Frau von Krüdener und die heilige Alliance
Die letzte Zusammenkunft der Kaiser von Rußland und Oesterreich mit dem Prinz-Regenten von Preußen hat in der Seele der Völker Befürchtungen und Erinnerungen an die früher so genannte „heilige Alliance“ geweckt, welche zum großen Theil die Verirrungen des heutigen Europa herbeigeführt und verschuldet hat. Die ursprüngliche Idee zu diesem Bündnisse der Reaction gegen die Freiheit und politische Entwickelung der Völker rührte von einer Frau her, deren ganze Erscheinung und Schicksale ein hohes Interesse in Anspruch nehmen.
Juliane Freifrau von Krüdener wurde am 21. November 1764 in Riga geboren. Ihr Vater, der Baron Vietinghoff, war einer der reichsten Gutsbesitzer in Kurland, ihre Mutter eine Tochter des bekannten Generals Münnich, der eine Zeit lang als Verbannter in Sibirien lebte. Schon als Kind verrieth sie ungewöhnliche Anlagen und eine gewisse Frühreife des Verstandes. Noch im zarten Alter begleitete sie ihre Eltern nach Paris, wo ihr Vater ein bedeutendes Haus ausmachte und mit den berühmtesten französischen Gelehrten vielfach in Berührung kam. Ohne auffallend schön zu sein, zeigte die heranwachsende Jungfrau ein interessantes Gesicht, von Geist belebte Züge und eine hinreißende Liebenswürdigkeit, sodaß es ihr nicht an Bewerbern fehlte, von denen der Baron von Krüdener, ein bekannter Diplomat, ihre Hand erhielt. Ihre Ehe war anfänglich eine glückliche, sie gebar ihrem Gatten einen Sohn und eine Tochter, nachdem sie ihm auf seinen Posten nach Venedig gefolgt war. Hier wurde der geistreichen und liebenswürdigen Frau von allen Seiten gehuldigt; bald war sie der Mittelpunkt der großen Welt und in einen Strudel von Zerstreuungen, Festen, Bällen und Vergnügungen aller Art hineingerissen, wie sie damals die üppige Lagunenstadt in reichster Fülle bot. Unter Andern lernte sie daselbst den Grafen Alexis Stakieff kennen, der eine glühende Leidenschaft für die junge Frau des Gesandten faßte, die zwar von ihr nicht erwidert wurde, aber nicht ohne Einfluß auf ihr ferneres Leben blieb, da die entsagende Liebe des Jünglings unwillkürlich einen mächtigen Eindruck auf ihr nur zu empfängliches Herz machen mußte. Sie begann über ihr eheliches Verhältniß nachzudenken und fühlte sich unbefriedigt, um so mehr, als Herr von Krüdener sich ausschließlich seinen diplomatischen Geschäften überließ und nach dem Brauch der damaligen vornehmen Welt sich wenig mit seiner Gattin beschäftigte. Sein kalter Verstand bei sonst schätzenswerthen Eigenschaften des Geistes und des Herzens vertrug sich nicht mit ihrer Schwärmerei. Dazu kamen Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, herbeigeführt durch den mit seinem Posten verbundenen übermäßigen Aufwand, und außerdem Kränklichkeit der nervösen Frau, die auf Anrathen der Aerzte über Paris nach dem südlichen Frankreich ging, wo sie eine Zeit lang getrennt von ihrem Gatten lebte. Auf ihrer Reise kam sie mit verschiedenen interessanten Personen in Berührung, unter denen der berühmte Schriftsteller Bernardin de St. Pierre, der Verfasser des allgemein bewunderten Romans „Paul und Virginie“, die erste Stelle einnahm. Es war in den ersten Tagen der großen französischen Revolution, als Frau von Krüdener den Boden Frankreichs betrat, und auch sie schwärmte damals mit für Freiheit und Menschenwohl, wie dies bei ihrem empfänglichen und leicht beweglichen Wesen wohl natürlich war.
In Montpellier, wo sie mehrere Monate blieb, machte sie die verhängnißvolle Bekanntschaft eines jungen Husarenofficiers, des Grafen Fregeville; in seiner Gesellschaft besuchte sie die romantischen Quellen von Vaucluse, die Petrarca durch seine Liebessonette für immer verherrlicht hat, und lernte nur zu schnell ihre Pflichten als Gattin und Mutter vergessen. Die Fortschritte der Revolution zwangen den Geliebten, der als Adliger und Soldat des Königs doppelt verdächtig war, zu fliehen; er begleitete Frau von Krüdener über Brüssel durch Deutschland in ihre Heimath, wo sie von ihrem Gatten geschieden zu werden verlangte. Familienrücksichten bestimmten sie indeß, von dieser Forderung wieder abzustehen; sie zog es vor, eine Art von Scheinehe fortzuführen, wozu ihr nur allzunachsichtiger Gatte willig die Hand bot. Nachdem der Geliebte sie verlassen, um dem aufgehenden Gestirn Napoleons zu folgen, ging sie selbst nach Paris zurück, wo sie bald ganz und gar in das Treiben der großen Welt gerieth, mit Leichtsinn neue Verhältnisse knüpfte, um sie eben so schnell wieder zu lösen. Unter Andern soll der Sänger Garat, ein wilder und frivoler Mann, längere Zeit ihr Herz besessen haben. Indeß schützte sie ihr Geist und eine gewisse Idealität, die noch nicht ganz in ihr erstorben war, vor dem völligen Untergang. Sie suchte die Gesellschaft der bedeutendsten Männer und Frauen auf, und zugleich erwachte auch in ihr das Streben, sich als Schriftstellerin auszuzeichnen. Sie veröffentlichte ihren ersten Roman „Valérie“, worin sie ihr eigenes Verhältniß zu dem Grafen Stakieff mit bewunderungswürdigem Talente und leidenschaftlicher Gluth schilderte. Das Erscheinen dieses Buches erregte in Paris ein ungemeines Aufsehen, das sie und ihre Freunde noch durch künstliche Mittel zu fördern suchten. In vollen Zügen genoß sie ihren ersten schriftstellerischen Triumph bis zur Uebersättigung.
Auf den Wunsch ihrer kranken Mutter verließ sie Paris, um nach Riga zurückzukehren. Hier sah sie eines Tages unter ihrem Fenster einen Freund ihrer Familie plötzlich vom Schlage gerührt todt niederstürzen. Der Anblick des Sterbenden machte einen furchtbaren Eindruck auf die reizbare, nervenschwache Frau. Unaufhörlich umschwebte sie das Bild des Todes, so daß sie in eine fast an Wahnsinn grenzende Melancholie verfiel. Unwillkürlich wendete sich ihre bedrängte Seele dem Himmel zu, den sie um Kraft und Erleuchtung vergebens anflehte. In solcher Stimmung wurde sie mit einem frommen Schuster bekannt, der gekommen war, um ihr ein Paar Schuhe anzupassen. Seine Heiterkeit und sein zufriedenes Aussehen fiel ihr auf, so daß sie sich veranlaßt sah, nach dem Grunde zu fragen. Er gab sich ihr als ein Herrnhuter zu erkennen und pries ihr die Macht des Gebetes und die Heilkraft der Religion für alle Bedrängnisse des Lebens an. – In ihrer Liebe getäuscht, von Genüssen aller Art erschöpft, blasirt und angeekelt von der Welt, warf sich Frau von Krüdener mit derselben Leidenschaftlichkeit in die Arme des Glaubens, wie früher in die des Vergnügens. So wurde sie aus einer sinnlichen Weltdame eine fromme Bekehrte, eine Pietistin, indem sie nur den Gegenstand ihres schwärmerischen Eifers wechselte.
Zur Vollendung ihrer Umwandlung ging sie nach Deutschland, wo sie zunächst die verschiedenen Herrnhuter-Gemeinden besuchte und in innige Verbindung mit dem bekannten Geisterseher Jung-Stilling trat. Immer tiefer versank sie in die Abgründe eines phantastischen Mysticismus, worin sie ein abenteuerlicher Pastor Fontaine und eine Bäuerin Kummrin, welche als Prophetin unter den Eingeweihten galt, nur noch mehr bestärkten. In diese Zeit fiel auch ihre nähere Bekanntschaft mit der Königin Louise von Preußen, welche auf ihrer Flucht nach Königsberg der Frau von Krüdener begegnete und in ihrer damaligen Stimmung vielfach mit ihr sympathisirte. – Die großen politischen Ereignisse führten die Letztere nach der Schweiz, wo sie in Genf längere Zeit in Verbindung mit dem jungen Empeytas, einem reformirten Geistlichen und schwärmerischen, aber aufrichtigen Pietisten, sich auf ihren erwählten Beruf vorbereitete, den Armen das Evangelium zu verkündigen. Ihr erstes öffentliches Hervortreten geschah in Heidelberg, wo sie mit einem Erbauungsbuche in der Hand sich in das Gefängniß begab, wo sie das verhärtete Gemüth der Straßenräuber und Diebe zu rühren und zu bekehren suchte. Natürlich erregten ihre derartigen Bestrebungen ein großes Aufsehen; sie fielen noch dazu in eine Zeit, welche, reich an welterschütternden Begebenheiten, wie die Flucht Napoleons aus Rußland und seine [793] nachfolgende Besiegung durch die Völkerschlacht bei Leipzig, an und für sich geeignet war, das Walten der Vorsehung anzuerkennen und einer religiösen Stimmung nachzugeben. Besonders war der Kaiser Alexander von Rußland von einer ähnlichen Richtung ergriffen und von der Heiligkeit seiner Aufgabe nur zu sehr erfüllt, nachdem auch er den Becher des Lebens fast bis zum Grunde erschöpft hatte und durch Zerstreuungen aller Art übersättigt und blasirt war. Die verwandten Naturen suchten und fanden sich durch Vermittlung des Fräulein von Stourdza, einer Hofdame der Kaiserin Elisabeth, deren Bekanntschaft Frau von Krüdener in Karlsruhe gemacht hatte. Es war in Heilbronn, wo Alexander auf seinem zweiten Siegeszuge nach Paris mit ihr zusammentraf. Sie redete zu dem mächtigen Autokraten wie eine Prophetin des alten Bundes; rücksichtslos tadelte sie ihn wegen seines vergangenen Lebens und imponirte ihm durch ihre kühnen, nie zuvor von ihm gehörten Worte.
„Nein, Sire!“ sagte sie im Laufe jener denkwürdigen Unterhaltung, „Sie haben sich noch nicht gebeugt vor dem Erlöser wie ein Verbrecher, der um Gnade fleht. Sie haben noch nicht Verzeihung von dem erbeten, der allein Ihnen die Sünden vergeben kann; Sie haben sich noch nicht gedemüthigt vor Jesus Christus; Sie haben noch nicht wie der Zöllner aus tiefster Seele zu ihm geschrieen: – O Gott! sei mir gnädig, der ich ein großer Sünder bin! – Deshalb können Sie auch keinen Frieden finden! – Hören Sie auf die Stimme einer Frau, welche ebenfalls eine große Sünderin war, welche aber Vergebung zu den Füßen des Kreuzes gefunden hat.“
Alexander hörte tief bewegt ihre Rede und bedeckte weinend sein Gesicht mit beiden Händen. Jetzt erst schien sich Frau von Krüdener zu erinnern, daß sie vor dem größten Autokraten Europa’s stand, und suchte sich zu entschuldigen.
„Nein, Madame!“ entgegnete er, „Ihre Worte sind Musik für meine arme Seele.“
Drei volle Stunden dauerte die Unterredung, bis der Morgen graute, worauf sie der Kaiser tief erschüttert erst entließ.
„Seien Sie ohne Furcht,“ sagte er, ihr zum Abschiede die Hand reichend, „Ihre Worte haben mein Herz gekräftigt und geläutert. Sie haben mich in seiner Tiefe Dinge entdecken lassen, die ich nie zuvor gekannt. Ich danke Gott dafür, aber ich fühle die Sehnsucht nach ähnlichen Belehrungen und deshalb bitte ich Sie, in meiner Nähe zu bleiben.“
Frau von Krüdener folgte Alexander auf seinen ausdrücklichen Wunsch nach Paris, dem früheren Schauplatz ihrer frivolen Weltlust. Hier hielt sie jetzt ihre religiösen Versammlungen, zu denen sich Männer und Frauen aus allen Ständen drängten. In der Faubourg St. Honoré bezog sie das Hotel Montchenu, ganz in der Nähe des Palastes Elysee-Bourbon, wo der Kaiser residirte. Eine geheime Thüre, zu der er den Schlüssel hatte, führte ihn zu ihr, so oft er sich aus dem rauschenden Getümmel der Welt fortsehnte, um den Offenbarungen der neuen Pythia zu lauschen. In der Stille ihrer einsamen Wohnung reifte in ihm der Entschluß zu jener „heiligen Alliance“, deren erster Gedanke allen Nachrichten nach von ihr herrührte. Nur in dem phantastischen Kopfe einer schwärmerischen Frau konnte die Idee entstehen, das Christenthum mit der Diplomatie, den Himmel mit der Hölle zu verbinden. Alexander, erfüllt von seiner weltgeschichtlichen Mission, beabsichtigte nichts Geringeres, als das Evangelium zur Grundlage der Politik zu machen und somit seinen Ukasen nicht nur für Rußland, sondern für das ganze übrige Europa die Bedeutung und Geltung göttlicher Offenbarungen zu verschaffen. Frau von Krüdener gab der Sache auch den Namen, indem sie auf die bekannten Prophezeiungen im Buche Daniel sich stützte, worin eine heilige Verbindung der Könige des Nordens und des Südens verkündigt wird. Der Kaiser selbst schrieb den ganzen Entwurf eigenhändig nieder und übergab ihr denselben mit der Bitte, ihn durchzusehn und zu corrigiren. Sie gab einige Bemerkungen dazu und den Namen „heilige Alliance“.
Das merkwürdige Aktenstück lautete folgendermaßen:
Da Ihre Majestäten, der Kaiser von Oesterreich, der König von Preußen und der Kaiser von Rußland, in Folge der großen Begebenheiten, welche die letzten drei Jahre in Europa auszeichneten, und besonders in Folge der Wohlthaten, die es der göttlichen Vorsehung gefallen hat, über die Staaten zu verbreiten, deren Regierungen ihr Zutrauen und ihre Hoffnung allein auf sie setzen, die innige Ueberzeugung von der Nothwendigkeit erhalten haben, den von den Mächten in ihren gegenseitigen Beziehungen beobachteten Gang auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, welche uns die heilige Religion unseres Heilandes lehrt, so erklären Sie feierlich, daß gegenwärtiger Act nichts Anderes zum Gegenstände hat, als im Angesichte der ganzen Welt Ihren unerschütterlichen Entschluß zu erkennen zu geben, sowohl in der Verwaltung ihrer Staaten, als in den politischen Verhältnissen mit jeder andern Regierung blos die Vorschriften jener heiligen Religion zur Richtschnur zu nehmen, nämlich die Vorschriften der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens, die, weit entfernt, blos auf das Privatleben anwendbar zu sein, vielmehr auf die Entschlüsse der Fürsten unmittelbar Einfluß haben und alle ihre Schritte leiten müssen, da sie das einzige Mittel sind, die menschlichen Einrichtungen fest zu begründen und deren Unvollkommenheiten abzuhelfen. Dem zufolge sind Ihre Majestäten über folgende Artikel übereingekommen:
1. Den Worten der heiligen Schrift gemäß, welche verordnen, daß sich alle Menschen als Brüder ansehen sollen, werden die drei Monarchen durch die Bande einer wahren und unzertrennlichen Brüderschaft vereinigt bleiben, und da Sie Sich als Landsleute betrachten, so werden Sie Sich bei aller Gelegenheit und in jedem Falle Hülfe und Beistand leisten; da sie Sich ferner in Hinsicht Ihrer Unterthanen und Ihrer Armeen als Familien-Väter ansehen, so werden Sie selbige in eben dem Geiste der Brüderschaft leiten, wovon Sie zum Schutze der Religion, des Friedens und der Gerechtigkeit beseelt sind.
2. Der einzige Grundsatz, der sowohl zwischen den besagten Regierungen, als zwischen ihren Unterthanen in Kraft sein muß, wird demnach der sein, sich gegenseitig Dienste zu leisten, sich durch unveränderliches Wohlwollen die gegenseitige Zuneigung zu bezeugen, wovon sie beseelt sein müssen, sich alle nur als Mitglieder einer und derselben christlichen Nation anzusehen, indem Sich die drei alliirten Monarchen selbst nur als Bevollmächtigte der Vorsehung betrachten, um drei Zweige einer und derselben Familie zu beherrschen, nämlich Oesterreich, Preußen und Rußland, wodurch Sie mithin erklären, daß die christliche Religion, wozu Sie und Ihre Völker gehören, in der That keinen andern Souverain hat, als denjenigen, dem allein die Macht gebührt, da sich in Ihm allein alle Schätze der Liebe, der Wissenschaft und der unendlichen Weisheit befinden, nämlich in Gott, unserm göttlichen Erlöser Jesus Christus, dem Worte des Allerhöchsten, dem Worte des Lebens. Ihre Majestäten empfehlen daher Ihren Völkern mit der zärtlichsten Sorgfalt als das einzige Mittel, dieses Friedens zu genießen, der aus einem guten Gewissen entspringt und allein dauerhaft ist, sich täglich mehr in den Grundsätzen und in den Ausübungen der Pflichten zu bestärken, welche der göttliche Heiland den Menschen gelehrt hat.
3. Alle diejenigen Mächte, welche die heiligen Grundsätze, von denen die gegenwärtige Acte eingegeben worden, feierlich anerkennen wollen und die es einsehen werden, wie wichtig es für das Glück der nur zu lange beunruhigten Nationen sei, daß diese Wahrheiten künftig auf die menschlichen Schicksale gehörigen Einfluß haben, werden mit eben so viel Bereitwilligkeit als Zuneigung in diese heilige Alliance aufgenommen werden.“ –
Dieses Actenstück wurde zunächst von den drei genannten Monarchen unterzeichnet; später traten demselben sämmtliche christliche Regierungen in Europa mit Ausnahme des Papstes bei, wobei der König von Frankreich und der Prinz-Regent von England die Vorsicht gebrauchten, sich nur persönlich zu verpflichten, ohne dem Lande irgend eine politische Verbindlichkeit aufzuerlegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt es sich annehmen, daß die heilige Alliance ihre geheimen Artikel hatte, die bis zu diesem Augenblicke noch nicht bekannt geworden sind. –
So tugendhaft und fromm-christlich auch die ausgesprochenen Grundsätze dieses neuen Bundes lauteten, so schnell zeigte die Praxis ihre Gefährlichkeit für die Freiheit der Völker. In der Hand eines Metternich und des von der Revolutionsfurcht gequälten Alexander bot die heilige Alliance eine willkommene Handhabe zur Unterdrückung jeder freisinnigen Bewegung, jeder nationalen Erhebung. Mit ihrer Hülfe wurden die italienischen Liberalen unterjocht, in Spanien die constitutionelle Regierung gestürzt und die grauenvollste Reaction herbeigeführt. Auch Deutschland hat einen großen Theil seiner früheren Leiden und noch vorhandenen [794] Uebel der heiligen Alliance zu verdanken, die weit eher den Namen der „unheiligen“ verdiente und darum von den Völkern mehr und mehr gehaßt wurde. Ursprünglich in der Theorie von den Ideen der größten Humanität und Christenliebe ausgehend, war sie in der Praxis die Feindin jedes Fortschrittes, die Ursache aller Unterdrückung, bis sie zuletzt von ihrer schwindelnden, phantastischen Höhe der allgemeinen Menschenbeglückung zu einer gewöhnlichen europäischen Polizei-Anstalt herabsank. Statt des erträumten Friedens brachte sie nur neue Kriege und Verwirrungen, statt der ausgesprochenen Bruderliebe säte sie nur Haß, Zwietracht und Verfolgung aus. Der schwärmerische Alexander sah seine eigene Schöpfung sich bei Gelegenheit des griechischen Aufstandes gegen ihn kehren, indem der schlaue Metternich den Kaiser mit den eignen Waffen schlug und ihn zurückhielt, seinen bedrängten Glaubensbrüdern erfolgreich beizustehen. Nach und nach lockerte sich das Bündniß, wenn auch die Stifter desselben bis zu ihrem Tode befreundet blieben. Die heilige Alliance löste sich stillschweigend auf und starb aus Mangel an innerer Lebensfähigkeit, ein trauriges Angedenken an ihre mehr verderblichen als segensvollen Wirkungen hinterlassend.
Frau von Krüdener selbst erkannte wahrscheinlich, daß die Großen dieser Welt nur wenig geeignet waren, das von ihr verkündigte Evangelium in sich aufzunehmen; sie wandte sich deshalb von Neuem und ausschließlich dem Volke und zwar vorzugsweise den Armen, Leidenden und Hilfsbedürftigen zu, wobei sie jedoch nicht mit der nöthigen Vorsicht verfuhr und mehr Schaden als Nutzen stiftete. Zunächst ging sie nach Basel, wo sie in Gemeinschaft mit dem jungen Empeytaz öffentliche Vorträge hielt, die besonders von Frauen und Mädchen aus den niederen Ständen besucht wurden und zu allerlei ärgerlichen Auftritten Veranlassung gaben, sodaß die Obrigkeit sich veranlaßt fand, Frau von Krüdener auszuweisen. Nicht besser erging es ihr in Lörrach und Aarau, wohin sie sich später wandte. Im Jahre 1816 hielt sie sich in der Nähe von Basel, aber auf badenschem Gebiete, in dem sogenannten Grenzacher-Horn auf, wo sie Tausende von Armen, welche durch die damalige Hungersnoth außerordentlich litten, um sich versammelte. In ihren Predigten eiferte sie gegen die Reichen und empfahl statt Arbeit und Geduld eine gedankenlose Frömmigkeit und die alleinige Heilkraft des Gebetes. Auch die badensche Regierung fürchtete, und, wie es scheint, nicht ohne Grund, Störungen der öffentlichen Ordnung, zumal sich auf dem Grenzacher-Horn eine völlige Bettlergemeinde angesiedelt hatte. Sie ließ deshalb die Wohnung der Frau von Krüdener von Landjägern des Nachts umringen und die zahlreichen Armen gewaltsam nach Lörrach abführen. Frau von Krüdener wandte sich in Folge dieses Vorfalls an den damaligen Minister des Innern, Herrn v. Berkheim, in einem merkwürdigen Schreiben, worin sie ihm die Noth des Volkes und ihre eigenen Bestrebungen in der eindringlichsten Sprache vorstellte, indem sie zugleich dem Befehle der Obrigkeit das Gebot Gottes entgegensetzte, sich der Hülflosen anzunehmen.
Gezwungen Baden zu verlassen, trat sie ihre Irrfahrten durch ganz Deutschland an; überall, wo sie erschien, erregte sie das größte Aufsehen durch ihre Predigten, die sie im Freien hielt und in denen sie ungescheut ihre pietistisch-socialen Grundsätze aussprach; überall strömten ihr die Menschen und besonders die Armen zu, so daß sie oft dreitausend Zuhörer und mehr bei ihren Reden zählte, aber überall wurde sie auch bald polizeilich ausgewiesen und verfolgt. Einige Ruhe war ihr nur in Leipzig gegönnt, aber auch hier sah man sich veranlaßt, sie endlich auszuweisen und mit Hülfe der preußischen Behörden über die Grenze nach Rußland zu bringen, wo ihr der Aufenthalt unter manchen Beschränkungen gestattet wurde. Trotz ihres früheren freundschaftlichen Verhältnisses mit dem Kaiser Alexander mußte sie Petersburg für immer vermeiden, wo sie sich allzu lebhaft für die Befreiung des griechischen Volkes ausgesprochen hatte, ebenso mußte sie auf jede öffentliche Wirksamkeit verzichten.
Leidend und lebenssatt zog sie sich nach der Krim in selbstgewählte Verbannung zurück, wo sie am 13. December 1824 zu Karasubasar in den Armen ihrer Tochter starb.