als mir um mich gewesen wär’.“ Sie kehrte sich ab, und unter rollendem Donner schritt sie den im Sturmwind rauschenden Bäumen zu.

„Recka!“ rief ihr der Fischer nach. „Willst nicht warten, bis ich mit einer Fackel komm’?“

„Ich find’ meinen Weg allein!“

Enger klammerten sich Sigenots Arme um die zitternde Schwester, und raschen Ganges trug er sie in das Haus. „Mutterli!“ schluchzte Edelrot, als der Bruder sie in der Halle niedergleiten ließ; sie sank vor der Mutter auf die Knie und schmiegte sich an ihre Brust, tief atmend, als fühlte sie sich jetzt erst sicher und gerettet. Mahtilt umschlang ihr Kind, drückte die Wange an Rötlis Köpfchen und weinte in heißer Freude …

Sigenot starrte stumm die beiden an; fahle Blässe lag auf seinem Gesicht, und seine Augen brannten. Da faßte die Mutter seine Hand, drückte sie und lächelte zu ihm auf; er aber zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. „Ich hab’ Dir das Kind nur heimgetragen … geholfen hat ihm Wazemanns Tochter!“ Er griff nach einer langen Kienfackel, welche in einer Ecke lehnte, steckte sie am Herdfeuer in Brand und verließ die Stube. Eilenden Ganges gewann er die Achenbrücke. Er mußte die Fackel weit von sich halten, damit ihm der wirbelnde Sturm nicht die lodernde Pechflamme ins Gesicht trieb. Als er den finsteren Wald betrat, sah er beim Schein der Fackel die Tochter Wazes zwischen den [87] Bäumen schreiten – sie folgte dem Pfad, welcher hinüberführte zum Felsenstieg. Er holte sie ein, doch als er an ihrer Seite stand, blickte sie nicht einmal auf. „Recka,“ sagte er, „über die Wand hinauf, das ist kein Weg für solch eine Nacht!“

„Ich geh’, wo ich will.“

„Ein andermal – aber heut’ nicht!“ Mit diesen Worten faßte er ihre Hand.

Da hob sie das Gesicht, und es zuckte um ihre Lippen; sie machte einen Versuch, ihre Hand zu lösen, doch Sigenot hielt fest. Zwischen den Bäumen zog er sie mit sich fort, dem breiten Reitweg zu. Als sie hier eine Strecke gegangen waren und Sigenot fühlte, daß sich Recka nicht länger sträubte, gab er ihre Hand frei. Mit hoch erhobener Fackel schritt er an ihrer Seite. Sie sprachen kein Wort. Die rauchende Pechflamme wehte und loderte, und ihr greller wechselnder Schein zitterte über den Weg und gaukelte zwischen den finsteren Bäumen. Immer brausender wehte der Sturm, immer tiefer sank das treibende Gewölk, doch immer noch wollte der Regen nicht fallen, der die Wucht des Unwetters gebrochen hätte. Reckas Gewand flatterte, und die wehenden Haare züngelten ihr um Hals und Wangen. Häufig wankte sie im Gang, vom Sturm gestoßen und getrieben. Dann hob der Fischer die Hand, als wollte er sie stützen, doch Recka raffte ihr Gewand an sich und kämpfte sich weiter.

Auf der Höhe des Weges tauchte in der Blitzhelle schon die Mauer von Wazemanns Haus empor. Nun hörte Sigenot das Rasseln der fallenden Zugbrücke. Männer mit Fackeln kamen aus dem Thor. Reckas Brüder mit den Knechten; allen anderen voran eilte Henning den Weg einher.

„Ich komme!“ rief ihm Recka entgegen.

Geschrei und Gelächter war die Antwort; ein Deil der Männer kehrte in das Thor zurück, und Henning schrie: „Wo bleibst Du nur so lang’? Der Vater flucht schon eine ganze Weil’. Wo warst Du denn?“

„Auf dem Weitsee!“

„Jetzt? Im Sturm?“ Da erkannte Henning im Fackelträger seiner Schwester den Fischer. „Was will denn der bei Dir?“ Recka schwieg. „Hat der Dich am End’ herausgeholt?“

„Ja!“ sagte Recka und schritt an dem Bruder vorüber. Sigenot hatte schon den Rückweg angetreten; doch er hörte noch Hennings Lachen und seine höhnenden Worte. „Schäm’ Dich, Schwester! Bist Blut von Wazes Blut, und mußt Dir helfen lassen von einen solchen ...“

Sigenots Faust krampfte sich um den Schaft der Fackel. Dann schritt er heimwärts und ein bitteres Lächeln glitt über seine bleichen Lippen. Immer rascher wurde sein Gang. Aeste, die der Sturm von den Bäumen am Wegsaum brach, fielen ihm vor die Füße. Als er die Achenbrücke erreichte, war die Fackel niedergebrannt; er warf den erlöschenden Stumpf in das Gewirbel des Baches und schritt in der Finsternis weiter. Bald erreichte er seinen Hag und verschloß das Thor mit dem Balken.

Die Stube fand er leer. Mutter und Schwester lagen wohl schon im Schlummer. Nur ein Häuflein Kohlen glostete noch auf dem Herd, und auf dem Steintisch brannte die irdene Butterlampe mit züngelndem Flämmlein; neben die Lampe hatten sie ihm das Nachtmahl hingestellt. Sigenot sah es nicht ... er ließ sich auf den Herdrand niedersinken, atmete tief und blickte in den roten Schein der Kohlen.

Draußen tobte das Wetter, und durch die Spalten der geschlossenen Thüre, durch die Ritzen der Fensterläden leuchtete der weiße Feuerschein der Blitze.

*      *      *

Bruder Schweiker hatte die Stelle für die Nachtrast gut gewählt. In den Lüften heulte der Sturm, in der Höhe des Waldes brausten die Bäume, doch in die tiefgesenkte, von dichtem Gestrüpp umhegte Mulde drang der Wind nur mit gebrochener Macht, und selten geschah es, daß ein stärkerer Stoß aus den Lüften niederfuhr und an den beiden Zelten rüttelte. In dem einen teilte sich Schweiker mit Bruder Wampo in den schmalen Raum. Von der Gabelung der Zelthölzer hing ein schwankendes Lämplein nieder und warf seine trübe Helle über das auf einer Stangenbritsche gebettete Mooslager der beiden Brüder. Lang ausgestreckt, den Arm als Kissen unter dem Kopf, lag Schweiker in gesundem Schlaf; ihn weckte kein Donner, kein Brausen des Sturmes. Nur manchmal rührte er sich ein wenig, that einen schüchtern schnarchenden Atemzug und lag dann wieder in stillem Schlummer. Bruder Wampo aber konnte kein Auge schließen. Er saß auf dem Moosbett, die Knie an den Leib gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, zuweilen that er wohl im beginnenden Halbschlaf einen kleinen Nicker mit dem Kopf, doch wenn der Donner krachte und rollte, riß er die Augen wieder sperrangelweit auf und brummte vor sich hin: „So ein Wetter! Nein, ist das ein Wetter!“ Da raschelte es am Zelttuch. Wampo hob den Kopf und lauschte: „Was ist denn?“ rief er.

Einer der Knechte trat in das Zelt, mit einem Span in der Hand, den er über das Lämplein hielt, um ihn anzubrennen. „Wir müssen Feuer machen,“ sagte er, „die Saumtier’ schlagen umeinander und schnaufen ... Raubzeug muß in der Näh’ sein. Aber wenn das Feuer brennt, wird wohl bald Ruh’ sein.“ Mit dem flackernden Spanlicht ging der Knecht davon.

„So, schön! So, schön!“ stotterte Wampo. „Da laufen ja die wilden Tier umeinander wie die Hasen im Krautacker! O Du mein lieber Herrgott, ist das eine Gegend!“

Vor dem anderen Zelte, aus dessen Innern der eintönige Laut einer psalmierenden Stimme klang, saß Eberwein auf einer Fichtenwurzel mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, die Hände im Schoß gefaltet, regungslos, fast wie in Schlummer versunken. Ueberfloß ihn die Helle eines Blitzes, so erleuchtete sie ein ruhig lächelndes Gesicht und stille Augen, welche traumverloren hinausblickten in all das Stürmen und Toben.

Die Bilder des vergangenen Tages waren an seinem Geist vorübergezogen, und schwere Sorge hatte ihn bedrückt. Was er an diesem Tag erleben mußte, mit Sigenot, mit Waldram und mit dem Haunsperger ... hatte nach der heißen Freude, die er auf der steilen Felsenzinne dort oben empfunden, nicht alles geendet mit Verstimmung und Mißklang? War nicht der erste Weg schon, den er mit den Brüdern gegangen, ein Weg in die Irre gewesen? Und wie sollte nun alles weiterkommen? Würde er, ein Fremdling in diesem unwirtbaren Bergthal, wohl auch das Flecklein Erde zu finden und zu wählen wissen, welches die junge Klause am besten trüge? Und wenn die Klause stünde ... würde in dem zähen und schweren Kampf, der unausbleiblich schien, die Kraft und der hoffende Mut ihn nie verlassen, bis die Sendung erfüllt wäre, die er auf sich genommen? Aber stand er denn allein und ohne Hilfe? War denn mit ihm und seiner heiligen Sache nicht Einer, der Menschen Mildester und Größter, er, dessen Vater mit einem Wimperzucken die Welten lenkt, mit einem Hauch den Sturm erregt und ihn wieder geschweigt mit einem Lächeln? „Ach über mich Furchtsamen und Kleinmütigen, der ich doch nur die Augen schließen darf und meines Führers harren!“ Mit diesen Worten war die Ruhe über ihn gekommen, und je länger er saß, hinausblickend in die sturmvolle Nacht, desto heller und stiller ward es ihm in Herz und Seele.

Und wieder dachte er an alles, was dieser Tag gebracht. Und alles gewann nun vor seinem Blick ein anderes Gesicht. War sein Weg denn wirklich in die Irre gegangen ... der Weg, der ihn und die Brüder hierhergeführt an diesen stillen, vor der Wut des Sturmes wohlgeschützten Ort? Und Friedrich von Haunsperg? Wie durfte er diesem Manne zürnen? Ein Kriegsmann, der die Worte nicht wog, der von derber Art war und aus hartem Holz geschnitten, ein treuer Diener, der immer nur seines Herren denkt und immer nur seines Herren Vorteil zu wahren sucht! Und Waldram? Floß denn seine zornige Strenge und seine düster flammende Art aus anderer Quelle als aus reinem Glauben an Gott, aus heißem Eifer für Gottes Sache? Und wie sollte sich, was aus Gutem kam, nicht wieder zum Guten wenden lassen?e Und Sigenot, der Fischer? War Eberwein ihm nicht entgegengetreten, unerwartet, ein Fremder dem Fremden? Wachsen Freundschaft und Vertrauen aus dem ersten Wort, aus dem ersten Blick? Eberwein lächelte. War denn nicht alles, was dieser Tag gebracht, natürlich und selbstverständlich? Wo lag denn ein Mißerfolg, der ihn verstimmen durfte, mit Sorgen bedrücken und kleinmütig machen?

In den Lüften heulte ein Windstoß, und im Innern des Gewölkes flammte ein Blitz; in einer Wolkenkluft, auf finsterem Grund, beleuchtete die rot aufzuckende Helle ein seltsam geformtes, vom Sturm gejagtes Nebelgebild ... „Wie ein Roß und eine Reiterin mit wehendem Rothaar!“ flüsterte Eberwein.

[88] Da lag schon wieder tiefes Dunkel um ihn her, und über die Wolken rollte der Donner hin. Eberwein erhob sich und streifte, tief atmend, mit der Hand über die Stirn. „Ich habe zu lange gewacht. Meine Augen sehen, was nicht ist.“

Er ging dem Zelte zu, aus welchem noch immer Waldrams betende Stimme klang. Da blendete ein grelles Licht seine Augen. Ueber den waldigen Hügel, welcher jenseit der Ache lag, fuhr ein Blitzstrahl nieder und stand in der Luft gleich einem brennenden Riesenbaum, der in den Wolken gipfelte und mit flammenden Aesten nach allen Seiten griff. Himmel und Erde, Berge, Thal und Wälder, alles schien in Feuer zu schwimmen – und ein Donner rasselte, als wäre der Gipfel eines Berges eingestürzt und schüttete seine springenden Trümmer über brechende Bäume.

Jetzt erwachte auch Schweiker in seinem Zelte. „Da hat’s eingeschlagen, nicht weit von uns!“ schrie er und kam hervorgestürzt. Bruder Wampo folgte ihm, stotternd und die Hände ringend. Alle beide rannten nach dem andern Zelt.

In der Finsternis, welche auf die blendende Helle folgte, trat ihnen Eberwein entgegen. „Was sucht Ihr?“

„Gott sei Dank! Weil ich nur Eure Stimm’ hör’!“ rief Schweiker. „Ich hab’ schon gemeint, es müßt’ ’was geschehen sein!“

Aus dem Wald klang das Schreien der Knechte; eines der Saumtiere war scheu geworden und hatte sich losgerissen. Schweiker wollte zum Lager der Knechte eilen, aber schon nach wenigen Schritten stand er wieder. „Schauet, Herr,“ rief er und deutete über die Ache hinüber nach der Höhe des finsteren Waldhügels, „der Blitz muß in einen dürren Baum geschlagen und gezündet haben!“

Nahe den beiden Felszacken, welche schwarz aufstiegen aus dem Wald, breitete sich eine rötliche Helle über die Wipfel, und es währte nicht lange, so stieg eine schlanke Feuergarbe in die Nacht empor, schwankend und lodernd im wehenden Sturm.

„Ein Zeichens des Himmels!“ stammelte Eberwein. „Gott rodet den Wald für sein heiliges Haus. Wo jene Flamme brennt, soll unsere Klause stehen.“

Da klang hinter ihm die Stimme Waldrams. „Ja, ein Zeichen des Himmels, das ich erflehte in brünstigem Gebet. Gott erhörte meine Bitte ... was stehet Ihr noch und staunet das Wunder an! Nieder auf die Knie und preiset den Herrn!“ Mit ausgebreiteten Armen sank er zu Boden und begann mit hallender Stimme den Ambrosischen Lobgesang. Die Brüder knieten nieder und fielen ein in den Gesang; nur Eberwein stand, die Hände auf der wogenden Brust, und blickte schweigend empor in die Nacht der Wolken. Als der Gesang verstummte, sagte er: „Nun wollen wir ruhen und schlummern, bis der Morgen graut, denn der kommende Tag will uns bei Kräften finden!“

Sie traten in die Zelte. Schwere Tropfen begannen zu fallen, es dämpfte sich der Sturm, und in rauschendem Regen löste sich das Ungewitter.




9.

Nach der finsteren Sturmnacht war ein heller Morgen aufgeblüht, schimmernd in aller sommerlichen Schönheit: der Himmel wolkenlos und blau, die Lüfte frisch und ohne Hauch, alle Farben satt und tief, jeder Zweig und jedes Gras behängt mit funkelnden Tropfen, die Berge von blauen Schatten überschleiert oder leuchtend in goldigem Frühschein, sie alle überragt vom König Eismann, dessen steile von ewigem Schnee umgossene Zinne im vollen Licht der Sonne glänzte gleich einer riesigen Silberstufe. Schräge Lichter fielen schon zwischen die Wipfel des dichten Waldes, in welchem der Zug der Saumtiere sich langsam fortbewegte. Nur Waldram und Bruder Wampo hielten den gleichen Weg mit den Knechten. Eberwein und Schweiker waren nach verschiedener Richtung in den Wald gezogen, um die Feuerstätte der vergangenen Nacht zu suchen.

Zwischen den ragenden Urwaldbäumen schritt Eberwein dahin, mit seinem Stab die Stauden und Ranken teilend, welche häufig seinen Weg versperrten. Da klang in der Nähe, vom lichteren Wald her, das Wiehern eines Pferdes. Eberwein blickte auf, und eine Furche des Unmuts grub sich in seine Stirne. „Soll ihr Weg denn immer meine Straße kreuzen!“ So murmelnd, wandte er sich ab und nahm eine andere Richtung. Hinter seinem Rücken ließ sich ein Lachen hören. Aber das war eine Männerstimme. Eberwein blickte zurück und gewahrte einen Reiter, welcher zwischen den Bäumen nur flüchtig auftauchte in schmalen Lücken und auf trabendem Pferd verschwand.

„Wer war das? Einer von ihren Brüdern?“ Eberwein fand nicht Zeit, dieser Frage nachzudenken, denn durch die Bäume her scholl Schweikers lauter langgezogener Ruf. „Hoidoooh! Hoidoooh!“; er mußte die Feuerstatt gefunden haben.

Eilenden Ganges folgte Eberwein dem Ruf; er schritt einer Lichtung zu. welche zwischen den Bäumen schimmerte, und geriet auf einen Fußpfad. Da kam Schweiker ihm schon entgegen, mit lachendem Gesicht. „Kommt, Herr, und schauet nur, was ich gefunden hab’! Der feurige Weiser hat uns gut gewiesen!“ Eberwein führend, eilte er voran, und bald erreichten sie den Waldsaum. Eine weite, von hohen Bäumen umstandene Blöße lag vor ihnen, fast eben, mit Moos und Heidekraut überwachsen – eine stille freundliche Insel inmitten des dunklen Wäldermeeres. Ueber der Lichtung drüben stieg gegen den Untersberg ein bewaldeter Hang empor, über welchen eine in der Sonne blitzende Quelle niederrieselte in einen kleinen schimmernden Teich; zu beiden Seiten des Hanges erhoben sich zwei graue Felszinnen. Inmitten der Lichtung stand der vom Feuer halb verzehrte Baum, einsam, gleich einer schwarzen Säule; nur die Stümpfe der beiden untersten Aeste hafteten noch an dem verkohlten Stamm und ragten seitwärts wie die Arme eines Kreuzes. Asche und Kohlenreste bedeckten den Felsblock, der zwischen den Wurzeln des verbrannten Baumes sich erhob.

„Schauet hin, Herr,“ sagte Schweiker, „das ist ein behauener Block! Ein Heidenstein!“

Raschen Ganges überschritten sie die Lichtung und standen vor dem Felsblock. Mit roher Arbeit war der vorderen Fläche des Steines das Zeichen einer Flamme eingemeißelt. „Ein Stein des Loki!“ sagte Eberwein in tiefer Bewegung. „Hier loderte die Flamme und floß den falschen Göttern das Blut der Opfer. Hier wollen wir die lautere Flamme des wahren Glaubens entzünden und dem Himmel opfern, auf den wir hoffen. Rufe die Brüder, Schweiker – ich will die Messe lesen auf diesem Stein.“

Ueber Schweikers Backen kollerten zwei dicke Zähren; er fuhr mit der Faust über Augen und Nase und rannte davon. Noch eh’ er den Waldsaum erreichte, kamen ihm Waldram und Wampo mit den Knechten und Saumtieren schon entgegen. Nun standen sie alle vor dem Stein, dann wanderten sie auf der Lichtung umher; bei der Quelle kosteten sie das Wasser, es schmeckte frisch und erquickend; nur Eberwein wies den Trunk zurück und sagte: „Nach der Messe.“

Mit vergnüglich zwinkernden Augen stand Bruder Wampo vor dem kleinen, von bunten Blumen umblühten Teich. „Lieb schaut sich das Wasserl an,“ meinte er, „es fehlen nur die Ferchen drin, die Karpfen und Hecht’.“

„Geh, Du!“ brummte Schweiker. „Mußt denn allweil an die Schüssel denken – es giebt doch andere Ding’ auch noch auf der Welt!“

Man nahm den Saumtieren die Ladung ab, und während Eberwein, Waldram und Wampo mit dem Oeffnen der Ballen beschäftigt waren, säuberte Schweiker den Stein und räumte die Asche fort; zwei Knechte halfen ihm; neben dem Stein errichtete er aus Stangen ein Gerüst für die kleine Glocke, welche eines der Saumtiere als halbe Ladung getragen hatte.

Stunde um Stunde verging in reger Arbeit. Die Sonne stand schon nahe der Mittagshöhe, als Eberwein, bekleidet mit Chorhemd und Stola, den Heidenstein zum Altar Gottes weihte. Dann las er die „stille Messe“, bei welcher Schweiker ministrierte. Waldram saß auf einer Wurzel der halbverkohlten Eiche, Bruder Wampo und die Knechte knieten an seiner Seite. Lautlose Stille lag über der sonnigen Lichtung, nur manchmal zwitscherte ein Vogel am Waldsaum, und gedämpft klang aus dem Thal herauf das Rauschen der Ache. Als Eberwein zur Wandlung den Kelch erhob, zog Schweiker die Glocke. Zitternd schwebten ihre hellen Klänge durch die stille Luft und fanden ein Echo im Wald. Kleine Vögel kamen herbeigeflogen, als hätte der Klang sie neugierig gemacht, und mit erregtem Gezwitscher umflatterten sie den verkohlten Baum. Am Waldsaum erschien ein Reiter; einen kurzen Blick nur warf er über die Lichtung, dann riß er das Pferd herum und verschwand wieder.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 7, S. 101–106

[101] Die Glocke der Klosterbrüder läutete. Ihre Klänge schwammen über das Thal der Ache hinweg und klangen empor über die Gehänge des Göhl. Auf steiniger Halde saß Hinzula und hütete die Geißen; der Bock lag neben ihr im Gras und scheuerte das Gehörn an dem Stecken der Hirtin. Da klang die Glocke. Hinzula sprang auf, und zitternd stand sie, mit offenem Munde lauschend. Alle Geißen hoben die Köpfe und äugten über das Thal hinweg. „Hörst, Zottli, hörst,“ stammelte das Bartele, „er läutet schon!“ Und über Hals und Kopf sprang sie die steile Halde hinunter, den rufenden Klängen entgegen; hinter ihr hopsten die Geißen; nur der Bock schüttelte den Kopf und ließ sich in seiner Ruhe nicht stören.

Als Hinzula die Ache erreichte, suchte sie nicht lang eine seichte Stelle. Sicheren Fußes sprang sie über die Steine hinweg, welche aus dem schäumenden Wasser hervorragten. Aber die Geißen wagten nicht ihr zu folgen; sie blieben am Ufer stehen und streckten die Köpfe gegen das Wasser; eine begann zu weiden, und nun machten es ihr die andern nach. Hinzula schlüpfte durch die dichten Büsche, kletterte über einen steilen Hang empor und gewann die Höhe des Waldes. Da tauchte zwischen den Bäumen ein Reiter auf. Henning war es, Wazemanns Aeltester. Hinzula duckte sich hinter einen Baum, aber Henning hatte sie schon erspäht. Er kam auf sie zugeritten, hielt das Pferd an und fuchtelte mit der Gerte. „Was machst Du da?“

Die Hirtin brachte kein Wort über die Lippen, zitternd stand sie und starrte mit weit aufgerissenen Augen an dem Reiter empor.

„Wirst Du reden, Du Mistfink! Oder soll ich Dir die Zung’ lösen? Wohin willst?“

„Sell hin, Herre,“ stotterte die Hirtin, „sell hin, wo er geläutet hat.“

„Wer?“

Hinzula wußte keine Antwort.

„Und was geht Dich das Läuten an?“ schrie Henning. „Mach’, daß Du heim kommst! Hier ist Bannwald von heut’ ab.“ Die Hirtin rührte sich nicht. „Wart’, Du Schmieramper,“ lachte Henning, „Dir mach’ ich Füß’.“ Und ein pfeifender Gertenschlag fiel über Hinzulas Schulter. Sie zuckte zusammen, aber kein Laut glitt über ihre Lippen. Mit einem Blick noch suchte sie die Tiefe des Waldes, dann wandte sie sich ab und schlich davon. Als sie das Thal erreicht und die Ache überschritten hatte, kamen ihr [102] die Geißen zugelaufen. Vom Lokistein herüber klang die Glocke. Hinzula stand und lauschte. Ein schluchzender Laut erschütterte ihre Brust, sie sank ins Gras, bewegte unter der Kotze die schmerzende Schulter und brach in bitterliches Weinen aus.

Die Glocke läutete. Ihr Klang schwoll hin über den Hang des Untersberges und hallte wieder im Wald. Vor einer Rindenhütte, inmitten eines Ringes von dem dorrenden Astwerk gefällter Bäume, standen drei rauchende Kohlmeiler. Zwischen ihnen ging Eigel hin und her, in der Hand eine hölzerne von Ruß geschwärzte Schaufel. Stieg aus einem der Meiler ein Rauchfaden an unrechter Stelle auf, so faßte Eigel von der mit Kohlenstaub gemischten Erde die Schaufel voll und sperrte der ausbrechenden Glut die Luft. Da hörte er die Glocke läuten. Er ließ die Schaufel sinken und lauschte; ein paar Schritte that er, als zöge ihn der Hall; aber mit sorgendem Blick streifte er die Meiler, aus denen die Rauchstrahlen summend hervorbrachen. „Meinetwegen, mögen sie hin sein alle drei,“ murmelte der Alte und warf die Schaufel weg, „ich muß hinunter!“ Er ging auf die Rindenhütte zu, faßte das Grießbeil und verließ die Kohlstätte.

Auf ausgetretenem Pfad durchschritt er den Wald. Als er einer Stelle nahe kam, an welcher zwei Fußwege sich kreuzten, blieb er betroffen stehen und trat mit raschem Schritt hinter einen Busch. An der Wegscheide saß Rimiger auf einem Steinblock, den Zügel seines Pferdes um den Arm geschlungen, und spähte über den seitwärts herführenden Pfad hinaus.

„Dem geh’ ich lieber aus dem Weg,“ meinte der Kohlmann und schlich, gedeckt durch die Büsche, zwischen den Bäumen davon. In weitem Bogen schritt er durch den Wald. Dann blieb er stehen. „Ich mein’, es müßt’ beim Lok’stein gewesen sein!“ murmelte er und änderte die Richtung. Er ging nicht lange, da hörte er hinter sich gedämpften Hufschlag, und als er sich umblickte, hielt Sindel vor ihm das Pferd an.

„Was hast Du da zu schaffen im Wald?“

„Ich, Herr? Warum?“ fragte der Kohlmann zögernd.

„Weil ich’s wissen will!“

„Meiner Arbeit geh’ ich nach.“

„Welcher Arbeit?“

„Gestern auf den Abend hab’ ich Wurzen gegraben, beim Lok’stein drüben. Alle hab’ ich nicht schleppen können, und drum hol’ ich jetzt das Bündel, das ich gestern hab’ liegen lassen.“

Sindel maß den Alten mit mißtrauischen Augen. „Hol’ Dir Wurzen, wo Du magst, aber nicht beim Lokistein – heut’ nicht – und nimmer!“

„So? So?“ sagte der Kohlmann und ein kaum merkliches Lächeln zuckte um seine graubärtigen Lippen. „Ihr habt wohl beim Lok’stein einen Saufang gestellt oder eine Bärengrub’ ausgeworfen, gelt?“

„Was kümmert’s Dich! Mach’, daß Du weiter kommst!“ Mit einem Schenkeldruck trieb Sindel das Pferd an und ritt auf den Kohlmann ein.

Eigel wich zur Seite. „Ich geh’ schon! Und gutes Gejaid, Herr!“ Ohne sich noch einmal umzublicken, schritt er in der dem Lokistein entgegengesetzten Richtung durch den Wald davon. Aber der Weg, den er einschlug, war nicht der Weg nach seiner Kohlstatt.

Die Glocke läutete ...

Ihr Hall schwamm über die stillen Baumwipfel hinaus in das weite Thal, gegen den Untersteiner Forst und gegen die Schönau hin.

Auf weiter Rodung, zwischen Wiesen und Feldern, umgeben von nachbarlichen Gehöften, erhob sich hier das Haus des Schönauers, von hohem Hag umzogen. Das war unter allen Huben der Au die stattlichste, wohl nur ein niederes Blockhaus mit altersmürbem Strohdach, aber umringt von Ställen und Scheunen, von fruchtschweren Obstbäumen und volkreichen Immenständen. Zwei zottige Hunde lagen vor der offenen Hausthür in der Sonne. Hühner und Enten belebten den Hof, und aus einer Scheune klang die singende Stimme einer Magd.

Vor der hölzernen Hausbank standen Ruedlieb und sein Vater, eine breitschulterige Mannesgestalt; schwere Arbeit hatte den wuchtigen Rücken gekrümmt; lange graue Haarsträhne hingen um ein furchiges Gesicht mit kurzgeschorenem Bart, mit herben Lippen und kleinen ruhigen Augen, welche von buschigen Brauen überschattet waren. Vor den beiden stand auf der Bank eine hölzerne Kraxe; sie war beladen mit Brotwecken und Käslaiben, mit einem irdenen Honigtopf, mit Rauchfleisch und einem kleinen Metfäßlein. Ruedlieb schnürte ein Hanfseil um die Ladung, und der Schönauer prüfte jede Schlinge, die der Bub legte, auf ihre Festigkeit. Da hörten sie die Glocke, gedämpft durch die Ferne, nur noch wie einen klingenden Hauch in den Lüften. Sie lauschten und sahen sich an.

„Von der Ramsau herüber hört man das Glöckl nicht,“ sagte Ruedlieb, „das müssen sie sein, Vater!“

Der Schönauer nickte. „Jetzt brauchst nimmer lang’ nach ihnen suchen, Bub’. Geh’ nur auf den Lok’stein zu und ich mein’, Du bist nimmer weit von ihnen.“

Schweigend lauschten sie, bis der leise Hall in den sonnigen Lüften verzitterte. Der Bauer atmete tief auf. „Jetzt nimm die Krax’, Bub’. Und sag’ halt: das schickt ihnen der Schönauer ... und sag’s ihnen nur grad heraus: wenn sie’s gut meinen mit dem Gadem, so sollen sie einen treuen Mann an mir haben.“

„Und an mir auch keinen schlechten!“ lachte Ruedlieb und wollte die Kraxe fassen, um sie auf den Rücken zu schwingen. Da trat ein Bauer in den Hof, eine hager aufgeschossene Gestalt. Das war der Kaganhart. Er fuchtelte mit den Armen und schrie: „Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“

Kaum hatte er ausgesprochen, da kam schon ein Zweiter, ein Dritter – einer nach dem andern kamen sie gelaufen, alle die Anrainer der Schönau, alte und junge Männer, grobgefügte wetterharte Gestalten, äußerlich einander gleichend in den rauhen Hanftuchkitteln und grauen Kotzen: der Kirngasser, der Köppelecker, die beiden Brüder vom Winkler Wesen, der Waldhauser, der Schwaiger und Grünsteiner, die Hanetzerbuben, der Kinill und Urstaller, der Bärenlochner und zu.etzt der alte Gobl. Sie alle hatten die Glocke gehört, sie alle wußten, was ihr klingender Ruf bedeute. Ging doch die Rede von der Schenkung, welche Frau Adelheid in ihrer Sterbestunde gethan, schon seit dem Frühjahr im ganzen Thal von Hütte zu Hütte. Da hatte man keinen Heimgart gehalten, bei welchem nicht von den erwarteten Klosterleuten gesprochen wurde, bald in Zweifel und Sorgen, bald in scheuer Hoffnung auf bessere Zeiten. Nun waren sie gekommen ...

„Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“

Das war die Rede fast auf den Lippen aller, die gelaufen kamen. Sie standen um den Schönauer her; die einen machten bedenkliche Gesichter und krauten sich hinter den Ohren; die andern schrien erregt und mit wirren Stimmen durcheinander, bis der Schönauer die Hand erhob. „Aber Leut’, Leut’ – so lärmet doch nicht so!“

Da verstummten die meisten; doch der Waldhauser rief: „Das Maul sollen wir uns auch noch verbieten lassen, wo’s hergeht bei uns um Haut und Haar’?“

„Wohl wohl, recht hat er!“ fielen mehrere Stimmen ein; und der ältere der Hanetzerbuben schrie: „Die droben in Wazemanns Haus müssen wir füttern! Jetzt kämen die auch noch und möchten schöpfen und abrahmen ... ja was bleibt denn nachher für uns?“ Diese Rede fiel in die erregten Gemüter wie Feuer ins Stroh.

„Aber Leut’, Leut’!“ mahnte der Schönauer und drängte sich zwischen die Schreier. „So denket doch ein lützel weiter als nur in die Gurgel hinein. Es weiß doch ein jeder von Euch, was die Ramsauer haben von ihrem Gottesmann ...“

„Wohl wohl!“ fiel der Urstaller ein. „Und bei denen, die zu uns kommen, soll auch einer sein, der den Fried’ auf der Zung’ hat und die Güt’ im Aug’. Gestern auf die Nacht noch ist der Eigel zu mir gekommen ... der ist dabei gewesen, wie der Gottesmann gered’t hat mit der Wazemannstochter.“

Von allen Lippen schwirrten die Fragen, und der Urstaller erzählte, was der Kohlmann ihm berichtet hatte. „Die Händ’ haben dem Eigel gezittert vor lauter Freud’,“ so schloß er, „völlig lichtscheinig sind ihm die Augen gewesen, und keine andere Red’ schier hat er gehabt als allweil die einzig’: die bringen uns die gute Zeit, Urstaller, die gute Zeit!“

Lautlose Stille folgte diesen Worten. Nur der alte Gobl, das weißbärtige Kinn auf den Stab gestützt, schüttelte den Kopf und murmelte. „Die gute Zeit? Wo sollt’ denn die herkommen auf einmal? Da müßt’ sich erst ’was rühren im Berg!“ Die halb erloschenen Augen des Greises glitten über das Thal hinweg und suchten den Untersberg.

[103] Noch immer schwiegen die anderen. Ruedlieb, der die Kraxe wieder niedergestellt hatte, trat zu den Leuten, sein Gesicht brannte und seine Stimme bebte. „Die Klosterleut’ sind gegen die Wazemannsbuben, hat der Eigel gesagt ... ich mein’, wir müßten den Wald ausschlagen, daß sie freien Weg haben überall im Thal!“

Da nickten sie alle, und der Köppelecker rief: „Keiner von uns Mannerleut’ hat die richtige Red’ gefunden – ein Bub’ hat sie finden müssen!“

Ruedlieb wollte sprechen; aber der Vater schob ihn zurück. „Sei still, Liebli, Du hast noch allweil nicht die Jahr’ zum Mitreden.“

„Aber die Fäust’ hätt’ ich zum Dreinschlagen, und dazu wär’s schon lang an der Zeit gewesen!“ Ruedlieb wandte sich ab und ließ sich neben der Kraxe auf die Hausbank nieder. Die Leute erschraken über diese Rede und der Kinill blickte mit scheuen Augen im Hof umher und gegen das Hagthor, ob nicht ein unberufenes Ohr in der Nähe wäre. Der Waldhauser aber trat vor den Schönauer hin und sagte: „Du bist der Richtmann im Gadem – sag’ Du uns, was wir thun sollen.“

„Was wir all’ thun sollen, das wird ausgeredet in der Thingnacht. Ich für mein’ Teil schick’ den Buben hin mit Brot und Käs’, mit Honig und Met und laß ihnen guten Einstand wünschen im Gadem.“

„Natürlich! Nur gleich zinsen am ersten Tag!“ schrie der ältere Hanetzer mit rotem Gesicht. „Daß sie nur ja gleich drauf kommen, wie’s schmeckt!“ Die einen nickten zu dieser Rede, die anderen schüttelten die Köpfe.

„Ich mein’, wir können mehr von ihnen haben als sie von uns!“ sagte der Schönauer. „Und wer Milch ziehen will von der Kuh, der muß ihr zuerst das Futter legen.“

„Wohl wohl! Aber eine Kuh ist etwas anders! Bei der weiß ich, wie ich dran bin. Aber wer die Herrenleut’ melken möcht’, ich mein’, der braucht keinen großen Milchamper.“ Der Hanetzer schob die Hände unter die Kotze und ging davon; sein Bruder wurde verlegen, aber er folgte dem Aelteren. Die einen lachten und die anderen schalten. das wär’ doch keine Sache, die man abthäte mit einem spöttischen Wort.

„Laß’ Deinen Buben ein’ Weil’ noch warten, Schönauer,“ sagte der Köppelecker, „ich spring’ heim und leg’ dazu, was ich g’raten[12] kann!“ Er eilte davon.

„Ich gäb’ auch gern, wann ich nur ’was hätt’!“ sagte der Urstaller. „Aher eh’ mein Bub nicht abtragt von der Alben, hab’ ich selber schier kein Brösel mehr im Haus.“

„Brauchst was?“ fragte der Schönauer. „Ich hilf’ Dir schon aus.“

Der Urstaller schüttelte den Kopf. „Morgen muß der Bub’ kommen.“ Dann ging er; und mit ihm ging der Grünsteiner, der kein Wort zu reden wußte.

„Ich hab’ ein’ Stück Fleisch daheim,“ sagte der Kirngasser, „und auf ein paar süße Käs’ kommt’s mir auch nimmer an.“

„Wohl wohl, ich geh’ auch heim und red’ mit meinem Weib,“ stotterte der Bärenlochner, „ich mein’, sie wird schon ein lützel ’was hergeben.“

„Die Deinig’ schon,“ brummte der Kaganhart und verdrehte die Augen, „aber die meinig’ wird ein schieches Gesicht dazu machen.“

„Sag’ ihr halt, sie soll ihre Zähn’ scheren!“ lachte einer der Winkler Buben. „Da fallen so viel’ Haar’ ab, daß die Klosterleut’ ein Häs davon kriegen.“ Er wandte sich zum Schönauer. „Ich bring’ von meiner Mutter ein Stückel Hanftuch.“

Nun gingen sie alle; der Schwaiger wollte ein Mäßlein Honig bringen, der Waldhauser Eier und Schmalz.

„Da krieg’ ich die Krax’ voll, daß ich gut zu tragen hab’,“ meinte Ruedlieb. „Aber es dürft’ so schwer wiegen wie ein Kalb ... ich schlepp’ alles hin! Die Klosterleut’ sollen Augen machen!“ Er begann an der Kraxe den Strick zu lösen, um noch aufpacken zu können, was die andern bringen würden.

„Und Du, Gobl?“ wandte sich der Schönauer an den Greis, der, das Kinn auf den Stab gestützt, mit halbgeschlossenen Augen den Gehenden nachblickte. „Warum hast denn Du nicht gered’t?“

Der Alte hob langsam das Gesicht. „Weil ich kein Wörtl gewußt hab’, das der Müh’ wert gewesen wär’.“

„Und willst nicht auch ’was dazu geben?“

Ein müdes Lächeln glitt über die dürren Lippen des Greises. „Geben? Warum denn noch geben?“ Er schüttelte den Kopf. „Wer ’was will, der kommt schon und nimmt. Ich hab’ mein Weib nicht geben brauchen ... der Krank[13] hat sie genommen. Ich hab’ meine Buben nicht geben brauchen ... den ein’ hat Herr Waze erschlagen, den andern hat die Lahn verschütt’t, den letzten haben die Wölf’ gerissen. Ich hab’ meine Heilka nicht geben brauchen, meine liebe Dirn’ ... die Windach hat sie verschluckt. Warum denn noch geben? Und was denn? Gestern ist meine letzte Geiß verreckt. Mein Hüttl mag keiner ... da wandern schon die Mäus’ und Ratzen aus. Ich halt, ich bin noch übrig. Und der mich nimmt, der kommt schon, wohl wohl, wenn ich auch lang’ auf ihn warten muß. Der thut einen Segesschlag[14] ... und ich lach’ dazu und sag’: jetzt hat’s ein End’!“ Er nickte und schritt dem Hagthor zu.

Der Schönauer ging ihm nach und hielt ihn am Arm zurück. „Gobl! Gobl! Wie Du, so sollt’ doch ein Mensch nicht reden!“

„Warum nicht?“ Der Alte hob die roten Lider und starren Blickes sah er mit seinen müden Augen dem andern ins Gesicht.

„Schau, Gobl, Dir selber blüht wohl nimmer auf, was von Dir hat abfallen und faulen müssen. Aber denk’ an die anderen, Gobl – verschlag’ ihnen den Mut nicht mit Deinen Reden! Schau ... ich hab’s vor den Leuten nicht sagen mögen, denn sie reden gleich alles aus und schreien um ... aber zu Dir sag’ ich’s. ich halt’ viel vom gestrigen Tag, der uns die Klosterleut’ gebracht hat. Sie kommen als Herren ins Thal, und das wird denen in Wazemanns Haus droben in die Nas’ steigen. Gieb acht, zwischen den beiden hebt ein Raufen und Raiten an. Frißt Herr Waze die Klosterleut’ auf, so kann’s nicht schlechter kommen, als wie’s allweil schon war. Ducken die Klosterleut’ den Waze, so kann’s nur besser kommen, und die gute Zeit steht ein.“

„Gute Zeit? Da müßt’ sich erst ’was rühren im Berg!“ Der alte Gobl schüttelte den Kopf. „Wir, Schönauer, wir erleben’s nimmer. Die Zeit steht in der Halbscheid’ ... das Alt’ ist halb und das Neu’ ist halb. Mein Stall ist abgebronnen, da hat kein Heilbuschen geholfen ... und vom Ramsauer Kirchl hat der Blitz das Kreuz geworfen. Die Heilbuschen sind dürr, und das Kirchenkraut hat steinigen Boden. Herr Wute schlaft im Berg und der ander’ im Gewölk ... bis einer anfwacht, müssen die Berg’ sich rühren.“

„Das ist müdes Gered’, Gobl!“ sagte der Schönauer.

Der Alte nickte. „Hast recht! Drum laß’ mich heimgehen. Wie einer auch red’t, so oder so ... es hat kein Wörtl einen Sinn. Die nimmer reden können, die wissen das Best’. Das ist mir eingefallen unter dem Apfelbaum.“ Mit tastendem Stabe schritt der Greis dem Hagthor zu.

Da erschien ein junger Bauer im Thor, erregt, das Gesicht vom raschen Lauf gerötet. Es war der Schapbacher, dessen Hube zwischen der Schönau und Ramsau tief im Walde lag, Der alte Gobl blickte auf die Seite, als der Bauer an ihm vorüberlief.

„Schapbacher! Was bringst?“ fragte der Richter.

„Ich such’ einen guten Rat. Meine Albendirn’ ist heimgekommen von der Oedhütt’, ganz verweint ... der Geißbub’ geht ab seit gestern Mittag.“

„Der Huze?“

Unter dem Thor blieb der alte Gobl stehen; er wandte nicht das Gesicht, doch er lauschte.

„Ein paar Geißen müssen sich verstiegen haben,“ sagte der Schapbacher. „Die ist er suchen gegangen und ist nimmer heimgekommen. Aber die Dirn’ hat nicht den Mut gehabt, daß sie ihm nachsteigt.“

„Warum nicht?“

„Der Bub’ ist eingestiegen unter die Eismann-Wand.“

„In Wazemanns Bannberg!“ fiel der Schönauer erschrocken ein. Der alte Gobl wollte den Hof verlassen, aber der Schönauer ging ihm nach und faßte den Greis am Arm. „Hörst nicht, Gobl, hörst denn nicht? Es geht um der Heilka ihren Buben her!“

In dem starren Gesicht des Alten rührte sich kein Zug; aber seine Stimme klang heiser. „Was geht mich der Bub’ an! Weswegen red’st denn mit mir von ihm ... geh’ hinauf in Wazemanns Haus! Red’ mit dem Henning!“ Er riß sich los und verließ den Hag.

„Gobl! Gobl!“ mahnte der Schönauer. Doch der Alte hörte nicht mehr; und der junge Schapbacher sagte. „Laß ihn, [104] Richtmann! Da ist jedes Wort umsonst gered’t. Sag’ lieber: was kann denn geschehen für den Buben? Man muß ihn doch suchen! Aber auf dem Bannberg umsteigen, das ist eine schieche Sach’. Meinst nicht, ich soll hinauf in Wazemanns Haus und Anfrag’ halten?“

Der Schönauer schüttelte den Kopf. „Das wird nichts helfen. Geh’ heim und richt’ ein paar Kienlichter her! Und auf den Abend halt’ Dich fertig, wir suchen die Nacht durch. Bei der Windach wart’ auf mich, wenn die Sonn’ weg ist!“

„Soll die Dirn’ auch mit?“

„Die laß daheim, die kann das Maul nicht halten.“

„Geht Dein Bub’ mit?“

„Mein Bub’? Das könnt’ mir einfallen! Nein, Schapbacher, mein Liebli soll mir bei so ’was aus dem Spiel bleiben. Ich nehm’ den Knecht, und der Köppelecker geht wohl auch mit. Unser vier, das reicht schon. So geh’ halt heim derweil! Und Zeit lassen!“

„Zeit lassen!“ Der Schapbacher verließ den Hof. Draußen vor dem Hag blieb er stehen, blickte über das Feld hinaus, und hastig sich duckend, als sollten die hohen Aehren ihn verbergen, schlich er davon. „Was hat er denn?“ murmelte der Schönauer und trat unter das Hagthor. Quer durch die Felder sah er einen Reiter dahersprengen. Es war Herr Waze. Der Schönauer erbleichte; dieser Besuch galt seinem Hof ... und der Richter wußte aus Erfahrung, was solche Besuche brachten.




10.

„Vater, was ist denn?“ fragte Ruedlieb, als der Schönauer zur Hausbank gesprungen kam.

„Schnell, Bub’, schnell, nimm die Krax’ und hinein mit ihr ins Haus!“

„Warum denn? Was ist denn auf einmal los?“

Der Schönauer konnte nicht mehr Antwort geben. Herr Waze kam schon in den Hof geritten. Die beiden Hunde sprangen auf und stürzten dem Reiter mit heiserem Gekläff entgegen. Das Pferd scheute, doch mit einem kräftigen Ruck des Zügels bändigte Herr Waze das Tier. „Die Hund’ weg!“ rief er. „Oder ich schick’ ihnen einen Fraß, den sie schlecht verdauen!“

Mit einem finsteren Blick auf den Reiter kam Ruedlieb herbei, faßte die Hunde am zottigen Fell, schob sie in das Haus und schloß die Thür.

„Nichts für ungut, Herr.“ sagte der Bauer, „sie hüten halt das Haus.“

„Vor mir?“ lachte Herr Waze. „Das wirst ihnen abgewöhnen. Sie sollen wissen, wer der Herr ist, und sollen wedeln, wenn ich wieder komm’.“ Er stieg vom Pferd und winkte dem Buben. „Her, Du, und halt’ mir das Roß!“ Ruedlieb zögerte; aber ein Blick seines Vaters hieß ihn der Weisung folgen. Herr Waze schüttelte die Beine, als wären sie ihm eingeschlafen beim Ritt, und zog das Wams herunter. „Ich hab’ mit Dir zu reden, Schönauer.“

„Wollen wir hinein, in die Stub’, Herr?“

„Nein. ich kann den Schmalzgeruch nicht leiden.“ Er deutete auf die alten Eichen, die in einer Ecke des Gartens standen. „Wir wollen uns dort in den Schatten setzen.“ Herr Waze durchschritt den Hof, da sah er auf der Hausbank die Kraxe stehen; er kniff die Augen ein und zog die Finger durch den Bart. „Du, Bauer! Wohin soll denn die Krax’?“

„Der Bub’ hätt’ auftragen sollen.“

„Auf die Alben?“

„Wohl wohl!“

Herr Waze schaute den Schönauer an, dann wieder die Kraxe. „Met und Honig, Fleisch und Wecken ... das stimmt. Seit wann aber tragen die Bauern den Käs’ auf die Alben hinauf statt herunter?“

Der Schönauer blickte an Herrn Waze vorbei, als er sagte: „Ein paar schlechte Laib’, Herr. Ich schick’ sie wieder hinauf ... für die Albleut’ sind sie noch gut genug. Aber zu Zinsen brauch’ ich bessere.“

„Hast recht, Bauer!“ lächelte Herr Waze. „Mach’s nur am Käs’ wieder gut, was Du am Met verfehlt hast.“

„Ich, Herr? Am Met?“ stotterte der Schönauer.

„Ja. Schlechten Met hast mir gesteuert an Sonnwend’.“

„Nein, Herr, ich hab’ den besten gegeben.“

„Schon gut!“ Herr Waze wandte sich ab und ging mit raschen Schritten auf Ruedlieb zu, der das ungeduldige Pferd im Hof hin und her führte. „Sag’ mir, Bub, für wen gehört die Krax’?“

„Für die Gottesleut’, die gestern gekommen sind,“ gab Ruedlieb zur Antwort; dann sah er erst, daß ihm der Vater hinter Wazes Rücken stumme Zeichen machte und hinauf deutete gegen die Alben.

„So? Für die Gottesleut’?“ Herr Waze lachte und wandte sich zum Schönauer. „Also, Richtmann, komm’, jetzt wollen wir reden miteinander!“ Herr Waze ging auf die Eichen zu und setzte sich auf die Steinbank. „Wie ich gemerkt hab’, weißt Du schon, daß sie gekommen sind.“ Dem Schönauer versagte die Stimme; er nickte nur. „Und wie mir scheint, meinst Du, sie wären die Herren im Land, denen man zinsen und steuern muß?“ Herrn Wazes Augen funkelten bei dieser Frage. Der Bauer starrte ihn an und rührte wortlos die Lippen. „Red’!“ Das Wort klang wie ein Hammerschlag auf Stein. „Red’! Sind sie die Herren?“

„Ich weiß nicht, Herr Waze.“

„So? Dann sag’ ich Dir, es kann schon sein, daß sie die Herren sind. Es könnt’ sogar sein, daß sie es beweisen können mit Pergamenten. Und wenn sie die Herren sind, so muß ihnen der Freibauer zinsen und steuern, und jeder Hörige muß fronen beim Klausenbau. Gelt?“

„Wohl wohl, Herr Waze!“ stammelte der Schönauer, seinen Gast mit scheuen Augen streifend.

„Gut! So wirst Du auch wissen, was geschehen muß. Und vergiß nur nicht, daß ich selber das gesagt hab’!“ Herr Waze schob die Hände hinter das Schwertgehäng, streckte die Beine und lachte. „Aber die Gottesmänner haben ja gute Herzen. Wenn ich ihnen sag’, die Hörigen haben harte Zeit und viel zu schaffen ... ich mein’, da drücken sie ein Aug’ zu und lassen es gut sein mit der Fron’. Meinst nicht auch?“

„Wohl wohl, Herr Waze.“

„Da müßt’ sich aber von den Hörigen keiner anbieten zur Fron’, eh’ ihn die Klosterleut’ nicht rufen?“

Der Schönauer blickte auf und fragte zögernd: „Soll ich das den Leuten bekannt geben?“

Herr Waze zog verwundert die Brauen in die Höhe. „Bin ich der Richtmann oder Du? Was weiß denn ich, was Du als Richtmann zu thun hast!“ Der Bauer atmete tief und strich sich mit zitternder Hand das Haar in die Stirn. Herr Waze sah ihn mit seinen kleinen Augen an und lächelte. Ein raschelnder Windhauch strich durch die sonnigen Eichenwipfel, und flatternd fiel ein welkendes Blatt zur Erde. „Und was meinst, Richtmann ... wie sollen es denn die Freibauern halten mit dem Zinsen und Steuern?“

Der Schönauer besann sich; dann sagte er langsam: „Ich mein’ halt, so, wie’s allweil gewesen ist. Wir tragen Zins und Steuer dem Spisar hin; und der seid Ihr, Herr Waze!“

„Und der bleib’ ich auch! An Sonnwend’ ist Zahltag gewesen für die erste Halbscheid der Steuer ... die ander’ Hälft’ ist fällig auf Neujahr. Sechs Mond’ lang braucht kein Freibauer ein Brösel Steuer geben – das ist Gesetz und Recht. Und die Klosterleut’ haben gute Herzen ... die verlangen nicht mehr, als was Recht und Brauch ist. Oder meinst nicht auch?“

„Wohl wohl, Herr Waze! Zwischen heut’ und Neujahr soll kein Bauer zinsen, kein Brösel Käs’, kein Körndl Traid und keinen Tropfen Met.“

Herr Waze schüttelte bedenklich den Kopf. „Bauer! Bauer! Du hast aber ein hartes Herz!“

„Wieso, Herr?“ fragte der Schönauer mit einer Stimme, als läge eine würgende Hand an seiner Kehle.

„Denk’ nur,“ lächelte Herr Waze, „was für gute Männer die Gottesleut’ sind! Die werden umgehen im Thal, von Hag zu Hag, und werden die traurigen Leut’ trösten, werden die Kinder hätscheln und werden Tag und Nacht sitzen bei den Siechen. Für solche Liebthat müßt’ man wohl auch ein Uebriges thun, mein’ ich, und müßt’ ihnen diemal, neben Zins und Steuer, eine Krax’ voll Zeug schicken – so eine, wie da drüben steht! Das wär’ nur in der Ordnung! Meinst nicht auch?“

„Wohl wohl, Herr Waze!“

„Freilich, freilich! Das kann ich nur gutheißen! Liebthat muß wieder vergolten werden mit Liebthat!“ Herr Waze kreuzte die Arme über der Brust und lachte. „Aber da fällt mir grad’ ein ... denk’ nur, Richtmann, was der Mensch diemal für Zeug träumen kann! Gestern nach Mittag hab’ ich mich [106] schlafen gelegt, und da ist mir im Traum gewesen, als hätt’ ich den Köppelecker gesehen, wie er ein Körbl voll Zeug davontragt und hinausgeht nach dem Lokistein ... und wie ich so steh’ und schau’ ihm nach, da schlagt auf einmal das Feuer aus seinem Haus. Und das ganze Wesen hab’ ich niederbrennen sehen bis auf den Grund. Mir ist leid gewesen um den armen Teufel – alles im Traum, Richtmann – und denk’ Dir, derweil das Haus noch brennt, geht der Kaganhart an mir vorbei, mit einem Pack auf dem Buckel. ‚Wohin?‘ frag’ ich. ‚Hinaus,‘ sagt er, ‚zum Lok’stein!‘ Und ich sag’ zu ihm. ‚Recht so, geh’ nur zu!‘ Ich seh’ noch, wie er hinübergeht über den Achensteg ... und da dreht sich auf einmal der Baum überm Wasser und der Kaganhart ist weg. Ich hab’ um Hilf’ geschrien, aber kein Mensch hat mich hören wollen. Ich schrei’ allweil und schrei’, und auf einmal kommst Du daher!“

„Ich, Herr?“ stammelte der Bauer mit bleichen Lippen.

„Alles im Traum, Richtmann, natürlich nur im Traum!“ lachte Herr Waze und streckte sich behaglich, als hätt’ er seine rechte Freude an dem sonderbaren Traum. „Und schau’, die Krax’ dort, dieselbig’, die auf der Hausbank steht ... ja, Richtmann, die hast Du auf dem Buckel getragen. Ich hab’ natürlich gleich gemerkt, wo Du hin willst mit Deiner Krax’, hab’ Dich auf die Schulter geklopft und hab’ Dein gutes Herz gelobt. So sind wir auseinandergegangen ... alles noch im Traum, Richtmann ... und wie ich heimzieh’ durch den Untersteiner Wald, lauf’ ich an eine Bärengrub’ hin. Und was meinst, was ich drin gesehen hab’?“ Der Schönauer schüttelte nur den Kopf; er brachte kein Wort mehr über die Lippen. „Ein Bär ist drin gestanden in der Grub’, die helle Roten ist ihm vom Maul und über die Tatzen geronnen, und unter ihm, denk’, Bauer, unter ihm ist Dein Bub’ gelegen, der Ruedlieb. Mich hat das Grausen gepackt – der arme, schmucke Bub’! – und im Erbarmen um ihn hab’ ich an mich selber nimmer gedacht, bin hineingesprungen in die Grub’ und hab’ zugestoßen mit dem Fänger. Der Bär ist gelegen, aber Deinem Buben hat ’s nimmer geholfen. Bei dem war’s aus! Ich hab’ Dir noch zuschreien wollen: Du sollst umkehren ... aber da bin ich aufgewacht. Was sagst, Richtmann? Solche Sachen soll ein Mensch träumen können! Da muß man doch lachen gelt?“ Herr Waze klatschte auf dem Schwertknauf die Hände übereinander und schaute lachend den Bauer an.

Der Schönauer hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht; schlaff hingen ihm die Arme nieder, und seine Lippen klafften.

„Was hast denn, Bauer? Du wirst doch nicht erschrocken sein über meinen Traum?“ fragte Herr Waze und erhob sich. Freundlich klopfte er dem Schönauer auf die Schulter. „Schau, es ist ja doch nur ein Traum gewesen, Dein Bub’ lebt ja und ist heil und frisch! Freilich“ – Herr Waze zögerte mit dem Wort und hob die Schultern – „das haben meine Träum’ so an sich, sie pflegen einzutreffen. Aber mach’ Dir keine Sorg’! Mein gestriger Traum, der kann ja nicht eintreffen, da müßtest Du zuerst die Krax’ hinaustragen zum Lokistein ... und die Krax’ dort, das hast Du ja selber gesagt, die geht doch zur Alben hinauf. Und ein Richtmann wird doch nicht lügen, gelt?“ Herr Waze nickte dem Bauer zu und ging, um sein Roß zu besteigen. Als er im Sattel saß, blickte er auf Ruedlieb nieder. „Ein schmucker Bub’, Richtmann!“ rief er über die Schulter dem Bauer zu, der noch immer drüben bei den Eichen stand. „Ein schmucker Bub’! Ich wünsch’ ihm, daß er alt wird!“ Und lachend ritt Herr Waze zum Thor hinaus.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 8, S. 117–122

[117] Ruedlieb eilte, als Herr Waze davongeritten war, auf den Vater zu und erschrak bei seinem Anblick. „Was hast, Vater?“ stammelte er. „Hat er Dich gebüßt?“ Der Schönauer atmete tief auf und schüttelte stumm den Kopf. „Aber so red’ doch, Vater! Hab’ ich, am End’ was Schieches angerichtet, weil ich ihm gesagt hab’, wohin die Krax’ gehört?“

Wieder schüttelte der Bauer den Kopf. „Hast ja nur die Wahrheit gered’t!“

„Aber was ist denn gewesen?“ fragte der Bub’ in wachsender Sorge. „Er hat ja doch so freundlich mit Dir gered’t!“

Der Schönauer lachte heiser. „Hast das noch nie gehört: je schönere Farben die Natter spielt, so giftiger beißt sie?“

„Vater?“

„Frag’ nicht weiter, Liebli! Geh’ hinein ins Haus und thu’ Dich richten zur Albenfahrt!“

„Aber ich muß ja doch die Krax’ ...“

[118] „Laß Du die Krax’ in Ruh’!“ fiel der Bauer hastig ein. „Die besorg’ ich schon selber. Geh’, Bub’, geh’!“

Ruedlieb fragte nicht mehr; er schaute mit bekümmertem Blick seinem Vater ins Gesicht, dann wandte er sich zögernd ab und ging ins Haus. Als er drinnen in der Flurstube auf dem niederen Herdrand saß und die Riemen der Bergschuhe knüpfte, konnte er durch die offene Thür sehen, daß der Köppelecker den Hof betrat, mit einem Pack auf der Schulter. Der Schönauer redete mit dem Nachbar; dann ging der Köppelecker mit seinem Pack wieder davon. Der Reihe nach kamen auch die andern: der Kirngasser und Bärenlochner, einer der Winklerbuben, der Schwaiger und Waldhauser - der Schönauer redete mit ihnen, und da trug ein jeder wieder heim, was er gebracht hatte. Der Kaganhart blieb aus - er war wohl mit seinem Weib nicht auf gleiche Meinung gekommen. Einer aber erschien, den der Schönauer gar nicht erwartet hatte: Eigel, der Kohlmann.

„Hast gehört, Richtmann, hast das Glöckl gehört?“ fragte der Alte mit erregten Worten und deutete mit seinem Stecken gegen den Lokistein.

Der Schönauer nickte. „Deine Kohlstatt liegt nicht weit vom Stein ... Du bist wohl gleich drauf zugelaufen, gelt?“

„Das kannst Dir denken!“

„Und warum kommst zu mir?“

Der Kohlmann faßte den Schönauer am Arm und dämpfte die Stimme. „Sie haben schon einen Ring gezogen um den Stein.“

„Wer?“

„Die Wazemannsbuben. Auf jedem Weg zum Lok’stein ist einer dagestanden vor mir, auf der Untersberger Seit’ der Rimiger, hinter dem Kälberstein sein Bruder Sindel ... und wie ich mich von der Thalseit’ hab’ hinschleichen wollen, hab’ ich den Hartwig reiten sehen im Gehölz. Sie liegen um den Lok’stein herum wie die Wölf’ um den Geißstall.

„Hat Dich einer gesehen?“

„Der Sindel.“

„Aber ich hoff’ doch, Du hast leere Händ’ gehabt?“

„Warum?“

„Sei froh! Sonst hätt’ Herr Waze heut’ nacht geträumt von Dir! Komm, Eigel ... ich erzähl’ Dir ’was!“ Sie gingen den Eichen zu und fetzten sich auf die Steinbank.

Ruedlieb konnte sehen, daß sein Vater lange Zeit allein sprach; dann erwiderte der Kohlmann mit erregten Gebärden, als möchte er die Meinung bestreiten, die er hörte; aber der Schönauer schüttelte immer wieder den Kopf. Als nun der Bub’, für die Bergfahrt gerüstet, zu den Eichen kam, erhob sich der Schönauer und sagte zum Kohlmann. „Laß gut sein, Eigel, das reden wir zwei nicht aus miteinander! Bring’ alles vor beim Thing ... dann wirst ja hören, was die andern sagen.“ Er wandte sich zu Ruedlieb. „Wart nur bei der Hausthür, Liebli, ich komm’ gleich.“

Ruedlieb nickte dem Kohlmann einen Gruß zu und ging zur Hausbank. Da zog der Schönauer sein Messer aus dem Gürtel und gab es in Eigels Hand; es hatte einen Griff aus Horn mit eingeritzten Zeichen. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht. Kommst aus mit der Zeit?“

„Wohl wohl!“ sagte der Kohlmann und verwahrte das Messer. „Heut’ lad’ ich über die Schönau hinaus in die Ramsau, über Schwarzeck und Winkel zurück ins Engedein. Morgen über Unterstein auf die Alben und über den Jennar und Göhl wieder heimzu bis zum Vorderecker. Und am dritten Tag vom Greinwalder hinaus zum Gernroder, und über die Metzenleit und Aschau herunter in die Strub.“

„Lad’ nur wortfeste Leut’, die Unsicheren laß aus!“

„Wohl wohl!“

„Und in der Ramsau geh’ vorbei am Hiltischalk!“

Eigel schaute betroffen auf. „Richtmann! Ich mein’ doch, der Hiltischalk müßt’ dabei sein zu allererst!“

„Thu’, was ich sag’!“

„Wohl wohl, Du bist der Richtmann, Du wirst ja wissen, warum. Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht.“. Sie reichten sich die Hände und gingen dem Haus zu. Da hörten sie plötzlich ein dumpfes Rollen, es klang wie ferner Donner. Sie blieben stehen und blickten zum Himmel auf. Aber kein Wölklein trübte das reine Blau, und alle Bergspitzen waren nebelfrei. Eine Magd kam aus der Stallthür gelaufen, schaute verwundert umher, schüttelte den Kopf und verschwand wieder.

„Vater,“ rief der Bub’, „was war denn das?“

„Ich weiß nicht. Es hat gedonnert, und ich seh’ doch kein Wettergewölk.“

Da sagte der Kohlmann mit langsamen Worten. „Richtmann, ich mein’, es wär’ gar nicht in der Luft gewesen, sondern in der Erd’!“

„Was Dir nicht einfallt!“ Der Schönauer schüttelte den Kopf. Nun standen sie alle schweigend und lauschten; doch in den sonnigen Lüften störte kein Laut mehr die Stille. „Es muß wohl hinter dem Eismann ein Wetter liegen ... und die Tauern haben aus der Fern’ her den Donnerhall hereingeworfen ins Thal.“

„Meinst?“ sagte Eigel. „Dann müßt’ das Wetter kommen auf die Nacht. Wir haben Tauernwind[15]. Der müßt’ die Wolken hertreiben über den Eismann. Da darf ich schauen, daß ich den Weg hinter die Füß’ krieg’.“

„Zeit lassen!“ grüßte der Schönauer.

„Zeit lassen auch!“ nickte der Kohlmann und ging.

Zwischen Wiesen und Feldern, auf denen der Sommerroggen, reif zum Schnitt, dünn und mit mageren Aehren stand, wanderte Eigel dem nächsten Hag entgegen. Vor dem Thor, inmitten einer Wiese, schwang der Köppelecker die Sense. Eigel ging auf den Bauer zu, zog des Richtmanns Messer aus der Kotze, drückte dem Köppelecker das Heft an die Brust und sagte. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht! <poem> Fehl’ nicht! Thu’ nach Deiner Mannspflicht! Laß Dich nicht halten von Wetter und Wind, Von Weib und Kind, Laß Dich nur halten von Wassersnot, Von Feuer und Tod!“</poem

Der Köppelecker legte die Hand an das Messer. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht. Ich hab’s gehört und schweig’. Fahr’ weiter, Thingbot’!“ Eigel nickte und ging seiner Wege. Auf schmalem Pfad, zwischen dichten Hecken, kam ihm der ältere der Hanetzerbuben entgegen. Eigel blieb stehen und hob die Hand nach dem Messer; doch er ließ sie wieder sinken. „Zeit lassen, Hanetzer! Wohin so flink?“

„Nach meiner Alben hinauf. Und Du?“

„Meiner Arbeit nach!“ sagte Eigel und ging vorüber.

„He, Du!“ rief der andere ihm nach. „Hast vor einer Weil’ das Brummen nicht gehört?“

„Wohl wohl!“

„Was war denn das?“

„Ein Wetter kommt!“

Der Hanetzer blickte zum blauen Himmel auf und lachte. „Möcht’ wissen, woher!“

Der Kohlmann zuckte die Achseln und wanderte weiter. Beim Kaganhart fand er das Hagthor verschlossen. Er lud den Kirngasser und Bärenlochner, die Winklerbuben, den Schwaiger und Waldhauser. Beim Kinill und Grünsteiner ging er vorüber. Als er den Urstaller geladen hatte, stieg er über den Hang eines waldigen Hügels empor und kam zu einem halb zerfallenen Hag. Schief hing das Thor in den Weidenringen und dichtes Unkraut wucherte im Hof. Ein verschobenes, von Lücken klaffendes Strohdach deckte die morsche Hütte, deren faulendes Gebälk schon in allen Fugen gelockert war. Wo einst der Stall gestanden, lag ein wüster Haufe von Asche und halbverbrannten Balken. Neben dem verwahrlosten Gärtlein ragten fünf Eichenstrünke aus der Erde; die jungen Stämme waren mit der Axt gefällt und lagen dürr mit gebrochenen Aesten. Eine einzige Eiche, fast hundertjährig, stand noch zwischen den Strünken; ihr Wipsel war verdorrt, und die von schmarotzendem Moose fast erstickten Aeste trugen nur noch einzelne Büschel braungrünen Laubes; der Baum krankte an den tiefen Kerben, die seinem Stamme eingehauen waren; neben der Eiche, mit einem Hanfseil noch an den Stamm gebunden, lag eine tote, von einem Fliegenschwarm umsummte Ziege.

Inmitten des Hofes stand ein Baum in vollem Grün, ein Apfelbaum mit zahlreichen Mistelbüschen; doch hingen nur wenige Früchte noch an seinen Zweigen - der Sturm der vergangenen Nacht hatte Ernte gehalten und die unreifen Aepfel heruntergeschüttelt in das Unkraut. Im Schatten des Baumes saß der alte Gobl, mit dem Rücken an den Stammn gelehnt, das weißbärtige Kinn auf der Brust, die welken Hände im Schoß. Eigel trat [119] auf ihn zu und berührte ihn mit dem Messer. „Heut’ über drei Nächt’, wenn Vollmond einsteht!

Fehl’ nicht!
Thu’ nach Deiner Mannspflicht!
Laß Dich nicht halten von Wetter und Wind ...“

Weiter kam Eigel nicht mit seinem Spruch. Der Greis hatte den Arm des Kohlmannes zurückgeschoben und sagte: „Ich hab’s gehört und schweig’. Geh’ an mir vorbei, Thingbot! Ich komm’ nicht. Heut’ hab’ ich den letzten Weg gemacht, und der reut mich schon. Ich mach’ keinen andern mehr. Wär’ schad’ um die Müh’!“

„Gobl, Gobl!“ mahnte der Kohlmann mit einer Stimme, als schliefe der Greis und er müßte ihn wecken. „Hörst denn nicht? Das Thing ruft!“

„Laß rufen!“

„Du bringst Unehr’ über Dich!“

„Unehr’?“ Ein Lächeln glitt über die dürren Lippen des Greises. „Die trag’ ich so!“ Er pflückte mit seiner zitternden Hand einen Grashalm und legte ihn auf sein Haupt. Unwillig wandte sich Eigel ab; aber schon nach wenigen Schritten kehrte er wieder zurück. „Gobl, es geht um unser aller Wohl und Weh'!“

Langsam hob der Greis die Augen. „Was red’st vom Wohl! Sag’: Weh’ - das eine Wörtl geht für alles. Und das kommt, wie’s will! Wozu denn raten, wo keiner wenden kann?“ Er hob einen wurmstichigen Apfel aus dem Unkraut und hielt ihn dem Kohlmann hin. „Da, nimm! Den kannst Dir braten am Thingfeuer! So hat’s doch einen Zweck!“

Eigel hatte den Apfel genommen; er drehte ihn zwischen den Fingern, ließ ihn wieder fallen und wanderte schweigend davon.

*      *      *

Ruedlieb, mit dem Grießbeil, und der Schönauer, die beladene Kraxe tragend, stiegen durch den Wald hinunter zur Ache. Der Bub’ blieb stehen. „Geh’, Vater, so thu’ mir doch den Willen und laß mich die Krax’ tragen!“ Der Schönauer schüttelte den Kopf, und sie gingen weiter. Als sie die Ache erreichten, teilte sich der Pfad. „Jetzt geh’, Liebli! Und Zeit lassen!“

„So laß mich doch mit hinaus zum Lok’stein!“

„Ich geh’ nicht hinaus.“

Der Bub’ machte verwunderte Augen. „Wohin denn? Hast ja doch die Krax’ für die Gottesleut’!“

„Frag’ nicht! Du sollst nichts wissen!“ Der Schönauer faßte die Hand seines Buben. „Und bleib’ auf der Alben, bis ich Dich wieder heimruf’! Und versprich mir’s: thu’ nichts gegen Wazemanns Will’ und Wort; laß keine schieche Red’ hören gegen die da droben, steig’ in keinen Bannberg ein und laß Dir nicht in den Sinn kommen, daß Du mit einer Hand ans Gewild rührst!“ Eine dunkle Röte flog über Ruedliebs Gesicht; er dachte an die Bärengrube, die er in der Reginwand ausgeworfen. „Versprich mir’s, Bub’!“ Ruedlieb nickte. „Halt’ Dein Wort, und sie können Dir nichts anhaben. Wenn’s aber doch so kommen sollt’, daß Dich einer fassen möcht’ ...“ die Augen des Richtmanns funkelten und seine flüsternde Stimme bebte, „dann greif’ nach dem Messer und stoß’ zu! Dann ist schon alles eins!“

„Vater?“ stammelte der Bub’.

Aber der Schönauer schob ihn gegen den Steg. „Jetzt geh’, Liebli! Und Zeit lassen!“

Ruedlieb fand keinen Gegengruß. Wortlos starrte er in das bleiche Gesicht seines Vaters, wandte sich zögernd ab und überschritt den Achensteg. Der Schönauer blickte seinem Buben nach, und als er ihn am andern Ufer der Ache zwischen den Bäumen verschwinden sah, drückte er die Fäuste auf die Brust und atmete tief auf. Langsamen Schrittes folgte er dem Waldpfad und erreichte nach kurzer Weile den Reitweg, welcher hinauf führte zu Wazemanns Haus. Auf dem Falkenstein fand er die Zugbrücke niedergelassen und das Thor offen. Ein Knecht trat ihm entgegen, mit verwundertem Blick.

„Da bring’ ich eine Krax’ voll Zeug,“ sagte der Schönauer und stellte seine Last nieder. „Ist der Herr daheim?“

„Nein, Richtmann!“

Der Schönauer atmete auf. „Nimm die Krax’ und lad’ das Zeug ab! Und wenn Herr Waze heimkommt, so sag’ ihm: ich hätt’ mich besser besonnen und der Herr sollt’ mit dem Zeug machen, was ihm lieb ist!“

Der Knecht trug die Kraxe ins Haus, und vor dem Thor setzte sich der Schönauer auf einen Stein am Wegrain, um auf die leere Kraxe zu warten. Im Zwinger schlugen die Hunde an, welche die Nähe eines Fremden witterten, mit vielstimmigem Echo warfen die nahen Felswände das Geheul zurück.

Ueber die auf steilem Hang sich senkenden Baumwipfel blickte der Schönauer hinunter nach der Seelände. Dort unten leuchtete ein langer weißer Streif im Sand. Es war ein frisch gewebtes Stück Hanftuch, das zum Bleichen in der Sonne lag.

Edelrot stand am Ufer, schöpfte mit einer hölzernen Kanne Wasser aus dem See und besprengte das Tuch. Da hörte sie einen knirschenden Tritt im Sand, und als sie sich umblickte, stand Ruedlieb vor ihr. Sie wollte lächeln, aber sie erschrak vor seinem blassen Gesicht. „Ruedlieb! Was hast denn?“

„Rötli!“ Er vermochte kaum zu sprechen. „Kann’s denn wahr sein, was ich gehört hab’?“

„Was?“

„Daß der See Dich schier verschlungen hätt’!“

Sie nickte wortlos. Langsam blickte sie über den stillen sonnglänzenden See hinaus, und ein stockender Atemzug erschütterte ihre junge Brust. „Wer hat’s Dir denn gesagt?“

Er hörte ihre Frage nicht. Seine feuchten Augen hingen an ihr, und seine Lippen zitterten. Sie mußte die Frage wiederholen, und da stammelte er: „Jetzt, wie ich hergegangen bin hinter dem Hag, hat’s Eure Magd, die Heilwig, mir zugerufen.“ Er faßte ihre Hände. „Weil Du nur lebst, Rötli! Weil Du nur lebst!“

Sie blickte lächelnd zu ihm auf. „Gelt, wenn’s anders hätt’ sein müssen, das wär’ doch zu früh gewesen für mich. Ich leb’ so gern! Aber viel hat nimmer gefehlt. Wär’ mein Bruder nicht gekommen und hätt’ zugegriffen, grad’ noch zur rechten Zeit, so wär’s hinuntergegangen! Ich hab’ schon das Wasser ...“ Mit leisem Schmerzenslaut unterbrach sie ihre Worte. „Geh’, druck mir doch nicht die Händ’ so fest, thust mir ja weh!“

Erschrocken ließ Ruedlieb ihre Hände fallen und stotterte: „Ich hab’ gemeint, ich müßt’ Dich halten.“ Eine Weile standen sie schweigend, dann atmete der Bub’ tief auf und fragte: „Aber wie hat denn nur so ’was geschehen können?“

„Komm! Ich erzähl’ Dir’s.“ Sie ging auf den Waldsaum zu und ließ sich im Schatten einer weitästigen Fichte nieder. Ruedlieb setzte sich an ihre Seite. Ein leises Rauschen webte in den Bäumen, über der Lände lag funkelnder Sonnenglanz, wie Perlen schimmerten die Wassertropfen auf dem ausgebreiteten Hanftuch, und in grünlichen Farben spiegelte der stille See den Falkenstein und Wazemanns Haus. Edelrot begann zu erzählen. Kaum hatte sie den Namen Reckas genannt, da ballte Ruedlieb die Fäuste. „Die also ist schuld!“ Seine Augen blitzten hinauf zum Falkenstein. „Allweil und allweil die da droben! Einmal der Alt’ und das andermal die Jungen! Wo ein Unheil wachst ... wer hat’s ausgesät? Die da droben!“

Beschwichtigend legte ihm Rötli die Hand auf die Lippen. „Mußt die Recka nicht schelten! Die hat mich lieb!“ Und sie fuhr fort in ihrer Erzählung. Mit großen Augen hörte Ruedlieb zu und blickte hinaus über das stille Wasser. Da glitt zwischen dem Schilf der Insel Bidlieger, aus dem Weitsee kommend, der Einbaum hervor. Wicho führte das Ruder, und vor dem Knecht saß Recka auf der Bank, in lichtem Gewand, das Gesicht und das den Hals und die Schultern umrieselnde Gelock von einem grauen breitkrämpigen Hut überschattet. Ruedlieb sprang auf, seine Fäuste ballten sich, und finster blickten seine Augen. „Muß denn die schon wieder da sein!“

„Seit dem Morgen ist sie schon draußen auf dem Weitsee,“ flüsterte das Mädchen, „sie hat ihre Stößer gesucht. Hat sie die Vögel, siehst ’was?“

„Wenn sie nur hin wären!“

„Aber geh’! Wie magst denn so reden! Was können denn die Vögel dafür ...“

Da klang über das Wasser her die Stimme der Wazemannstochter: „Rötli!“

„Recka!“ rief Edelrot und eilte auf das Ufer zu.

Ruedlieb stand mit finsterem Gesicht. „Allweil muß eins dazwischen kommen, wenn ich mit dem Rötli zu reden hab’!“ Eine Weile noch blieb er wartend stehen; doch als er sah, wie Edelrot an den landenden Einbaum trat, um der Tochter [120] Wazemanns beim Aussteigen behilflich zu sein, faßte er sein Grießbeil und verschwand im Wald.

Recka stieg aus dem Nachen, von Rötli gestützt.

„Ich seh’ die Stößer nicht. Hast sie denn nimmer finden können?“

„Nein. Alles Suchen und Rufen war umsonst.“ Recka nahm den Hut ab und schüttelte die Locken in den Nacken. „Sie haben sich nicht in den Wald verflogen ... sonst hätten sie mich hören müssen. Der Elbiß ist wohl untergetaucht, hat die Stößer, die an seinem Hals verschlagen hingen, mit hinuntergezogen und hat sich festgebissen auf dem Seegrund.“

Rötli schüttelte das Köpfchen und flüsterte. „Der ist Luft worden! Das kannst mir glauben!“

„Närrlein!“ lächelte Recka und strich mit sanfter Hand über Rötlis Haar.

Edelrots Blicke suchten den Buben. „Ja wo ist er denn?“ stammelte sie und spähte nach allen Seiten. Nirgends erblickte sie ihn; doch einen anderen sah sie, ihren Bruder. Auch Recka hatte ihn schon gewahrt; eine heiße Röte flammte über ihre Wangen, und hastig wandte sie sich, um das Federspiel, das sie zum Locken der Stößer mitgenommen hatte, aus dem Einbaum zu holen. Sigenot kam von der Ache hergegangen, die schwankende Angelgerte über der Schulter, das Lägel auf dem Rücken. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen hatten einen fremden Blick. Wicho, welcher vom Ufer kam, das lange Ruder schleifend, nickte ihm zu und kniff mit einer vergnügten Grimasse die Augen ein ... aus ihm lachte die Schadenfreude über Reckas Verlust. Sigenot verstand diese stumme Sprache nicht und verhielt den Schritt. Da lief ihm die Schwester entgegen. „Denk’ Dir, sie hat die Stößer nimmer gefunden!“

„Schad’ um die Vögel!“ sagte der Fischer, ohne einen Blick auf Recka zu werfen. „Sie waren gut abgetragen.“

Vom herben Klang seiner Stimme befremdet, blickte Rötli auf. Da gewahrte sie auf ihres Bruders Kappe eine seltsame Zier: neben der Schwanenfeder war ein dünnschäftiger Pfeil mit verbogener Spitze durch das Otterfell gestoßen, fast so, wie man eine langstielige Blume auf die Mütze steckt.

„Ja was hast denn da auf Deinem Kappel?“

Sigenot lehnte die Angelrute an die Schulter, nahm die Mütze an und zog den Pfeil hervor.

Raschen Schrittes kam Recka herbeigegangen. „Was soll der Pfeil?“

Der Fischer hob langsam die ernsten Augen. „Warum fragst?“

„Weil es ein Pfeil aus Hennings Köcher ist.“

„Aus Hennings Köcher!“ wiederholte Sigenot mit halblauter Stimme.

„Ich kenn’ ihn am Gefieder. Wie kommst Du zu dem Pfeil?“

Sigenot wollte sprechen; da streiften seine Augen das Gesicht der Schwester, und er blickte gegen das Haus hinauf. „Hast nicht gehört, Rötli? Die Mutter hat gelacht.“

„Die Mutter? Ich hab’ nichts gehört.“

„Wohl wohl! Geh’ nur!“

Edelrot schüttelte verwundert das Köpfchen; aber sie eilte in den Hag und über den Hügel empor.

Mit fragenden Augen blickte Recka den Fischer an. „Warum schickst Du die Schwester fort?“

„Weil sie nicht zu hören braucht, wie ich zu Deines Bruders Pfeil gekommen bin.“

„Ich versteh’ Dich nicht. Wo hast Du den Pfeil gefunden?“

„Gefunden?“ Ein seltsames Lächeln zuckte um Sigenots Lippen. „Freilich ... man findet auch diemal, ohne daß man sucht. Da, nimm den Pfeil und bring’ ihn Deinem Bruder Henning wieder!“ Die Augen mit heißem Blick auf Reckas Antlitz heftend, legte er das gefiederte Rohr in ihre Hand. „Unter dem Lok’stein bin ich an der Ache gestanden und hab’ die Angel geworfen, da ist mir der Pfeil von hint’ her am Hals vorbei geflogen, daß mich die Feder noch gestreift hat, und ist vor mir ins Wasser gesurrt und auf einen Stein gefahren. So hab’ ich ihn gefunden.“

Von Reckas Wangen war alle Farbe gewichen. „Ein böser Zufall,“ sagte sie mit schwankender Stimme und hastigen Worten. „Henning muß nach einem Haselhuhn geschossen haben ... oder nach einem Auerhahn, der durch die Wipfel strich ... und der Pfeil ging fehl und flog durch die Bäume weiter.“

„Wohl wohl, kann schon sein!“ sagte der Fischer; doch er wandte die Augen ab.

„Henning ist ein ungestümer Schütze, der wilde Eifer macht ihn blind ... wär’ ein Unheil geschehen, es wär’ das erste nicht, das er angerichtet.“

„Da hast recht!“ Der Fischer nickte einen stummen Gruß, schulterte die Angelrute und wollte in das Hagthor treten.

Recka starrte mit verlorenem Blick auf den Pfeilschaft in ihrer Hand; dann hob sie die Augen und blickte dem Fischer nach. Wie quälende Unruhe schien es ihr Wesen zu befallen; sie that einen Schritt, und mit gepreßtem Laut, als geschäh’ es wider ihren Willen, klang Sigenots Name von ihren Lippen.

Er wandte das Gesicht. „Was willst?“

Sie zögerte; dann plötzlich hob sie das schöne stolze Haupt und trat auf den Fischer zu. „Sigenot! Ich werde meines Bruders Unverstand dem Vater klagen. Hätte dieser Zufall bös gespielt, es wär’ ein übler Vergelt für die Hilfe gewesen, die Du mir gestern gebracht hast in der Not. Ich bin Dir Dank schuldig. Nimm ihn!“ Sie streckte die Hand aus.

Eine dunkle Röte floß über Sigenots Gesicht; seine Hand zuckte und die Angelrute schwankte; doch er schüttelte den Kopf und langsam, mit herbem Klang, lösten sich die Worte von seinen Lippen: „Was ich an Dir gethan hab’, das hast Du vergolten an meiner Schwester. Da braucht’s keinen Dank. Wir sind auf gleich, und die Sach’ ist abgethan! Auch brauchst Deinen Bruder nicht verklagen. Wenn er merkt, wie der Pfeil geflogen ist, kränkt er sich schon von selber genug!“ Sigenot lächelte wieder und nickte. „Zeit lassen!“ Er wandte sich ab und trat ins Thor.

Reckas Brauen furchten sich, und ein zorniger Blick flammte aus ihren Augen. „Das war der erste Dank, den Du von mir gehört hast ... aber auch der letzte.“ Und während sie hastigen Ganges den Bäumen entgegenschritt, zerknickten ihre Hände den dünnen Pfeilschaft.




11.

Als Sigenot das Haus erreichte. kam Rötli aus der Thür. „Gelt, ich hab’ recht gehabt!“ sagte sie. „Die Mutter hat nichts wollen.“

„So hab’ ich mich halt verhört!“ Er lehnte die Angelrute an die Balkenwand, pfiff dem Knecht und übergab ihm das Lägel, damit er die Ferchen verwahre. Während Rötli hinunterging zum Ufer, um das bleichende Hanftuch zu besprengen, trat Sigenot in das Haus. Mutter Mahtilt nickte ihm lächelnd zu; er ging zu ihrem Stuhl und strich mit der Hand über der Mutter graues Haar. Sie redete mit den bleichen Händen; er verstand die stumme Frage und sagte: „Heut’ hab’ ich schlechten Fang gehabt.“

Sie blickte zu ihm auf. „Warum?“ fragte dieser Blick.

Er zuckte die Schultern. „Es geht halt nicht einen Tag wie den andern.“ Das sagte er wohl mit ruhiger Stimme; doch er wich dem Blick der Mutter aus und trat in seine Kammer.

Mutter Mahtilt erfaßte einen eisernen Zinken und schlug auf den Herdstein, daß er hellen Klang gab. Heilwig kam gelaufen, deckte für Sigenot den Steintisch und rief ihn zum verspäteten Mahl. Er kam und setzte sich an den Tisch, doch er genoß nur wenige Bissen. Lange saß er mit aufgestützten Armen und starrte vor sich hin. Einmal blickte er zur Wand empor, an der seine Waffen hingen, dann hinüber zur Mutter. Und wieder saß er in Gedanken versunken. Freundlicher Art waren diese Gedanken nicht - das verrieten seine Augen und Züge. Tief atmend erhob er sich endlich und nahm mit raschem Griff das Ringhemd von der Wand. Mutter Mahtilt hörte das Klirren und blickte verwundert auf.

„Ich muß die Wehr wieder einmal anschauen,“ sagte Sigenot und ging der Thür zu, „ich mein’, sie rostet.“

Vor dem Haus setzte er sich auf die Bank, nahm das eiserne Hemd über die Knie und begann das dichte Gewirr der Ringe zu mustern. Er fand keine Lücke in dem Gewebe, in den Fugen der Ringe kein Flecklein Rost. Zufrieden nickte er, und während er sich erhob, glitten seine Blicke hinauf zu Wazemanns Haus. „Jetzt, Henning ... jetzt kannst meinethalben ein andermal auch besser zielen!“ Er umschritt das Haus und schob das Ringhemd durch das offene Fenster in seine Kammer. Als er zurückkehrte, kam Rötli über den Hag heraufgestiegen. Sie [122] blieb vor dem Bruder stehen. „Was ich fragen hab’ wollen ... hast um die Mittagszeit das Rollen nicht gehört? Es ist gewesen, wie wenn’s ein Donner wär’.“

„Wohl wohl, und ich hab’ gemeint, ein Wetter käm’; aber es muß sich wieder verzogen haben.“ Er blickte zum Himmel auf. „Es laßt sich kein Wölkl sehen.“

Rötli schüttelte das Köpfchen. „Das ist kein Wetter gewesen ... ich weiß schon, was es war!“ Ihre Stimme dämpfte sich zum Flüstern. „Der Bid ist unmütig geworden drunten in der Seetief’ und hat aufgehaut im Zorn. Wie’s gerollt hat, bin ich drunten gestanden an der Länd’, und da hab’ ich gesehen, wie ein Zittern über den See gelaufen ist, grad so wie übers Wasser in einem Schaff, wenn einer dran hinstoßt mit dem Fuß.“

Sinnend blickte Sigenot hinunter auf den stillen See, über den schon die ersten Schatten des Abends fielen.

„Weißt, ich hab’ gleich was gethan dafür,“ flüsterte das Mädchen, „ich hab’ meine Halskett’ genommen ... sie war mir das Liebst’, was ich an mir gehabt hab’ ... und hab’ sie weit hinausgeworfen ins Wasser. Sie muß dem Bid gefallen haben. Gleich hat er Ruh’ gegeben.“ Sie atmete tief und wollte ins Haus treten. Doch auf der Schwelle wandte sie sich wieder um. „Noch eins! Hast denn vergessen heut’?“

„Was?“

„Daß Du eine Kerb’ in Deinen Jahrbaum schneiden mußt.“ Lächelnd trat sie auf den Bruder zu und faßte seine Hand. „Heut’ ist der Tag, an dem Dich Frau Hul der Mutter gebracht hat. Schau, ich wünsch’ Dir an Glück und Freuden so viel, als ich Haar’ auf dem Scheitel hab’.“

Mit schwermutsvollem Blick schaute Sigenot in das holde Gesicht der Schwester. „Glück und Freuden? Vergelt’s, Rötli! Aber ich mein’ schier, Du hast zu viel gewunschen.“ Er gewahrte die Axt, welche neben der Thür an der Balkenmauer lehnte, und faßte sie. „Komm, ich schlag’ die Kerb’ in meinen Baum.“

„Aber was willst denn mit der Axt?“ fragte Rötli verwundert. „Hast ja Dein Messer.“

„Das hat nicht Schneid’ genug für den heutigen Tag.“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 9, S. 134–139

[134] Sigenot ging mit der Axt auf seinen Jahrbaum zu und Rötli folgte ihm. Dreimal umschritt er den Baum, ihn jedesmal berührend mit der Hand. Dazu murmelte er:

„Der Baum wachst, der Baum lebt, ist gewachsen und steht,
Gradschlächtig und stark, gesund im Mark,
In der Wurzel fest, mit Laub und Aest’.
Heb’ Dich und streck’ Dich, hüt’ Dich und deck’ Dich –
Hast Sonn’ und Regen, nutz’ den Segen!
Wie die Steiner im Bach laufen die Jahr’ einander nach –
Eins gewinnst und eins verlierst –
Halt’ aus, daß die Kerb’ nicht spürst!“

Beim letzten Wort hatte Sigenot die Axt geschwungen und das blitzende Eisen schlug in den dreißigjährigen Baum, daß der schlanke Stamm erzitterte vom Wipfel bis in die Wurzeln. „Aber was thust denn? Was thust denn?“ stotterte Rötli und wollte den Arm des Bruders fassen. Doch da fiel schon der zweite Hieb, die Rindensplitter und Späne sprühten, und weiß, fast bis ins Mark hinein, klaffte am Baum die Kerbe.

„Aber schau doch, schau, Du hast ja Dein Bäuml bis hinein ins Leben geschlagen!“ jammerte Edelrot, und die hellen Zähren traten ihr in die Augen. Sigenot ließ die Axt sinken, starrte die klaffende Kerbe an und murmelte. „Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich’s auch!“

Er wollte gehen; aber Rötli umklammerte seinen Arm. „Ja was hast denn auf einmal? Was ist Dir denn geschehen? Man möcht’ ja meinen, Du wärst seit gestern ein anderer worden! Ist Dir denn ’was?“

Wortlos schüttelte Sigenot den Kopf; doch als ihm Rötli den Weg vertrat, warf er die Axt beiseite, umschlang die Schwester und drückte sie mit zitternden Armen an die Brust. Sie war so erregt, so erfüllt von Angst und Sorge, daß sie weinen mußte. „Thu’ nicht weinen, Rötli, schau, ich bitt’ Dich, nur nicht weinen thu’!“ flüsterte er und streichelte ihr Haar. „Sei mir nur Du nicht harb, nur Du nicht! Schau, ein andermal vergeß’ ich nimmer, daß ich Dein Bruder bin!“

Sie blickte auf, und als sie ihm in die Augen sah, verstand sie seine Worten und da lächelte sie unter Thränen, hob sich auf die Fußspitzen und faßte sein Gesicht mit beiden Händen. „Wie magst nur denken, daß ich Dir harb sein könnt’! Hast mich denn nicht heimgeholt aus Wetter und Wasser? Hätt’ ich denn nicht versinken müssen ohne Dich? Wir all beid’ miteinander ... ich und die Recka?“ Sie wollte weiter sprechen, doch er drückte sie an sich, daß ihr der Atem fast verging, und schloß ihre Lippen mit einem Kuß. Dann ging er auf das Haus zu und nahm den langen fünfzackigen Näbiger[16] von der Balkenwand.

„Willst denn heut’ noch fort?“ fragte Rötli. „Schau, es geht ja schon auf den Abend zu.“

„Mich leidet’s nicht in der Ruh’, ich muß schaffen!“ sagte er und stieg, den Näbiger auf der Schulter, zum See hinunter.

Mit verlorenem Blick sah ihm die Schwester nach. Langsam streifte sie mit der Hand über die Stirne. „Wenn ich nur wüßt’, was er hat! Ich muß doch den Ruedlieb fragen!“

Sigenot erreichte das Ufer und löste den Waldschragen; mit dem einen Fuß das kleine aus Schilf und Stangen gefügte Floß betretend, stieß er mit dem anderen das leichte Fahrzeug von der Lände ab. Fast lautlos glitt der Schragen über das Wasser hin; mit der Stange des Näbigers trieb ihn der Fischer am Saum des Röhrichts entlang, gegen den Ausfluß der Ache hin, immer langsamer und leiser. Mit scharfem Blick spähte er in die klare Flut, deren nicht allzu tiefer Grund von Moos und Algen wirr überwachsen war; die dünnen blaßroten Stengel der Seerosen durchspannen das Wasser, gleich den Fäden eiues Netzes. Jetzt verhielt Sigenot durch einen Druck der Stange das Fahrzeug. Langsam und lautlos, den straff gespannten Körper kaum bewegend, hob er den Näbiger und drehte allmählich die eisernen Widerhaken nach unten, daß ihre scharfen Spitzen fast den Seespiegel berührten. Er zielte und warf. Das Wasser spritzte auf, und zischend fuhr der Näbiger in die Flut. Mit jähem Ruck riß Sigenot die Stange wieder in die Höhe – der Wurf war geglückt, am Eisen zappelte ein schwerer Hecht. Mit einem flink und sicher geführten Faustschlag tötete Sigenot den Raubfisch, löste ihn von den Haken und warf ihn hinler sich. Dann trieb er den Schragen weiter ...

Die Schatten wuchsen, und der rote Schimmer des Abends leuchtete über dem Thal. Edelrot hatte das zum Bleichen ausgelegte Hanftuch ins Haus getragen. Nun stand sie vor ihres Bruders Jahrbaum; sie füllte die tiefe Kerbe. welche Sigenot geschlagen, mit harzvermischtem Wachs und überband die wunde Stelle dicht mit Bast.

Wicho verließ den Hof, das Lägel auf dem Rücken; er trug die Ferchen davon, welche Sigenot am Morgen gefangen – sie waren für den Schönauer bestimmt, als Zahlung für einen Packen Hanf. Noch vor der Dämmerung erreichte Wicho die Schönauer Felder. Da blieb er stehen und lauschte. Ein leiser sanfter Klang kam aus der Ferne her durch die stille Luft geschwommen ...

Beim Lokistein tönte die Glocke.

Bruder Schweiker zog den Strang und läutete den ersten Feierabend ein. Er trug nicht die Kutte. sondern das Arbeitskleid, den kurzen ärmellosen Leinenjanker, und von allen mochte wohl er selbst des Feierabends und der Ruhe am meisten bedürftig sein. Wie ein Stier, wuchtig und ausdauernd, hatte er geschafft den ganzen langen Tag und mit Hilfe der Knechte ein tüchtiges Stück Arbeit zuwege gebracht. An die dreißig mächtige Fichten lagen am Waldsaum schon gefällt, entästet und zu Balken von jener Länge zerschnitten, wie sie der Klausenbau erforderte. Auch Pater Waldram hatte mitgeholfen bei diesem Werk; doch seinen von Kasteiung und Fasten entkräfteten Körper hatte, lange schon vor dem Abend, die Erschöpfung befallen; beim Schleifen eines Balkens war er ohnmächtig niedergesunken. Man hatte ihn ins Zelt getragen, aufs Moosbett gelegt und mit Trank und Speise gelabt; dann hatte tiefer Schlummer ihn überkommen, aus dem auch der Klang der Abendglocke ihn nicht zu wecken vermochte.

Auch Bruder Wampo hatte nicht gefeiert und manch ein Tröpflein frommen Schweißes vergossen; ihm war es zugefallen, die Zelle aufzurichten, die Mooslager zu rüsten, die Reisighütten für die Knechte und Saumtiere zu bauen, die Ballen auszupacken, ihren Inhalt zu bergen und in trockenem Grund eine Grube auszuwerfen, um darin das Fäßlein mit dem Meßwein und die Mundvorräte zu verwahren. Diese letzte Pflicht seines Amtes hatte er mit der größten Sorgfalt und mit ganz besonderem Eifer erfüllt. Nun stand er zwischen den Zelten beim flackernden Feuer und kochte den Imbiß für den Abend, ein mageres Mahl. Sterz mit Bohnenmus; doppelt mager, denn der Sterz war mit Wasser angerührt. Bruder Wampo hatte es sich und den Seinen wohl besser vermeint; doch als er mit der Kanne durch den Wald davonspringen wollte, hatte ihn Eberwein angerufen: „Wohin, Bruder?“

„Vom Hang dort oben hab’ ich eine Bauernhuf’ gesehen, die nicht gar weit liegt. Ich will hinüberspringen.“

„Weshalb?“

„Um für Gottes Dank ein Kännlein Milch zu begehren. Wir haben Sterz auf den Abend.“

„Bleib’ nur! Wir alle sind müd’ und hungrig von der Arbeit; da wird uns der Sterz auch mit Wasser schmecken!“

„Aber mit Milch ist er besser!“

„Mit Wasser gesünder. Und ich will nicht, daß die Leute im Gadem sagen sollen: Heut’ sind sie gekommen – man merkt’s, denn sie verlangen schon. Wir wollen geben, Bruder, nicht nehmen.“

Bruder Wampo blies die Backen auf und ging mit der Kanne zur Quelle, um Wasser zu schöpfen. „Geben?“ brummte er. „Möcht’ wissen, von was?“ Er warf einen langen Blick zu der Grube hinüber, in welcher die Vorräte geborgen lagen. „Zwei kurze Wochen, und wir haben selber nichts mehr. Dann werden wir halt doch wohl nehmen müssen ... oder die heilige Zeit geht an!“ Er seufzte tief. Als er mit der gefüllten Kanne zu den Zelten zurückkehrte, schien plötzlich auch er, der doch kurz zuvor noch so flink und hurtig gesprungen war, die Müdigkeit zu spüren; denn er ließ das runde Köpflein hängen und schlürfte mit den Füßen. Den Blick zur Seite gewandt, ging er an Eberwein vorüber, der die unterbrochene Arbeit schon wieder aufgenommen.

[135] Das erste, was der Pater nach der Messe begonnen hatte, stand lange schon vollendet: über dem zum Altar geweihten Heidenstein erhob sich das weiße Kreuz, in welches Eberwein den halb verbrannten Eichstamm mit der Axt verwandelt. Dann hatte er, Richtscheit und Meßschnur führend, den Grundriß der Klause und des Kirchleins abgesteckt und mit dem Spaten die Mauerfurchen ausgehoben; schwarz zogen sich die breiten Streifen durch den grünen Rasen und zeigten die Einteilung, welche die Klause erhalten sollte – einen größeren Mittelraum und ihm zur Rechten und Linken je zwei kleinere Kammern; an die Rückwand der Klause sollte das Kirchlein sich anlehnen, mit den Balkenmauern seiner länglichen Halle den zum Altar geweihten Heidenstein und das Kreuz umschließend. Als der letzte Stich mit dem Spaten gethan war, hatte Eberwein im Wald einen jungen Ahornstamm gefällt und aus ihm ein mannslanges Stück herausgeschlagen, mit zwei kreuzförmig stehenden Aststümpfen. Auf der Schulter hatte er das schwere Holz zu den Zelten getragen und begonnen, es mit Hammer und Meißel zu behauen. Und als jetzt der Abend dämmerte und Bruder Schweiker die Glocke zog, trat aus dem weißen Holze schon in rauhen Formen das entstehende Bildnis hervor – das Abbild des Gekreuzigten. Beim ersten Glockenton legte Eberwein Hammer und Meißel nieder und faltete die Hände im Schoß; seine Augen streiften die schwarzen Furchen, die er gezogen, das Gewirr der gefällten Bäume am Waldsaum, von welchem die Knechte mit geschulterten Beilen einherkamen, und den Blick zu dem vom letzten Sonnenglanz umflossenen Himmel erhebend, sagte er lächelnden Mundes: „Nisi Dominus aedificaverit domum, in vanum laboraverunt, qui aedificant eam.“[17]

Die Glocke schwieg; Eberwein erhob sich und trug das begonnene Schnitzwerk unter das Zelt. Als er dann mit den Brüdern den Imbiß genommen hatte, ordnete er für den kommenden Morgen die Arbeit an und begab sich zur Ruhe. Die Knechte schlüpften unter die Reisighütten. Schweiker und Wampo standen noch beim erlöschenden Feuer und spülten die Geschirre.

Die graue Dämmerung kam; am Waldsaum verstummten die letzten Vogelstimmen, und ein zarter Nebel dampfte aus dem Weiher; nahe seinem Ufer trat ein Reh unter den Bäumen hervor. Es stutzte beim Anblick der weißleuchtenden Zelte und des roten Feuerscheines, wandte sich mit langen Sprüngen zur Flucht, und laut schreckend verschwand es im dunkelnden Wald.

„Was war denn das?“ fragte Wampo.

„Ein Reh muß dagewesen sein.“

„So? Das ist aber auch alles, was heut’ gekommen ist.“

„Gelt? Ich hab’ auch schon dran gedacht!“ flüsterte Schweiker. „Nicht ein einziger hat sich schauen lassen. Wie man die Raitenbucher Klaus’ gezimmert hat, da war ich auch dabei, und da sind sie aufs erste Läuten haufenweis gekommen, Männer, Weiberleut’ und Kinder. Und heut’ keine Seel’! Was sagst?“

„Was ich schon lang’ gesagt hab’: eine schieche Gegend, das! Paß nur auf, was man da noch alles erleben wird! Es fangt schon gut an heut’!“ Mit unmutigem Griff packte Wampo eine hölzerne Schüssel und scheuerte mit dem nassen Grasbüschel drauf los, als hätte er die ganze böse Gegend unter seinen Händen. „Sterz mit Wasser … gleich am ersten Tag!“

Schweiker überhörte die letzten Worte; er starrte in die Kohlen, dann sagte er langsam: „Vielleicht hausen die Leut’ so weit auseinander, daß sie das Glöckl nicht haben hören können.“

„Laß mich aus! Das Glöckl ruft eine halbe Stund’ weit. Es hat halt keiner kommen mögen. Die Heidenschüppel, die unchristlichen! Denen wird man den Gottesglauben auch mit dem Muslöffel eingeben müssen.“

Schweiker schüttelte den Kopf. „Steht ja der Wald herum wie eine Wand … so eine Wehr frißt halt den Hall. Wirst sehen, sie haben das Glöckl nicht gehört. Wie die andern sind, weiß ich nicht, aber eine – wenn die das Glöckl gehört hätt’, die wär’ gekommen!“

Da lauschten sie alle beide. Ferne Stimmen klangen im Wald; es waren Wazemanns Söhne, die sich anriefen zum Heimritt. „Es müssen doch Leut’ in der Näh’ sein!“ murmelte Schweiker.

Während sie noch lauschten, tauchte hinter den fernen schwarzragenden Bergen die fast volle Scheibe des Mondes empor und warf einen blassen Schimmer über die Lichtung. „Lug’ hin, Bruder, lug’ hin,“ stotterte Wampo und deutete mit dem Arm, „sell rührt sich ’was!“

„Wo?“

„Beim Kreuz! Und schleichen thut’s wie ein Wolf!“

Schweiker packte die Axt und rannte mit langen Sprüngen hinaus in den Mondschein. Am Waldsaum sah er einen Schatten gleiten, er schwang die Axt zum Wurfe, doch mitten im Schwung hielt er inne, wie versteinert. Hinzula stand vor ihm. „So, schön … wenn ich jetzt geworfen hätt’!“ stotterte er. „Ja Dirnlein, sag’ nur, wie kommst denn Du daher?“

„Hast ja geläutet!“ lispelte das dünne Stimmlein.

„Aber ich hab’ doch auch geläutet zur Meß’ Warum bist denn nicht am Tag gekommen?“

„Da hab’ ich nicht her dürfen! Ich hab’ warten müssen, bis …“

Er unterbrach sie. „Aber das ist doch jetzt keine Zeit, bei der ein Kindl … will sagen: ein Dirnlein wie Du noch umlauft im wüsten Wald.“ Er trat zur Seite, denn sein Schatten fiel schwarz und breit über Hinzulas schmächtige Gestalt; doch auch im vollen Mondschein wurde ihr Gesicht nicht heller; wie ein dunkler Kohlklumpen war es anzusehen – nur die Augen glänzten.

Eine Weile standen sie schweigend voreinander; dann sagte er, einen salbungsvollen Ton versuchend: „Geh’ heim, Dirnlein, denn ich muß Dir sagen: es ziemet sich gar nicht für mich, daß wir da bei einander stehen in mondscheiniger Zeit … wenn auch gleich die guten Heiligen vom Himmel herunterschauen dürften auf uns all’ beid’. Geh’ heim! Und komm’ ein andermal bei Tag!“

„Thust morgen wieder läuten?“

„Wohl wohl!“

„Nachher komm’ ich!“ fuhr es mit flinkem Wort über ihre Lippen. „Ich fürcht’ mich nicht … und ich find’ schon einen Weg.“

Diese Worte waren freilich anders gemeint, als Schweiker sie deutete. „Brav, Dirnlein, brav! Gottes Weg’ darfst allweil gehen ohne Furcht! Ja, Dirnlein, komm nur! Dann will ich einmal scharf nachschauen, wie’s bestellt ist mit Deinem Seelgerät.“

„Mit was?“ stotterte Hinzula.

„Mit Deinem Seelgerät!“ wiederholte er mit ernstem Ton. „Denn ich mein’ schier, es müßt’ bei Dir einwendig nicht viel besser ausschauen als auswendig. Wohl wohl, ich hab’ schon allweil dran denken müssen. Und daß Du’s nur weißt: heut’ nacht hab’ ich geträumt von Dir.“

„Ich von Dir auch!“

„So? Aber mein Traum wird wohl der besser’ gewesen sein! Daß Du’s nur weißt: Gott, der liebe Herre, ist mir erschienen im Traum und hat mir aufgegeben als gutes Werk, daß ich Dich weißwaschen soll.“

„Das hab’ ich heut’ schon von selber thun wollen,“ sagte sie. „Aber die Mutter hat’s gemerkt, im hellen Zorn hat sie mich weggerissen vom Brunnen und hat gesagt, sie haut mir alle Knochen im Leib auseinander, wenn ich’s thu’.“

Bei der unerwarteten Wendung, welche Hinzulas Rede nahm, schlug Schweiker entsetzt die Hände zusammen und rief: „Dirnlein! Dirnlein! Wenn Deine Mutter den Teufel fürchten möcht’, wie sie den Dreck lieb hat, dann müßt’ sie eine gute Christin sein!“ Kopfschüttelnd nahm er die Axt wieder auf, die er hatte sinken lassen, und ging davon; nach einigen Schritten rief er über die Schulter zurück. „Geh’ weiter, Dirnlein, und mach’, daß Du heimkommst, so lang’ Dir der Mond noch auf den Weg scheint!“ Und den Zelten entgegenschreitend, murmelte er vor sich hin: „So eine Mutter! Alle Knochen im Leib! Ist das auch noch eine Mutter?“

Hinzula stand regungslos und blickte ihm nach.

Als Schweiker die Feuerstatt erreichte, auf welcher nur wenige Kohlen noch in der Asche glosteten, schlüpfte Bruder Wampo aus dem Zelt, in das er sich geflüchtet hatte. „Es muß doch kein Wolf gewesen sein … ich mein’, ich hätt’ Dich reden hören.“

Schweiker nickte nur.

„Wer ist denn nachher das gewesen?“

„Mein Saubartele!“

„Das Bartele!“ rief Bruder Wampo, als hätte er die freudigste Botschaft vernommen. „Ja warum hast mich denn nicht gleich gerufen?“ Mit hurtigen Händen tappte er auf dem dunklen Rasen umher, und als er einen Span erwischte, stieß er ihn zwischen die Kohlen und blies in die Glut.

„Aber was thust denn?“ fragte Schweiker.

Der Bruder gab keine Antwort; er blies und fauchte, bis [138] ein kleines Flämmlein aufzuckte und knisternd den Span ergriff.

Mit der flackernden Leuchte rannte er davon. Schweiker wollte ihn zurückhalten, doch Bruder Wampos Beine waren flinker als Schweikers Arme. Wampo verschwand im Mondschatten des Waldsaumes, wie ein Irrlicht gaukelte das Spanfeuer zwischen den Bäumen, und leis rufend klang seine Stimme: „He! Du! Dirnlein!“

Nach einer Weile kam er wieder, vergnügt die Hände reibend.

„Was hast denn wollen von dem Kind?“ brummte Schweiker.

„Das wirst morgen auf Mittag schon merken, wenn ich die Milchsupp’ auftrag’ und die Butternocken.“

„Geh, Du Bettelsack! Weißt denn auch, ob dem Kindl seine Leut’ gern ’was geben?“

„Was geht denn das mich an! Um so lieber giebt das Dirnlein. Das muß ich sagen: gut stehst angeschrieben bei Deinem Bartele. Wie ich ihr gesagt hab’, daß ich Hunger leiden muß, das ist bei ihr gar nicht tief gegangen. Sie hat nur gefragt: ‚Gelt, der ander’ aber nicht?‘ Aber wie ich, gesagt hab’: ‚Wohl wohl, bey dem schreien auch schon die Frösch’ im Magen‘ – da hätt’st nur sehen sollen –“

„Das ist aber doch eine Lug gewesen!“ fuhr Schweiker auf.

„Aber eine fromme, Bruder, eine fromme! Und Du hätt’st nur sehen sollen, wie sie gewirkt hat!“

Die Art dieser Wirkung schien in Schweiker keine Spur von Neugier zu erwecken. „Laß mich in Ruh’!“ brummte er, streifte den Bruder mit einem zürnenden Blick und verschwand im Zelt.




12.

Herr Waze hatte mit Recka und seinen drei jüngsten Söhnen den Abendimbiß eingenommen. Als der Tisch abgeräumt wurde, ging Recka in ihre Kammer, ohne Wort und Gruß. Der Vater blickte ihr nach. „Was hat sie denn?“

„Was wird sie haben?“ lachte Otloh. „Sorgen, wo sie einen Mann hernimmt! Sie kommt in die Jahr’.“ Er spaltete einen frisch geschnitzten Pfeilschaft, um ihn mit einer Auerhahnschwinge zu fiedern.

„Sie könnt’ doch einen haben!“ brummte Herr Waze. „Der Pfleger von Hall, den wir auf der letzten Sauhatz an der Grenz’ getroffen haben, hat Augen auf sie gemacht wie der Fuchs auf die Spielhenn’. Ich mein’, der nähm’ sie vom Fleck.“

„Der wird sich hüten!“ rief Gerold, welcher hinter dem Lehmofen ausgestreckt auf der Bank lag. „Hast denn nicht gesehen, wie sie ihm mitgespielt hat? Wie er sie küssen hat wollen beim Umtrunk, hat sie ihm die Faust auf die Brust gestoßen, daß er vor ihr einen Fall gethan hat … aber nicht auf die Knie!“

„Ach was! Er hat doch gelacht dazu!“, meinte Herr Waze. „Wenn er ein Weib kriegen kann wie meine Dirn’, so nimmt er schon diemal einen Puff mit in Kauf. Mitgeben kann ich ihr freilich nichts – dafür haben Eure sieben Mäuler gesorgt. Und wenn wir die Kuttenlupfer nicht wieder hinausbringen aus dem Gadem, können wir alle übers Jahr das Maul an den Bindfaden hängen. Wie soll ich da der Dirn’ noch ’was mitgeben!“

„Sie hat’s in der Faust,“ sagte Otloh, eine Feder zwischen den Zähnen, „wozu braucht sie noch ’was im Sack zu haben?“

„Hast recht!“ lachte Herr Waze und streckte die Arme mit geballten Fäusten. „Die Rass’, die Rass’ an ihr … die schlag’ ich auf zwei feste Burgen an.“

Gerold kicherte hinter dem Ofen. „Ich mein’, dem Haller möcht’ die Leiter ausrutschen, wenn er die Burgen nehmen wollt’.“

Da lachten sie alle, sogar Eilbert, der die ganze Zeit über schweigend an einem der Fenster gestanden hatte, über den vom Mondlicht umfluteten Falkenstein hinunterspähend nach dem Fischerhaus. Jetzt rief ihn der Vater an. „Was stehst denn allweil? Bring’ das Brett!“ Er putzte die rauchenden „Räuber“ von den Kerzen, setzte sich an den Tisch und füllte die geleerte Bitsche aus einem mächtigen Zinnkrug.

Mit verdrossenem Gesicht brachte Eilbert das Spielbrett und die Steine. „Was soll das Spiel gelten?“ fragte er, sich setzend.

„Ich will Dir nichts abgewinnen,“ brummte Herr Waze und begann die Steine zu stellen.

„Aber ich Dir! Um gute Wort’ spiel’ ich nicht; da leg’ ich mich lieber schlafen.“ Er stand wieder auf.

„Wirst bleiben oder nicht!“ schrie der Alte mit dunkelrotem Gesicht und schmetterte die Faust auf den Tisch.

Eilberts Augen funkelten. „Willst wieder zuschlagen? Da mußt schon warten, bis ich wieder eine Fahlgeiß heimbring’.“

„So redst Du mit Deinem Vater? Dir will ich!“ Herr Waze stürzte auf seinen Buben zu. Aber Gerold und Otloh sprangen auf und warfen sich zwischen die beiden.

Aus dem Hof herauf klang Stimmenlärm und Pferdegetrappel. „Die Buben kommen!“ rief Herr Waze, und jählings allen Zorn und Streit vergessend, eilte er in die Vorhalle.

Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig stiegen von den Rossen. Sie kamen über die Freitreppe empor, auf welcher das helle Licht des Mondes lag, und da standen sie nun in der Halle beisammen, Herr Waze und all seine Buben. Henning erzählte. Keinen Schritt und keinen Beilhieb hatten die Klosterleute gethan, von welchem die vier Späher nicht zu berichten wußten.

„Und wie haben sich die Leut’ dazu gestellt?“

„Vier hab’ ich heimgeschickt,“ lachte Rimiger, „und mein’, das Wiederkommen wird ihnen verleidet sein.“

„Mir ist der Eigel in die Händ’ gelaufen,“ sagte Sindel.

„Mir auch!“ fiel Hartwig ein. „Aus der Strub sind die Leut’ heraufgestiegen, von der Aschau sind sie herübergekommen und gefragt haben sie mich auch noch, wo denn das Glöckl geläutet hätt’. Aber ich hab’ ihnen Füß’ gemacht!“

„Und Du, Henning?“

„Ich hab’ dem Greinwalder Schmierfink eins über das Fell gestrichen. Was ich sonst noch gethan hab’, das wird sich weisen … ich mein’, der Tag bringt’s auf.“ Lachend trat er in die Stube. Da stand seine Schwester Recka vor ihm und warf ihm die beiden Teile eines zerknickten Pfeilschafts vor die Füße.

„Schwester! Was soll das?“

Hinter Henning erschien Herr Waze in der Thür.

„Wenn Dein Aug’ die Pfeilbahn nicht messen kann,“ sagte Recka mit kaltem Ton, „so schieß’ ein andermal mit Hennenfedern. Die fliegen nicht weiter, als Du sehen kannst!“

Henning starrte die Schwester an; dann hob erden entzweigebrochenen Schaft von der Erde; seine Augen erweiterten sich … er erkannte seinen Pfeil.

„Soll ich bald wissen, was das bedeutet!“ schrie Herr Waze.

„Unter dem Lokistein, im Wald, hat er den Pfeil geworfen … ich weiß nicht, auf was. Aber gefehlt hat er, und der Pfeil ist hinuntergeflogen gegen die Ache, dem Fischer am Hals vorbei. Er hat ihn aus dem Wasser geholt, und zum Gespött hat er ihn heimgetragen auf der Kappe.“ Es zuckte um Reckas Lippen, sie wandte sich ab und verließ die Stube.

Herr Waze lachte. „Das hätt’ ich mir denken können! Wo Du hingreifst mit Deinen zwei linken Händen, da kommt allweil eine Dummheit heraus!“ Er trat auf Henning zu und dämpfte die Stimme. „Was hast denn gemacht?“

„Er hat geangelt und hätt’ mir nicht besser stehen können. Ich hab’ gemeint, der Schuß wirft ihn ins Wasser … es war eine reißende Stell’, das Wasser hätt’ ihn fortgetragen … und mir ist nach dem Schuß noch gewesen, als hätt’ ich ihn fallen sehen.“

„Und da hast Du Reißaus genommen, Du feiner Held? Und derweil ist der Fischer ins Wasser gesprungen und hat den Pfeil gefischt! Schäm’ Dich, Henning! Fehlen! Aber ich weiß schon … auf den Fischer hast gezielt, und seine Schwester hast im Aug’ gehabt, an die Du Dich nicht antraust, so lange der Bruder lebt!“

„Gieb mir vier Leut’, Vater,“ sagte Henning mit bleichen Lippen, „ich heb’ ihn aus in der Nacht!“

„Fällt mir ein! Damit morgen ein Geschrei wär’ im ganzen Gadem und die Kuttenlupfer gleich eine Ursach’ hätten, die Herren herauszudrehen und sich ins Mittel zu legen? Es geht nimmner auf geradem Weg – wir müssen Umweg’ machen. Soll’s geschehen, so muß es sein in der Still’. Paß ihn ab, wenn er über die Seewänd’ hinsteigt und die Legangeln …“

Hennings Brüder traten in die Stube, und Herr Waze verstummte. „Warum redest nicht weiter?“ flüsterte Henning. „Die andern dürfen doch wissen …“

Herr Waze schüttelte den Kopf. „Viele Hund’ stellen das Wild, aber viele Treiber verschreien die Jagd. Die Hund’ wider den da drunten mußt da drin haben.“ Er stieß mit der Faust an Hennings Stirn. „Du hast den Bären scheu gemacht – jetzt plag’ Dich auch und spür’ ihm die neuen Wechsel ab, die er suchen wird. Und noch eins! Laß die Dirn’ auf ihrer Meinung, als wär’s ein Zufall gewesen. Sie soll nicht wissen, was vorgeht.“ Ueber Wazes Lippen zuckte ein irres Lächeln, und sein Gesicht wurde düster. „Sie hat manchmal einen Blick, der mich [139] an ihre Mutter mahnt und es geht mir in die Gedärm’, wenn sie mich anschaut mit solchen Augen.“

Die alte Ulla trat in die Stube und deckte für die Nachzügler den Tisch. Die Krüge wurden gefüllt und auf den Lichtreif neue Kerzen gesteckt. Lärm und Gelächter füllte die Stube, während draußen die stille Mondnacht ihren schimmernden Zauber wob. Ein zitterndes Leuchten lag über dem See, den der laue Windhauch der Sommernacht mit winzigen Wellen überkräuselte. Manchmal ließ sich das Quaken einer Wildente hören, und im Schilf um denn Bidlieger raschelte es zuweilen und plätscherte das Wasser; eine fischende Otter stieg ein und aus – „Der Bid geht um“, hätte Rötli gesagt.

Stille Stunden vergingen und Mitternacht war nahe. Da knirschten Tritte im Sand der Lände, und ein Wanderer mit weitausholendem Stab überschritt den freien Platz. Eigel war es, der als Thingbot’ zu den Almen stieg. Auf rauhen Pfaden wanderte er, denn Falkenstein und Wazemanns Haus gegenüber, den steilen Hang der Seeberge empor; mit spärlichen Lichtern fiel ^ der Mondschein durch die Bäume auf seinen Weg.

Es wollte die Nacht sich schon zum Morgen neigen, als Eigel auf der abgeplatteten Höhe des Nerges die erste der Almen erreichte. An drei Hütten schritt der Kohlmann vorüber; über eine weite Halde führte der Weg zur nächsten Hütte, darin die beiden Sennen hausten, welche Sigenot, dem Fischer, hörig waren; Kühe lagen im Gras umher und drehten die Köpfe nach dem einsamen Wanderer. Mitten im Almfeld brannte ein loderndes Feuer, das vom Almenwächter die ganze Nacht hindurch geschürt wurde, um die streifenden Raubtiere zu verscheuchen.

Die Sterne begannen zu erlöschen und eine fahle Helle schlich über die östlichen Bergzinnen empor, als Eigel sich der letzten unter allen Hütten näherte. Ein rötlicher Feuerschein leuchtete aus der kleinen Fensterluke.

„Schau, das sind fleißige Leut’!“ murmelte der Kohlmann. „Die warten nicht, bis der Tag wecken kommt!“ Er beschleunigte seinen Schritt, und bald hörte er aus der Hütte den lauten Klang zweier Stimmen. Aber das war nicht die ruhige Zwiesprach’, wie man sie halten mag vor Beginn des Tagwerks, das klang wie Zank und Streit. Je näher Eigel kam, desto deutlicher unterschied er eine kreischende Weiberstimme und die rauhe Kehle eines Mannes, er hörte Schimpfworte, ausgestoßen in keifendem Zorn, er hörte das Rasseln fallender Holzgeschirre und ein Klatschen, als gäb’ es Hiebe. Eigel begann zu laufen, doch als er über den letzten Hang emporeilte zur Hütte, that die Thür sich auf. „Schlagen willst? Schlagen? Wart’, das vertreib’ ich Dir!“ klang die kreischende Weiberstimme, und über die vom Herdfeuer rot erleuchtete Schwelle kam ein schwarzer Klumpen herausgeflogen in die graue Dämmerung des Morgens. Die Thür wurde zugeschlagen und der Riegel knarrte, während Eigel den an die Luft Gesetzten mit beiden Armen auffing.

„Zeit lassen, Kaganhart, Zeit lassen!“ rief der Kohlmann lachend. „Das ist lieb von Dir, daß Du mir entgegenkommst! Aber gar so tummeln brauchst Dich nicht!“

Keuchend richtete der Bauer sich auf, hob die Fäuste und schrie gegen die Hütte. „Sö ein Schandweib! So eine Trud und Nachthex’!“

Eigel drückte ihm die Hand auf den Mund und zog ihn mit sich fort, um aus dem Hörbereich der Hütte zu kommen. Aber es währte lange, bis Kaganhart sich so weit beruhigte, daß er auf Fragen hörte und Antwort gab. Während sie nun auf dem Rand eines ausgehöhlten Baumstammes saßen, in welchem eine spärlich sickernde Quelle zum Trank für die Kühe gesammelt wurde, erzählte der Bauer: „Seit gestern mittag hat der Streit kein End’ mehr. Ich bin vom Schönauer heimgelaufen und hab’ gemeint, sie sollt’ ’was hergeben für die Gottesleut’ ... aber da bin ich schön angekommen! Geschrien hat sie und ist umgefahren im Haus wie eine Schwarzalfin im Feuerloch. Und wie wir heraufgestiegen sind auf die Alben – den ganzen Weg über hat ein Wörtl das ander’ gejagt.“

„Hast halt auch gebockt und ungut geredet, gelt?“

„Da soll einer stillhalten können! Ein Berg ist gewiß ein guter Kerl, der sich viel gesallen laßt – aber schrei’ einen Berg an, er schreit halt auch zurück! Ich sag’ Dir, die ganze Nacht war kein Fried’ nimmer, und kein Aug’ hab’ ich zugemacht. Auf die Letzt’, wie ich’s gar nimmer ausgehalten hab’, bin ich aufgesprungen,

und daß mir die Zeit vergeht, hab' ich Feuer geschürt. Und da springt sie auch wieder auf und fangt ein Schelten an, weil ich das Holz verbrenn’, das man so weit hertragen muß über die Alben ... und wie sie gar nimmer aufhört, fahrt mir der Zorn in die Fäust’ und ich pack’ einen Besen ...“

„Den Stiel aber, mein’ ich, hat sie erwischt und hat ihn umgedreht!“

Kaganhart brummte etwas, während der Kohlmann aus vollem Halse lachte. „Nur gut, Bauer, daß ich bei der Hand gewesen bin ... Steinplatten liegen vor Deiner Hüttenthür, da hätt’st mit Deiner Nas’ an einer harten Blum’ riechen müssen!“

„Vergelt’s, daß Du mich bewahrt hast davor!“ dankte der Bauer gutmütig. „Aber was führt Dich denn auf die Alben, mitten in der Nacht?“

Eigels Züge wurden ernst. „Schier mein’ ich, ich sollt’ eine Ausred’ sagen und bei Dir vorbeigehen. Denn wer nicht aufkommt wider sein Weib, wird auch nimmer seinen Mann stellen bei Thing und Rat.“

Der Bauer erhob sich. „Als Thingbot’ kommst? Thu’ mir keine Unehr’ an! Stell’ mich hin vor zehn Mannerleut’ und ich halt’ meinen Platz ... aber gegen die da drin kommt auch ein anderer nicht auf. Da kannst von Wutes Helden einen laden ... wenn meine Hilmtrud’ das Züngel vom Leder zieht, lauft er heim in den Untersberg, daß er die goldenen Panzerschuh’ verliert! Lad’ mich, Eigel! Thu’ mir keine Unehr’ an!“

Der Kohlmann zog das Messer aus der Kotze, berührte mit dem Heft die Brust des Bauern und sagte seinen Spruch. Kaganhart legte die Schwurfinger an das Messer. „Heut’ über zwei Nächt, wenn Vollmond einsteht! Ich hab’s gehört und schweig’. Fahr’ weiter, Thingbot’!“

Eigel wollte gehen, doch der Bauer hielt ihn an der Kotze zurück. „Kohlmann, thu’ mir eins zulieb! Geh’ mit hinein in den Kaser! Wenn ein Dritter dabei ist, halt’ sich mein Weib doch ein lützel im Zaum ... und ich komm’ über das erste Wörtl weg.“

„Meinethalben!“

Und sie gingen der Hütte zu. Kaganhart pochte an die Thür. „Thu’ auf, Weib! Thu’ auf!“ Nur das Geprassel des Herdfeuers ließ sich aus der Hütte vernehmen. Ungeduldig rüttelte der Bauer an den Bohlen. „Weib! Wirst aufthun oder nicht?“

Aber in der Hütte blieb es still, und der Riegel wollte sich nicht rühren. Unter einem zornigen Fluch schmetterte Kaganhart die beiden Fäuste gegen die Thür. In der Hütte polterte ein hölzernes Geschirr, während Eigel flüsternd sagte: „Wenn sie Dich so fluchen hört, thut sie freilich nicht auf. Geh’ weg, ich will ihr ein gutes Wörtl geben!“ Mit dem Ellbogen schob er den anderen beiseite, trat auf die Schwelle und legte den Mund an einen Spalt der Bohlen; im gleichen Augenblick aber that die Thür sich auf, und ein nasser Hanftuchfetzen, der zum Klären der Milch gedient, flog dem Kohlmann um die Ohren, daß es klatschte. Eigel duckte sich, um einem zweiten Schwertstreich zu entgehen, und die Arme zum Schutz über den Kopf erhebend, humpelte er eilig davon. Da konnte ihm nun der Bauer das Lachen und die Schadenfreude heimzahlen. Kaganhart hielt sich die Rippen, und es wollte ihm fast der Atem vergehen. Als die Bäuerin sein schallendes Gelächter hörte, erschien sie mit verdutztem Gesicht auf der Schwelle; ein festes Weib, noch jung, von stämmigem Wuchs, die niedere Stirn umzogen von dicken Blondzöpfen. Da sie merkte, daß ihre Rache niedergefahren war über ein unschuldig Haupt, begann auch sie zu lachen und zeigte zwischen den dicken Lippen zwei Reihen blinkender Zähne, so kräftig entwickelt wie ein Wolfsgebiß. Kaganhart schnappte nach Luft. „Den hast aber schön ausgezahlt!“ Lachend puffte er mit der Faust an den nackten Arm des Weibes.

„Wer war’s denn?“ fragte Hilmtrud.

„Der Kohlmann.“

„Wie kommt denn der auf die Alben? Was hat er denn wollen?“ Da stockte dem Bauer das Lachen und er wurde verlegen. „Ich weiß nicht!“ stotterte er und drückte sich in die Hütte.

Hilmtrud stemmte die Fäuste auf die breiten Hüften. „Ich möcht’ wissen, was er wollen hat von Dir?“

„Hör’ auf und frag’ nicht weiter, ich sag’s nicht!“

„So? Da muß. ich Dir halt die Zung’ lösen.“ Und sie warf die Thür zu, als wollte sie ihrem Opfer den Weg zur Flucht versperren.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 10, S. 149–155

[149] Inzwischen wanderte der Kohlmann im grauen Dämmerlicht des Morgens über das ebene Almenfeld hinweg; wo er ging, hoben sich die Kühe aus dem Gras, machten die Rücken krumm und streckten die Schweife. Ein wüster Urwald nahm den Wanderer auf. Es dunkelte noch zwischen den ragenden Stämmen, und die Feuchte der Nacht, die Modergerüche des faulenden Fallholzes erfüllten die schwül zwischen den Bäumen liegende Luft. Jenseit dieses Waldes, in einem hügeligen, von starrenden Felswänden umzingelten Hochthal, lagen die fruchtbarsten von allen Almen weit umher, die „Reginalben“.

Von den sieben Hütten, welche zerstreut umherstanden, war eine dem Marderecker eigen, eine gehörte zur Hufe der Hanetzer, und in der größten von allen hausten die zwei hörigen Almerinnen des Richtmanns in der Schönau. An diese Hütte schloß sich eine hohe, aus Felsblöcken geschichtete Umwallung, in welcher alles Vieh der „Reginalben“ zusammengetrieben wurde, wenn in stürmischen Nächten der Almwächter seine Feuer gegen die wilden Tiere nicht anzünden konnte; denn über die offene Berghöhe fuhr die entfesselte Windsbraut mit solcher Gewalt, daß sie die brennenden Scheite vom Holzstoß davongetragen und in den Wald geworfen hätte, dessen wirr liegendes Fallholz nur eines Funkens bedurfte, um aufzulodern wie dürres Stroh. Die Hütte selbst umschloß nur den geräumigen Kaser, [150] in welchem auch die mit Heu gefüllten Lager der beiden Almerinnen standen. Die Dirnen waren schon munter und kochten die Morgensuppe. Vom Geprassel des Feuers und vom aufquirlenden Rauch wurde Ruedlieb geweckt, der ihn Dachraum der Hütte auf frisch eingebrachtem Heu geschlafen hatte. Er ließ sich von den Sparren niedergleiten, schüttelte die Heufäden von seinem Gewand und trat ins Freie. Da hörte er schreiende Stimmen und blickte der Richtung zu, aus welcher sie klangen. Ihm zu Füßen senkten sich im Halbkreis die Almgründe in ein schmales, dem See entgegenlaufendes Thal, welches auf der einen Seite von einem steilen Waldhang, auf der anderen Seite von der schroffen, nur mit Gestrüpp bewachsenen und kaum wegsamen Reginwand geschlossen wurde.

Aus diesem Thal herauf klang das wilde Geschrei, das immer kreischender wurde. Stürmenden Laufes eilte Ruedlieb über den Hang hinunter, doch er mußte zur Seite weichen ... eine Schar flüchtender Kühe sprengte ihm entgegen, brüllend, jedes Tier mit schäumendem Maul und aufgequollenen Augen, im Sprung mit den Hinterfüßen hoch ausschlagend. Nach allen Seiten sah Ruedlieb die Ziegen und Schafe flüchten – und überall, von allen Hütten, sprangen die Senner und Almerinnen dem Thal entgegen, Steinbrocken von der Erde raffend, Prügel schwingend unter gellendem Geschrei. „Der Bär, der Bär! Er hat eine Geiß gerissen! Dort! Der Bär! Dort! Dort! Er nimmt die Wand an! Lauft! Lauft! Erschlagt ihn! Drauf! Erschlagt ihn!“

Ruedlieb riß das Messer aus dem Gürtel, und in langen Sätzen, daß unter seinen Füßen die Steine flogen, sprang er über die steile Halde hinunter. Da sah er schon die Leute am Fuß der Reginwand, Steine werfend und die Prügel schleudernd ... unter ihnen stand der Marderecker, mit fahlem Gesicht, Zähren in den Augen, auf den bleichen Lippen nur immer das eine Wort: „Meine Geiß! Meine Geiß!“ Ein paar Sprünge noch, und Ruedlieb sah den Bären, der, die Ziege schleifend, in die Felswand einstieg, unbekümmert um das zeternde Geschrei, der Steine und Prügel nicht achtend, die um ihn herprasselten.

„Leut’, laßt das Werfen sein!“ schrie Ruedlieb und sprang mit gezücktem Messer über den Schutt empor, welcher besudelt war mit dem Blut der Ziege. Wirres Geschrei begleitete dieses Beginnen; die einen riefen den Buben zurück, die anderen feuerten ihn an mit heiserem Zuruf. Da gewahrte das Raubtier den Verfolger. Einen Augenblick zögerte der Bär, dann ließ er sein Opfer fallen, und während die verendete Ziege mit schlagenden Läufen niederrollte über den steilen Schutt, that der Bär einen mächtigen Sprung und gewann ein Felsenband, auf welchem er hineintrabte in das schroffe Gewänd.

Ruedlieb stand mit geschwungenem Messer und stieß einen klingenden Jauchzer aus. Die Leute unten wußten diesen Ruf nicht zu deuten – und sie wußten auch nicht, was sie denken sollten, da sie den Bären mitten im Gewänd auf einer schmalen Grashalde jählings verschwinden sahen, als hätte ihn die Felswand eingeschluckt. Frohlockend schwang sich Ruedlieb auf das Felsenband, aber nur wenige Schritte war er dem schmalen Pfad gefolgt, da klangen ihm plötzlich die Worte des Vaters im Ohr: „Laß Dir nicht in den Sinn kommen, daß Du mit einer Hand an das Gewild rührst!“ Lachend trat der Bub den Rückweg an; es wurde ihm nicht schwer, die Worte des Vaters zu befolgen – das Raubtier war gut aufgehoben, es bedurfte keiner Hand mehr, um ihm den Garaus zu machen. Als Ruedlieb die Leute erreichte, blieb er vor ihnen stehen, mit brennendem Gesicht, und sagte: „Geht heim, Leut’! Der Braungesell hat heut’ die letzte Geiß gerissen.“ Und das Messer in die Scheide stoßend, schritt er davon.

Der Marderecker kniete vor seiner zerfleischten Ziege und jammerte, die anderen schrien – noch immer begriffen sie nicht.

„Ich steig' hinauf!“ kreischte der ältere Hanetzer. „Ich muß wissen, was da geschehen ist!“ Es wurde ihm nicht leicht, das Felsenband zu gewinnen, als er die Stelle erreichte, an welcher der Bär verschwunden war, schrie er den Leuten mit gellender Stimme zu: „Da liegt er in einer Grub’! Seil’ her! Seil’! Den müssen wir fangen!“

Die es hörten, begannen zu johlen wie in trunkenem Jubel, die einen rannten den Hütten zu, um Seile zu holen, drei Sennen kletterten in die Felswand ein, die anderen, Almerinnen und Geißbuben umkreisten die Wand und erstiegen den Grat von der Almenseite. Als sie auf der Höhe niederblickten in die Grube, sahen sie das gefangene Raubtier aufrecht sitzen, mit den kleinen schwarzfunkelnden Augen zornig nach einem Ausweg spähend.

Schimpfworte und Spottreden kreischten von allen Seiten „Erschlagt ihn! Erschlagt ihn!“ schrie eine der Almerinnen, und eine andere: „Laßt die Felsen über ihn hinunter!“

„Nein! Nein!“ rief der Hanetzer. „Lebendig müssen wir ihn haben! Lebendig!“

Vier Seile wurden über die Felswand herabgelassen, in jedes schlug der Hanetzer eine Schlinge, und ihm und den drei Sennen gelang es ohne Mühe, die vier Tatzen des Bären in die festwürgenden Schlingen einzufangen. Unter wildem Geschrei ein Ruck an den Seilen ... und der Bär hob sich, rollte aus der Grube und pendelte, ein wehrloser Klumpen, an der Felswand. Gierige Hände griffen von überall her nach den Seilen, während der Hanetzer und die Sennen springend das Thal gewannen. Langsam schwebte der Bär an den Seilen herab, schaukelnd und schwankend in seiner ungestümen und dennoch nutzlosen Gegenwehr, im Kreis sich drehend und anprallend wider alle Steinschrofen. Mit den Haken der Grießbeile schleiften der Hanetzer und die Sennen das gefesselte Tier, als es den Boden berührte, in die Mitte des Thales, packten die Seile und rannten nach vier Seiten auseinander, so daß der Bär auf dem Rücken lag, mit seitwärts gezerrten Tatzen, wehrlos und entkräftet.

Alle, alle kamen sie jetzt herbeigesprungen. schrien und kreischten, johlten und jauchzten, wie befallen von Raserei, von einem Rausch der Grausamkeit. Was hatten sie um dieses Tier nicht alle leiden müssen, ohne Wehr’ und Hilfe! Tiefe blutende Wunden hatte es ihrem Dasein gerissen, ihrem kärglichen Besitz; gedarbt und gehungert hatten sie, gezittert und geweint, Not und Jammer getragen um dieses Tieres willen! Jetzt war es in ihre Hand gegeben ... und sollte büßen! In schreiender Wut bewarfen sie das Tier mit Steinen und stießen ihm die eisenbeschlagenen Schuhe in die Weichen. Der Bär gab keinen Laut, als wäre er zu stolz, den Peinigern seine Qual zu verraten; nur manchmal suchte er den blutigen Kopf zu erheben und drehte die funkelnden Augen nach allen Seiten. Mit Prügeln schlugen sie nach ihm und rissen ihm Fäuste voll Haare aus dem Pelz. Eine Dirne mit vergrämten Zügen spie dem Bären in die Augen und schrie mit schäumenden Lippen: „So wie der, so sollt’ ein anderer daliegen vor uns! Ein anderer!“ Wie Feuer schlug dieses Wort in die rasenden Gemüter. „Waze! Waze! Herr Waze!“ schrieen sie den Bären an, und ein Hagel von Steinen ging nieder über das wehrlose Tier.

Ruedlieb, den das Geschrei gerufen hatte, kam herbeigelaufen, und als er gewahrte, was geschah, rief er mit bleichen Lippen: „Aber Leut’! Leut’! Seid denn Ihr noch Menschen? Habt doch Erbarmen und laßt mich hin – ich will ihm den Gnadenstoß geben!“ Aber sie stießen den Buben zurück, und der Hanetzer schrie: „Was thun wir ihm an, daß er leiden muß, recht leiden, recht, recht!“ Da sah er den Kohlmann des Weges kommen. „Eigel! Eigel! Da komm her!“ Mit der Stimme des Hanetzer vermischte sich das Geschrei der anderen: „Da komm her! Sag’ Du, was wir ihm anthun sollen! Sag’, was das Grausigst’ ist!“

Der Kohlmann stand vor dem Bären; langsam blickte er über den Weg zurück, den er gekommen war, und sagte: „Das Grausigst’? Laßt ihn heiraten wie der Kaganhart!“

Einen Augenblick herrschte das Schweigen der Verblüffung, dann brach ein schallendes Gelächter los. Der Bär schien zu fühlen, daß die straff gespannten Seile sich lockerte, jählings machte er eine gewaltsame Anstrengung, überschlug sich und stand auf den Füßen; drei Seile flogen in der Luft, nur der Hanetzer hielt das seine noch fest umklammert. Ein gellendes Geschrei erscholl, die Dirnen flüchteten, die Männer, alle voran der Hanetzer, sprangen auf den Bären ein, aber dumpf brüllend erhob sich das Tier und schlug mit der Tatze. Erbleichend wich der Hanetzer zurück, und während das rote Blut von seinem Schenkel sprudelte, rannte der Bär in jagender Flucht thalabwärts, die Seile schleifend, deren Enden ihn umringelten wie graue Schlangen. Zwischen den Bäumen verschwand er. Wohl stürzten ihm Ruedlieb und die Sennen nach, aber sie bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht; nur die Seile fanden sie, welche, da ihre Schlingen sich gelockert hatten, von den Tatzen des flüchtenden Bären abgefallen waren. Als sie die Verfolgung aufgaben, sagte Ruedlieb. „Das gönn’ ich Euch!“ Und die Sennen verlassend, stieg er gegen die Reginwand empor, um die Grube zu verschütten, die er ausgeworfen.

Die Sennen begannen miteinander zu hadern, und jeder warf dem anderen vor, daß er zuerst das Seil ausgelassen hatte. [151] Schließlich gerieten sie sich in die Haare und redeten mit den Fäusten weiter. Den Verwundeten hatte man in die Almhütte getragen und Eigel legte ihm den Verband an; dann suchte er noch den Marderecker und brachte ihm als Thingbot die Ladung. Unter der steigenden Sonne zog er weiter. Als er auf dem Rückweg an der Almhütte des Kaganhart vorüberkam, sah er den Fensterladen und die Thür geschlossen. Kaganhart und Hilmtrud holten den in der Nacht versäumten Schlummer nach. Einträchtig lagen sie nebeneinander im Heu, und der Bauer hielt im Schlaf den Arm um den Hals seines Weibes geschlungen. Sie hatten Versöhnung gefeiert, nicht früher freilich, bevor nicht Hilmtrud wußte, was Kaganhart lieber verschwiegen hätte: „Heut’ über zwei Nächt’, wenn Vollmond einsteht!“




13.

Fleißig hatte seit dem frühen Morgen im Walde beim Lokistein der Schlag der Beile geklungen. Neue Bäume lagen gefällt, und über dem Grundriß, welchen Eberwein gezogen, erhoben sich schon, vier Stämme hoch, mit doppelt gelegten Balken, die Mauern der Klause und des Kirchleins. Vor dem einen der Zelte lag, mit dem weißen Holz in der Sonne schimmernd, das seiner Vollendung nähergerückte Kreuzbild; die grobe Arbeit des Meißels war gethan, und das sachtere Werk des Messers hatte begonnen.

Nun ruhten alle Hände, denn die Mittagsglocke hatte geläutet. Die Knechte hatten sich beim Feuer gelagert, und um den aus Stangen gefügten Tisch saßen Eberwein, Waldram und Schweiker, das Gebet war gesprochen, und Bruder Wampo kam mit der dampfenden Schüssel. Eberwein furchte die Brauen, als er die Speise sah. „Bruder! Du bist meinem Wort entgegen nach Milch gegangen?“

„Nein, lieber Herr, die Milch ist zu mir gekommen!“ schmunzelte Wampo. „Heut’ vor Tag, wie ich aufgestanden bin, um Feuer zu schüren, bin ich vor dem Zelt schier darüber gestolpert ... und neben dem Kännlein hat ein Roggenbrot gelegen mit süßen Käslein und ein Butterwecken gar säuberlich eingewickelt in grüne Lattichblätter!“

„Weißt Du, wer die Gabe gespendet hat?“

„Ich mein’ wohl, ich kann mir’s denken! Aber wer weiß, vielleicht irr’ ich mich ...“ Wampo zwinkerte mit den Augen und blickte auf Schweiker, welcher rot wurde bis unter die Haarwurzeln. „Vielleicht war es gar kein Menschenkind, sondern ein Engelein mit Himmelsbrot und mit köstlicher Milch aus dem gelobten Lande, in welchem ja auch noch Honig fließt. Der war aber nicht dabei!“

„Widerlicher Schwätzer!“ schalt Pater Waldram mit finsterem Blick. „Halte Deine Lippen geschlossen, wenn Du sie nicht öffnen kannst, ohne Heiliges zu verletzen mit sündhafter Rede!“

„Ich hab’ ja nur gescherzet, Herr!“ stotterte der erschrockene Bruder.

„Scherze beim Feuer mit den Knechten, aber nicht vor meinem Ohr, dem Deine Rede ein Greuel ist!“

Wampo wollte erwidern, doch Eberwein winkte ihm mit den Augen, zu schweigen. Als das Mahl genommen und das Gebet gesprochen war, ging Schweiker mit der Axt zum Walde und Bruder Wampo räumte den Tisch ab; auf dem Arm die hölzernen Geschirre tragend, schlich er davon, mit verdrossenem Gesicht und hängender Lippe. Waldram wollte sich erheben, da sagte Eberwein: „Ich habe vor dem Ohr der Brüder Deiner zürnenden Rede nicht widersprochen. Jetzt aber, da wir allein sind, höre meine Mahnung: sei duldsamer, Waldram!“

Dunkle Röte färbte die Stirn des Paters. „Willst Du mir wehren, daß ich Worte schweigen mache, die mein Ohr beleidigen und mein heiligstes Empfinden?“

„Ich meine nur, Du solltest die Rede der dienenden Brüder nicht messen an Deinem eigenen Gefühl. Irdische Sorge füllt ihren Tag, sie haben schwer zu schaffen vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht. Hüte Dich, durch Ueberstrenge die Unlust in ihren Gemütern zu wecken! Du kannst ihren Mut zu Boden drücken mit einem einzigen unbedachten Wort ... doch kannst Du ihren verzagenden Herzen nicht auch die Schwingen des Geistes leihen, welche Dich, wenn Dir die Knie brechen, emportragen über den Staub, in den Du niedersinkst.“

„Die Schwingen meines Geistes!“ Waldram richtete sich auf. „Von allen Worten die Du sprachest, hat dieses eine nur den Weg zu meinem Ohr gefunden. Elend und gebrechlich ist mein Leib, zitternd nur umschließen meine Finger den Griff der Axt, doch wie ein Adler, mit rauschenden Flügeln, hebt sich mein Geist hinaus über allen Staub der Erde und strebt den Höhen des Himmels zu, seine Heimat suchend vor Gottes Thron und zu der Heiligen Füßen.“ Waldrams Lippen bebten, und mit zorniger Schärfe klang seine Stimme: „Wahr und ganz erkennst Du wohl meine Art, nicht verborgen ist Dir meine Kraft, mein Eifer im Dienste Gottes. Und so sage ich Dir: übel dienest Du unserer heiligen Sache, da Du mich zwingst, das Beil zu schwingen und das niedere Werk der Knechte zu teilen.“

Eberwein erhob sich und sagte ruhigen Wortes: „Ich zwinge Dich nicht zur Arbeit am Bau der Klause. Bist Du müde, so raste!“

„Ich aber will nicht rasten. Nur weiß ich mir bessere Arbeit als jene, zu welcher Du Dich berufen fühlst. Forme Du das tote Holz zu dem Bilde, dessen Du bedarfst für Deine Sinne! Baue Du, schichte die Mauer, wähle die Balken und prüfe ihren Halt – Du scheinst ja kaum die Stunde erwarten zu können, welche Dir die Ruhe bringt unter sicherem Dach. Ich aber will nicht rasten bei Tage, nicht schlummern bei Nacht ... hinaus will ich ziehen in die Wildnis dieser Thäler, den Weg will ich suchen zu jeder Hütte und mit dem Kreuz in der Hand will ich schlagen an jede Thür, will in heiligem Zorn die Säumigen und Verstockten rufen, welche die Glocke nicht hören und nicht kommen wollen und knien vor ihrem Gott! Ihre Herzen sollen zittern, und ich will sie lehren ...“

„Zu fürchten, wo sie lieben sollen?“ Tiefer Ernst lag auf Eberweins Zügen, als er raschen Schrittes auf Waldram zutrat. „Deine schmähenden Worte wider mich – ich habe sie nicht gehört, sie sind vergeben. Aber nicht stören sollst Du mir das Werk der Liebe, zu welchem Gott mich ausgesendet. Siehe, dorthin führt der Weg ins Thal, und vor diesen Weg strecke ich meine wehrende Hand ... dieselbe Hand, in welche Du bei der Ausfahrt aus dem Kloster die Deine legtest zum Zeichen des Gehorsams!“

Waldram erbleichte, neigte das Haupt und wandte sich wortlos ab. Doch Eberwein faßte seine Hand. „Ich mußte Dich mahnen an Dein Gelöbnis, Du selbst hast mich gezwungen. Ich that es ungern, Waldram. Und nun bitte ich Dich ... höre mich an in Ruhe! Ich selbst hab’ es mit Kummer gewahrt, daß unsere Glocke nicht einen rief, daß ihr freundlicher Ton verklang, ohne Widerhall zu finden auch nur in einem Herzen! Aber ich will geduldig sein und warten, um so geduldiger, da ich erfahren muß, daß Mißtrauen, Furcht und Widerstand uns begegnen auf allen Wegen. Darin suche die Ursache der Hast, mit der ich den Bau unseres heiligen Hauses betreibe! Ich kenne das Volk der Berge – bin ich doch selbst aus ihm hervorgewachsen – und ich rechne mit dem Fühlen und Denken dieser Menschen. Der Fremde erweckt ihre Scheu, unansehnlich ist ihren Augen der Obdachlose. Bevor ich ihre Herdstätten suche, will ich heimisch werden auf ihrer Scholle; unser Kirchlein will ich ihnen zeigen können, damit ich ihnen sage: sehet, ich hause in Eurer Mitte, Euch allen ein Bruder, und das Dach, unter dem ich herberge, ist Gottes Dach – und Euch alle ruft es in seinen Schutz! Nicht für meine Sinne, Waldram, forme ich jenes heilige Bild, ich sehe Gott, wohin ich blicke. Aber das Auge dieser Menschen hat irdischen Blick. Ihnen will ich dieses heilige Bildnis zeigen können, damit ich ihnen sage: schauet auf zu ihm, den dieses Bildnis meint, schauet auf zu ihm, der aus Liebe zu den Menschen starb in Marter und Schmerz ... sehet die Wunden, aus denen sein Blut geflossen, jeder Tropfen wie befruchtender Tau auf des Lebens dürre Not! Meinst Du nicht, Waldram, diese Menschen, die unter harter Faust geschmachtet, unter Greueln und herzlosem Druck – diese Menschen, welche in zähem Kampfe ringen wider eine feindliche Natur ... meinst Du nicht, sie werden das Wort der Liebe williger hören als einen Ruf, der sie zittern und zagen macht? Meinst Du nicht auch?“

Ein kaltes Lächetn glitt über Waldrams bleiche Lippen. „Ich gehorche ... und meine, was Du meinst!“

Eberweins Brauen furchten sich. Aber rasch, wie ein gleitender Wolkenschatten, schwand dieses Zeichen des Unmuts von seiner Stirne und herzlich klang seine Stimme: „Blick’ um Dich her, Waldram! Sieh nur, still und freundlich grünt der Wald, sanft tönt aus dem Thal herauf das Rauschen der Gewässer, und sonnig blicken die Berge auf uns nieder. Mahnt nicht der Wille [152] des Himmels aus diesem friedlichen Bild? Sturm und zerstörende Wetter tobten über diesem Thal bei unserem Eintritt ... nun aber, da wir bauen an Gottes Haus, ist Frieden eingekehrt und sonnige Ruhe lächelt.“

„Wie Honig fließt Dir die Rede von den Lippen und mit Blumen möchtest Du den Weg bestreuen, den Du gehst. Siehe zu, wohin er Dich führen wird!“

Eberwein atmete tief und seine Augen suchten den Himmel. Er wandte sich ab, vor dem halb vollendeten Kreuzbild ließ er sich auf den Holzblock nieder und hob das Schnitzmesser von der Erde. Kaum hatte er in das weiße Holz den ersten Schnitt gethan, da fühlte er eine ungestüme Hand auf seiner Schulter. Waldram stand vor ihm.

„Du siehst, ich beginne die Arbeit!“ sagte Eberwein.

„Ich aber habe noch zu rechten mit Dir. Den Mönch und Priester hast Du gemahnt an seinen Gehorsam ... und wider meine bessere Einsicht muß ich schweigen und Dich die Straße gehen lassen, die Du gewählt. Nun aber höre den Bruder Deines Ordens, der gleiche Stimme mit Dir hat im weltlichen Rat!“

Eberwein legte die Hand mit dem Messer in den Schoß. „Sprich!“

„So säumig wie dem Himmel, so säumig dienest Du auch der Macht unseres Heiligen. Nicht als Knechte sind wir gekommen in dieses Land, als die Herren! Zwei Tage und zwei Nächte weilen wir in unserem Land ... wo aber bleibt der Richtmann, wo bleiben die Schöffen? Weshalb erscheinen sie nicht vor uns, in Ehrfurcht und zu schuldigem Gruß? Als ein Knecht unseres Heiligen sitzt ein Spisar im Gadem. Weshalb säumt er, vor uns zu treten, um seines Amtes Bestallung zu empfangen?“

Eberwein zögerte mit der Antwort und fragend ruhte sein Blick auf Waldrams Antlitz, als verstünde er die bebende Erregung nicht, welche zitterte und zuckte in diesen bleichen Zügen. „Richtmann und Schöffen? Nach ihnen verlang’ ich nicht. Sie werden wohl kommen zu ihrer Zeit ... und es mag wohl sein, daß sie noch nicht wissen um unsere Ankunft.“ Eberweins Stirne furchte sich. Dem Spisar dieses Landes aber hatte ich den ersten meiner Wege zugedacht. Und dennoch, wider mein eigenes Gefühl, besann ich mich anders. Ich mußte mir sagen, daß ich hier stünde an unseres Heiligen Statt, als Herr ... Herr gegenüber diesem einzigen Manne meines Landes. Vor der Schwelle unserer Klause soll Herr Waze erscheinen, er vor uns. Und kommen wird er, denn er weiß, daß wir im Lande sind. Ich habe ihm Botschaft sagen lassen durch den Mund seiner übermütigen Tochter.“

„Seine Tochter!“ Wie heiseres Lachen klangen die beiden Worte von Waldrams Lippen. „Seine Tochter! Sie! Sie! Und andere Rede weißt Du nicht? Und keinen anderen Boten fandest Du als sie? Und nun hoffst Du wohl, sie möchte auch Botschaft bringen von ihrem Vater! Und kommen! Zu Dir!“

Eine leichte Röte glitt über Eberweins Wangen. „Waldram! Ich fasse Deine Worte nicht ...“

„Ich aber sehe die verräterische Glut auf Deinem Antlitz. Und alles versteh’ ich nun, alles, alles! Standest Du doch in jener Stunde vor ihr wie versteinert, mit starrendem Aug’ jeden Reiz ihrer teuflischen Schönheit verschlingend, bezaubert von der Höllenglut ihres Blickes, umstrickt von den roten Schlangen ihres Haars!“ Schrilles Lachen unterbrach den keuchenden Klang dieser Worte. „Alles, alles versteh’ ich nun. Dein Zögern und Deine Langmut. Deine gewandelten Entschlüsse und dieses eine Wort, das immer und immer von Deinen Lippen schreit: Liebe, Liebe, Liebe.“

Erbleichend war Eberwein aufgesprungen. Schwer hob sich seine Brust, doch seine Lippen blieben geschlossen. Mit tiefernstem Blick nur hafteten seine Augen an Waldrams verzerrtem Gesicht. Dann wandte er sich ab, um seine Arbeit wieder zu beginnen.

„Du sollst mir Rede stehen!“ keuchte Waldram, faßte Eberweins Arm und schüttelte ihn so wild und zornig. daß das Messer der Hand entflog. Im Bogen schwirrte es durch die Luft und niederfinkend fuhr es mit der Spitze in das Bildnis, an der Stelle des Herzens. Da fiel es über Waldram wie lähmender Schreck. Zitternd stand er, mit entsetzten Augen auf die Klinge starrend. Dann jählings. brach ein dumpfes Schluchzen aus seiner Brust, er stürzte in die Knie, und mit beiden Armen das Bildnis umschlingend, schlug er die Stirne auf das Holz. Eberwein aber hob ihn empor. „Steh’ auf, Waldram! Noch ist dieses Holz kein heiliges Bild – das fallende Messer konnte nicht verletzen. was erst entstehen soll. Mich nur hast Du verwundet in meinem tiefsten Innern. Mag es Dir Gott verzeihen! Ich kann es nicht in dieser Stunde ... ich bin ein Mensch und fühle den Schmerz des Stiches.“ Ohne die Augen zu erheben, schlug Waldram die Hände vor das Gesicht und wankte ins Zelt.

Tief atmend ließ Eberwein sich nieder, zog das Messer aus dem Holz und tilgte die Spur des Stiches mit raschem Schnitt. Er arbeitete weiter, doch nicht lange; dann mußte er innehalten, denn seine Hand zitterte. Er legte den Arm aufs Knie und stützte das Haupt, als hätte tiefe Ermüdung ihn befallen. Aus dem Zelt klang Waldrams betende Stimme und das Klatschen der Geißel. Eberwein hörte nicht; seine kummervollen Augen blickten ins Leere.

Bruder Wampo kam herbeigeschlichen und rief mit scheuem Stottern. „Herre!“ Er wartete auf Antwort, doch sie kam nicht. „Ich möcht’ ’was fragen, Herre!“

Eberwein hob das Gesicht, mit verlorenem Blick; er sah den Bruder an, als wär’s ein Fremder, und fragte: „Was willst Du?“ Da hörte er aus dem Zelt die Stimme Waldrams. Immer lauter klang sie und wandelte sich zu jauchzendem Gesang, während klatschend die Schläge der Geißel fielen. Erschrocken sprang Eberwein auf und eilte ins Zelt. Waldram lag auf den Knien, mit entblößtem Rücken, auf welchem die Striemen bluteten. Sein Haupt war in den Nacken gesunken. wie im Fieber glühte sein Gesicht, seine starr zur Höhe gerichteten Augen brannten, und während er mit zuckendem Armschwung die Geißel über die Schulter schlug, jauchzten seine Lippen: „Den Himmel teilt er und fährt herab ... und fährt auf dem Cherub und fliegt und rauscht auf den Flügeln des Windes daher. Es zittert vor ihm die Erde, und die Gründe der Berge beben ...“

„Waldram!“ stammelte Eberwein und versuchte die Geißel zu fassen.

„Es strahlet die Helle seines Lichtes, und sichtbar werden die Tiefen des Meeres, enthüllt die Gründe der Welt vor seinem Glanz. Siehe, siehe ... aus der Höhe reicht er den Arm und faßt mich und zieht mich aus tiefem Gewässer ... und rettet ... rettet mich ...“ In röchelndem Laut erstickte Waldrams Stimme. Schaum trat ihm vor die Lippen, seine Hände, denen Eberwein die Geißel entrissen hatte, griffen ins Leere, stöhnend sank er zu Boden, und die Sinne schwanden ihm.

Mit bleichem Gesicht, die Hände ineinanderschlagend, stand Bruder Wampo unter dem Eingang des Zeltes. „Wasser! Hole Wasser!“ rief Eberwein und hob, während der Bruder verschwand, den Bewußtlosen auf das Moosbett.

Wampo kam und brachte Wasser. Scheu und zitternd reichte er die Schüssel. Mit nassem Tuche kühlte Eberwein die Stirne Waldrams, ein tiefer Seufzer rang sich aus dessen Brust und seine Glieder streckten sich. In der Schwäche war der Schlummer über ihn gekommen. Dem Schlafenden wusch Eberwein den wunden Rücken und träufelte ihm Balsam auf die Striemen, welche die Geißel gerissen. Und während dieses stillen Werkes klangen vom Waldsaum her die krachenden Hiebe der Axt, welche Schweiker führte, und die langgezogenen Rufe, unter denen die Knechte die schweren Balken hoben.

Als Schweiker einmal innehielt in der Arbeit, um sich den perlenden Schweiß von der Stirne zu wischen, sah er, daß Bruder Wampo auf ihn zugesprungen kam, mit geschürzter Kutte, flink hinweghüpfend über das wirr auf der Erde liegende Astwerk.

„Ja was hast denn?“ fragte Schweiker. als der Bruder blasend und schnaubend vor ihm stand. „Und wie schaust mich denn an? Hast ’was angestellt? Hast am End’ gar das Milchkandl umgeworfen?“

„Wie Du nur so ’was reden kannst!“ stotterte Wampo atemlos. „Alles zittert an mir! Denk’ nur, was geschehen ist, denk’ nur ...“

„Aber so red’ doch! Was denn?“

„Pater Waldram ist ein Heiliger ’worden!“

Schweiker riß die blauen Augen auf, und vor Schreck und Staunen fiel ihm das Beil aus den Händen.




14.

Um die Mittagsstunde des folgenden Tages stand Edelrot auf dem Lugaus und spähte die Augen mit der Hand beschattend, über den See hinaus. Früh am Morgen war Sigenot mit dem Einbaum ausgefahren, um von den Legangeln, welche im Weitsee lagen, die Beute der Nacht zu lösen. Er pflegte sonst von solcher Fahrt lange vor Mittag heimzukehren. Nun aber warteten sie [154] im Fischerhause schon seit einer Stunde mit dem Mahl auf ihn. Er wollte nicht kommen und Mutter Mahtilt war unruhig geworden.

In der bangen Sehnsucht, mit welcher Edelrot auslugte über den See, hörte sie nicht, daß im Uferwald der Aufschlag eines Grießbeils klirrte. Sie blickte erst auf, als das Klirren schon nah’ am Waldsaum klang. Und da huschte eine Röte über ihre Wangen. „Ruedlieb kommt von der Alben“ dachte sie, „er muß auf dem Heimweg hergestiegen sein über die Seewänd’ – und muß den Einbaum gewahrt haben.“

Hastig verließ sie den Lugaus, sprang über den Hügel hinunter und eilte vor das Hagthor. Doch erschrocken verhielt sie den Fuß. Nicht Ruedlieb stand vor ihr, sondern Henning, Wazemanns Aeltester, mit dem Grießbeil in der Hand und dem Eibenbogen über der Schulter. An der Lippe nagend, stand er und musterte die Gestalt des Mädchens mit frechem Blick.

„Bist Du über die Seewänd’ hergestiegen?“ fragte sie stotternd.

Er hob das Gesicht und seine Züge wurden starr. „Warum fragst Du?“

„Mein Bruder ist ausgefahren am Morgen und soll schon lang daheim sein. Hast Du nicht draußen auf dem Weitsee den Einbaum schwimmen sehen?“

Henning lachte. „Ich mein’ wohl, daß ich ihn gesehen hab’. Er ist weit vom Land gewesen, und es kann eine lange Weil’ noch dauern, bis er heimkehrt.“ Wieder lachte er. „Wer weiß, vielleicht hat er gefunden was er nicht gesucht hat ... und das dürft’ ihn länger halten, als ihm lieb ist.“

„Ich versteh’ Dich nicht! Was soll er denn gefunden haben?“ Rötlis Stimme zitterte.

„Schau’ nur, wie die Angst aus Deinen Sußaugen reden kann!“ Henning neigte das Gesicht und verschlang mit brennendem Blick die holden Züge des Mädchens. „Sorgst Dich denn gar so sehr um Deinen Bruder?“ Edelrot nickte wortlos; sie wollte sprechen, doch Hennings Blick erstickte ihr den Laut auf der Zunge. „Hast ihn denn gar so lieb? Wenn Du dem Bruder schon so gut bist ... wie fest und warm erst müßt’ Dein rundes Aermlein drücken können am Hals eines Liebgesellen!“ Er streckte die Hand, um ihren Arm zu fassen. Erschrocken wich Rötli zurück.

„Schau’, wie das Vöglein sich duckt!“ lachte Henning. „Gieb acht, wir werden noch gute Freund’, wir beide!“ Wieder streckte er die Hand aus, da sah er Wicho unter dem Hagthor stehen, und zurücktretend sagte er mit verstecktem Lächeln und freundlich klingendem Ton. „Warum erschrickst Du vor mir? Ich hab’ Dir doch die Hand nur bieten wollen zum Gruß ... und ... eine Botschaft meiner Schwester hab’ ich Dir bringen wollen. Was sie will von Dir, das weiß ich nicht, aber sie läßt Dir sagen, daß Du heut’ noch zu ihr hinaufkommen sollst in unser Haus. Heut’ noch, hörst Du! Und bald! Meine Schwester wartet nicht gerne.“

„Aber ich hab’ doch heut’ schon mit ihr geredet,“ stammelte Rötli.

Betroffen blickte Henning auf. „Ich mein’, Du irrst Dich.“

„Nein, nein! Früh am Morgen ist Recka vorbeigeritten bei unserem Hag, sie selber hat mich angerufen und hat geredet mit mir. Und da hätt’ sie mir doch selber sagen können ...“

Henning zuckte lachend die Schultern. „Was weiß denn ich, was meine Schwester spinnt in ihrem krausen Kopf! Ich kann Dir nur eines sagen: droben im Bergwald bin ich ihr begegnet, und da hat sie mir diese Botschaft aufgetragen für Dich. Jetzt wird sie wohl lang’ schon daheim sein. Also red’ ... was soll ich ihr sagen? Kommst Du oder nicht?“ Seine Lippen wurden schmal, und lauernd blickten seine Augen.

Rötli zögerte mit der Antwort; dann lispelte sie: „Wenn es Deine Schwester begehrt, so muß ich wohl kommen ... ich bin ihr gut und möcht’ sie nicht gern erzürnen.“

Hennings Augen blitzten. „Das will ich ihr sagen!“ Und lachend ging er davon, dem Weg zur Ache folgend. Unter den ersten Bäumen blickte er über die Schulter zurück und murmelte: „Komm nur, Du feines Finklein, ich will den Herd stellen. Lang’ genug hab’ ich zugewartet.“

Als er nach einer Weile, über den Felsenstieg emporklimmend, seines Vaters Haus erreichte, fragte er den Knecht, der ihm das Pförtlein öffnete: „Ist meine Schwester daheim?“

„Nein, Herr.“

„Wann kommt sie heimgeritten?“

„Nicht vor Abend.“

„Gut! Jetzt thu’ die Ohren auf und merk’, was ich sage.“

Der Knecht lauschte den Worten, welche Henning ihm zuflüsterte, und nickte schmunzelnd. „An mir soll’s nimmer fehlen. Ich stell’ mich auf die Mauer und verwend’ keinen Blick vom Fischerhaus, und wenn sie kommt ...“

Henning drückte dem Knechte die Hand auf den Mund, denn er sah vor dem Bärenzwinger seinen Vater sitzen.

Herr Waze war allein zu Hause; Hartwig und Eilbert waren auf die Jagd gezogen, Sindel, Rimiger, Gerold und Otloh hielten die Wache im Lokiwald. Um die Langeweile der Einsamkeit zu verscheuchen, hatte Herr Waze ein seltsames Spiel gewählt. Auf einem Steinblock saß er vor dem Raubtierkäfig, einen langen Stecken in der Hand, und reizte mit derben Stößen die eingesperrten Tiere. Brummend hob sich der Bär auf die Hinterfüße, knurrend fuhr der Wolf von einem Winkel in den anderen, und fauchend sprang der Luchs an den hölzernen Stäben empor und klammerte sich an die Decke des Käfigs. Herr Waze stieß und bohrte mit dem Stecken, bis der scheue Zorn der Tiere zur Wut sich steigerte, so daß sie, um ihren Grimm zu entladen übereinander herfielen und beißend und schlagend im Knäuel sich balgten. Dann ließ Herr Waze den Stecken sinken, legte die Hände auf den Bauch und lachte, daß ihm die Thränen kamen. Der heulende Lärm im Käfig brachte alles Geflügel des Hofes in Bewegung. Die Hühner stoben gackernd auseinander, scheu umflatterten die Tauben das Dach, auf der Mauer schrie der Pfau und im Zwinger kläfften die Hunde. Nur langsam trat die Ruhe wieder ein, als die Kämpfer im Käfig endlich voneinander gelassen hatten; in einer Ecke lag der Bär und leckte die Tatze, welche der Wolf ihm blutig gebissen, in der anderen Ecke saß die rote Bergkatze an die Stäbe gedrückt und ächzte, während der Wolf, dem das Blut von der Schulter tropfte, mit glühenden Augen auf und nieder trabte und die Schnauze in jede Lücke der Stangen stieß, als möchte er den Ausweg erzwingen.

Herr Waze hatte sich müde gelacht; er hob den Stecken und begann das rohe Spiel aufs neue. Dumpf brummend richtete der Bär sich auf, mit gesträubtem Fell und krumm gezogenem Rücken stand er und hielt die funkelnden Lichter auf seinen Peiniger gerichtet. „Rühr’ Dich, Meister Waldhauser! Munter! Munter!“ rief Herr Waze und bohrte mit dem Stecken.

Da that der Bär, laut aufbrüllend, einen mächtigen Sprung gegen die Wand seines Kerkers, daß die Stangen sich bogen und der Käfig erzitterte in allen Fugen. Herr Waze erbleichte und fuhr erschrocken zurück, doch als er gewahrte, daß die Stangen hielten und der Bär im Rückprall zu Boden kollerte, schlug er mit dem Stecken und lachte. „Gelt, Waldhauserlein, gelt? So wie Du, so möcht’ wohl mancher anspringen wider mich! Nur gut, daß der Käfig, den ich ihnen gebaut hab’, so feste Stangen hat!“ Er blickte auf, denn er hatte Hennings Schritt gehört. „Du?“ fragte er verwundert. „Warum kommst Du allein?“

„Weil ich mich gesondert hab’ von den Brüdern.“

„Weshalb?“

„Weil ich gejagt hab’ auf eigene Faust!“

Herr Waze maß den Sohn mit forschendem Blick, er hörte aus Hennings Worten einen Ton, der ihn stutzig machte. „Red’! Wo warst Du?“

„Drüben auf dem Seewandlahner, über dem Moospalfen, der hinaushängt übers Wasser.“

„Hast Du den guten Hirsch gespürt?“

„Nein, Vater!“ Ein dünnes Lächeln zuckte um Hennings Lippen. „Aber der Fischgreifer ist mir zugestrichen, auf den ich wart’ seit lang’!“

Herr Waze machte die Augen klein und zog die gekrümmten Finger durch den Bart. „Und?“

„Ueber dem Palfen bin ich gelegen und hab’ ein Trumm Stein gehalten. Da ist der Fischgreifer hergestrichen über den See, aus den Palfen zu, und wie er schnurgrad’ unter mir war und die Legangel hat heben wollen ... da hab’ ich fallen lassen.“

Herr Waze sprang auf. „Er liegt?“

Henning nickte. „Schau’ hinaus über den See – da kannst den leeren Einbaum treiben sehen!“

Mit langen Schritten eilte Herr Waze zur Mauer und spähte funkelnden Blickes in die Tiefe. Sonnenduft umflimmerte den See, auf dessen glattem weißgrauschillernden Spiegel, in Pfeilschußweite vom jenseitigen Ufer, der leere Nachen schwamm wie ein braunes Scheit.

[155] „So hast Du’s haben wollen!“ murmelte Herr Waze. „Ich hab’ gemeint, es wär’ genug an Deinem Vater ... und ich hätt’ Dich gehalten! Jetzt lieg’, wo Du liegst!“ Er wandte sich von der Mauer und ging der Freitreppe zu. Da trat ihm Henning in den Weg. „Ich will meinen Dank, Vater!“

„Verlang! Nur nicht mein Roß und meinen Stächlinbogen[18] oder den Weißfalk ... die drei Ding’ halt’ ich, so lang’ ich leb’.“

„Da wär’ ein jedes zu viel begehrt!“ sagte Henning mit seinem dünnen Lächeln. „Was ich will, kannst Du leichter geben: laß Dir den Falben satteln und reit’ hinaus übers Thal, der Ritt wird Dir wohlthun! Ich mein’, Du kannst den Kopf heben und leichter schnaufen ... jetzt, wo der eine weg ist, der denen da draußen beim Lokistein für Hundert gewogen hätt’!“

Herr Waze schlug die Hand auf Hennings Schulter. „Ja, Bub’, ich will reiten,“ lachte er, „und aufschnaufen! Der eine hat mir Sorgen gemacht – die anderen halt’ ich wie die Mäus’ im Sack!” Und einem Knecht, der aus den Ställen trat, rief er zu: „Den Falben!“ Dann ging er ins Haus, um sich für den Ritt zu kleiden.

Henning gab dem Knecht, der das Pförtlein geöffnet hatte, einen Wink; dann folgte er dem Vater. Der Knecht stieg auf die Mauer, und durch die Pfeilscharte einer Eckzinne spähte er hinunter nach dem Fischerwesen. Den Lugaus, die Hofreut und den freien Platz vor dem Hagthor sah er leer; den Ufersaum der Lände verdeckten ihm die Bäume.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 11, S. 165–170

[165] Am Ufer stand Wicho und löste den Waldschragen; er wollte auf Mutter Mahtilts Geheiß hinausfahren in den Weitsee und Umschau nach Sigenot halten. Schon setzte er den Fuß auf den Schragen; da klang aus dem Fichtenwald der Lockruf eines Sperbers. Betroffen lauschte Wicho ... noch zweimal klang der Ruf, und da lief der Knecht den Bäumen zu; denn er wußte, wer sich mit diesem Ruf zu melden pflegte, wenn es Ursache gab, den Laut der Stimme zu meiden. Als Wicho den Schatten des Waldes erreichte, blieb er stehen und spähte umher, doch er gewahrte niemand; leise ahmte er den Ruf des Sperbers nach, und aus dem tieferen Walde kam die Antwort. Wicho sprang über die Fallstämme und moosigen Steinblöcke. Da sah er im tiefsten Schatten seinen Herrn an einen Baum gelehnt, schwer atmend, wie erschöpft von raschem Lauf.

„Aber Herr! Wie kommst Du nur daher in den Wald? Bist doch ausgefahren auf dem Einbaum. Und warum ...“ da stockte dem Knecht die Sprache; er hatte Sigenot erreicht und stand erschrocken bei seinem Anblick. Naß hing das Haar über Sigenots Schläfe, seine Augen lagen tief und brannten, seine Lippen zuckten, und fahle Blässe bedeckte seine Wangen. Sein ganzes Gewand, von den Schuhen bis zum Halse, war schwer von Nässe. Auf der linken Schulter war das Wams zerfetzt und dünnes Blut rann in Fäden über den nackten Arm, an welchem die Haut zerschunden war.

„Herr! Herr!“ jammerte den Knecht und schlug die Hände ineinander. „Was ist denn geschehen ...“

Sigenot streckte die Hand, gegen Wichos Mund, und da verstummte der Knecht. Der Fischer richtete sich auf, und leise mit bebender Stimme sagte er „Wicho! Ich bin dein Herr“

[166] Flüsternd klang die Antwort. „Und ich Dein Knecht, Dir eigen auf Tod und Leben.“

„Mein ist Dein Leib, Dein Gebein und Haar, mein ist Dein Aug’ und Ohr ... aber ich laß Dir alles und will nur Deine Treu’. Leg den Schweigschwur in meine Hand!“ Wicho berührte mit den Fingern die Lippen und legte die Hand in Sigenots Rechte. „Unsere Händ’ liegen ineinander, Wicho, wie Stein in Stein. Steh’ Du für mich, wie ich stehen will für Dich!“

„Herr!“ stammelte der Knecht. „Wenn ich Dich anschau’, wird mir kalt ums Herz. Was ist denn geschehen?“

Sigenot löste die Hand. „Das sollst Du hören. Jetzt geh’ hinein ins Haus. Heut’ in der Nacht hab’ ich das Schwert meines Vaters von der Wand genommen, und in meiner Kammer hab’ ich’s geborgen unter der Wolfshaut auf dem Lager. Geh’ hinein ... und daß es Mutter und Schwester nicht merken, schieb’ das Schwert zum Fenster hinaus und bring’ mir’s her!“

Wicho wollte davoneilen, aber er wandte sich wieder um und fragte: „Was soll ich denn sagen im Haus? Sie haben sich gesorgt um Dich!“

„Sag’, ich wär’ gekommen und hätt’ einen Weg ... zum Richtmann in die Schönau.“

Während der Knecht dem Hagthor zusprang, ließ sich der Fischer auf einen Steinblock nieder, löste einen Ballen Moos vom Grund, faßte eine Handvoll der schwarzen kühlen Erde und drückte sie auf die brennenden Schürfwunden seines Armes. Er wußte kaum, daß er es that; seine Blicke gingen ins Leere, seine Lippen waren herb geschlossen, und zwischen seinen Brauen lag eine Furche, scharf wie ein Messerschnitt.

Als Wicho über die Hofreut emporstieg, eilte ihm Edelrot entgegen. „Kommt er? Kommt er?“

Der Knecht meldete, was Sigenot ihm aufgetragen, und bei dem Jubel mit welchem Edelrot diese Botschaft ihrer Mutter zutrug, konnte Wicho unbemerkt in die Kammer schlüpfen. Er brachte das Schwert in den Wald. Sigenot zog die breite Klinge, prüfte ihre Schärfe, stieß sie wieder zurück ins Leder und legte das Schwert über den Schoß. „Von Stund’ an geht mein Weg unter Eisen!“ Er blickte auf. „Wicho! Sie wollen mir ans Leben!“

Der Knecht erbleichte.

„Komm’, setz’ Dich zu mir und hör’ an! Vor zwei Tagen ist Hennings Pfeil vorbeigeflogen an meinem Hals, und heut’ auf dem Weitsee hat der Steinblock mich gestreift, den seine Händ’ gelöst haben. Ich bin mit dem Einbaum zugefahren unter den Moospalfen, um die Legangel zu heben. Wie ich die Hand streck’, hör’ ich ein Rollen über mir ... ich schau’ noch auf und seh’ den Block schon niedersausen. Aber da ist einer zu mir gestanden, den ich gerufen hab’ in der Not, und der hat mir Kraft gegeben! Wie ein Wolf unter der Baumfall’, so hab’ ich einen Sprung zur Seit’ gethan. Schulter und Arme hat mir der Stein gestreift, und derweil ich hinausflieg’ ins Wasser, saust der Fels gegen den Spiegel des Einbaums, daß der Hohlbalken hingesurrt ist über den See wie ein Pfeil. Mich hat der Wasserschwall unter die überhängende Wand geschwemmt ... schier hätt’ mich das Ringhemd, das ich trag’ unter dem Wams, hinuntergezogen. Aber zur rechten Zeit noch hab’ ich die Angelschnur gefaßt, die am Fuß des Palfens eingeklemmt war in einen Steinriß. Und der Faden hat ausgehalten ... es war eine feste Schnur, die mein Rötli geflochten! Um zu merken, daß nicht der Zufall den Stein gelöst, hätt’ ich nicht erst noch von der Höh’ des Palfens herunter Hennings Gelächter hören brauchen. Nur das Gesicht und die Hand noch über dem Wasser, so bin ich gehangen im See und hab’ mich still gehalten und gewartet, bis ich von Henning, der hinaufgestiegen ist über die Seewand, keinen Tritt und Laut mehr gehört hab’. Dann hab’ ich versucht, daß ich zwischen dem steil ins Wasser fallenden Gewand’ ein Flecklein erreich’, wo ich aussteigen könnt’. Es ist mir hart geworden, Wicho, gezogen hat’s an meinen Füßen, als hätt’ mich schon der Bid gefaßt und möcht’ mich hinunterreißen, dorthin, wo mein Vater liegt.“ Tief atmend verstummte Sigenot.

Wicho sprang auf und hob die Fäuste gegen den Himmel. „Hauset denn keiner mehr im Gewölk, der den Hamwer wirft und die Donnerkeil’? Fahrt denn nicht bald ein Blitz herunter über Wazemanns Haus? Thut nicht die Erd’ sich auf und verschlingt die Mordbrut?“

„Laß gut sein Wicho, und schilt nicht!“

„Ich soll nicht schreien in der Not? Wer hilft uns denn, wenn’s die nicht thun, die über uns sind und unter uns? Stehen wir nicht gegen die Wazemannsleut’ wie die Geißen gegen die Wölf’? Meinst, sie werden ablassen von Dir? Wer soll Dir denn helfen? Wie willst Dich wehren?“

Sigenots Augen blitzten, und seine Faust umklammerte den Schwertgriff. „Wenn es herging’ um mich allein ... ich wüßt’ schon was ich thät’. Aber an mir hängen Mutter und Schwester, die mich brauchen.“ Seine Stimme verlor sich in Murweln. „Ein einzigmal hab’ ich vergessen, daß ich meiner Schwester Bruder bin ... und zur Straf’, das spür’ ich, soll ich keine frohe Stund’ mehr haben im Leben.“

„Herr?“ stammelte Wicho.

Da faßte Sigenot die Hände seines Knechtes, und in heißer Qual lösten sich die Worte von seinen Lippen. „Wicho! Wicho! Ich bin wie ein Ferch, der ans Land gesprungen nach einer roten Blum’. Jetzt liegt er im Sand und muß verschmachten und verdursten ... und kann den Heimweg nimmer finden ins Wasser, dem er zugehört.“

„Ich versteh’ Dich nicht. Deine Red’ ist wie eine Nuß, die meine Zähn’ nicht beißen können. Schlag’ sie auf und zeig’ mir den Kern!“

Sigenot schüttelte den Kopf und streifte mit der zitternden Hand über die Stirne. Rach einer Weile sagte er: „Weißt Du, warum sie mir ans Leben wollen?“

„Ich denk’ mir’s.“

„Sie fürchten, ich halt’ zu den Klosterleuten, die gekommen sind und Herrenrecht haben an unser Thal.“

„So? Wohl wohl, das kann schon sein! Aber der Grund, den ich mir gedacht hab’, liegt noch ein lützel näher. Denk’ an Deine Schwester, wie süß und lieb ihr Gesicht ist ... und nachher denk’ an die Wazemannsbuben. Sie wollen das Lamm reißen – da ist ihnen der Hüter im Weg.“

„Wicho!“ Mit zornigem Schrei war Sigenot aufgesprungen.

Hastig erzählte der Knecht, was er gehört und gesehen, als Henning vor dem Hagthor stand.

Sigenots Gesicht war fahl, jeder Zug in seinem Antlitz hart wie Stein. Durch das dunkle Gewirr der Zweige spähten seine Augen hinauf gegen Wazemanns Haus und mit zuckender Hand griff er an seine Brust, als könnte er gewaltsam von sich abreißen, was ihm das Herz bedrückte. „Ein Wasser soll sein zwischen mir und ihnen, ein Wasser, so breit, daß kein Baum gewachsen ist für einen Steg. Nichts anderes will ich, als meiner Schwester Bruder sein und meiner Mutter Sohn!“ Er wandte sich zu dem Knecht. „Wicho! Dein Wort hat Feuer in mich geworfen, aber ich dank’ Dir! Jetzt hat der Ferch wieder heimgefunden ins Wasser!“ Tief atmend schlang er das Gehäng des Schwertes um seine Hüfte. „Geh’ hinein ins Haus! Schick’ die Heilwig zur Alben ... sie soll das Vieh betreuen und meine Sennen heimschicken. Wir brauchen Männer im Hof. Eh’ die Dirn’ zur Alben steigt, soll sie auf dem Schragen in den Weitsee fahren und den Einbaum holen. Laß ihn nicht liegen an der Länd’, sondern schleif’ ihn hinter den Hag. Dann schließ’ das Thor und leg’ die Sperrbalken ein. Und meine Schwester laß keinen Schritt aus der Hofreut thun ... hörst Du, keinen Schritt!“

„Keinen Schritt, oder sie müßt’ weggehen über mich!“

„Solang’ es sein kann, laß die Mutter nichts merken! Ich selber will reden mit ihr, wenn ich heimkomm’ zur Nacht! Jetzt geh’!“

„Und Du, Herr? Oder soll ich nicht wissen, wohin Du gehst?“ „Ich geh’, wohin ich muß! Wohin das Recht mich ruft, wohin die eigene Not mich treibt, zum Lok’stein! Wahr’ mein Haus, Wicho, bis ich wiederkomm’!“

„Verlaß Dich auf mich!“

Ihre Hände faßten sich; dann nickte der Fischer und eilte waldeinwärts, dem Thal der Ache entgegen. Wicho sprang hinaus auf die offene Lände; hier spähte er nach allen Seiten, doch alles war ruhig. nur von Wazemanns Haus herab tönte das Gekläff der Hunde. Als Wicho die Hofreut erreichte, kam Heilwig gerade von den Ställen her. Kopfschüttelnd hörte sie den Auftrag, den der Knecht ihr überbrachte. Sie hätte wohl gerne die Neugier gestillt, die in ihr lebendig wurde, aber Wicho machte sie schweigen mit einem zornigen Wort. Er schob sie vor den Hag hinaus und schloß hinter ihr das Thor.

[167] Da nahm es ihn Wunder, daß Edelrot nicht zu sehen war. „Sie wird im Haus bei der Mutter sein!“ Er eilte über den Hügel empor und trat unter die Thür der Halle. Neben dem Herd saß Mutter Mahtilt im Lehnstuhl und schlummerte; die Nachricht, daß Sigenot zurückgekommen sei, hatte ihre Sorge beschwichtigt, und nach der ruhelosen Nacht, in der dumpfen Schwüle des Nachmittags war in der ersten ruhigen Stunde der Schlaf auf ihre müden Lider gesunken.

„Rötli!“ rief Wicho mit leiser Stimme. Nichts rührte sich in der Halle. Leise schlich sich der Knecht zur Frauenkammer und öffnete die Thüre; die Kammer war leer. Erschrocken eilte er ins Freie und rief den Namen des Mädchens über die Hofreut. Keine Antwort ließ sich hören. Wicho verfärbte sich und griff mit den Händen an die Schläfe. „Ich muß sie finden! Ich muß! Ich muß!“

Er rannte über den Hügel hinunter und riß das Hagthor auf. Gegen das Ufer lief er, gegen den Wald zur Linken, gegen die Ache zur Rechten und schrie mit hallender Stimme: „Rötli! Rötli!“ Doch keine Antwort klang. Nur die Falkenwand schickte den Ruf zurück mit hohlem Echo.




15.

Vor dem Hag des Schönauers schlug eine Faust an das geschlossene Thor und eine Stimme rief: „Thut auf!“ Ein Knecht, der in der Nähe schaffte, lief, um das Thor zu öffnen; er machte verwunderte Augen, als er den Fischer erkannte und ihn gewappnet sah mit langem Schwert, in dem nassen verwüsteten Gewand, mit dem bleichen Gesicht und dem blutbefleckten Arm.

„Wo ist Dein Herr, der Richtmann?“ fragte Sigenot.

„Da drüben unter den Eichen liegt er und schlaft.“

„Schlaft?“ wiederholte der Fischer, als hätte er falsch gehört.

„Er ist außer Haus gewesen die heutige Nacht und die gestrig’ auch.“

Sigenot schritt den Eichen zu. Lang ausgestreckt lag der Schönauer im Schatten der Bäume und hielt im Schlummer das Gesicht auf die Arme gedrückt. Als er geweckt wurde, blickte er mit müden Augen auf. „Du, Fischer?“

„Heb’ Dich auf, Schönauer, jetzt ist nimmer Schlafenszeit!“

Diese Worte waren wohl anders gemeint, als der Schönauer sie verstand. „Ich hab’ zwei Nächt’ nicht geschlafen. Wir haben den Huze gesucht, den armen Buben, der dem Schapbacher die Geißen hütet. Er ist eingestiegen in Wazemanns Bannberg und nimmer heimgekommen. Erst haben wir gemeint, der Bub’ hätt’ sich verstiegen, und haben ihn gesucht zwei Nächt’. Aber heut’ am Morgen, wie wir heimgekommen sind, haben wir hören müssen, was geschehen ist mit ihm. Einer von Wazemanns Knechten hat es ausgeredet. Der Bub’ ist gefangen worden und liegt unter Wazemanns Haus im Bußloch. Die Flechsen haben sie ihm abgestochen ...“

Sigenot lachte zornig auf. „Einen besseren Anfang hätt’st nimmer finden können für die Zwiesprach’, zu der ich gekommen bin. Herr Waze hat fleißige Händ’. Der Bub’ ist abgethan – – jetzt hat er mich in der Arbeit, und wart’ noch einen Tag, Richtmann, so kommt die Reih’ an Dich!“

Erschrocken starrte der Schönauer den Fischer an. „Sigenot,“ stammelte er, „was soll Deine Red’? Und alle guten Mächt’, wie siehst Du aus! Red’ doch, red’, was hat’s denn gegeben?“

„Komm ins Haus!“ sagte Sigenot und schritt dem Schönauer voran, der ihm zögernd folgte, mit scheuem Blick und verstörten Zügen.

In goldenem Glanze lag die Nachmittagssonne über Hof und Haus, die Wiesenblumen dufteten und bunte Schmetterlinge gaukelten über den Hag. Eifrig flogen die Schwalben ab und zu, auf dem Dache girrten die weißen Tauben, und manchmal setzte sich eine der Schwalben zu kurzer Rast und zwitscherte ein leises Lied. Blau und leuchtend wölbte sich die Himmelsglocke über die schimmernden Zinnen der Berge, und der sachte Windzug, der die warmen Lüfte rührte, war wie ein Hauch des traulichen Friedens, den die Erde atmete. In diese Stille der Natur klang zuweilen aus dem Hause der Laut einer heftigen Stimme. Es schien erregte Zwiesprach zu sein, welche die beiden Männer hielten. Immer lauter wurden ihre Worte. Der Knecht im Hof ließ die Arbeit ruhen und lauschte, doch nicht lange; denn Sigenot erschien unter der Thür, mit finsterem Gesicht. Der Schönauer kam ihm nachgeeilt und suchte ihn am Arm zurückzuhalten. „Bleib’, Fischer, bleib’,“ stammelte er. „und bei allem, was Dir lieb und heilig ist ... ich bitt’ Dich, thu’s nicht! Geh’ nicht hinaus zum Lok’stein.“

„Ich thu’, was ich muß!“ erwiderte Sigenot mit bebender Stimme. „Ich hätt’s gethan, auch wenn mir nicht wie jetzt die eigene Not bis an den Hals gestiegen wär’.“

„Thu’s nicht, Fischer! Es wird nichts besser damit, nur alles schlimmer!“

„Ob besser oder schlimmer, das frag’ ich nicht. Ich weiß nur eins: Herr Waze will mir den Weg zum Lok’stein verwehren – so muß es ein Weg sein, der zum Guten führt.“

„Er wirft seinen Zorn auf Dich und Dein Haus. wie er’s mir gedroht hat und meinem Buben. Fischer, Fischer, wie willst Du denn stehen gegen ihn und seine Knecht’?“

„Das laß meine Sorg’ sein! Und ob ich steh’ oder fall’, ich will mich nicht ducken und Umweg suchen wie Du! Wie lang’ mein Weg im Licht noch dauert, das weiß wohl keiner ... aber grad’ soll er sein bis zum letzten Schritt. Ich rat’ Dir nicht; thu’ Du nach Deinem Willen und sorg’ nur, daß keine Reu’ Dich ankommt! Mir aber laß meinen Weg! Der geht hinaus zum Lok’stein!“

„Sigenot! Sigenot!“ jammerte der Schönauer und umklammerte den Arm des Fischers.

„Laß mich! Ich geh’ hinaus! Von ihnen selber muß ich hören, ob sie mit Recht die Herren im Gadem sind. Und sind sie's, so steh’ ich zu ihnen mit Leib und Leben. Ob’s mir hilft, das frag’ ich nicht ... ich hab’ für mich wohl selber noch eine Hilf’“ – er schüttelte die starken Arme – „aber eins weiß ich: den andern wird’s zum Guten sein. Merken sie, daß mein Weg der rechte ist, so gehen mir zwanzig nach, einer zieht den andern, hundert stehen zu den Klosterleuten ... und dann, Herr Waze“ – er hob die Faust und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein – „dann wollen wir sehen, wer Du noch bist mit Deinen Buben!“

„Ich bitt’ Dich, red’ nicht so laut!“ stammelte der Schönauer und blickte mit scheuen Augen nach dem Knecht, der im Hof arbeitete. „Die Lüft’ haben Ohren im Gadem und tragen jedes Wort hinauf in Wazemanns Haus.“

„Fürchtest Du Deinen eigenen Knecht? Richtmann, es ist weit gekommen! Und derselbig’ mag wohl recht haben, der den Spruch gefunden:

‚Lützel Treu ist allenthalben,
Tief im Thal und hoch auf Alben.‘

Aber einen Richtmann, einen muß es doch noch geben, bei dem die Treu’ ist und eine starke Hand wider alle Not. Und den einen muß ich suchen. Ob ich ihn find’ beim Lok’stein ... ich weiß nicht. Aber suchen muß ich, denn wär’ nicht die Hoffnung in mir, daß ich ihn find’ – ich müßt’ ja mit eigener Faust die Mutter erschlagen und mein lieb Geschwister, daß ich ihnen die Schand’ und den Jammer spar’, und müßt hinunterspringen in den See, damit alles ein End’ hat. Wären Not und Neid, Untreu’ und Unehr’ die einzigen, die über uns Macht haben, und gäb’s über ihnen keinen Stärkern mehr, so gäb’s auch für uns keinen Tag nimmer, der den Schnaufer wert ist.“

Der Schönauer starrte den Fischer an und fand kein Wort.

„Warum schaust mich an wie einen Fremden?“ fragte Sigenot. „Weil Du mich so noch nie hast reden hören? Ich will Dir sagen, wie solche Red’ in mich gekommen ist. Schau, Richtmann, an die hundertmal bin ich mit der Angel schon hinaufgestiegen zur Ramsauer Achen. Und da hab’ ich wohl diemal zugesprochen beim alten Hiltischalk und er hat zu mir geredet von seinem guten Himmelsherrn, derweil wir auf der Hausbank in der Sonn’ gesessen. Und einmal, da hat er mir erzählt, wie sein guter Gottesherr ihn gehoben hätt’ aus arger Not. Droben über dem Windacher See hat er eine kranke Alberin heimgesucht, und wie er niedergestiegen ist an der Windach, hat sich der Gründ gelöst unter seinen Füßen. Hinunter in die tiefe Klamm ist sein Fall gegangen, das wilde Wasser hat ihn gefaßt, und da war für ihn kein Retten nimmer und keine Hilf’. Das weißt wohl selber, Richtmann ... die Nachtalfen der Windach haben feste Händ’, wenn sie greifen.“

Der Schönauer nickte und murmelte: „Wen die Windacher Alfen fassen, den lassen sie nimmer aus!“

[168] „Der Hiltischalk aber, wie ihn die Alfen schon haben schlingen wollen, hat noch aufgeschrieen im letzten Schnaufer: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Da hat ihn das Wasser auf einen Stein geworfen, zu dem eine turmhohe Ficht’ heruntergefallen war aus der Höh. Wie mit Armen haben die Aest’ ihn aufgefangen, und über den Baum ist der Hiltischalk hinausgestiegen aus der Klamm wie auf einer Leiter. Ich hab’ weinen müssen, Richtmann, so hat mich das gepackt in meiner Seel’! Und heut’, wie ich den Stein über mir hab’ rollen hören, wie ich gesehen hab’: jetzt ist kein Ausweg mehr, der Stein erschlagt mich und mit mir die Mutter und mein Geschwister, mein Haus und Heim und alles ... schau, Richtmann, ich weiß nicht, wie’s gekommen ist, aber da hat meine Seel’ geschrieen wie der Hiltischalk: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Und mich hat der Stein nicht erschlagen, mich hat das Wasser nicht geschlungen.“

Ueber die Lippen des Schönauers ging ein müdes Lächeln. „Wider den Stein hat Dein Sprung geholfen, wider das Wasser die feste Schnar und Dein starker Arm.“

Sigenot schüttelte den Kopf. „Ich hab’ geschrieen in der Not, und wohin meine Red’ geht, dahin gehen auch meine Füß’. Ich muß zum Lok’stein!“

„Ich merk’, da ist kein Halten nimmer! So geh’ halt![“] Der Richtmann atmete schwer. [„]Zeit lassen, Fischer!“

„Ich hab’ keine Zeit mehr! Jetzt hab’ ich Eil’.“ Sigenot reichte dem Schönauer die Hand und schritt dem Hagthor zu, während der andere ihm nachblickte mit kummervollen Augen.

Der Glanz der Nachmittagssonne hatte schon rötlichen Schein, als Sigenot den Wald beim Lokistein erreichte. Die hallenden Axtschläge wiesen ihm den Weg. Während er dahinschritt zwischen den Bäumen, hörte er seinen Namen schreien, und durch brechendes Gezweig kam ein Reiter auf ihn zugesprengt. Otloh war es, Wazemanns Jüngster. Er verhielt das schnaubende Roß. „Wohin, Fischer?“

Sigenot stand und sah mit finsteren Augen zu dem Knaben auf. „Was kümmert’s Dich? Gieb meinen Weg frei!“

„Kehr’ um, hier ist kein Weg!“

„Weg ist, wo ich mir einen such’.“

„In meines Vaters Namen: kehr’ um, hier ist Bannwald!“

„Davon weiß ich nichts. Und Dein Vater mag bannen für seine Knecht’ – ich bin ein Freier und steh’ nicht unter Deines Vaters Faust.“

Dunkle Zornröte färbte Otlohs Gesicht. „Hüt’ Deine Zung’, Fischer! Oder meinst Du, Deine Keckheit an mir üben zu können, weil ich der Jüngste bin? Irr’ Dich nicht in mir!“

An Sigenots Schläfen schwollen die Adern. „Noch einmal: gieb meinen Weg frei!“

„Noch einmal: hier ist kein Weg für Dich!“ schrie Otloh. „Und ich will Dir weisen, daß mein Wort so viel gilt, als hätt’ mein Vater gesprochen!“ Er sah, daß sich die Hand des Fischers an den Schwertgriff legte, und mit kreischender Stimme höhnte er: „Laß doch ein andermal die Wehr daheim! Das thut dem Bauer nicht gut, wenn er geht wie ein Ritter! Die Wehr schlagt Dir blaue Fleck’ an die Waden. Oder willst Du Ferchen stechen damit? Oder die Würm’ graben für Deine Angel? Sonst wüßt’ ich nicht, wozu Du das Eisen brauchst!“

„Frag’ Deinen Bruder Henning, wenn Dich die Neugier plagt! Wir zwei haben ausgeredet. Weich’, sag’ ich, oder ich schaff’ mir freien Weg!“ Sigenot schritt voran und scheuchte mit erhobenem Arm das Pferd, daß es schnaubend aufbäumte.

Unter zornigem Fluch stieß Otloh dem weichenden Roß den Stachel in die Flanke und riß den Wildfänger aus der Scheide. „Wart’, Fischer, Dir verleg’ ich den Weg!“ Doch er fand nicht Zeit, zum Streiche auszuholen. Blitzschnell hatte Sigenot mit der einen Faust den Reiter an der Brust gefaßt und mit der anderen das Gelenk der bewaffneten Hand umklammert. Otloh stöhnte unter diesem Griff, und da hob ihn auch schon die Faust des Fischers aus dem Sattel. Während das ledige Pferd davonstob durch den Wald, setzte Sigenot den Knaben ins Moos, wand ihm den Fänger aus der Hand und trieb die Klinge mit wuchtigem Stoß in einen Baum.

„Jetzt lauf’ Deinem Roß nach, Otloh, daß Du wieder reiten kannst! Bis heim zu Deines Vaters Haus, das wär’ ein langer Weg für Deine kurzen Füß’.“ Mit diesen Worten wandte Sigenot sich ab und schritt durch den Wald davon dem Lokistein entgegen. In bebender Wut sprang Otloh auf und suchte den Fänger zu lösen, aber die Klinge haftete im Baum wie festgewachsen; fluchend riß er und zerrte, da brach der Stahl und Otloh taumelte zurück, mit dem Stumpf der Waffe in der Hand.

„Fischer, das sollst Du mir büßen!“

Sigenot hörte die drohenden Worte noch; ohne die Augen zu wenden, verfolgte er seinen Weg. Näher und näher klang ihm der Hall der Aexte, das dumpfe Gepolter der rollenden Bäume, das Krachen der brechenden Aeste und der laute Ruf, mit dem die Knechte die Balken hoben. Unter den Bäumen trat er hervor auf die von rötlichem Sonnenglanz übergossene Lichtung. Er sah die Rastplätze der Saumtiere, die Reisighütten der Knechte und die Feuerstätte, von welcher Bruder Wampo mit einer Kanne hinwegeilte, um Wasser bei der Quelle zu holen. Er sah die beiden Zelte und das wachsende Balkenhaus; übermannshoch erhoben sich schon die Holzmauern der Klause und des Kirchleins, dessen steigende Wände den Heidenstein umschlossen, so daß über den Saum der Mauer das aus der halbverbrannten Eiche gehauene Kreuz nur mit dem Querholz noch hervorragte.

Sigenot betrachtete mit erstaunten Augen das freundliche Bild, und der sonnige Frieden dieser Stätte redete ihm warm ins Herz. Er atmete auf, als wäre ihm leichter um die Seele geworden, und raschen Schrittes ging er den Zelten zu. Den Eingang suchend, umschritt er das eine derselben, doch plötzlich verhielt er den Fuß, gebannt von einem unerwarteten Anblick. Aufrecht in menschlicher Lebensgröße stand das vollendete Kreuzbild vor ihm, mit dem Holzpflock, an welchem die Füße noch hafteten, in der Erde befestigt. Die Sonne schimmerte auf den trocknenden Farben des mit schlichter Kunst geschaffenen und rührend wirkenden Bildes; die strenge Nacktheit des bleichen Leibes mit seinen roten Malen redete die stumme Sprache der Schmerzen, doch sanft und freundlich blickte das zur Schulter geneigte Antlitz. Mit ausgebreiteten Armen stand das stille Bild vor Sigenot, als möcht’ es ihn grüßend umfangen und sprechen zu ihm: „Bei Dir ist Not, bei mir ist Hilfe! Komm an meine Brust!“ Ein Zittern hatte den Fischer befallen und seine Lippen rührten sich unter stummen Worten; langsam hoben sich seine Arme, und während er mit der einen Hand das Haupt entblößte, bekreuzte er mit der anderen die Stirne und den Mund, wie es Hiltischalk, der alte Pfarrherr in der Ramsau, den fünfzehnjährigen Täufling einst gelehrt. Da bewegte sich der Vorhang des Zeltes und Eberwein trat ins Freie; als er den Fischer gewahrte, verwandelte sich der müde Ausdruck, der auf seinen Zügen lag, in jähe Freude, und in stummer Bewegung streckte er zum Gruß beide Hände aus. „Oft in diesen Tagen dachte ich, wann und wo ich Dich wieder finden würde. Nun bist Du gekommen aus freiem Willen ... und ich grüße Dich!“

Sigenot faßte die Hände des Mönches und nickte einen stummen Gruß, langsam wandte er den Blick über die Schulter und suchte wieder das heilige Bild. „Wie gut er mich anschaut, und er muß doch leiden!“ sprach er leise vor sich hin. „Ich glaub’ schon selber, das muß ein Gott sein!“

Es leuchtete in Eberweins Augen. „Weshalb glaubst Du das?“

„Leiden müssen und gut sein ... Herr, das ist eine schwere Sach’, das bringt wohl nimmer ein Mensch zuweg.“

Meinst Du nicht, Sigenot, daß Du es lernen könntest von ihm, der auch für Dich gestorben? Sieh’ seine Wunden an, sieh’, wie die Dornen seine Stirne drücken, und dennoch segnete er im letzten Atemzug seine Peiniger und bat seinen himmlischen Vater: ‚Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ Solltest Du diesem Beispiel nicht folgen können?“

„Das wird sich hart machen, Herr! Ich bin doch nur ein Mensch!“ Mit langsamer Hand strich Sigenot das Haar in die Stirne.

Da gewahrte Eberwein das Blut und die Wunden am Arm des Fischers und fragte erschrocken: „Du bist verletzt? Was ist Dir geschehen?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, eilte er in das Zelt.

Verwundert blickte Sigenot ihm nach. „Was hat er denn?“

Mit Balsam und Linnen kehrte Eberwein zurück. „Komm, setz’ Dich auf diesen Block und reich’ mir Deinen Arm, daß ich ihn verbinde!“

„Aber Herr!“ Sigenot wurde rot wie ein Mädchen. „Die paar Kratzer und Riß’, die spür’ ich ja nicht!“

„Ich bitte Dich, dulde meine Hilfe!“

[170] Da ließ sich der Fischer nieder, streckte den Arm hin und lächelte. Nach einer Weile sagte er: „Du hast eine linde Hand ... die müßt’ auch gut sein und gar arg nicht drücken als Herrenhand.“

Eberwein blickte auf. „Wie meindt Du diese Worte?“

„Grad’ herausgesagt – ich bin gekommen, weil ich Dich hab’ fragen müssen, mit welchem Recht seid Ihr in unser Thal gekommen? Seid Ihr die Herren im Gadem oder nicht?“

„Zuerst Deine Wunde, und dann Deine Frage!“ erwiderte Eberwein ruhig und wand das weiße Linnen um Sigenots Arm.

Da kam Bruder Wampo von der Quelle, die gefüllte Kanne schleppend. Schon von weitem gewahrte er den Gast, und als er näher kam und den Fischer erkannte, schoß eine helle Freudenröte in sein rundes Gesicht. In der Vorahnung all des Guten, das dieser Besuch ihm zu verheißen schien, schnalzte er mit der Zunge und spitzte die Lippen. Gerne wäre er geradeswegs auf den Fischer zugeeilt, doch er sah, daß Pater Eberwein sich an Sigenots Seite niederließ und zu reden begann; da wagte er nicht, die Zwiesprach zu stören. Er ging zur Feuerstätte, um sein heißes Werk zu beginnen. Doch immer wieder schielte er hinüber zu den beiden und spähte nach allen Seiten, ob er die Angelrute nicht zu entdecken vermöchte, denn wo die Angel war, da konnte das Lägel nicht weit sein. Eine geraume Weile verstrich und immer noch redeten die Beiden. Ueber der Lichtung erlosch der Sonnenglanz und die Schatten des Abends webten ihren dunklen Teppich auf allem Grunde, nur die Zinnen der Berge leuchteten noch in rotem Gold. Endlich erhob sich der Fischer; sein Antlitz brannte in Erregung und seine Augen glänzten.

„Und das alles, Herr, das alles darf ich den Gademleuten sagen im Thing, auf Treu’ und Glauben?“

„Ja, Sigenot! Und was ich versprach, das will ich halten. Ich gelob’ es mit Herrenwort in Deine freie Hand.“

Ihre Hände faßten sich und der Fischer sagte. „Dir glaub’ ich ohne Zeugen und Siegel. Deine Augen sind wie das lichte Wasser ... ich schau’ hinunter und seh’: Dein Wort ist Eisen. Wenn bei Dir die Treu’ nicht ist, dann ist sie bei keinem mehr. Ich bin der Deinig’ auf biegen und brechen. Wenn Thing gehalten ist, so komm’ ich.“

„Eines noch sage mir! Du hast für die Leute im Thal geredet wie ein rechter Mann; ich habe gehört, was sie hoffen und wünschen ... warum verschwiegst Du, was sie leiden und fürchten? Man hat mir Uebles berichtet von Wazemann und seinem Haus.“

Ein Schatten legte sich über Sigenots Gesicht, und leise, mit bebender Stimme, sagte er: „Ich bin zu einer Frag’ gekommen, zu keinem Gericht und will nicht Kläger sein. Auch steht mir das Reden nicht zu, eh’ nicht das Thing gesprochen hat.“

„Ich sehe, Du willst nicht Antwort geben, und ich frage nicht weiter. Doch ein Zweites noch! Für all die anderen hast Du Worte gefunden, nur nicht für Dich. Hast Du allein nichts zu begehren für Dein Haus und Recht?“

Der Fischer schüttelte den Kopf. „Davon ein andermal, Herr! Es muß nicht alles auf einmal sein.“

Eberwein legte die Hand auf Sigenots Arm. „Sei nicht verschlossen! Als Du kamst, sah ich Kummer in Deinen Augen und Gram auf Deinen Zügen. Ich bin Dir Freund geworden in dieser Stunde – willst Du mir Dein Herz nicht öffnen?“

Schwer atmend starrte Sigenot vor sich nieder und schwieg. Da klang am Waldsaum das Krachen eines stürzenden Baumes und ein Jauchzer, dann die hallende Stimme Schweikers. „Feierabend, Ihr guten Gottesknecht’!“

Mit verlorenem Blick schaute der Fischer auf ünd strich mit der Hand über die Stirne.

„Sprich, Sigenot! Zeige mir Deinen Kummer ... vielleicht, daß ich Dir helfen kann!“

„Helfen? Ich mein’, es hilft mir wohl der eigene Arm noch. Wenn der zu schwach ist, Herr, dann wirst auch Du mir nimmer helfen ... oder es müßten zu Dir schon morgen hundert stehen.“

„Zu mir steht einer nur! Doch dieser eine, Sigenot, ist stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen. Blick’ auf zu ihm!“ Und den Arm um die Schnlter des Fischers legend, deutete Eberwein auf das heilige Bild.

„Der?“ glitt es scheu und leise von Sigenots Lippen.

Mit schwebenden Klängen tönte die Glocke, welche Schweiker zog. Aus dem Wald und von den Bergen kam der Widerhall, als fände die rufende Stimme freudige Antwort auf allen Seiten. In sanften Klang verwandelt war alle Stille des Abends, die Lüfte tönten, die Felsen hallten, jeder Baum des Waldes schien zu klingen, und die Vögel, deren Lied schon geschwiegen, erhoben wieder ihren Schlag und ihr Gezwitscher. Eberwein beugte zum erstenmal das Knie vor dem Bilde, das seine eigenen Hände geschaffen, und betete mit lauter Stimme: „Wieder schwindet ein Tag, o Herr, den Du gegeben. Laß mich danken für alles Gute, das Deine Liebe mir bietet in jeder fließenden Stunde. Ob auch die Nacht sich senket über mich, ich fürchte nicht Böses, denn Du bist bei mir, und Deine Hände decken den Bedrängten, der redlichen Herzens ist. Gegen den Guten bist Du gut, gegen den Treuen bist Du treu, er findet Hilfe bei Dir in aller Not, und gleich einem Schilde umgiebt ihn Dein Wohlgefallen.“

An Eberweins Seite war Sigenot niedergesunken, in feuchtem Schimmer hingen seine Augen an dem stillen Bilde, und die zitternden Hände auf die Brust gedrückt stammelte er das einzige Gebet das seine Lippen kannten: „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ Als die Glocke schwieg, erhob er sich und ging wie ein Träumender davon. Bruder Wampo, der, neben dem Feuer kniend, sein Gebet gesprochen, bekreuzte sich, sprang hurtig auf und winkte dem Fischer mit beiden Armen. Doch Sigenot hatte kein Auge für ihn. „Fischer, he, Fischer! Guter Freund!“ rief der Bruder halblaut durch die gehöhlten Hände. Doch Sigenot hörte nicht. Bekümmert schüttelte Bruder Wampo das runde Köpflein, stemmte die Arme auf, und während er dem Fischer nachblickte, der im dunkelnden Wald verschwand, murmelte er trübselig vor sich hin: „Eine schieche Gegend! Und schieche Leut’! Auf den Fischer hätt’ ich noch ein Zutrauen gehabt ... jetzt will der auch nichts von uns wissen!“

Im Wald, durch dessen Gezweig nur noch ein spärlicher Schein des erlöschenden Tages schimmerte, folgle Sigenot dem gleichen Pfad, auf dem er gekommen war. Lautlos schritt er dahin, der weiche Moosgrund dämpfte seine Schritte. Da hörte er Eisen klirren, und hinter dichten Büschen klang eine halblaute Stimme. „Wir harren umsonst, er kommt nicht.“

„Hab’ ich’s nicht gleich gesagt?“ ließ eine andere Stimme sich vernehmen. „Er wird hinuntergeschlichen sein gegen die Achen und im Thal den Heimweg suchen.“

„Den wollen wir ihm verlegen.“

Sigenot hörte das Brechen von Aesten und dumpfen Hufschlag. Dann war wieder Stille im Wald; nur in der Ferne klang in Zwischenräumen der wimmernde Ruf eines Nachtvogels.

„Es rufen die Unholden,“ murmelte Sigenot, „und zählen meine Tag’.“ Tief atmend blickte er zurück nach der Lichtung, die er verlassen hatte. Dann zog er das Schwert, und den blanken Stahl in der Faust, folgte er seinem dunklen Wege. Immer rascher wurde sein Schritt; als er seinem Heimwesen sich näherte, sank schon die Nacht über See und Lände. Jähe Sorge befiel ihn, da er das Hagthor offen sah. „Wicho!“ stammelte er. Doch still und friedlich blickte ihm sein Haus entgegen, und freundlicher Herdschein leuchtete aus Thür und Fenstern. Da schüttelte er die Sorge von sich ab und stieg über den Hügel empor. Vor der Thüre löste er die Waffe von seiner Hüfte und legte sie achtsam auf die Hausbank, damit die Mutter das Eisen nicht möchte klirren hören. Das Haupt entblößend, trat er in die Halle. „Mutter, ich bring’ die gute Zeit!“

Ein schrilles Lachen war Mutter Mahtilts Antwort; aus dem Lehnstuhl streckte sie die Arme nach ihrem Sohn, und der flackernde Schein des Herdfeuers erleuchtete ihre bleichen, von Angst und Jammer verzerrten Züge.

„Mutter!“ schrie Sigenot erblassend, und seine verstörten Blicke irrten durch die Halle. „Wo ist die Schwester?“

Mutter Mahtilt deutete mit den Armen. Sigenot stand wie erstarrt. „Den ich suchen gegangen ... wo ist er denn?“ stöhnte er mit erstickten Worten. „Derweil ich gebetet hab’ und gekniet vor ihm – wo war denm seine Treu’, wo war denn seine Hilf’?“ Mit zuckenden Händen suchte er an seiner Hüfte die Waffe und fand sie nicht. „Mein Eisen!“ schrie er, „mein Eisen!“ Und er stürzte in die sinkende Nacht hinaus.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 12, S. 182–187

[182] Als in der Schwüle des Nachmittags der Schlaf über Mutter Mahtilts Lider gesunken war, hatte sich Edelrot der Botschaft erinnert, die ihr Henning von seiner Schwester Recka gebracht hatte. Wohl klang in ihrem Ohr die Mahnung, welche Sigenot schon mehr als einmal zu ihr gesprochen. „Thu’ keinen Schritt in Wazemanns Haus!“ Wohl erwachte in ihr, wenn sie der Begegnung mit Henning sich erinnerte, ein dunkles Gefühl der Angst und eine heimlich warnende Stimme. Aber wie hätte sie das Wort der Herrentochter mißachten dürfen und Recka erzürnen, die immer gut und freundlich zu ihr gewesen? Und hatte sie denn der Tochter Wazes nicht noch mehr zu danken als gute Worte und herzliche Blicke? War es nicht Reckas Hand gewesen, die in jener bösen Sturmnacht der Sinkenden die Rettung brachte, als das Wasser schon den letzten Hilfeschrei auf ihren Lippen erstickte? Und jetzt, da Recka nach ihr rief, sollte sie nicht folgen - und wär' es auch nur ein Ruf zu Kurzweil und heiterem Spiel?

„Ich muß zu ihr! Ich muß!“ Edelrot hauchte einen Kuß auf das Haar der schlummernden Mutter und schlüpfte lautlos aus der Halle. Der sonnige Wald umfing sie, und leichten Fußes betrat sie den Steg, der die rauschende Ache überspannte. Hellen Auges blickte sie auf das zitternde Spiel der goldenen Lichter, mit welchen die leuchtenden Strahlen, durch alle Lücken des Gezweiges niedergleitend, den Pfad überwoben; sie sah nur das Licht und nicht die Schatten ihres Weges; ihre kindlich reine Seele hatte keinen Blick für den Abgrund, welcher vor ihren Füßen gähnte.

Bald erreichte sie den breiten Reitweg, der in weitem Bogen über den Berghang zu Wazemanns Haus emporführte. Saftig wucherte das Gras am Saum des Pfades, und überall schimmerten aus dem grünen Rasen die bunten Sterne und Glocken der Waldblumen. Ein Liedlein summend, unter gemächlichem Bergwärtsschreiten, pflückte Edelrot eine Blüte um die andere und wand sie mit dünnem Halm für Recka zum Strauß. Schon war sie auf steiler werdendem Hang bis zur Wende des Pfades emporgestiegen, da klang aus dem Thal herauf der Hall einer rufenden Stimme. Edelrot blieb stehen und lauschte. Wohl meinte sie, die Stimme Wichos zu erkennen, aber die gellenden Rufe des Knechtes verschwammen mit dem Echo, das sie weckten, und klangen durch die Ferne gedämpft wie helles Jauchzen. „Was hat er denn,“ lächelte Rötli, „daß er gar so lustig thut und jauchzt wie ein Hüterbub’?“

Lauschend stand sie, immer wieder klang die hallende, mit dem Echo sich vermischende Stimme, und da schickte sie zur Antwort einen klingenden Jauchzer hinunter ins Thal. Die Rufe des Knechtes verstummten, und leise singend, Blüte um Blüte brechend, wanderte Rötli weiter. Bald tauchte zwischen den Bäumen die graue Burgmauer auf. Die Fallbrücke war niedergelassen, und ein Knecht saß unter dem offenen Thor. Als er das Mädchen kommen sah, eilte er in den Hof zurück; hier stand, von einem Stallburschen am Zügel gehalten, der gesattelte Falbe, und Herr Waze, welchem Henning den Bügel hielt, wollte sich just in den Sattel schwingen.

Henning sah das Zeichen, welches der Knecht ihm machte; er biß sich auf die Lippe, stampfte mit dem Fuß und fragte hastig: „Vater, bist Du heut’ schon in der Falkenkammer gewesen?“

„Nein. Warum?“

„Der Weißfalk, den Du im Frühjahr dem Haunsperger abgehandelt hast, will mir seit gestern nimmer gefallen.“

„Was soll ihm denn fehlen?“ fragte Herr Waze erschrocken, denn er hatte den kostbaren Beizvogel mit schwerem Gold bezahlt; drei Jahre hatten die Bauern zwiefach steuern müssen, bis der rote Haufen beisammen war. „Meinst Du, daß er gichtig wird?“

Henning zuckte die Schultern. „Schau’ ihn halt selber einmal an!“ Herr Waze löste den Fuß aus dem Bügel, und während er im Unterbau des Hauses verschwand, zischelte Henning dem Knechte zu: „Führ’ sie ins Haus und bleib’ bei ihr, bis der Alte draußen ist!“ Er folgte dem Vater.

Als der Knecht das Thor erreichte, kam Edelrot ihm schon entgegen. „Deine Herrin hat mich gerufen,“ sagte sie, den Knecht mit freundlichem Lächeln grüßend.

„Wohl wohl, ich weiß, komm nur herein, ich führ’ Dich!“

Schon setzte sie den Fuß auf die Brücke, da hörte sie hinter sich mit heller Stimme ihren Namen rufen; sie blickte sich um und machte erstaunte Augen, als sie Recka auf ihrem Rappen den Reitweg einhersprengen sah.

„Mach’ weiter, Dirn’, komm herein!“ brummte der Knecht und faßte ihren Arm. Aber sie riß sich los. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte der Wazemannstochter entgegen; als diese mit festem Zügelruck das Pferd verhielt, reichte ihr Edelrot die Blumen. „Da bin ich – und schau’, das hab’ ich Dir gebracht!“

Die Blumen schienen bei Recka nicht sonderlichen Wert zu finden; mit lässiger Hand steckte sie das Sträußlein hinter den Gürtel; unwilligen Blickes ruhten ihre Augen auf Edelrot, und mit rauher Stimme fragte sie: „Was suchst Du im Haus meiner Brüder?“

„Aber wie fragst mich denn?“ stotterte Rötli. „Ich komm’ doch, weil Du mich gerufen hast.“

„Ich? Dich gerufen?“

„Freilich! So besinn’ Dich doch! Hast mir ja Botschaft geschickt!“

Reckas Brauen furchten sich. „Botschaft? Durch wen?“

„Durch Deinen Bruder Henning.“

Eine dunkle Röte floß über Reckas Gesicht, und hastig glitt sie aus dem Sattel. „Ja, Rötli, ich besinne mich!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Und ich danke Dir, daß Du gekommen bist. Gieb mir Deine Hand, ich will Dich führen!“

„Recka!“ stammelte das Mädchen. „Was ist Dir denn? Deine Hand ist heiß und zittert.“

„Der Zügel hat sie wild gemacht! Frag’ nicht weiter! Wär’ ich minder scharf geritten. es wäre Dir leid gewesen.“ Und das Mädchen an der einen Hand, an der anderen den Rappen führend, überschritt sie die Fallbrücke.

Scheu und verlegen drückte sich der Knecht an die Mauer. Da sah er auf dem Reitweg einen Menschen dem Thor entgegen rennen. mit so wilder Hast, als wäre der Tod hinter ihm. Mit einem leisen Fluch packte der Knecht die Hebel der Kettenwinde und zog die Brücke auf. Kaum war das Thor geschlossen, da erreichte Wicho den gähnenden Graben, keuchend vor Erschöpfung, mit fahlem Gesicht und ausgequollenen Augen. Einen röchelnden Laut noch stieß er aus und streckte die Arme, dann brachen ihm die Knie, und nach Atem ringend, wälzte er sich auf der Erde.

Als hinter Recka und Edelrot das Thor sich schloß, trat Herr Waze mit Henning gerade aus der Falkenkammer. Beim Anblick der Schwester blitzten Hennings Augen zornig auf, und ein starres Lächeln verzerrte seine Lippen.

„Ich weiß nicht, was Du an dem Vogel findest,“ brummte Herr Waze, welcher dem Burgthor den Rücken kehrte, „er hat einen frischen Blick und kröpft, als hätt’ er ein Jahr lang gehungert.“ Er hörte den Hufschlag des Rappen, drehte das Gesicht und riß die Augen auf. „Du. Recka? Was führt Dich denn heut’ schon heim? Und was soll die Dirn’ an Deiner Hand?“

Recka warf dem Knecht die Zügel des Pferdes zu, und ohne den Vater zu grüßen, schritt sie an ihm vorüber und blieb vor ihrem Bruder stehen, welcher, die Augen einkneifend und den Schnurrbart zwirbelnd, langsam zurücktrat.

„Henning!“ Reckas Stimme klang hart, und drohend funkelten ihre schönen Augen. „Ich danke Dir, daß Du meine Botschaft so treulich ausgerichtet! Sieh her, das Kind ist gekommen ... ich halt’ es an meiner Hand, ich führ’ es in meine Kammer! Und Dir sag’ ich, was eingeht unter Dach, ist heilig!“ Tief atmend schlang sie den Arm um Edelrots Schulter und flüsterte: „Komm, Rötli, komm zu mir!“ Mit scheuen Augen blickte Edelrot zu Recka empor und wieder im Hof umher, auf Herrn Waze und auf Henning; sie wußte kaum, daß Recka sie zur Treppe führte und hinauf zur Halle; alles, was mit ihr geschah, war ihr wie ein beängstigender unbegreiflicher Traum.

Mit verblüfftem Gesicht sah Herr Waze den beiden Mädchen nach; dann wandte er langsam die Augen auf Henning. „He, Du! Mir scheint jetzt weiß ich, weshalb ich hätt’ reiten sollen!“ Henning zuckte die Achseln und wollte gehen. „Bleib’, sag’ ich!“ schrie Herr Waze, und seine Stirn wurde dunkelrot vor Aerger. „Du bist mir ein Feiner, das muß ich sagen! Du bist ja einer, vor dem mir selber schon bald grausen könnt’!“

[183] „Ich bin halt, wie Du mich gezogen hast!“

„So redest Du mit mir?“ Herr Waze trat mit geballter Faust vor seinen Buben hin, welcher lächelnd stand und keinen Schritt zurückwich. „Ich sag’ Dir’s noch einmal: mir graust vor Dir. Am Morgen den Bruder und am Abend die Schwester ... Das ist ein lützel viel für einen Tag!“

„Ich will halt nicht zu kurz kommen!“ erwiderte Henning mit rohem Lachen. „Gelt, das hat Dir getaugt, daß ich Dir den andern vom Hals geschafft hab’. Der Bruder ist für Dich gewesen ... jetzt laß mir die Schwester!“

„Außerhalb der Mauer thu’, was Du willst!“ murrte Herr Waze. „Aber das Haus sollst Du mir rein halten! Was eingeht unter Dach, ist heilig.“

„Hast recht! Die Fischerdirn’ soll mir so heilig sein, wie Dir in Deiner jungen Zeit die Salmued gewesen ist. Ich mein’ doch, die wär’ bei Dir auch eingegangen unter Dach ... wie das Täubl in den Marderkobel!“ Henning lachte. „Und ich bin doch ein Lediger noch. Du aber hast Weib und Kind gehabt! Gegen Dich bin ja ich ein Heiliger!“

Herr Waze war bleich geworden bis an die Lippen. „Du, Du,“ keuchte er und faßte den Sohn mit beiden Fäusten an der Brust. „Wer hat Dir das gesagt? Wer? Wer?“

„Wahrscheinlich eine, die’s weiß!“ brummte Henning, schüttelte den Vater von sich ab und trat in die Falkenkammer.

Wie ein angeschossener Eber stürmte Herr Waze über die Freitreppe hinauf und in die Stube. Eine der Thüren riß er auf und brüllte: „Ulla! Ulla!“ Die greise Magd erschien, blaß und zitternd; sie wagte kaum, näherzutreten. „Her zu mir. Du Sudelhex’, Du alte!“ schrie Herr Waze und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Hall an den Wänden dröhnte. „Gelt, Zähn’ hast Du keine mehr im Maul, aber beißen möchtest noch allweil? Beißen?“

Die Magd rührte die bleichen Lippen, aber sie brachte kein Wort hervor. Herr Waze schüttelte ihren Arm. „Red’, sag’ ich – wie kommt es, daß Henning von der Salmued weiß?“

Es währte lang. bis Ulla die Sprache fand. „Wann es war, weiß ich nimmer,“ stotterte sie, „da bin ich mit dem Zeugknecht hinter der Mauer gesessen, und wir haben so geredet von den alten Zeiten ... und ... und von Frau Friderun, wie schön und gut sie gewesen ist, und von der Schwermut, die sie getragen hat durch lange Jahr’ ...“

„Und von der Ursach’, gelt, von der Ursach’?“ schrie Herr Waze in schäumendem Zorn.

„Wie man halt redet, Herre!“ stöhnte die Magd. „Und da ist Euer Junker Henning dazugekommen – er muß ein paar Wörtlein aufgefangen haben, denn er hat mich gepackt und hat geschrieen: ‚Da hör’ ich eine feine Mär’, heraus damit, die muß ich wissen!‘“

„Und da hast Du ihm alles gesagt! Dem Buben! Von seinem Vater!“

„Er hat mich ja gezwungen, daß ich red’, hat mich geschlagen und am Haar gerissen.“

„Du Schandmaul, Du!“ schrie Herr Waze und schlug der greisen Magd die Faust ins Gesicht. „Ein andermal schweig’ Und hinaus mit Dir, hinaus!“ Ulla humpelte zur Thür; sie schien noch froh zu sein, daß sie so glimpflich davongekommen war.

Herr Waze ging eine Weile mit grimmigen Schritten in der Stube auf und nieder; dann warf er sich beim Fenster in einen Stuhl. „Alles, alles kommt über nach, das Alte und das Neue! Feind’ im Haus und Feind’ da draußen!“ Er stützte mit der Faust das Kinn und starrte finsteren Blickes in die Ferne.

Inzwischen saßen die beiden Mädchen in Reckas Kammer. Das war ein kleiner traulicher Raum, welcher durch die unverwahrten Fenster eines Erkers das goldene Licht der sinkenden Sonne empfing. Nur ein hoher Schrein, ein von zwei hölzernen Säulchen getragener Zinnspiegel und einzelne, hier und dort umherliegende Gewandstücke verrieten, daß dieser Raum die Wohnstätte eines Weibes war. Sonst aber sah es wohl aus wie in einer Junkerstube; Reckas Jagdgeräte, Bogen, Köcher, Wildfänger und kurze Speere, Falknertaschen, Federspiele und Falkenhauben. Zaumzeug und Vogelnetze lagen in allen Ecken und hingen an den Holzmauern, welche bis zur Decke von Geweihen starrten. Und dem Lager eines Mannes glich das niedere plumpgezimmerte Bett, über welches eine schwarze Bärenhaut gebreitet war; statt feiner Leinwand mit bunten Säumen und Stickereien diente zur Stütze des Hauptes eine mit Rehfell überzogene Rolle, zum Schutz wider die Kälte eine Lodenkotze und eine in grobes Hanftuch genähte Hirschdecke mit grauem Winterhaar. Im Erker, von welchem aus der Blick über das weite Waldthal hinausschweifte, saßen Recka und Edelrot an schmalem Tischlein einander gegenüber. Neugierig hatte Rötli das hölzerne, mit Eisen beschlagene Kästlein geöffnet, welches vor ihr auf dem Tische stand. Ein leiser Ruf des Staunens glitt von ihren Lippen, als sie es gefüllt sah mit Ringen, silbernen Kettlein und Spangen, mit funkelnden Gürtelschließen und goldschimmernden Mantelhaken. Es war Geschmeide von roher Arbeit und geringem Wert – aber die Sonne machte das matte Gold und Silber leuchten und weckte farbigen Glanz in den ungeschliffenen Steinen, so daß Rötli den Schatz einer Königin vor sich ausgebreitet wähnte. Freundlich lächelnd, wie eine Mutter auf ihr spielendes Kind, blickte Recka auf das Mädchen, das sich vor Schauen nicht zu fassen wußte und all ihr Staunen in sprudelndem Geplauder ergoß.

„Schau’ nur, schau’, wie das gleißt und glitzert! Alles Gold und Silber, und ein blitziger Farbstein um den andern! Du! Das muß ja soviel wert sein wie der ganze Gadem mit Wald und Häusern mit Vieh’ und Leut’! Nein, nein, was das für schöne Sachen sind! Warum tragst denn nie ’was von Deinem Geschmeid’? Warum thust Dich denn gar nie schmücken damit?“

„Schmücken? Für wen? Für die Sauen und Hirschen in meinem Wald?“ lachte Recka. „Wenn ich ihnen den Fänger zwischen die Rippen stoß’, meinst Du, das Verenden möcht’ ihnen besser schmecken, wenn sie einen Ring blitzen sehen an meiner Hand oder eine Kett’ schimmern an meinem Hals?“

„Aber geh!“ schmollte Rötli. „Es giebt doch auch noch Leut’, die Dich gern anschauen. Und wenn Du diemal was umlegen möchtest von Deinem Geschmuck, schau’, das müßt’ Dich ja noch schöner machen!“

„Noch schöner?“ klang die lachende Antwort. „Ich, und schön? Wer sagt Dir, daß ich schön bin?“

Mit großen Augen blickte Rötli auf. „Muß mir das einer erst noch sagen? Ich darf Dich doch nur anschauen!“ Sie legte die Hand auf Reckas sonnverbrannten Arm und hing an ihr mit glänzendem Blick. „So schön wie Du ist keine mehr! Du bist die Allerschönst’ im Gadem! Glaub’s nur ... mein Bruder Sigenot hat’s auch gesagt.“

Reckas Züge wurden finster, und mit rauher Stimme sagte sie: „Red’ mir von Deinem Bruder nicht!“

„Ja warum denn?“ stammelte Rötli. „Laß Dir doch sagen ... schau’, das ist so gar lang nicht her ... da bist Du vorbeigeritten bei unserem Hag, und ich und Sigenot, wir haben Dir nachgeschaut. ‚Gelt,‘ hab’ ich gesagt, ‚gelt, wie sie droben sitzt auf ihrem Roß, recht wie ein Herrenkind so stolz und schön!‘ Da hat er vor sich hingenickt und hat gesagt, mit einer so linden Stimm’, wie er nur zur Mutter redet: ‚Stolz wie eine Eich’ da droben auf der Wand, über die kein Fuß hinaufsteigt, und schön wie die rote Sonn’ in der Höh’, zu der keine Hand hinauflangt.‘ So hat er gesagt und ... aber was hast denn?“ Recka war aufgesprungen, mit zornigem Lachen. „Was hast denn?“ fragte Edelrot noch einmal und streckte die Hand aus, als möchte sie die Ungestüme besänftigen. „Ich hab’ ja doch kein Wörtl gesagt, das Dich erzürnen könnt’.“

„Schweig’! Ich will nicht hören von ihm!“ Und mit der Faust stieß Recka nach dem Kästlein, daß die Ringe, Spangen und Ketten durcheinander klirrten.

„Ja was hat Dir mein Bruder denn gethan?“ stotterte Rötli erschrocken. „Denk’ nur selber, Recka ... ich mein’ doch, es war keine ungute Hand, die er in der Sturmnacht auf dem Weitsee nach Dir gestreckt hat, zuerst nach Dir!“

„Mahne mich nicht an jene Nacht!“ stieß Recka mit bleichen Lippen hervor und verließ den Erker; doch schon nach wenigen Schritten kehrte sie zurück, blieb vor Edelrot stehen und sagte mit bebender Stimme: „Daß Du nicht meinen sollst, ich wär’ zu stolz gewesen, um Deinem Bruder den Dank zu bieten, den er um mich verdiente in jener Nacht, so sag’ ich Dir: diese Hand hab’ ich ihm geboten mit freundlichem Dankwort! Und er? Wie von einer Bauernmagd hat er sich gewendet von mir!“

„Das hätt’ mein Bruder gethan?“

„Ja, ja! Dein Bruder! So hat er an mir gethan! Der Knecht an seines Herrn Tochter!“

Edelrot erblaßte; doch ruhig klang ihre Stimme, als sie [186] sagte: „Dein Zorn redet harte Wort’. Ich bin Dir gut von Herzen, aber meinen Bruder laß ich nicht schmähen. Mein Bruder ist nie und nimmer ein Knecht, er sitzt auf einem Freigut als ein freier Mann und hat keinen Herrn über sich. Das weißt Du selber so gut wie ich. Was redest Du so böse Wort’ und thust mir weh’?“

Zornig wollte Recka erwidern; aber sie sah eine schimmernde Zähre über Rötlis Wange rollen, und da blieben ihre Lippen stumm. Sie wandte sich ab, ihre Blicke fielen auf einen Wildfänger an der Wand, und als möchte sie prüfen, ob das Eisen nicht roste, zog sie die Klinge halb aus der Scheide und stieß sie wieder zurück. Im Erker war der letzte Sonnenschein erloschen, und die dunklen Schatten des Abends schlichen in die Stube. Rötli hatte sich erhoben, und während sie unbewußt mit der Hand in dem Geschmeide kramte, sprach sie leise, mit zitterndem Stimmlein vor sich hin: „Wenn mein Bruder so an Dir gethan hat, wie Du sagst ... so thu’ ich Dich bitten, Recka, sei ihm nicht harb darum! Er weiß wohl selber nicht, daß er Dir ein Wort zu Leid geredet; er ist nimmer, wie er gewesen. Es muß ’was über ihn gekommen sein, das hat ihn gewandelt wie der Winter den grünen Baum. Sein Aug’ hat nimmer Sonn’ und sein Gesicht hat nimmer Farb’. Ich thu’ mich sorgen um ihn, und die Mutter schaut ihn an mit Angst. Und denk’ nur Recka ... wie er vor zwei Tagen den Jahrbaum hätt’ kerben sollen, da hat er nicht das Messer genommen, sondern die Axt, hat hineingehauen in den Baum bis tief ins Mark und hat gesagt: ‚Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich's auch.‘ Es muß ihm ’was ins Herz gegangen sein wie ein Beilhieb ... und ich sinn’ und sinn’, wer ihm ’was gethan haben könnt’, und komm’ nicht drauf. Er hat doch keinen Feind im Gadem, er ist doch so gut und treu – einen Besseren giebt’s ja nimmer!“ Während Thräne um Thräne über ihre Wangen fiel, sah sie mit verlorenem Blick auf das absonderliche Geschmeide nieder, das ihr in die Hand geraten. Es war die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, plump geschnitten und gelb vor Alter, mit halbverwischten Runenzeichen auf der Innenfläche.

Recka hatte, so lange Rötli gesprochen, mit abgewendetem Gesicht dagestanden, Blässe auf den Wangen, die Augen weit offen wie in starrem Lauschen. Nun, als es stille war in der Kammer, atmete sie tief und drückte den nackten Arm über die Augen. Und langsam, als zöge sie eine Gewalt, der sie widerstrebte, ging sie auf Edelrot zu und streckte die Hände aus. Da öffnete sich eine Thür und die alte Ulla stand auf der Schwelle. Man sah durch die offene Thüre hinaus in einen mit Jagdnetzen und Federlappen angefüllten Raum, von welchem eine schmale Treppe in den Unterstock des Hauses führte.

„Ulla, Du? Was willst Du?“ fragte Recka; als sie auf die Magd zuging, gewahrte sie, daß Ullas Augen rot waren vom Weinen. „Warum hast Du geweint?“

„Das Leben wird mir sauer in Deines Vaters Haus!“ brummte die Alte. „Der eine schlagt mich, daß ich red’, der ander’ schlagt mich, daß ich schweig’. Da ist schwer Auskommen Reckli, schwer!“

Reckas Brauen furchten sich. „Klag’ mir, wer Dich gekränkt hat, und ich will Dir Sühn’ schaffen!“

Ulla schüttelte den weißen Kopf. „Laß gut sein! Du machst es nicht besser.'^.

Freundlich strich Recka mit der Hand über den weißen Scheitel der Magd. „Warum bist Du gekommen?“

Ulla warf einen scheuen Blick auf Edelrot und sagte flüsternd: „Draußen vor dem Thor steht Wicho, der Fischerknecht ... Felsbrocken wirft er wider das Thor und thut wie ein Unsinniger und schreit nach seines Herrn Schwester.“

„Geh’ hinunter, Ulla!“ erwiderte Recka leise. „Sag’ ihm: seines Herrn Schwester weilet bei mir und steht in meinem Schutz!“

Ulla nickte und wollte gehen. Da gewahrte sie das seltsame Geschmeide in Rötlis Hand, stürzte auf das Mädchen zu und entriß ihm das beinerne Reifstück. „Dirn, wie kommt das unselig’ Bein in Deine Hand?“ Edelrot blickte erschrocken auf und wußte keine Antwort. Recka war nähergetreten und fragte betroffen: „Ulla, was ist Dir? Weshalb erschreckt Dich dieser wertlose Tand?“ Sie nahm das Bein aus Ullas Händen.

„Laß Deine Hand davon!“ stammelte die Greisin. „Der halbe Reif ist ein gesprungen Glück! Unheil haftet an dem Bein! Wirf’s hinunter, Recka, wirf’s hinunter, wo der See am tiefsten ist!“

Recka schüttelte den Kopf. „Es kommt von meiner Mutter Friderun.“

„So verwahr’ es hinter Holz und Eisen. Wenn es Deinem Vater vor die Augen kommt, ist Unwetter im Haus!“

Auf Reckas Lippen schien eine Frage zu liegen, aber sie blickte auf Rötli und schob die Magd zu. Thüre. „Geh’ zum Thor,“ flüsterte sie ihr zu, „und thü’, wie ich Dir gesagt hab’.“

Zögernd verließ Ulla die Stube; ihr letzter scheuer Blick war noch auf das gelbe Bein in Reckas Hand gerichtet. Langsam kehrte Recka zum Erker zurück, ihre ernsten Augen hafteten an dem seltsamen Geschmeid’, das sie zwischen den Fingern drehte, als sollt’ es ihr Antwort geben auf die Frage, welche sie vor Rötlis Ohr vermieden hatte.

„Recka! Leg’ das Unding aus der Hand!“ mahnte Edelrot ängstlich. „Siehst nicht die Hel-Zeichen in dem Bein? Leg’ es weg, es ist ein Fluchzahn aus eines wütigen Wolfs Gebiß!“

„Ein Wolfzahn? Nein, Rötli, es ist die Hälfte eines Armrings, wie ihn vor Zeiten die Frauen im Gadem trugen. Aber Weh und Unheil mag wohl haften an diesem Bein. Da ich noch ein Kind war, sah ich es oft in meiner Mutter Hand ... und dann waren ihre Züge bleich und kummervoll, ihre schönen Augen naß von Zähren.“ Reckas Stimme schwankte, ein Zittern befiel ihren Leib, aus gestreckter Hand ließ sie den zersprungenen Reif auf das Geschmeide fallen, und wie ein Schrei aus tiefer Qual klang es von ihren zuckenden Lippen: „O meine Mutter Friderun! Wo bist Du, Mutter? Wo hast Du mich gelassen?“ Die Hände vor das Antlitz schlagend, sank sie nieder auf die Erkerstufe und brach in dumpfes Schluchzen aus.

Erschrocken, unter Thränen stammelnd, warf sich Edelrot vor Recka auf die Knie, zog ihr die Hände nieder und suchte sie zu trösten mit zärtlichen Worten. Da versiegten Reckas Zähren und mit einem Laut, wie er aus der Brust des Dürstenden quillt, der sich nach labendem Wasser sehnt, schlang sie die Arme um Edelrot und überströmte ihr die Augen und den holden Mund mit heißen Küssen, als könnte das brennende Verlangen nach Liebe, einmal erwacht in ihrem Herzen, sich nimmer stillen. Lippe an Lippe, mit verschlungenen Armen, saßen die beiden, während draußen der Abend dämmerte mit grauem Zwielicht.

Da klang im Unterbau des Hauses ein klagender Vogelschrei. Dicht unter Reckas Stube lag die Falkenkammer, ein niederes Mauergelaß mit vergitterten Fenstern. An der kahlen Wand, mit einem Drahtgeflecht verwahrt, brannte eine Talglampe mit rußender Flamme. Rings an der Mauer hin zog sich ein hölzernes Gestell, auf dessen oberster Stange, in speerlangen Zwischenräumen voneinander, fünf Sperber und vier Wanderfalken saßen, an den „Händen“ mit der aus Hirschleder geschnittenen Kurzfessel gebunden. Herrn Wazes Weißfalk saß getrennt von den übrigen Beizvögeln. Von der Decke hingen an Schnüren zwei große Reifen nieder, in jedem saß ein Habicht mit verhaubtem Kopf und gefesselten Schwingen. Ein Bub’, der auf einem Schemel hockte, erhielt die Reifen stetig in schwingender Bewegung. Neben ihm stand Henning und ließ sich berichten, wie weit die Zähmung der beiden, vor kurzer Zeit erst eingefangenen Vögel vorgeschritten wäre. Dann ging er an der Stange entlang und blieb vor einem Blaufalk stehen. Das war von allen Falken der schönste, ein stolzer Vogel von seidenem Gefieder und scharfem Blick; „Edilo“ war es, der Liebling Reckas.

Henning wollte den Vogel greifen; der Falk aber sträubte das Gefieder und schlug mit der scharfen Hand. Ueber Hennings Lippen glitt ein hämisches Lächeln. „Bist Du auch wider mich wie dieselbig’, der Du gehörst?“ Seine Augen hoben sich zur Decke – dort oben lag Reckas Kammer. „Wart’ nur, Du! Heut’ hast Du mir eine Freud’ verdorben ... das zahl’ ich Dir heim!“ Er griff in den hölzernen Napf, der das Trinkwasser des Falken enthielt, und schrie den Wärter zornig an: „Du Schuft! Die Vögel haben laues Wasser!“

Der Bub’ sprang erschrocken auf. „Nein, Herr!. Grad’ erst, vor einer Weil’, hab’ ich frisches Wasser aufgegossen.“

„Das lügst Du! Hinaus zum Brunnen und frisches Wasser her! Oder ich mach’ Dir Füß’!“

Der Bub’ antwortete nicht mehr, sondern nahm die Kanne auf und verließ die Kammer. Rasch trat Henning zum Tisch und faßte eine der langen dünnen Nadeln, welche, wenn ein Falk auf der Beizjagd oder in der Kammer eine Schwungfeder gebrochen [187] hatte, in den geknickten Kiel eingeschoben wurden, um der verletzten Feder wieder Halt zu geben. Langsam ging er auf Reckas Liebling zu. drückte flink, ehe der Falk sich wehren konnte, dem Vogel die eine Hand auf den Rücken und stieß ihm mit der anderen die Nadel in das Eingeweide. „Da hast Du Deinen Teil!“ lachte er und ließ den Falken ledig. Dieser schüttelte das Gefieder, zog den Kopf zwischen die Schultern und rückte unruhig auf der Stange hin und her. Henning warf die Nadel auf den Tisch, und da er den Buben kommen hörte, trat er zu den Reifen und schaukelte die Habichte.

Als der Bub’ das frische Wasser in die Holznäpfe goß und zu Edilo kam, rückte der Vogel scheu auf die Seite; doch die Bewegung schien ihn zu schmerzen, er zog den Rücken auf und stieß einen klagenden Schrei aus. Der Schrei klang hinauf in Reckas Kammer, in welche durch die Fenster nur noch ein trüber Schein des entschlummernden Tages schimmerte.

„Hörst Du ihn?“ flüsterte Recka, die Arme von Rötlis Nacken lösend. „Das ist mein Edilo, mein Liebgesell. Er sehnet sich nach mir und klaget, daß ich ihn seit Tagen nicht geschwungen auf meiner Hand, daß er sitzen muß zwischen übler Mauer, derweil ihn hinaus verlangt in Luft und Sonne, zu hohem Flug.“ Ihre Stimme bebte, und wieder umschlangen ihre Arme das Mädchen. „Ach, Rötli! Wie meinem Edilo, so ist auch einem anderen edlen Falk zu Mut. Er möcht’ hinaus in lichte Freiheit und den Flug hochauf nehmen ins Gewölk, der warmen Sonne zu ... und er muß doch sitzen zwischen üblen Mauern, in einer Rabenkammer, darin die unholde Brut um Aas sich rauft!“ Mit einem Laut des Ekels sprang sie auf, schüttelte das Haar in den Nacken und streckte die Arme. „Hinaus! Hinaus!“

„Recka?“ stammelte Edelrot und erhob sich.

Die Wazemannstochter atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. „Schau’, wie dunkel es worden ist! Komm, Rötli, ich führ’ Dich heim!“ Sie nahm von dem Geschmeide, welches in der Dämmerung nur matt noch funkelte, einen Goldring und faßte Rötlis Hand. So traten sie hinaus in die Herrenstube, in welcher auf dem Lichtreif schon die Kerzen brannten. Herr Waze saß noch immer am Fenster, die alte Ulla deckte den Tisch und Henning trat aus der Halle herein in die Stube.

„Rötli,“ sagte Recka mit lauter Stimme und streifte dem überraschten Mädchen den Ring an den Goldfinger der linken Hand, „wir haben Kuß und Lieb’ getauscht, und ich will Dich halten und umschließen mit meiner Treu’ wie mein Reif Deinen Finger!“

Die Thränen traten in Edelrots Augen. Sie wollte sprechen, doch Recka schloß ihr mit der Hand die Lippen und sagte lächelnd: „Red’ nicht! Komm, ich führ’ Dich heim – es ist spät geworden!“

An Henning vorüber führte Recka das Mädchen in die Halle hinaus. Auf der Freitreppe kam Eilbert ihnen entgegen; er war mit seinem Bruder Hartwig, der im Hof mit den Knechten schrie, von erfolgloser Jagd zurückgekehrt. Als Eilbert das Mädchen an seiner Schwester Seite erkannte, flammten seine Augen; doch eh’ er noch Sprache fand, war Recka mit Edelrot an ihm vorübergeschritten. Da hörte er aus der Stube die Stimme seines Vaters und Hennings zornige Gegenrede. Jedes Wort. welches da drinnen gesprochen wurde, konnte er verstehen. Nach einer Weile trat Henning auf die Schwelle. „Und ob sie eingegangen ist unter Dach, ob meine Schwester Lieb’ und Treu’ getauscht hat mit ihr oder nicht,“ rief er in die Stube zurück, „die Dirn’ ist mein! Das sollst mir Du nicht wehren, Du nicht! Und die Schwester auch nicht!“

„Aber ich!“ klang Eilberts Stimme hinter ihm.

Henning wandte sich um, maß mit funkelnden Augen die von der Dämmerung umflossene Gestalt seines Bruders und stieg lachend die Treppe hinunter. Als er den Hof erreichte, murmelte er: „Es ist Zeit, daß ich greif’ nach meinem Gut.“ Er rief den Knecht, der ihm zu Mittag als Späher gedient hatte, und trat mit ihm in den finsteren Schatten der Mauer. „Ich mein’, ich kann mich verlassen auf Dich.“ Der Knecht nickte.

„Leg’ scharfe Wehr um und halt’ Dich fertig, wenn meine Schwester wieder heimkehrt!“

„Wohin geht der Nachtweg?“

„Zu einem Nest, aus dem ich mir einen schmucken Vogel heben will.“

Der Knecht verstand. „Dä mein’ ich aber schier, daß wir zwei zu wenig sind. Der Fischer hat Fäust’ wie Hämmer.“

„Der Fischer?“ lachte Henning, „der Fischer? Um den sorg’ Dich nicht! Der hat heut’ nacht ein stilles Geschäft im Weitsee draußen. Schlag’ nur Du den Wicho nieder ... den Vogel hol’ ich mir schon selber aus dem Nest.“

Während die beiden leise miteinander sprachen, ging am Thor die Fallbrücke nieder und Recka trat mit Edelrot hinaus in die sinkende Nacht. Sie hatten die Brücke noch nicht verlassen, da kam ihnen Wicho schon entgegengestürzt und streckte die Arme aus.

„Wicho, Du?“ lachte Edelrot. „Ja wer hat Dich denn geschickt?“

Recka schob den Stammelnden mit dem Arm beiseite und sagte: „Hörst Du nicht, wie sie lacht? War Dir Wazes Tochter nicht Schutz genug für Deine Herrin?“

Schweigend trat Wicho zurück und folgte den beiden Mädchen, welche Arm in Arm, unter halblautem Geplauder auf dem dunklen Reitweg thalwärts wanderten. Als sie die rauschende Ache erreichten, drückte Recka einen Kuß auf Rötlis Mund.

„Ich bitt’ Dich, nimm den Wicho mit auf den Heimweg,“ sagte Edelrot, „es ist dunkle Nacht geworden.“

„Ich finde meinen Weg und bedarf des Knechtes nicht. Geh’ heim, meine liebe Gesellin, und eines merk’ Dir: betritt nie wieder meines Vaters Haus, es wäre denn, daß ich selbst Dich hole und führe an meiner Hand!“ Zärtlich streifte Recka mit beiden Händen über Rötlis Scheitel, küßte sie auf die Stirn und schritt, zwischen den finsteren Bäumen verschwindend, dem Seeufer und dem steilen Felsenpfad der Falkenwand entgegen.

Edelrot blickte ihr nach. „Wicho,“ fragte sie den Knecht, „ich hab’ es doch heut’ so lieb und gut bei ihr gehabt, weshalb denn warnet sie mich jetzt?“

„Sie wird wohl wissen, warum,“ murrte Wicho und faßte die Hand des Mädchens. „Komm, laß uns heimgehen!“

Sie überschritten die Brücke und gingen den Hag entlang; als sie die Hofreut betraten, gab Wicho die Hand des Mädchens frei und sperrte das Thor. Leichten Fußes eilte Rötli über den Hügel hinauf; auf halbem Weg aber hielt sie inne, sie hörte aus der Halle, deren offene Thür im roten Schein des Herdfeuers leuchtete, jene Worte Sigenots: „Derweil ich gebetet hab’ und gekniet vor ihm – wo war denn seine Treu’, wo war denn seine Hilf’?“ Dann hörte sie ihn schreien: „Mein Eisen! Mein Eisen!“ – und schwarz erschien seine Gestalt in der roten Thür.

„Sigenot?“ stammelte sie.

Beim Klang ihrer Stimme stand er einen Augenblick wie erstarrt; dann stürzte er auf die Schwester zu, faßte ihre Hände und zog sie in den hellen Schein der Thüre. „Deine Augen haben reines Licht!“ Er atmete auf, als fiele ein Stein von seiner Brust. „Rötli! Rötli!“ Und seine Arme umschlangen sie. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf, in der bangen Ahnung einer Gefahr, scheu erschreckend wie ein lachendes Kind, welches jählings über einen Abgrund niederblickt in tiefes finsteres Wasser. Nun gab Sigenot die Schwester frei. „Geh’ zur Mutter, Rötli, sie sorgt sich um Dich!“

Schweigend betrat Edelrot die Halle und Sigenot hörte den schluchzenden Freudenlaut, mit welchem Mutter Mahtilt ihr Kind empfing. Wicho war über den Hügel emporgestiegen. „Weißt Du, wo sie gewesen ist? In Wazemanns Haus! Und bei aller Treu’, die ich Dir in die Hand geschworen, hätt’ ich Deiner Schwester nimmer geholfen, wenn nicht ...“

„Wenn nicht einer geholfen hätt’,“ fiel Sigenot mit bebender Stimme ein, „einer, dessen Arm noch stärker ist als tausend Männer in Wehr und Eisen!“

„Einer?“ fragte Wicho und schüttelte den Kopf. „Nein, Herr, es war eine Weiberhand, die so stark gewesen. Besser als ich hat Wazemanns Tochter Deine Schwester gehütet und hat sie heimgeleitet durch die Nacht bis herunter zum Achensteg.“

Mit jähem Griff hatte Sigenot den Arm des Knechtes gefaßt und starrte ihm in das von der Thürhelle erleuchtete Gesicht; dann wandte er sich schweigend ab und ließ sich niedersinken auf die Hausbank. In der Halle klang Rötlis Stimme. Sie erzählte der Mutter von jener Botschaft, die ihr Henning gebracht, und von allem, was sie erlebt in Wazemanns Haus. Sigenot saß und lauschte mit verhaltenem Atem. Seine Blicke waren hinausgerichtet in die Nacht und hingen an der finsteren Höhe der Falkenwand. Da blitzte über den steilen Felsen, im schwarzen Mauerstreif, ein Lichtschein auf. Ueber dem Felsensteig hatte sich das Pförtlein geöffnet, und ein Knecht hielt die lodernde Kienfackel über das Gewänd hinaus, um Reckas Weg zu erhellen.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 13, S. 201–207
[201]
16.

Mutter Mahtilt und Edelrot waren zur Ruhe gegangen. Sigenot saß noch hinter dem Steintisch und Wicho stand vor ihm. „Herr, schaffst Du noch ’was?“

Sigenot erhob sich. „Lösch’ das Feuer auf dem Herd!“ Während Wicho die Flammen erstickte und den letzten Funken mit Asche verschüttete, nahm Sigenot die Eisenhaube und den Schild seines Vaters von der Wand und verließ die Halle. Als der Knecht nach einer Weile folgte, sah er seinen Herrn im Dunkel auf der Hausbank sitzen, den blanken mattschimmernden Stahl über den Schoß gelegt.

„Wicho! Ich muß Dich um Deine Nachtruh’ bringen.“

„Macht nichts! Ich hab’ die letzte Nacht geschlafen bis in den sonnscheinigen Tag.“

„Sind Fisch’ im Kalter?“

Verwundert hörte Wicho diese Frage. „Wohl wohl, Ferchen und Hecht’.“

„So nimm das größte Lägel und thu’ hinein, was Platz hat!“

„Aber Herr,“ fuhr es dem Knecht heraus, „Du wirst mich doch in der heutigen Nacht nicht ausschicken wollen zum Fischtragen? Was Du fürchtest, merk’ ich doch an Deiner Wehr! Und ich mein’, da wär’ mein Platz an Deiner Seit’.“

„Hier bin ich allein genug! Und hilft mir nicht derselbig’, der meiner Schwester den Falk zu Hilf’ geschickt wider die Aasraben, so möchten mir Deine zwei Arm’ wohl auch nur lützel helfen. Drum geh’ und thu’ den Weg, den ich Dir ansag’!“

Schweigend ging Wicho davon. Sigenot hörte vom Brunnen her das Lägel poltern und das Wasser plätschern. Nach einer Weile kann der Knecht zurück, das triefende Fäßlein auf dem Rücken.

„Wohin also?“

„Geh’ hinaus zum Lok’wald ...“

„Wo die Klosterleut’ sitzen?“ fragte Wicho mit raschem Wort.

„Dort fließt zwischen dem Lok’stein und dem Kälberstein ein Bächl über den Hang herunter und füllt einen Weiher. Dort leer’ das Lägel aus und geh’ wieder still davon! Zeit lassen!“

„Zeit lassen auch!“ erwiderte der Knecht und schritt den Hügel hinunter zum Hagthor. Als er den Sperrbalken zurückgeschoben hatte, rief er mit halblauter Stimme zum Haus hinauf. „Komm, Herr, und leg’ hinter mir den Balken ein!“

Sigenot rührte sich nicht. „Geh’ nur! Wenn’s not thut, schieb’ ich mein Eisen vor ... das hat besseren Halt als Holz.“

Wicho ging, und lautlos schloß sich hinter ihm das Thor. Tiefe Nachtstille lag um das Fischerhaus gebreitet; nur gedämpft klang durch die Bäume einher das Rauschen der Ache. Zuweilen auch ließ sich vom See herauf ein sanftes Plätschern hören, wenn aus dem Weitsee eine Wildente gestrichen kam und zur Aesung einfiel in das Schilf. Droben in Wazemanns Haus leuchteten noch die Fenster der Herrenstube; man sah in der Finsternis weder Dach noch Mauer, und so hing der Lichtschein eines jeden Fensters im [202] Dunkel wie ein großer strahlender Stern. Allmählich wurde der Himmel heller, über die Berge fiel ein falber Schein, und langsam schlich das Mondlicht über die steilen Wälder nieder in das finstere Thal. In weiter Ferne bellte ein Wolf, und ein anderer gab ihm Antwort. „Die Schneespringer melden sich,“ murmelte Sigenot, „es wird bald Winter werden.“

Ein kühler Hauch kam aus dem See gezogen und milderte die Schwüle der Sommernacht; das Schilf begann zu rascheln, und sanfter Wellenschlag erwachte, leis anrauschend wider das Ufer. Hinter dem Grat des Jennar stieg der Mond empor, wie ein rundes brennendes Gesicht. Silberne Helle floß über das Dach des Fischerhauses und über den stillen Wächter.

Lauschend hob Sigenot den Kopf; von der Ache her war ein Geräusch an sein scharfes Ohr gedrungen. „Er kommt!“ Sich aufrichtend, faßte Sigenot mit der Rechten das Schwert, hob mit der Linken den Schild vor die Brust und stieg über den Hügel hinunter zum Thor.

Draußen vor dem Hag trat Henning mit dem Knecht unter den schwarzen Bäumen hervor in den hellen Mondschein. Er trug einen Mantel über dem Arm, und die Faust ruhte am Griff des Wildfängers. „Es ist kein Lichtschein mehr im Haus,“ flüsterte der Knecht, der mit Dolch und Saufeder bewaffnet war.

Am Hag entlang schleichend, erreichten sie das Thor.

„Herr, sie haben den Balken nicht eingelegt, das Thor giebt nach!“

„Stoß auf!“

Die Thorflügel öffneten sich, Henning zog den Fänger und wollte in die Hofreut stürzen; doch wie versteinert hielt er inne beim ersten Schritt. Vor ihm stand Sigenot, das blitzende Schwert zum Schlag erhoben, umschimmert vom bleichen Mondlicht gleich einer gespenstigen Hünengestalt. Mit gläsernen Augen starrte Henning, befallen von abergläubischem Schreck, die unerwartete Erscheinung an. Der Knecht hatte die Saufeder im Anlauf gefällt, doch ein Schwertstreich Sigenots zersplitterte den Schaft.

„Die Toten stehen auf!“ lallte Henning und faßte, zur Flucht sich wendend, den Arm des Knechtes.

„Herr, so steh’ doch!“ keuchte der Knecht, aber Henning war nicht mehr zu halten; eine Strecke riß er den Knecht mit sich fort, und als er den Schutz der Bäume erreichte, ließ er den Arm des Gesellen fahren und sprang hinein in die Finsternis des Waldes, rannte wider die Stämme, stürzte, raffte sich wieder auf und stürmte bergwärts in sinnloser Flucht.

Sigenot trat vor das Thor und schleuderte mit dem Fuß die Speerstücke hinaus in den Sand der Lände. Mit verächtlichem Lächeln blickte er den Fliehenden nach. „So feig wie schlecht!“

Im Wald klang die schreiende Stimme des Knechtes: „Herr! Herr!“ Doch Henning hörte nicht mehr. Keuchend, ohne Atem und totenbleich, erreichte er den Burghof; kaum trugen ihn seine Knie noch hinauf über die Freitreppe, auf welcher ihm das helle Licht der Herrenstube entgegenstrahlte. Als er über die Schwelle taumelte, erhob sich Herr Waze vom Tisch, um welchen Sindel, Rimiger, Gerold und Otloh saßen, die vor kurzem erst heimgekehrt waren aus dem Lokiwald. Eilbert saß in der dunklen Ecke hinter dem Ofen, und Hartwig lag auf einer Bank.

Henning sah die Brüder nicht, er sah nur den Vater, und in seiner Erschöpfung fast niederbrechend vor ihm, keuchte er: „Vater … hinter mir ist die Höll’! Der Fischer, den ich erschlagen am Morgen … ist ein Gespenst geworden und geht um in seinem Hag.“

Zornig stieß Herr Waze den Sohn mit der Faust zurück, und am Tisch erhob sich schallendes Gelächter. Rimiger sprang auf und schrie: „Ein Gespenst? Hörst Du, Otloh, der Fischer, der Dich heut’ in der hellen Sonn’ vom Roß geworfen, ist gar nicht Fleisch und Blut gewesen, sondern ein Butzemännlein, das im Mondschein Mücken fangt und die Kinder schreckt, daß ihnen das Herz in die Hosen fallt!“ Seine Stimme erstickte fast unter Lachen. „Armer Otloh, jetzt kommst Du gar um die Sühn’, die der Fischer Dir schuldig ist! Heut’ am Abend hat er Dich ins Moos gesetzt, aber heut’ am Morgen hat ihn der gute Henning schon erschlagen!“ Alle lachten, nur Otloh wurde rot vor Zorn, und Henning starrte umher, als wäre er von Sinnen.

„Dummkopf! Verstehst Du noch allweil nicht?“ schnauzte der Vater ihn an. „Wie Dein Pfeil, so ist auch der Stein fehlgegangen, den Du gelöst hast über seinem Kopf. Eins aber möcht’ ich wissen … was hast denn Du jetzt beim Fischerhag zu schaffen gehabt?“

Eilbert war aufgesprungen und näher getreten. „Die Dirn’ hat er sich holen wollen,“ rief er höhnend, „aber wie der Fuchs hat er in den Immstock gegriffen und flink die Pfot’ wieder eingezogen!“

Mit einem Fluch stürzte Henning zum Tisch, packte ein Messer und schwang es gegen den Bruder. Aber Herr Waze und Rimiger faßten den Arm des Wütenden, entwanden ihm die Klinge und stießen ihn aus der Stube hinaus in die Kammer.

Wirres Geschrei erhob sich um den Tisch, doch alle übrigen Stimmen übertönte die Stimme Otlohs: „Soll der freche Uebermut da drunten noch lange den Streit und Hader unter uns Brüder werfen? Hinunter zu ihm! Ich hab’ keine Ruh’, eh’ nicht die Schand’ gelöscht ist, die er mir angethan!“

„Halt’ Dein Maul, Du Grasaff’!“ rief Herr Waze. „Wärst Du besser im Sattel gesessen, so hätt’ er Dich nicht gehoben!“ Den Lärm überschreiend, der diesen Worten folgte, schlug er mit den Fäusten auf den Tisch. „Wird Ruh’ werden oder nicht? Ich will doch sehen, wer in meinem Haus noch zu reden hat, Ihr oder ich!“ Mit funkelnden Augen maß er die Söhne, welche widerwillig verstummten. „Von Stund’ an geschieht, was ich will, ich allein! Daß mir keiner wieder dreintappt mit einer Hand, wie sie der Unschick da draußen hat … es müßt’ denn sein, daß Ihr heut’ über ein paar Wochen dastehen wollt ohne Haus und Fraß, ein Gespött für jeden Bauernknecht im Gadem!“ Herr Waze schritt durch die Stube und trat wieder zum Tisch. „Der Fischer soll Euch gehören! Die Stund’ aber, die ihn wirft, sag’ ich selber an. Heut’ ist er beim Lok’stein gewesen und hat gesponnen mit den Schwarzen. Thät’ er ihnen schon morgen fehlen, sie möchten wohl dran denken, daß er der erste gewesen ist, der zu ihnen gehalten hat, und möchten anrücken wider mich mit Fahn’ und Kreuz … und das hab’ ich erfahren: wider ihre Sipp’ und ihre Heiligen ist ein schieches Raufen. Ich will Fried’ haben mit ihnen, freilich auf meine Art. Eh’ ich einen Streich thu’, muß ich wissen, für welche Nacht der Richtmann das Thing geladen hat, muß wissen, was sie beschließen im Thing … und muß noch so manches andere wissen. Drum genug für heut’! Rimiger!“

„Ja, Vater!“

„Du reitest morgen wieder hinaus zum Lok’wald. Nimm den Henning, Eilbert und Otloh mit … und will einer von ihnen Streit anheben, so hau’ ihm eins übers Dach, in meinem Namen! Jetzt weiter … und auf die Häut’ mit Euch!“

Herr Waze trat in die vom Mond umglänzte Halle hinaus, um kühle Luft zu schöpfen, denn in dicken Perlen rann ihm der Schweiß von den Schläfen; er lehnte sich an die Treppensäule, spähte über das Thal hinweg in die Ferne der schimmernden Mondnacht und schüttelte die Fäuste. „Könnt’ ich nur einen Berg fassen und ihn umkehren, daß er hinfallt über sie und ihr hölzernes Nest!“ Hinter ihm in der Stube war es still geworden; als Herr Waze nun zurückkehren wollte, blieb er betroffen auf der Schwelle stehen. Vor ihm, inmitten der Stube, stand seine Tochter Recka, in weißem Schlafgewand, das bleiche Gesicht umringelt vom gelösten Rothaar, die finsteren Blicke auf den Vater geheftet.

„Dirn’? Was willst Du noch?“

„Antwort auf eine Frag’!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Was Henning wider den Fischer that … ist es geschehen mit Deinem Willen, auf Dein Geheiß?“

„Du hast gelauscht!“ fuhr Herr Waze zornig auf.

„Muß man lauschen bei einem Geschrei, das durch alle Wände geht? Gieb Antwort! Mich kümmert nicht, was Henning thut … zwischen ihm und mir liegen Berg und Thal. Du aber bist mein Vater! Gieb mir Antwort: hat Henning wie ein Meuchler den Pfeil geworfen und den Stein gelöst auf Dein Geheiß?“

Reckas brennender Blick schien ein unbehagliches Empfinden in Herrn Waze zu erwecken. „Ich könnt’ Nein sagen,“ brummte er; „was der Lapp gethan hat, muß mir ja eher schaden als nützen, und wie könnt’ ich denn meinen eigenen Nachteil wollen?“ [203] Mit halb geschlossenen Augen spähte er in Reckas Gesicht und suchte zu lesen in ihren steinernen Zügen. „Bevor ich aber weiter antwort’,“ sagte er langsam, „hätt’ ich selber eine Frag’. Was kümmert denn Dich der Fischer?“

„Er? Nichts!“ erwiderte Recka mit heftigem Wort und wandte sich ab. „Ich sorge mich um seiner Schwester Los, die mir ins Herz gewachsen!“

„So? Die Schwester also?“ Herr Waze fing mit der Zunge den Schnurrbart zwischen die Zähne und nagte an den grauen Haaren. „Warum hast Du sie denn gar so lieb, die Schwester?“

„Weil sie gut und hold ist und meine Lieb’ verdient.“

„So? Gut und hold? Die Schwester? Und drum verdient sie Deine Lieb’? Und sonst, sonst hast Du keinen Grund?“

Recka blickte den Vater an. „Einen Grund? Welchen?“ Kalt und ruhig klang ihre Stimme, doch in ihre bleichen Wangen schlich eine dünne Röte.

Herr Waze lächelte. „Komm, mein schönes Rotfüchsl, thu’ nicht so finster! Komm, setz’ Dich her zu mir und laß uns miteinander reden in Ruh’! Schau’, ich wüßt’ schon einen Weg, auf dem der Fischer ein gutes Leben und Weilen hätt’ … da wär’ dann auch seiner Schwester geholfen, die Du so lieb hast!“

Zögernd ließ sich Recka auf den Sessel nieder, zu welchem der Vater sie gezogen hatte. Ihr gegenüber setzte sich Herr Waze an den Tisch und legte die Arme über die Platte. Langsam, als wöge er jedes Wort, begann er von den Sorgen zu sprechen, welche ihm die Klosterleute bereiteten, und er wählte die Worte glücklich; denn Recka lauschte gespannt, und zornig blitzten ihre Augen, als sie jener ersten Begegnung mit Waldram und Eberwein gedachte.

„Mein Haus und Land wollen sie mir nehmen, und Dir den Wildbann, Dein Roß, die Falken und die freie Luft! Ich hätt’ ihnen wohl einen Hag geflochten wider solch Gelüst’, aber dieser Fischer, dieser Sigenot …“

„Laß den Fischer aus Deiner Rede!“ fuhr Recka in brennendem Unmut auf.

„Ich brauch’ ihn aber! Wär’ der Fischer für mich, so hätt’ ich leichteren Stand. Er geht für hundert, ihm laufen die anderen nach … ich muß ihn haben!“

„Und meinst Du, wie Henning um ihn wirbt, das wär’ die beste Art, ihn zu gewinnen?“

„Ich hab’ ja zuvor auch im guten mit ihm geredet.“

„Zuvor?“ Reckas Augen blickten starr auf den Vater; dieses eine Wort hatte ihr viel gesagt.

„Ja, ja, ja!“ schrie Herr Waze in entfesselter Ungeduld. „Aber dieser Stock hat einen Sinn wie Eisen. Ich hab’ ihn nicht halten können, und ich bin doch ein Mann mit Fäust’! Aber ich muß ihn haben, ich muß! Und schau’, Dirn’, schau’, was ein Mann nicht fertig bringt, das wird oft einem Weib so leicht wie Spiel! Runde Arm’ und lange Haar’ machen feste Schlingen und Netz’.“

Recka war aufgesprungen, daß ihr Sessel zu Boden fiel. Mit flammenden Augen maß sie den Vater, und wortlos schritt sie der Thüre zu. „Was rennst Du denn davon auf einmal?“ rief der Alte in Verblüffung und Zorn; und als sie keine Antwort gab, sprang er auf und vertrat ihr den Weg. „Bleib’, Dirn’!“

„Gieb mir die Thüre frei! Wir haben ausgeredet. Du bist zu Scherzen aufgelegt, wie sie Deinen Buben gefallen mögen, aber mir nicht!“

„Scherz! Scherz! Meinethalben mag aus der Sach’ auch Ernst werden! Ich muß den Fischer haben, so oder so! Faß’ ihn mir, Füchsl, faß’ ihn! Ich mein’, es kostet Dich nur einen Blick und ein Wörtl …“ Von Reckas Lippen klang ein zorniges Lachen. „Und Du selber machst ja auch keinen schlechten Tausch. Vergleich’ ihn nur mit dem Pfleger von Hall, der sonst der einzig’ ist, den ich weiß für Dich. Steht der Fischer nicht da wie ein Baum in seiner jungen Kraft? Ein freier Mann, ein Herr auf seinem Eigen! Hat Haus und Hof, Sennen und Vieh … und sein Fischrecht wiegt wie ein rechtes Herrengut. Was meinst?“

„Ich meine,“ erwiderte Recka mit halb erstickter Stimme, „ich meine, wenn Dir ein andermal wieder die Laune kommt, mit mir zu reden, so thu’ es vor dem Mahl, nicht hinter dem Becher. Ich höre den Met aus Dir.“

„Dirn’!“ schrie Herr Waze gereizt und hob den Arm. „Daß ich Dir für solche Red’ die Faust ins Gesicht schlag’ … wer hindert mich?“

Das Mädchen richtete sich auf. „Mein Arm! Und eine die zwischen Dir und mir steht – meine Mutter Friderun!“ Am Vater vorüber schritt Recka in ihre Kammer und schlug hinter sich die Thüre zu. Mit erblaßten Lippen und funkelndem Blick, das Gesicht von Wut verzerrt, starrte Herr Waze seiner Tochter nach. „Deine Hand noch hätt’ ihn halten können, für Dich und für mich … jetzt muß er fallen!“

In der Kammer, welche Recka betreten hatte, brannte eine Leuchte neben dem Zinnspiegel; als sie an ihm vorüberschritt, zeigte ihr das blanke Metall in grellem Licht das von Zorn und Scham gerötete Antlitz. Und als könnte sie den eigenen Anblick nicht mehr ertragen, so stieß sie mit der Faust die Leuchte um; langsam erlosch das qualmende Flämmlein auf der Diele, während Recka sich im Erker niederwarf, durch dessen Fenster das Mondlicht mit bleichen Strahlen in die Kammer fiel. Schwer atmend, das Gesicht in den Armen vergraben, saß sie über den Tisch gebeugt. Das Mondlicht umwebte ihr Haupt mit Schimmer und machte das Geschmeide funkeln, welches noch immer neben dem offenen Kästlein verstreut umherlag. Zwischen dem glitzernden Gold und den farbig glimmenden Edelsteinen leuchtete mit fahlem Weiß der zersprungene Beinreif, wie ein aus dem Grab geworfener Totenknochen, wie der letzte Ueberrest eines vermoderten Lebens, eines versunkenen Glücks.

Draußen in der Mondnacht schrie ein Uhu, der mit lautlosem Flügelschlag von den Seewänden hinausstrich in das waldige Thal, um seinen Raub zu suchen. Ueber dem Fischerhause klang sein häßlicher Schrei und tönte an Sigenots Ohr, der unter seinem krankenden Jahrbaum saß, das Haus bewachend und der Heimkehr seines Knechtes harrend. „Es ruft der Totenvogel!“ flüsterte er, spähte durch das Gezweig empor in den bleichen Himmel und sah einen Schatten huschen.

Weiter und weiter ging des Nachtvogels Flug, über den Untersteiner Forst und gegen die Schönau hin. Da hörte ihn der Richtmann, der in schlummerloser Sorge lag und seines Buben dachte. Beklommen lauschte er. „Gilt’s mir oder gilt’s meinem Liebli?“ Immer weiter strich der Schreier in der Nacht, über Felder und Halden hinweg, vorbei an Gehöften und nah’ vorüber bei einer Brandstätte und einem zerfallenen Haus. Der alte Gobl erwachte unter dem Apfelbaum; er hörte den Ruf und lächelte: „Schrei nur! Schrei nur! Wie öfter, so lieber hör’ ich Dich! Vergelt’s der Botschaft, die Du mir anschreist!“ Ueber die Ramsauer Ache ging der Flug des Vogels, über die Gehänge der Strub hinauf zum Lokiwald und dem Untersberg entgegen.

Hell lag der Mond über der weiten Lichtung, auf den Zelten der Klosterleute und über dem wachsenden Bau. Wicho, mit dem geleerten Lägel auf dem Rücken, stand vor dem Zelt der dienenden Brüder; die Neugier hatte ihn näher gezogen. Doch als er den Schrei des Nachtvogels hörte, schüttelte ihn ein Grauen, und hastigen Laufes suchte er den Heimweg.

Drinnen im Zelt, durch dessen Ritzen nur ein matter Dämmerschein der Mondnacht quoll, richtete sich Bruder Wampo von seinem harten Mooslager auf. „Schweiker! Schweiker!“ Der Schlummernde hörte nicht; er schlief, von der Arbeit müde, den Schlaf des Gerechten. „Schweiker! Schweiker!“ Da rührte sich der Bruder und die Stangen seines Lagers ächzten. „Was ist denn schon wieder?“ fragte er mit verschlafener Stimme.

„Es hat sich ’was gerührt, draußen, ich hab’ schon gemeint, es kommt herein!“

Schweiker erhob sich und trat ins Freie; tiefe Stille herrschte ringsumher, und öde lag die mondhelle Lichtung. „Hast wohl wieder geträumt!“ sagte Schweiker, in das Zelt zurückkehrend. „Laß mich doch einmal in Fried’ mit Deiner unsinnigen Angst! Dein Fürchten wird schon bald eine Sünd’. Wir stehen doch in Gottesschntz!“

„Angst? Was Angst? Ich hab’ mich ja gar nicht geforchten!“ schmollte Wampo. „Gehört hab’ ich halt ’was! Und das hätt’ doch ’was Gutes auch sein können! Dein Bartele ist ja selbigsmal mit dem Himmelsbrot auch in der Nacht gekommen!“

Schweiker brummte ein unverständliches Wort und warf sich auf sein Lager. Seufzend ließ sich Bruder Wampo zurücksinken, [204] und um den Schlummer leichter zu finden, begann er eine Litanei zu beten.

Stille Stunden verrannen, und allmählich wandelte sich die Nacht zum Morgen. Im ersten Grau kam ein Fuchs über den Berghang heruntergeschlichen; langsam schob er sich durch das tauige Heidegras, vorsichtig nach allen Seiten windend. Plötzlich verhoffte er, hob spähend den Kopf und flüchtete mit langen Sprüngen den Felsen zu. Hinzula war aus dem Wald getreten, mit einem Weidenkorb auf dem Rücken und dem Hirtenstecken in der Hand. Zögernd näherte sie sich dem Zelt der Brüder, stellte den Korb zur Erde und begann seinen Inhalt auszukramen: Milch und Honig, Butter und Eier, Käse und Roggenbrot. „Der wird schauen, wenn er aufwacht!“ flüsterte sie lächelnd, während sie sich erhob und den Korb wieder über die Schulter schwang. Schon wollte sie gehen, da hörte sie ein Geräusch aus dem Zelte; es klang wie eine große Säge im hohlen Baum ... Bruder Schweiker schnarchte. Hinzula kicherte und versuchte die Schlummerstimme des Bruders nachzuahmen; doch was sie fertig brachte, klang im Vergleich zu den Lauten da drinnen wie das Zirpen einer Grille gegen eines Bären Gebrumm. Endlich gab sie die vergebliche Mühe auf. „Schnarkel’ nur zu! Wer fest schnarkelt, der schlaft gut, und der Schnarkler scheuchet die Truden und Maren!“ Lachend sprang sie dem Waldsaum entgegen, während das wachsende Licht über dem vom Tau benäßten Gras den Morgennebel steigen machte.

Bruder Schweiker erhob sich vom Lager. „Jetzt mein’ ich aber selber, ich hätt’ ’was gehört,“ murmelte er und lauschte. Da merkte er, daß es Tag wurde. „Freilich, die Arbeit hat nach mir geschrieen!“ Und mit gleichen Füßen sprang er auf die Erde. „Auf mit Gott, beim Teufel ist kein Trost!“ Sein Anzug war bald in Ordnung gebracht; er hatte in der Wollhose und im Arbeitskittel geschlafen und brauchte nur in die Schuhe zu schlüpfen. Den aus Holzperlen gereihten Rosenkranz, der zu Häupten seines Lagers gehangen, steckte er hinter den Gürtel, denn nach dem Morgenläuten sollte das gemeinsame Gebet gesprochen werden. Als er nun vor das Zelt trat, sah er die freundliche Bescherung auf der Erde. Eine dunkle Röthe floß über sein Gesicht, und mit breitem Lachen nickte er vor sich hin. „Schau’, schau’, das Bartele!“

Ein helles Kichern klang vom Waldsaum herüber. Schweiker blickte auf. „Hinzula?“ rief er und eilte mit langen Schritten den Bäumen zu. Aber flink wie ein Reh sprang die Hirtin aus ihrem Versteck und eilte thalwärts durch den Wald, der Ache entgegen. Doch war sie gar weit noch nicht gekommen, da rief ihr eine zornige Stimme zu. „Steh’, Dirn’!“ Und Henning kam zwischen den Bäumen hervorgeritten, dicht vor dem erschrockenen Mädchen das Pferd verhaltend. „Treff’ ich Dich schon wieder auf meinem Weg? Hab’ ich Dir nicht gesagt, Du Schmierfink, daß hier Bannwald ist?“

Hinzula ließ den Stecken sinken und während sie mit beiden Händen die Tragbänder des Korbes faßte, blickte sie in Scheu und Angst zu dem bleichen übernächtigen Gesicht des Reiters auf, in dessen Augen alle Wut funkelte, welche an ihm gezehrt hatte in schlafloser Nacht. Henning sah den leeren Korb auf der Schulter des Mädchens. „Wo kommst Du her?“ schrie er und riß die mit schwerem Hirschhorngriff versehene Reitpeitsche aus der Satteltasche. „Wo kommst Du her?“

„Von dort, Herre,“ stotterte das Mädchen, „wo die frommen Brüder bauen.“

„Was hattest Du zu schaffen dort?“

„Albengab’ hab’ ich hingetragen, Milch und Honig, Eier und Butter.“

„Das soll der Teufel Dir gesegnen!“ fluchte Henning und schwang mit zorniger Wucht den Knauf der Peitsche.

„Herre! Was thust mir denn?“ stammelte die Hirtin und wollte fliehen. Doch ehe sie sich zu wenden vermochte, fiel der Schlag und traf die Stirn des Mädchens. Ein bebender Schmerzenslaut rang sich von Hinzulas Lippen, eine Strecke noch, während das rote Blut über ihre Augen und Wangen rann taumelte sie dahin zwischen den Bäumen ... von ihrem Rücken fiel der Korb und rollte über das Moos ... dann wankte sie, mit zuckender Händen, stöhnend, griff sie in die Luft und stürzte zu Boden.

„Hinzula! Hinzula!“ klang Schweikers Stimme im Wald. Er hatte den zitternden Weheschrei des Mädchens gehört und kam über die Wurzeln und bemoosten Steine einhergesprungen, mit hohen Sätzen und wehendem Bart, einen Knüppel in der Faust, als gält’ es, die Hirtin zu retten vor einem reißenden Tier. „Hinzula! Hinzula!“ Der Ruf erstickte auf seinen Lippen; zwischen den Bäumen sah er die Hirtin liegen, regungslos, mit geschlossenen Augen, besudelt von Blut. Der Knüppel fiel aus seiner Hand, er hörte nicht das Brechen der Aeste, hörte nicht den Hufschlag des enteilenden Reiters ... in Schreck und Jammer schlug er die Hände zusammen und warf sich auf die Knie. „Kindl! Kindl! O mein lieber Himmelsherr, was ist denn da geschehen?“ Er hob das von Blut überströmte Köpflein der Hirtin auf seine Arme; ein mattes Stöhnen kam von den Lippen der Ohnmächtigen, und reichlicher blutete die klaffende Wunde an der Stirn’. Mit nassen Augen blickte Schweiker umher, als müßte die ersehnte Hilfe aus den Bäumen treten, aus den Lüften kommen wie ein Wunder. „O Ihr guten Heiligen! Ja was thu’ ich denn?“ Er drückte die zitternde Hand auf die Wunde, um das Blut zu stillen; doch der rote Quell rann ihm heiß durch die Finger. Von namenloser Angst befallen, schrie er mit gellender Stimme. „Mordio! Mordio!“ Mit beiden Armen umschlang er das Mädchen, richtete sich auf und begann mit seiner Last zu laufen. Keuchend erreichte er die von bleicher Morgenhelle übergossene Lichtung, von welcher dünne Nebel aufdampften gegen den Berghang. Wie ein Schleier lag’s über den Zelten und über dem Klausenbau.

„Mordio!“ hallte Schweikers Stimme.

Da tauchte eine Gestalt im Nebel auf. Eberwein war es. „Schweiker! Was rufest Du Mord? Wer ist in Not?“ Er eilte herbei und sah auf des Bruders Armen das blutende Mädchen liegen, mit hängendem Haupt und schlaffen Gliedern, einer Toten gleich.

„Schau’, Herre, schau’!“ jammerte Schweiker, die Stimme halb erstickt von Thränen. „Jetzt haben sie uns das Kindl erschlagen! Unser einzig’s, unser einzig’s!“

„Spute Dich, Schweiker!“ rief Eberwein. „Trage das Mädchen zum Teich, kühle die Wunde mit Wasser ... ich hole, was ich brauche!“ Er sprang davon, im Nebel verschwindend.

Schweiker stand, zitternd und dem Enteilenden nachstarrend mit ratlosem Blick. Da fühlte er, wie ihm das Blut der Hirtin über die Arme rann, wie es an der Brust durch den Kittel quoll und warm an seinen Körper rieselte. Wie ein Schwindel befiel es ihn. „Sie verblutet, sie verblutet ja!“ lallte er und rannte dem Teich entgegen. Am Ufer ließ er sich niedersinken, bettete den Kopf des Mädchens in seinen Schoß, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und goß das kalte Naß über die wunde Stirn; mit dem über Hinzulas Haar und Antlitz rinnenden Wasser vermischte sich das Blut und wurde dünner. Schweiker schöpfte und schöpfte ... und zwischen dem rinnenden Blut erschien mit weißer Haut ein Gesichtlein von kindlichem Liebreiz. Immer weiter öffneten sich Schweikers Augen. Immer weiter schöpfte seine zitternde Hand das Wasser und goß und wusch. Da streckte sich Hinzula und ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust. „Kindl, Kindl – liebes Kindl!“ stammelte Schweiker und hob mit beiden Armen das Köpflein der Hirtin.

Langsam schlug sie die Augen auf und hing mit starrem Blick an seinem Gesicht. Nun schien sie ihren Retter zu erkennen, denn während ein mattes Lächeln ihren Mund umspielte, hob sie müde die Hand und griff mit gespreizten Fingern in den Flachsbart des Mönches, wie es ein krankes Kind wohl thun mag, wenn es, aus bösem Fieber erwachend, das kummervolle Gesicht des Vaters über sich gebeugt sieht.

Dicke Zähren rollten Schweiker über die bärtigen Wangen. „Sag’ doch, Kindl, sag’, wie ist Dir denn?“

„Gut!“ lispelte Hinzula und lächelte, doch in neu beginnender Schwäche verschwamm ihr schon wieder der Blick unter sinkenden Lidern.

Es wurde lebendig bei den Zelten, man hörte die Stimme Bruder Wampos, und Eberwein kam. „Sie lebet, Herr, sie lebet,“ rief ihm Schweiker entgegen, „aber sie hat vor Schwäch’ schon wieder die Sinn’ verloren!“

Neben dem Bruder kniete Eberwein nieder; mit einem Tuche trocknete er die Stirne der Hirtin und begann mit dem Skalpell die Wunde zu untersuchen. Da mußte Schweiker auf die Seite blicken, er konnte nicht sehen, wie das blinkende Eisen in die [206] Wunde tauchte. Während nun auch Wampo und die Knechte herbeigelaufen kamen, bethätigte Eberwein schweigend seine hilfreiche Kunst; als er mit dem Messer einen Knochensplitter aus der Wunde löste, streckte sich Hinzula stöhnend und schlug mit den Händen gegen den Arm des Arztes. „Halte sie fester!“ flüsterte Eberwein.

Schweiker fesselte mit raschem Griff die Hände des Mädchens, aber er wurde bleich bis in die Lippen, und nach einer Weile blickte er mit umflorten Augen zu Wampo auf: „Gieb mir einen Trunk Wasser, Bruder, mir ist übel!“

Wampo riß einem der Knechte die lederne Kappe vom Kopf und schöpfte Wasser, welches Schweiker in langen Zügen trank.

Als Wampo, um die Kappe von neuem zu füllen, sich wieder zum Wasser bückte, wurden seine Augen starr; er ließ die Kappe fallen, warf die Arme in die Höhe und schrie: „Herr Du Allmächtiger, ein Wunder! Der Teich, der gestern noch leer gewesen, hat Fisch’! Hat Fisch’!“ Lachend und schreiend sprang er in die seichte Flut und tappte mit beiden Händen nach den scheu durcheinander schießenden Hechten und Ferchen.

Da richtete sich Eberwein auf. „Bruder!“ rief er zornig. „Hier liegt ein armes Geschöpf in Not und Blut! Und Du ...?“ Sein zürnender Blick ergänzte, was seine Lippen verschwiegen. Bruder Wampo machte eine scheue Miene und stapfte aus dem Wasser. „Geh’ und bring’ einen Becher von unserem Meßwein!“

Wortlos schlich Wampo davon; auf halbem Weg schielte er über die Schulter zurück. „Sie kommen mir ja nimmer aus!“ murmelte er, rang das Wasser aus dem triefenden Saum der Kutte und begann zu laufen.

Pater Eberwein legte den Verband um Hinzulas Stirne; dabei erwachte die Hirtin aus ihrer Ohnmacht, und als sie den Pater und die fremden Gesichter der Knechte sah, wollte sie sich erheben. Schweiker aber hielt sie fest in seinen Armen. „Geh’, Kindl, schau’, thu’ Dich still halten – es ist Dir ja zum Guten, was geschieht.“ Sie blickte zu ihm auf, atmete tief und rührte sich nicht mehr. Ein sanfter Wind erwachte, in bläulichen Wölklein kräuselte sich der Nebel über den Berghang empor, die Sonne stieg und ihre Strahlen fielen mit hellem Glanz auf Schweiker und Hinzula. Bruder Wampo brachte den mit Wein gefüllten Becher; Eberwein setzte ihn an die Lippen der Hirtin und flößte ihr den stärkenden Trank bis auf den letzten Tropfen ein. Der Wein erquickte sie, ihre Augen bekamen Glanz, ihre Glieder Kraft, und von Schweiker gestützt, vermochte sie sich zu erheben. Zitternd stand sie, ihr Köpflein ruhte an Schweikers Brust, und der Anblick, den es bot, mußte Rührung erwecken.

„Wer bist Du, Mädchen?“ fragte Eberwein mit bewegter Stimme.

Sie starrte ihn an und wußte kein Wort zu finden. „Hinzula heißt sie,“ sagte Schweiker, „und ihr Vater ist der Greinwalder, der sell drüben über der Ache hauset.“

„Und sie ist die erste gewesen, die auf das Glöckl gehört hat,“ fiel Bruder Wampo eifrig ein, „die erste, die zu uns gekommen ist mit frommer Gab’. Aber sag’ nur, Bartele, sag’,“ wandte er sich an das Mädchen, „wie ist Dir denn das Unglück zugestoßen? Bist auf einen Stein gefallen?“

Auch Eberwein fragte; doch Hinzula stand schweigend, als hätte sie die Sprache verloren; ihre scheuen Blicke glitten über die fremden Gesichter und blieben mit stummer Bitte an Schweiker haften.

„So red’ doch, Kindl! Sag’, was willst denn?“

„Heim!“ lispelte sie.

„So komm nur, komm, ich führ’ Dich schon, wohl wohl!“

„Weißt Du den Hag ihres Vaters?“ fragte Eberwein den Bruder. „Ich hoffe nur, er liegt nicht weit … es ist noch schwach bestellt um ihre Kräfte.“

„Und läg’ das Haus einen Tag weit, ich bring’ das Kindl heim … so lang’ ich selber noch Füß’ hab’, kommt sie schon weiter, da brauchst Dich nicht zu sorgen, Herr! Komm nur, Hinzula, komm!“ Fester schlang er den Arm um die Hirtin und führte sie den Bäumen zu. Bis zum Waldsaum ging Eberwein mit ihnen, dem Bruder Auftrag gebend, welche Pflege Hinzula empfangen sollte. Zum Abschied drückte er die Hand der Hirtin und streichelte ihr Haar. „Gott mit Dir, mein Kind! Ich komme morgen und sehe nach Deiner Wunde.“

Als Eberwein die beiden nun verließ, flüsterte Schweiker dem Mädchen zu: „So sag’ ihm doch ein freundlich’s Wörtl!“

„Vergelt’s, guter Herre!“ rief Hinzula mit mattem Stimmlein. Eberwein blickte sich um und nickte ihr lächelnd zu.

Während Schweiker mit dem Mädchen im Wald verschwand und Eberwein zu den Zelten ging, sprang Bruder Wampo, als hätte er mit Sehnsucht diesen Augenblick erwartet, in flinker Eile zum Teich. Die Sonne lag über dem klaren Wasser und regungslos standen die Hechte und Ferchen auf dem seichten Grund. Die Aeuglein des Bruders glänzten, während er mit deutendem Finger die Fische zählte. Sorglich umschritt er den Teich, doch er fand keine Stelle, die den Fischen einen Fluchtweg geboten hätte. „Ich brauch’ keine Angst zu haben, sie können mir nimmer aus!“ Nun stand er und blinzelte vergnügt den größten und fettesten der Hechte an. „Du kommst morgen an die Reih’, zur heiligen Sonntagsfeier!“ Er legte die Hände hinter den Rücken, blickte mit hellen Augen hinaus in den leuchtenden Morgen und schmunzelte. „Heut’ gefallt mir die Gegend ein lützel besser! Ich mein’ doch, sie wär’ nicht gar so schiech!“ Eine Weile noch stand er und ließ sich die Sonne auf das Bäuchlein scheinen; dann eilte er, vergnügt die Hände reibend, zur Feuerstätte, um die Morgensuppe zu kochen. Bei der Klause erklangen schon die Rufe und Beilschläge der Knechte, welche über der hölzernen Mauer die Balken zum Dache schränkten.

Inzwischen hatte Schweiker mit Hinzula das Thal erreicht. Langsam und mühselig war die Wanderung durch den Wald gegangen; aber nun, da die Hirtin mit Schweiker allein war, hatte sie die Sprache gefunden und in stockenden Worten erzählt, daß es Henning gewesen, Wazemanns Aeltester, der sie blutig geschlagen im Zorn.

„Ja warum denn?“

„Ich weiß nicht. Er hat gesagt, weil Bannwald ist, wo ich geh’!“

Schweiker hob die geballte Faust. „Käm’ er mir nur in den Weg, ich wollt’ einen Bann legen um ihn her, daß er den Arm nimmer heben möcht’ zu einem Schlag!“

Scheu blickte Hinzula zu ihm auf und stammelte: „Laß Dich mit dem nicht ein, das ist ein Arger!“

„Ich fürcht’ ihn nicht! Und wenn er gleich hundertmal stärker wär’ und Macht hätt’ wie der Teufel … ich weiß schon einen, der mir hilft!“

„Wen meinst denn?“

„Schau’ hinauf, Kindl! Den mein’ ich, der sell droben hauset in der Himmelsburg, der für alle Guten die Hilf’ ist und für die Argen ein Schrecken!“

Hinzula hob das Gesichtlein und blickte mit großen Augen zum blauen Himmel auf; dabei übersah sie den Wurzelknorren, der den Pfad überquerte; sie strauchelte und wäre gestürzt, hätte Schweiker sie nicht aufgefangen in seinen Armen.

„Aber Kindl! Warum schaust denn nicht auf den Weg?“

„Hast ja gesagt, ich soll hinaufschauen zur Himmelsburg.“

„Freilich, freilich, aber man muß doch auch einen Blick auf die Erd’ hin haben.“

Als die Zwei das Ufer der Ache erreichten, schüttelte der Bruder bedenklich den Kopf. „Kindl, da hinüber tragen Dich Deine Füßlein nicht. Aber wart’, da wird gleich geholfen sein.“ Er bückte sich und hob die Hirtin auf seine Arme. Sie lächelte, umschlang seinen Hals und lehnte das Köpflein an seine Schulter. Schweiker stieg in das Wasser, und während die schießenden Wellen ihn umrauschten bis über die Knie, blickte er lachend zu dem Mädchen auf. „Jetzt mein’ ich aber schier, ich bin der Christophorus!“

„Wer ist denn das?“ fragte sie.

Da wurde er rot bis über die Ohren, denn er meinte nun doch im stillen, daß es nicht anginge, das Bartele mit dem Christuskinde zu vergleichen, welches Christophorus über den Strom getragen; und er selber war wohl auch noch weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein. Als aber Hinzula ihre Frage wiederholte, mußte er Antwort geben, ob er wollte oder nicht. „Der Christophorus, weißt, das ist ein Heiliger … wohl wohl. Aber wie er noch ein Heid’ gewesen ist, da hat er einmal ein Kindl übers Wasser getragen und hat nicht gewußt, wen er auf seinen Armen hält; auf die Letzt aber hat er doch gemerkt, daß er sein Heil getragen und sein Himmelsbrot verdient hat.“ [207] Mit sinnenden Augen blickte Hinzula auf Schweikers Lippen; die knapp gefaßte und dunkle Geschichte schien ihr nicht völlig einzuleuchten.

Das Ufer war gewonnen, und mit triefenden Füßen schritt Schweiker über die grasige Mulde hinweg, in welcher die Brüder gelagert hatten in jener ersten Sturmnacht. Es war wohl die Erinnerung an jene Nacht, welche ihn vergessen machte, die Hirtin wieder von seinen Armen zu lassen. Und auch Hinzula vergaß, ihn an ihre eigenen Füße zu mahnen. Sie erreichten den schattigen Wald, und Schweiker stieg mit seiner Last über den Hang empor, als wöge sie auf seinen eisernen Armen wie eine Feder. Seitwärts schimmerte eine Lichtung, und da hörten sie ein Getrippel hinter sich. Hinzula blickte über Schweikers Schulter.

Schau’ doch, schau’, da kommt mein Zottli daher!“ Mit mattem Stimmlein lockte sie das Tier, und der Bock, dem die vier Geißen folgten, kam mit spielenden Sprüngen zwischen den Bäumen hervor. Meckernd blieben die Tiere stehen und lugten zur Hirtin auf; langsam trippelten sie hinter Schweiker her, blieben abermals stehen und folgten aufs neue.

Der Wald wurde eben, die Bäume gingen zu Ende, und Schweiker erreichte eine weite Wiese, in deren Mitte ein hoher Hag sich erhob, das Haus verdeckend; gegen den Berghang zog sich ein Roggenfeld hin, auf welchem ein Mann und ein Weib mit der Sichel die mageren Aehren schnitten. „Schau’, dort,“ flüsterte Hinzula, „der Vater und die Mutter! Mein Bruder ist nicht daheim, der sennet auf der Alben.“

Schweiker stand und schöpfte Atem; seine Stirne zog sich in Falten, denn es erwachte in ihm die gruselige Frage: wie muß wohl die Mutter aussehen, die ein Kind hat, das sich vier Jahr’ lang nicht gewaschen?

Der Greinwalder und sein Weib hatten den Fremden, der ihren Grund und Boden betreten, schon gewahrt. Sie blickten über den sonnigen Hang herunter, die Hände über die Augen gedeckt, und redeten miteinander. Was sie sahen, mußte freilich ihr Staunen wecken; dieser Fremde in der seltsamen Tracht, ein Mensch wie ein Riese, mit dem wallenden Flachsbart und dem geschorenen Kopf, eine Dirn’ auf seinen nackten braunen Armen, und hinter ihm die meckernden Ziegen! Da erkannte die Greinwalderin ihr Kind; mit einem Schreckensruf warf sie die Sichel weg und kam herbeigelaufen, während der Mann ihr zögernd folgte.

Bruder Schweiker riß die blauen Augen auf, als er das freundlich anzusehende Weiblein erblickte, bei aller Aermlichkeit doch sauber gewandet und an Gesicht und Händen tadellos gewaschen. Vor Staunen sanken ihm die Arme, daß Hinzula zur Erde glitt ... vor Staunen fand er keine Antwort auf die erschrockenen Fragen der beiden Leute. Hinzula selbst mußte der Mutter und dem Vater berichten, was ihr geschehen und wie sie Hilfe gefunden.

Als der Greinwalder hörte, daß Schweiker einer von den Gottesmännern wäre, die ins Thal gekommen, musterte er den Bruder vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: „So einen Senn’ möcht’ ich haben; da hätt’ mein Vieh wohl Ruh’ vor den Wölf’ und Bären und mein Haus vor den Wazemannsbuben auch!“

Schweiker hatte kein Ohr für dieses Lob. Denn er mußte der Greinwalderin, welche unter Seufzen und Zähren ihr Kind in den Hag führte, die Aufträge hersagen, die ihm Pater Eberwein für Hinzulas Pflege erteilt ... dabei wäre, wie er besonders betonte, Wasser und Reinlichleit nicht zu vergessen.

„Aber hör’,“ stotterte das Weiblein, „ich mein’ doch, das versteht sich von selber!“

Diese Antwort brachte den Bruder Schweiker wieder um alle Fassung. Seit vier Jahren hatte die Greinwalderin nicht ans Waschen gedacht, und jetzt auf einmal waren ihr diese beiden Dinge eine selbstverständliche Notwendigkeit! Kopfschüttelnd betrat Schweiker das sauber gehaltene Gehöft, darin das kleine Balkenhaus sich erhob, dem man die Liebe ansah, mit welcher es in gutem Stand erhalten wurde. In jeder Fensterluke stand ein hölzernes Tröglein mit blühenden Nelken, zwei weiße kraushaarige Lämmer trippelten im Hof umher, die Hühner scharrten in der Sonne, und zu Hunderten schossen die aus und einziehenden Immen durch die Luft.

Als Hinzula, von der Mutter geführt, das Haus betreten wollte, wandte sie auf der Schwelle das Gesicht, blickte zu Schweiker auf und fragte mit beklommenem Stimmlein: „Gelt, Du bleibst schon noch da?“

„Freilich, Kindl, freilich!“ sagte er und nickte ihr lachend zu. Dann ließ er sich auf die Hausbank niedersinken, that einen lauten tiefen Atemzug, streckte die Beine und wischte sich mit beiden Armen den in Bächlein rinnenden Schweiß vom Gesicht. Der Greinwalder trat vor den Bruder hin und bot ihm die Hand. „Vergelt’s, Gottesmann, vergelt’s für alles, was Du gethan hast für mein Kind!“

„Da braucht’s keinen Dank! Ist gern geschehen, wohl wohl!“ Schweiker wischte die Hand am Kittel ab und reichte sie dem Bauer.

„Und lohnen will ich’s auch, weißt! All Woch’ zweimal, wenn mein Bub’ abtragt von der Alben, schick’ ich Euch ein Körbl voll Zeug hinunter. Jetzt weiß ich doch, wem’s zukommt!“

„Das muß nicht sein!“ sagte Schweiker, aber da fiel ihm Bruder Wampo ein, und er fügte zögernd bei. „Wenn Du ’was graten kannst, und du giebst es gern ... meinethalben. Aber sein muß es nicht.“

Die Greinwalderin kam aus dem Haus gelaufen, füllte an einem sprudelnden Quell eine hölzerne Kanne und verschwand wieder in der Thür. Schmunzelnd blickte Schweiker ihr nach, und als sich der Greinwalder an seine Seite setzte, sagte er zu ihm: „Wo ich hinschau’ ... alles gefallt mir da. Bist ein rechtschaffener Bauer. Auch Dein Weibel schaut sich gut an und tragt sich sauber im Häs. Aber sag’ mir nur, wie kann denn die Mutter ihr Kindl so umlaufen lassen ... vier Jahr’ lang kein Tröpfl Wasser im Gesicht, vier Jahr’ lang nimmer gewaschen!“

„Vier Jahr’ lang, wohl wohl,“ nickte der Greinwalder, „weißt, seit wir halt gemerkt haben, daß die Dirn’ sich lieb und sauber auswachst.“

Schweiker machte große Augen; diese seltsame Logik wollte ihm nicht einleuchten. „Weil sie lieb und sauber ist, darum muß man sie schiech machen, daß einem hätt’ grausen können vor ihr?“

„Grausen! Freilich! Wie mehr, so besser! Wenn die Wazemannsbuben meine Dirn’ gesehen haben, so haben sie geschrieen. ‚Der Schmierfink!‘ und sind davongelaufen.“ Die Augen des Bauern funkelten. „Hätten sie gemerkt, was dahinter versteckt ist, ich hätt’ meine Dirn’ schon lang einmal suchen dürfen und hätt’ sie wohl nimmer so gefunden, wie sie von mir gegangen!“

Nun verstand der Bruder. Eine dunkle Röte floß über sein Gesicht, er ballte die Fäuste und blickte über den Bergwald hinunter nach dem Lokistein. „Laß gut sein, Greinwalder, das Blattl soll sich wenden, und müßt’ ich selber drein schlagen mit allen zwei Fäusten! Den Wazemannsbuben soll ein Riegel gelegt werden!“

„Es wär’ an der Zeit!“ Und um dieses Wort zu bekräftigen, erzählte der Geinwalder, was er und die Seinen von den Wazemannsleuten erduldet hatten seit langen Jahren. „Bei meinem Vater haben sie angefangen,“ so schloß die böse Litanei, „und jetzt kommen sie über mein Kind. Schau’ sell hinüber, Gottesmann!“ Er deutete nach einer einsam stehenden Fichte, welche ohne Gipfel war. „Dort steht noch die Ficht’, an deren Gipfel die Wazemannsknecht’ meinen Vater gebunden haben, weil er sich als Freibauer gewehrt hat wider die Fron’. Den Gipfel hat mein Vater abgeschnitten, und der dürre Stecken harret in meiner Kammer auf den Tag, an dem heimgezahlt wird!“

Die Greinwalderin kam aus der Thür und blickte, als sie die zwei roten Köpfe sah, besorgt von dem einen zum anderen. Dann sagte sie zu Schweiker. „Geh’, komm ein lützel herein, meine Dirn’ laßt mir keine Ruh’ nimmer, allweil verlanget sie nach Dir!“

Mit einem Sprung war Schweiker im Haus. Als der Greinwalder ihm folgen wollte, hielt ihn das Weib am Kittel fest und fragte scheu: „Hast doch nicht gescholten wider die Wazemannsleut’?“

„Und gehörig auch noch!“

„Aber Bauer, Bauer!“ stotterte die Greinwalderin erschrocken. „Wenn’s der Fremde jetzt weitertragt!“

„Der? Da hab’ keine Sorg’!“


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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 14, S. 221–226

[221] Während der Greinwalder und seine Frau noch miteinander redeten, hatte Schweiker die Herdstube betreten. Der niedere Raum zeigte nur armseligen Hausrat, aber der warme Hauch der Wohnlichkeit strömte aus den gebräunten Holzmauern. An den Fenstern waren die Läden vorgeschoben, und nur einzelne Sonnenstrahlen, welche durch die Ritzen fielen, durchspannen wie leuchtende Fäden das in der Stube herrschende Zwielicht. Mit suchenden Augen blickte Schweiker umher. Da klang Hinzulas lispelndes Stimmlein: „Siehst mich nicht?“

Neben dem Herde zeigte sich in der Holzmauer eine Vertiefung, welche einem länglichen Kasten ohne Thür glich. In [222] dieser Vertiefung lag Hinzula auf dem Heubett, den Schoß bedeckt von einer grauen Kotze, auf welcher die Hände ruhten.

Zögernd näherte sich Schweiker; er wollte sprechen, aber nur wortlos rührten sich seine Lippen. Verwundert, fast erschrocken hingen seine blauen Augen an der Hirtin, die ihm, sauber gewaschen und gestrählt, verwandelt schien wie die verwunschene Jungfrau am guten Ende des Märleins. Sie trug ein ärmelloses Kittelchen aus gelblichem Hanftuch; weiß schimmerte das schmale Gesichtlein unter dem Blondhaar und der blutfleckigen Stirnbinde, und nicht minder weiß die nackten Arme, die der Sonnenbrand unter der grauen Hülle, welche sie getragen, nicht hatte bräunen können. Mit schüchternem Lächeln blickte sie zu Schweiker auf. „Gelt, jetzt bleibst noch ein lützel da? Mußt ja doch rasten!“

„Freilich,“ stotterte er, „freilich!“

„So geh’, thu’ Dich doch niederlassen!“ sagte sie und rückte an die Mauer, damit er Platz hätte auf dem Rand des schmalen Lagers. Er streckte schon die Hand nach der Kante und wollte sich setzen, da klang es leise in den Lüften und quoll durch Thür und Wände mit verschwommenem Hall, kaum hörbar noch, wie ein Ruf aus weiter Ferne.

Schweiker richtete sich auf, und seine Stimme zitterte. „Ich kann nimmer bleiben, Kindl ... das Glöckl ruft!“

Erschrocken hob sich Hinzula aus dem Heu und griff mit der Hand nach ihm. Aber er schüttelte den Kopf, daß der lange Flachsbart wie eine Welle floß. Der Atem schien ihr zu versagen, und es währte eine Weile, bis sie fragen konnte. „Aber gelt, Du kommst bald wieder und suchst mich heim?“

Er starrte vor sich nieder und murmelte. „Ich weiß nicht!“

Hinzulas Augen füllten sich mit Zähren. Scheu blickte er auf, und als er an ihren Lidern die Perlen schimmern sah, zog es ihm den Kopf gegen die Schulter, als hätte er einen Krampf im Nacken bekommen. Langsam streckte er die Hand aus, machte das Kreuzzeichen über Hinzulas wunde Stirn und flüsterte: „Friede sei mit Dir!“ Und als wäre ihm der gewohnte Spruch zu kurz und nicht kräftig genug, so fügte er noch bei: „Der liebe Gott soll Dich hüten und schützen, Kindl!“ Dann wandte er sich ab und schritt der Thür zu. Der Bauer und die Bäuerin traten ihm entgegen. „Ja was ist denn, Gottesmann?“. fragte der Greinwalder, „willst denn schon wieder fort?“ Wortlos schritt der Bruder an ihm vorüber, mit beiden Händen den Rosenkranz umklammernd, der hinter seinem Gürtel steckte. „Ja was hat er denn?“ fragte das Weiblein verwundert und starrte ihm nach.

Als Schweiker die freie Wiese erreichte, zog ein schwüler Windhauch über den sonnigen Wald herauf, und heller tönte die Glocke. Immer rascher wurde Schweikers Gang, und als er den Wald betrat, kam er auf dem steilen Hang ins Laufen. Am Ufer der Ache hielt er tief atmend inne. Eine Weile hingen seine Augen mit verlorenem Blick an den schießenden Wellen, dann hob er die Hände und starrte die leeren Arme an. Da gewahrte er die eingetrockneten Blutflecken. Er bückte sich, schöpfte Wasser mit der Hand und begann zu waschen, bis die letzte Spur des Blutes getilgt war. Als wäre er müde geworden von diesem Werk, so ließ er sich am Ufer niedersinken auf einen Stein, stützte die Arme auf und drückte das Gesicht in die Hände. Vor seinen Füßen ließ sich im Wasser ein leises Plätschern hören. Ohne daß Schweiker es merkte, war der Rosenkranz hinter seinem Gürtel hervorgeglitten und in den Bach gerollt. Die hölzernen Perlen schwammen, ein Wirbel ergriff und drehte sie; hier stießen sie wider einen Stein, dort hafteten sie an einem niederhängenden Ständlein aber eine leuchtende Welle faßte die Perlen und trug sie gaukelnd davon.




17.

In der Mittagssonne ritt Herr Waze über die Schönauer Felder. Auf einzelnen Aeckern schnitten die Leute das Korn, auf anderen lagen schon die gebundenen Garben und harrten des Erntekarrens. Wo Herr Waze ritt, eilten die Knechte und Mägde auf ihn zu und küßten ihm unter scheuem Gruß den Steigbügel. Ritt er weiter und blickte sich um, so sah er, wie sie beieinander standen und die Köpfe zusammensteckten.

Am Gehöft des Kaganhart führte sein Weg vorüber; das Thor war geschlossen, und lautlose Stille lag über dem Hag. Doch als Herr Waze durch einen Hohlweg niederwärts ritt gegen den Thalwald, begegnete ihm die Hausfrau des Kaganhart mit beladener Kraxe. Scheu blickte sie zu dem Reiter auf und trat seitwärts in die Dornbüsche. Herr Waze musterte das Weib, und ein dünnes Lächeln glitt über seine Lippen. „Woher, Hilmtrud?“ fragte er, das Pferd verhaltend.

„Von der Alben, Herr!“

„Wo ist Dein Hauswirt?“

„Der kehrt morgen heim.“

„So? Nächtet er auf der Alben oder“ – wie zei Dolche blitzten die Augen des Reiters auf Hilmtrud – „oder hat er vielleicht einen Weg in der heutigen Nacht?“

„Einen Weg, Herr?“ stotterte das Weib. „Ich weiß nicht, was Ihr meinet.“

Eine Weile schwieg Herr Waze, dann sagte er lächelnd: „Da hast Du aber eine schwere Krax’ voll Zeug. Wenn Du abladest daheim, so vergiß nur nicht, daß mir Dein Hauswirt von Sonnwend’ her noch die halbe Steuer schuldet.“ Hilmtrud erblaßte und schlang die beiden Arme rückwärts um die Kraxe. „Schau’ doch,“ lachte Herr Waze, „meine Mahnung treibt Dir ja alles Blut aus dem Gesicht! Ihr braucht Euer Sach’ wohl selber, gelt? Freilich, das ist ein schlechter Sommer heuer. Und ich möcht’ Deinem Hauswirt die Steuer wohl gern erlassen. Aber ein Dienst, mein’ ich, wär’ des anderen wert.“

„Was müßt’ er denn schaffen dafür?“ fragte die Bäuerin hastig.

„Nicht viel. Nur heimlich müßt’ er mich wissen lassen, für wann er zum Thing auf den Totenmann geladen ist.“

Eine dunkle Röte schoß über Hilmtruds Gesicht. „Aber Herr,“ stammelte sie, „wie kann er denn das? Der Thingbot’ ruft doch unter Schwur!“

„Freilich! Da wirst Du halt die Steuer zahlen müssen! Und heut’ noch, ober ich müßt’ Dich morgen mahnen lassen durch meine Knecht’!“ Freundlich grüßte Herr Waze und ritt davon. Er hatte den Wald noch nicht erreicht, da kam die Bäuerin ihm nachgelaufen, ohne Kraxe. Mit beiden Händen faßte sie den Bügel, und Herr Waze verhielt das Roß. „Was willst Du noch?“

„Euch sagen, was ich weiß – ich hab’s erlauscht!“ raunte das Weib mit bleichen Lippen. „Er ist geladen ... in der heutigen Nacht, wenn Vollmond einsteht!“

„Heut’ schon?“ lachte Herr Waze. „Da hab’ ich Eil’!“ Und er gab dem Pferde den Stachel.

„Herr, Herr!“ keuchte Hilmtrud, klammerte sich an den Bügel und ließ sich vom Rosse schleifen. „Euer Wort, Herr, Euer Wort, daß es heimlich bleibt und daß die Steuer ... die Steuer ...“ Weiter kam sie nicht; um nicht unter die Hufe des sich bäumenden Pferdes zu geraten, mußte sie den Bügel fahren lassen und taumelte rücklings in die Dornbüsche.

In jagender Eile sprengte Herr Waze davon, vor dem niederhängenden Gezweig des Waldes auf den Hals des Pferdes sich bückend. Bald erreichte er die Ache und den breiteren Reitweg, welcher emporführte zu seinem Haus. Bei einer Wendung des Pfades konnte er über die Bäume niederblicken auf das Fischerwesen, von welchem helle Beilschläge zu ihm heraufklangen. Herr Waze verhielt das Pferd und deckte spähend die Hand über die Augen; in Sigenots Hofreut sah er vier Männer bei der Arbeit.

„Er hat seine Sennen gerufen und festet wohl den Hag.“ Lachend trieb er das Pferd wieder an. „Schlag’ nur die Pfähl’ und leg’ die Balken! Sie sollen mir den Weg nicht sperren, wenn Deine Stund’ gekommen ist!“

Als Herr Waze sich dem Burgthor näherte, kam seine Tochter Recka ihm entgegengeritten; bleich wie ein steinernes Bild saß sie auf ihrem Rappen, die beiden weißgefleckten Bracken sprangen ihr voraus, und während sie mit der Linken die Zügel hielt, trug sie auf der Rechten ihren Liebling Edilo, welcher unsicher, mit gesträubtem Gefieder auf dem ledernen Handschuh saß. Finster blickte Herr Waze auf seine Tochter, welche zum Gruß kaum merklich nickte und schweigend vorüberreiten wollte. Dunkle Röte färbte seine Stirn, er riß das Pferd herum und sperrte Reckas Weg. „Betrag’ Dich wider mich, wie Dir die Laun’ steht, das ist mir alles eins! Aber Narrheit im Weidwerk leid’ ich nicht! Unter der heißen Tagsonn’, das ist keine Zeit zum hohen Flug.“

„Ich reite nicht zu meiner Lust,“ erwiderte Recka in mühsam bewahrter Ruhe, „ich reit’ um des Falken willen. Er krankt seit der heutigen Nacht, Flug und Freiheit werden ihm [223] wohlthun.“ Sie hob die Hand mit dem Falken. „Blick’ ihn an, wie er trauert!“

„Was sollt’ ihm fehlen? Er steht in reichem Futter und in guter Pfleg’ und war noch gestern frisch und wohlauf. Nichts fehlt ihm ... aber ich kenn’ den Vogel: stützig ist er, so wie Du!“

Ein müdes Lächeln zuckte um Reckas Lippen; schweigend, mit großen Augen sah sie den Vater an und setzte das Pferd in Gang. Herr Waze starrte ihr nach. „Wie ihre Mutter war! Das gleiche Lächeln und der gleiche Blick!“ Zornig stieß er dem Roß die Stachel in die Flanken und sprengte dem offenen Thor entgegen.

Eine Stunde später zogen zwei berittene Knechte aus Wazemanns Haus. Als hinter ihnen die Fallbrücke sich wieder gehoben hatte, fragte der eine mit leisem Wort: „Wohin, Gesell?“

Ich hol’ den Rimiger im Lok’wald. Wir reiten nach der Salzaburg zum Haunsperger. Und Du?“

„Zum Fuchsloch auf dem Totenmann. Ich hab’ stille Arbeit heut’ nacht.“ Sie lachten und setzten die Pferde in Trab. Als sie zur Achenbrücke kamen. hörten sie vom Fischerhaus die Beilschläge herüberklingen.

„Was die wohl schaffen mögen?“ fragte der eine, und der andere sagte: „Wie Du, so neugierig ist unser Herr auch; ich muß vorbeireiten und Umschau halten.“

Sie trennten sich; während der eine dem Lauf der Ache folgte, ritt der andere über die Brücke und der Lände entgegen; als er unter den Bäumen hervorritt, sah er seitlich neben dem offenen Hagthor eine Grube ausgeworfen. Und Sigenot kam aus der Hofreut, auf seiner Schulter zwei Schwere, zum Kreuz gefügte Balken schleifend; Wicho mit einer Schaufel und die beiden Sennen mit Beilen und kurzen Pfählen folgten ihm. Sigenot ließ den Kreuzstamm in die Grube gleiten und richtete ihn auf; Wicho schaufelte, und die beiden Sennen trieben rings um das Kreuz die Pfähle in den lockeren Grund. Mit verblüfften Augen sah Wazemanns Knecht den Schaffenden zu. „He, Fischer! Bist denn Du ein Ramsauer worden?“ rief er. „Wäs machst denn da?“

Sigenot blickte auf. „Ich leg’ einen Riegel vor mein Thor und stell’ vor meine Hofreut einen Wächter.“

„Hui, Du“ lachte der Knecht, „vor dem werden die Wölf’ aber laufen im Schnee!“

Die Sennen blickten dem Knechte nach, welcher lachend davonritt; der eine, dem der Bart schon grau war, kratzte sich hinter dem Ohr, lugte an dem Kreuz hinauf und fragte leise: „Wicho, was meinst denn?“

„Ich mein’, was mein Herr meint!“ erwiderte Wicho und stampfte mit den Füßen um das Krenz her die Erde fest. „Was der gered’t hat, ist noch allweil Eisen gewesen. Wenn er sagt: das Holz hilft, so hift’s auch!“

Sigenot war über den Hügel emporgestiegen und hatte die Halle betreten. Mutter Mahtilt saß im Lehnstuhl, Edelrot vor ihr auf dem Herdrand, neben dem flackernden Feuer; ihre Gesichter waren bleich und ernst ... seit dem Morgen kannten sie die Gefahr, die über ihren Häuptern schwebte und über dem Dach ihres Hauses. „Mutter, schau’ hinaus durchs Fenster,“ sagte Sigenot, „schau’ nur: es stehet schon!“

Mutter Mahtilt aber schüttelte den Kopf und wandte die Augen zur Herdflamme; sie griff nach einem Bündel dürrer Kräuter, welches neben dem Herd in einer Ecke lag, zog eine Himmelbrandstaude hervor und warf sie in das Feuer, zu stummen Worten die Lippen rührend. Sigenot atmete tief, und Kummer sprach aus seinen Zügen. „Was rufst Du noch die guten Holden, Mutter? Schau’ hinaus ... von allen Guten der Best’ hat seine Kreuzarm’ wehrend ausgestreckt vor meiner Hofreut! Und sein einschichtiger Arm ist stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen. Das hat mir einer gesagt, der die Treu’ ist und der nicht Lügen redet.“

Stumm saß Mutter Mahtilt und legte eine neue Staude in die Flammen, während Sigenot zum Steintisch ging, die Eisenhaube über den Scheitel drückte und mit dem Schwertgurt die Hüften umschloß. Zum Herde zurückkehrend, streifte er mit der Hand über das graue Haar der Mutter und küßte ihre Stirne. „Komm, Rötli!“ Er faßte die Hand der Schwester und verließ mit ihr die Halle. Schweigend, Hand in Hand, stiegen Sie über den Hügel hinunter und traten vor das Hagthor.

„Schau’, da steht es!“ sagte Sigenot, die Schwester zum Kreuze führend. „Jetzt leg’ Deine Hand an das Heilholz!“ Edelrot that es, und über die Hand der Schwester drückte Sigenot die seine. „Jetzt schau’ hinauf und sag’: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘“

Edelrots Lippen zitterten. „Mein guter Herre, Du mein Gott!“

Aufatmend legte Sigenot den Arm um Rötlis Schulter. „So, Schwesterlieb, jetzt hadt einen festen Hüter! Jetzt geh’ hinein zur Mutter und bleib’ bei ihr – jetzt thu’ ich ohne Sorg’ den Weg, auf den der Schwur mich ruft!“ Er führte die Schwester zum Hagthor, küßte ihr Haar und schritt der Ache zu.

„Wohin geht er?“ fragte der jüngere der Sennen. Und der ältere murmelte: „Ich mein’ wohl, daß ich es rat’.“ Aber Wicho fiel ihm ins Wort: „Wenn Du’s weißt, so schweig’!“ Der Alte nickte, und seine grauen Augen spähten hinaus an die Ferne, in welcher eine dunkle Waldkuppe aus dem Thal emporstieg, der Totemann.

Sigenot folgte dem Pfad am Ufer der Ache und erreichte den Untersteiner Forst. Da hörte er das Gelärm zweier Hunde. Es waren Reckas Bracken, welche die auf weiter Lichtung gelegenen Achensümpfe durchstöberten. Am Rande des Röhrichts hielt die Wazemannstochter auf ihrem Rappen und spähte mit scharfen Augen über das Schilf, auf erhobener Hand den stillen trauernden Falken. Die Hunde jagten; einzelne Stücke Rotwild, die im Sumpfe Kühlung gesucht, flüchteten dem Walde zu, behängt mit Schlamm und triefend von Wasser. Eine Weile war Stille, dann wieder läuteten die Hunde; es rauschte im Schilf, und eine Kette Rohrhühner stob nach allen Seiten auseinander. Recka enthaubte den Falken und schwang ihn unter lautem Ruf: „Holiiih! Holiiih!“ Edilo schlug wohl mit den Schwingen, aber nur, um den Halt nicht zu verlieren und seine Fänge klammerten sich auf dem Handschuh fest. Erschrocken blickte Recka auf ihren Liebling. Er schüttelte das Gefieder, zog den Kopf zwischen die Schwingen, und während er lechzend den Schnabel öffnete, folgte sein unruhiger Blick den entschwindenden Hühnern.

„Edilo! Mein Trautgesell! Was ist Dir?“ stammelte Recka und ihre Augen wurden naß; sie ließ die Zügel sinken, drückte den Falken an ihre Brust und streichelte ihm Kopf und Schwingen; aber so sacht ihre Hand auch glitt, sie schien den Falken zu drücken, denn er sträubte sich wider die Zärtlichkeit seiner Herrin. Die Hunde jagten und mit ängstlichem Kreischen hoben sich zwei Wildenten über das Röhricht. „Holiiih! Holiiih!“ Mit kräftigem Schwung warf Recka den Falken in die Luft. Edilo taumelte, doch er breitete die Schwingen und begann zu schlagen, flatternd hielt er sich einen Augenblick auf der gleichen Stelle, dann klang sein gellender Schrei, und pfeilschnell flog er den kreischenden Enten nach, welche sich über die Baumwipfel erhoben hatten und dem Schönsee entgegenstrebten. „Er gesundet!“ jauchzte Recka, und auf jagendem Roß, durch aufspritzendes Wasser und brechendes Röhricht folgte sie ihrem Trautgesellen.

Im Schatten des Hochwaldes wanderte Sigenot; er hatte den Pfad verlassen, um die Lichtung zu vermeiden, auf welcher er die Bracken läuten hörte. Da klang über ihm in den Lüften das klagende Geschrei einer Wildente; er blickte auf ... es rauschte und knackte in den Wipfeln und wenige Schritte vor ihm stürzten zwei zum Klumpen geballte Vögel mit dumpfem Fall auf den Moosgrund. Die Flügel gespreizt, den Hals mit offenem Schnabel auf die Erde gestreckt, so lag die Ente im Verenden unter dem Falken, der die eine „Hand“ in ihren Rücken, die andere in ihren Hals geschlagen hatte; er hielt die Schwingen steil erhoben und hackte langsam und matt mit dem Schnabel nach dem Kopf der Ente. Festgebissen hing er an seiner toten Beute, sein Gefieder blähte sich auf, seine zitternden Schwingen fielen, und lautlos sank er in das Moos, mit den scharfen „Händen“ noch verkrampft im Fleische seines Opfers.

„Ihr Liebling!“ Sigenot eilte auf den Falken zu. Aber da sprengte Recka zwischen den Bäumen einher, mit dem zornigen Ruf: „Laß Deine Hand von meinem Falken!“

Die Stirn von dunkler Röte übergossen, trat Sigenot zurück, während Recka aus dem Sattel sprang. Nun sah sie den Falken liegen, leblos. „Edilo!“ jammerte sie und warf sich auf die Knie. Mit zitternden Händen löste sie die Fänge des Falken und rüttelte ihn, als könnte sie ihn gewaltsam wieder zum Leben erwecken! „Edilo!“ Aber die Schwingen des Vogels hingen schlaff, sein Kopf baumelte, und über die erloschenen Augen waren halb die dünnen gelben Lider gefallen. Recka ließ den toten Falken sinken und starrte ihn an. „Mein Einziges, mein Letztes und Liebstes!“ Zähren perlten über ihre Wangen.

[224] Ein Zittern befiel den Fischer, als er diese Thränen sah. „Geh’, thu’ nicht weinen!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Schau’, wenn ich den Falken wieder lebig machen könnt’, ich weiß nicht, was ich gäb’!“

Recka hörte nicht, was er sagte, nur der Klang seiner Stimme schlug an ihr Ohr; sie hob die funkelnden Augen, ihr Gesicht verzerrte sich im Zorn und mit geballten Fäusten sprang sie auf. „Fischer, was hast Du meinem Falken gethan?“

„Nichts, Recka!“ stammelte Sigenot. „Ich hab’ ihn nicht angerührt.“

„So hat ihn wohl die Ente zu Tod gestochen mit ihrem stumpfen Schnabel? Oder hat sie ihn erwürgt, da sie schon verendet lag? Er flog und lebte ... und Deine Hände haben gegriffen nach ihm!“ Sie trat vor den Fischer hin, bebend vor Zorn und Erregung. „Was hast Du meinem Falken gethan?“

„Nichts, Recka! Ich hab’ es schon einmal gesagt und meine Red’ ist Treu’ und Wahrheit.“

„So treu und wahr, wie daß mein Falk noch lebt!“ fiel Recka dem Fischer mit schriller Stimme ins Wort. „Wenn Du ihn schon erschlagen hast, so hab’ doch den Mut und sag’ mir’s ins Gesicht! So sag’ es doch frei heraus: das ist die Vergeltung für Hennings Pfeil und Stein!“

„Recka!“ Erbleichend war Sigenot zurückgetreten.

„So nimm sie, Deine Buß’!“ Mit zuckender Hand hob sie den Falken von der Erde und schleuderte ihn vor die Füße des Fischers. „Hennings Pfeil hat Dich gefehlt, mich aber hast Du getroffen in meinem Einzigen und Liebsten. Und üble Buß’ hast Du genommen ... Henning hat geschlagen wider einen, der in Wehr und Eisen geht, Du aber hast geschlagen wider mein wehrloses Tier ... noch schlechter als er bist Du!“ Zorn und Zähren erstickten ihre Stimme, sie wandte sich ab und ging ihrem Rosse zu, welches mit schleifendem Zügel zwischen den Baumen graste.

Da vertrat ihr Sigenot den Weg. Fahle Blässe bedeckte seine Züge, seine Augen brannten und seine Stimme klang, als läge eine würgende Hand an seiner Kehle. „Du hast mir gesagt, was keiner, der Mannesnamen hat, mir sagen hätt’ dürfen, ohne daß ich ihn niedergeschlagen hätt’ mit meiner Faust.“ Mit heiserem Lachen richtete sich Recka auf, und ihre Hand griff nach dem Messer am Gürtel. „Laß die Hand von Deiner Wehr! Ich brauch’ nicht denken, daß Du ein Weib bist, ich denk’ nur, was Du gestern gethan hast für meine Schwester ... und der Schimpf, den Du mir angethan, ist wett gemacht. Noch einmal sag’ ich Dir: ich hab’ Deinem Vogel an keine Feder gerührt! Ich hab’ gesehen, wie er fallt und wie ihm das Leben ausgeht ... und mir ist leid gewesen um ihn, denn ich hab’ gewußt, daß der Vogel Dir lieb ist. Hätt’ ich Buß’ gesucht für Hennings Pfeil und Stein, ich hätt’ wohl anderen Weg genommen als zu Dir und Deinem Vogel!“

Recka wollte sprechen, doch wie ein glühender Strom floß Sigenots Rede. „Ich hab’ gar wohl geschieden zwischen Deinem Bruder und Dir! Und hab’ ich ihn gehaßt wie der Tag die Nacht ... Dir bin ich gut gewesen wie der Baum dem Licht. Was schaust mich an? Das Wort ist heraus ... und weil wir schon raiten miteinander, soll geraitet sein bis auf das letzte Wörtl! Dir bin ich gut gewesen, seit ich denk’ ... und hab’ zu Dir aufgeschaut wie die Morgenerd’ zur lieben Sonn’. Ich mein’, Du hätt’st es merken können auf dem Weitsee in derselbigen Sturmnacht, in der ich untreu mein eigen Blut hab’ sinken lassen, weil ich greifen hab’ müssen nach Dir!“

Reckas Gesicht verfärbte sich, und mit tastender Hand griff sie nach einem Baum, als bedürfte sie einer Stütze.

„Und seit ich Dich in derselbigen Nacht gehalten hab’ an meinem Herzen, derzeit hab’ ich hangen müssen an Dir in Weh’ und Lieb’, derzeit hab’ ich denken müssen an Dich in Licht und Finsternis, öfter in jeder Stund’, als der streifende Wolf in der Schneenacht die eigene Fährt’ überläuft!“ Schweratmend verstummte Sigenot und drückte die Fäuste auf seine Brust, als könnte er gewaltsam den Sturm bezwingen, der in seinem Herzen entfesselt war.

„So sprich doch weiter!“ stieß Recka mit versagender Stimme hervor. „Red’ es doch zu End’, was mein Vater begonnen hat in der heutigen Nacht ... es klingt ja Deine Red’ zu der seinigen wie das Echo zum Hall.“ Sie lachte zornig. „So sag’ es doch, daß Du mit ihm eins geworden ... sag’ es doch, daß Du geschachert hast und den Preis bestimmt, für den Du mit ihm gehen willst auf gleichem Weg und zu ihm halten wider die Klosterleut’! Eins aber merk’ Dir: eh’ Du mit Deiner heiß gewordenen Fischhand rühren sollst an mich, eh’ mögen die da draußen beim Lok’stein meines Vaters Dach über mich und meine Brüder werfen!“

Sigenots Arme sanken und seine Augen richteten sich mit festem Blick auf Recka. „Ich weiß nicht, was Du meinst! Doch daß ich zu Deinem Vater und zu Deinen Brüdern halt’, daß ich einen Weg geh’, auf dem ich Treu’ und Recht nicht find’, dafür giebt’s keinen Preis in der Welt, und möcht’ er so schwer auch wiegen, wie Du mir gewogen hast! Ich kann mein Herz nicht umwerfen, wie der Bauer die Erd’ mit seinem Pflug ... aber sterben kann ich an meiner Treu’, die meinem Haus und Blut gehört und dem, was recht und gut ist! Schau’ her!“ Er raffte einen dürren Ast von der Erde. „Schau’ den Stecken an! In aller Not, die Deine Brüder sinnen wider mein Haus, nach allem Schimpf noch, den Du mir angethan, hängt meine Lieb’ an Dir wie Holz an Holz! Aber so“ – mit jähem Ruck zerbrach er den Ast und schleuderte das eine Stück zur Linken, das andere zur Rechten – „so gehen unsere Weg’ auseinander! Ich bin, was ich sein muß ... und Du bist Blut von Wazes Blut! Zwischen Dir und mir ist ein Wasser, das nimmer ausrinnt, zwischen Dir und mir ein Berg, der nimmer fallt und eben wird!“

Mit bleichen Lippen wandte Sigenot sich ab und schritt durch den Wald der Ache zu. Recka stand zitternd, mit fahlem Gesicht und ballte die Faust. „Triff ihn, Henning!“ keuchte sie. „Triff ihn ... und ich will den Streich nicht schelten!“ Stöhnend schlug sie die Hände vor das Gesicht und so stand sie lange, an den Baum gelehnt. Endlich ließ sie die Arme sinken; wie versteinert waren ihre Züge. Sie ging auf den Falken zu, hob ihn von der Erde und bestieg das Roß; langsam ritt sie durch den Wald, keinen Zügel führend, dem Pferde die Sorge um den Weg überlassend. Im Schoße hielt sie ihren toten Liebling, und während sie mit starrem Auge auf ihn niederblickte, suchte ihre zitternde Hand das wirre Gefieder zu glätten.

Um die Wildente, welche vergessen im Moose lag, begannen die Fliegen zu summen ...

Der Abend kam, still und mit goldigem Schimmer. Ein leiser Wind erwachte und von den grünen Buchen flatterte zuweilen ein gelbes Blatt zur Erde; im Sommerleben der Natur erwachte schon die Ahnung des nahenden Winters. Ueber den Feldern der Schönau, hoch in den Lüften, kreiste eine Schwalbenschar, die sich sammelte zur Wanderung in die Ferne.

Im roten Schein der sinkenden Sonne wanderte Sigenot, einem Pfad am Ufer der Ramsauer Ache folgend, über die Halden der Strub, vorüber an kleinen hagumschlossenen Hütten. Von der Höhe des Lokiwaldes klang der Hall der Glocke. Sigenot verhielt die Schritte und seine Augen schweiften mit kummervollem Blick hinauf über das schattige Waldgehänge. „Für alles kann er halt doch nicht helfen!“ murmelte er, streifte mit der Hand über die Stirn und wanderte weiter.

Die Glocke klang. Sie läutete den letzten Feierabend der Woche ein und grüßte mit ihrem Hall die vollendete Klause, auf deren mit Reisig, Moos und Rinden gedecktem Dach neben dem hölzernen Kreuzlein ein grünes Tannenbäumchen ragte.

Bruder Wampo kochte am flackernden Feuer das Abschiedsmahl für die Knechte, welche in der Mondnacht mit den Saumtieren heimziehen sollten nach der Salzaburg. Waldram lag im Zelte, gepeinigt vom Schmerz der schwer heilenden Geißelwunden; Eberwein schaffte noch im Zwielicht des Kirchleins, an der hölzernen Platte schnitzend, die er für den steinernen Altar gefertigt hatte. Vom ragenden Kreuze blickte das farbige Bildnis des Erlösers auf ihn nieder.

Vom Strang der Glocke hinweg war Bruder Schweiker wieder in die Klause getreten, um die kleinen Kammern zur Not für diese erste Nacht noch wohnlich einzurichten. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hatten einen verlorenen Blick, und alle Arbeit that er wie ein Träumender.

Die Knechte hatten ihr Mahl genommen und standen zur Heimfahrt bereit, jeder ein Saumtier führend, jeder ausgerüstet mit einer Kienfackel, deren Flammen in der Nacht die Raubtiere verscheuchen und den Weg erleuchten sollten, bis das Licht des Vollmondes niederfiele in das enge Thal. Mit herzlichen Worten gab Eberwein den Knechten Abschied. Schweiker drückte wortlos ihre schwieligen Hände und klopfte die Saumtiere auf den Hals zum Gesellendank für die Arbeit, welche sie redlich mit ihm [226] geteilt hatten in dieser fleißig durchschafften Woche. Seufzend, mit traurigen Augen, blickte Bruder Wampo den abziehenden Knechten nach.

Als sie im Dämmerschein des Abends zwischen den Bäumen verschwanden, sagte Eberwein: „So stehen wir allein und wollen vertrauen auf den Schutz des Himmels. Bruder Schweiker, reiche mir die Stola und das heilige Wasser, daß ich unsere Klause weihe, ehe wir zur ersten Nacht unter ihrem jungen Dach die Häupter bergen!“

Schweiker ging zu den Zelten; als er zurückkehrte, küßte er das weiße goldgestickte Band, bevor er dasselbe um die Schultern Eberweins legte. In sinkender Nacht, umgeben von lautloser Stille, schritten sie um das Kirchlein und die Klause. Mit bewegter Stimme sprach Eberwein die Worte der Weihe und taufte die Klause auf den Namen des heiligen Martin. „So wie Du Martinus, der Du nun wohnest in Gottes Nähe,“ sprach er, aufblickend zum sternhellen Himmel, „so haben auch wir unser frommes Haus errichtet in Wald und Einöd’, zwischen irrenden Menschen und streifendem Getier. Sei diesem Haus, das Deinen Namen trägt, ein Schirm und Schutz!“ Die Brüder sprachen das Amen. Im Kirchlein wurde das ewige Licht entzündet und in der Herdstube das erste flackernde Feuer. Waldram, welcher kaum eines sicheren Schrittes mächtig war, wurde von Eberwein in die Klause geführt. Schweiker brach die Zelte ab und verwahrte das heilige Gerät und die Werkzeuge; Bruder Wampo schleppte das kleine Gebinde mit dem Meßwein und die schmal gewordenen Vorräte in eine der Kammern. Dann saßen Eberwein, Wampo und Schweiker auf niederen Holzklötzen um das flackernde Feuer, dessen Flamme den ersten Ruß an die hölzerne Mauer hauchte. Rot leuchtete der Herdschein in die stille Nacht hinaus, denn Thür und Fenster waren noch unverwahrt. Sie besprachen den kommenden Tag.

„Ich will im Morgengrau die Messe lesen,“ sagte Eberwein, „dann will ich den Stab zur Hand nehmen und hinauswandern über den weiten steinigen Acker, auf dem wir pflügen sollen und Gottes Samen streuen. Unseren Bruder Hiltischalk in der Ramsau will ich grüßen, und von all’ meinen Wegen der erste soll der armen Hirtin gelten, damit ich nach ihrer Wunde sehe.“

Schweiker rückte auf dem Holzpflock und starrte ins Feuer, während Bruder Wampo seufzte: „Jetzt wird das Bartele sobald wohl nimmer kommen! Das ist doch ein schiecher Mensch, der das gethan hat!“

„Er soll es mir sühnen an dem Kinde, so wahr ich Herr dieses Landes bin!“ Eberwein sprang auf. „Herr Waze will nicht kommen, so muß ich ihn rufen zum andernmal!“

„Schicket mich, Herr!“ fuhr es über Schweikers Lippen. „Ich will denselbigen, der Henning heißt, wohl finden in Wazemanns Haus.“

Eberwein schüttelte den Kopf. „Nein, Bruder! Du hast mir zu schnelle Fäuste für solche Botschaft. Ich brauche nur eine Zunge!“

„Dä muß halt die meimge herhalten!“ meinte Wampo. „Schicket mich nur, Herr! Ich will reden mit diesem Waze und seinen Buben – jedes Wörtlein ein Pfeilschuß! Ich fürcht’ mich nicht! Ich will mich schon rüsten mit Kreuz und Rosenkranz, dann sollen sie nur anrücken wider mich!“

Ein freundliches Lächeln ging über Eberweins ernste Züge. „So ziehe morgen hinaus zum Schönsee! Folge nur der Ache, und Du findest den Weg. Und kommst Du in Wazes Haus“ – Eberweins Brauen furchten sich und seine Augen blitzten – „so lad’ ihn im Namen unseres Heiligen, seines Herren, binnen drei Tagen mit seinem Sohne Henning zu erscheinen vor meinem Aug’. Es ist Gericht, das ihn erwartet!“

„In unseres Heiligen Namen, ich lad’ ihn, Herr!“

„Und kommt er nicht,“ murmelte Schweiker, „so will ich ihn holen!“

„Nun wollen wir den Tag beschließen!“ Sie löschten in der Stube das Feuer und gingen zur Ruhe. Eberwein und Waldram schliefen in getrennten Zellen, Schweiker und Wampo gemeinsam in einer Kammer, welche an die Wand des Kirchleins stieß.

  1. Almen.
  2. Ahne
  3. Fischspeer mit Widerhaken, dessen Schaft zugleich zum Vorwärtstreiben des Flosses diente.
  4. Schutt.
  5. Gewand.
  6. Grober Klotz.
  7. Wilde Schwäne.
  8. Dünn gegerbte Netzhaut.
  9. August.
  10. ködern.
  11. Steinwild.
  12. entbehren.
  13. Der Dämon Krankheit.
  14. Sensenschlag.
  15. Tauernwind = Südwind, der über die Tauern (Berge) kommt.
  16. Fischspeer, dessen langer Schaft zum Fortbewegen des Flosses diente.
  17. „Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die dran bauen.“
  18. Stahlbogen.