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Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Kritische Umschau (2): I. Ouverturen

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Ouverture zur schönen Melusina Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Kritische Umschau (2): I. Ouverturen
Kritische Umschau (2): II. Concerte für Pianoforte mit Orchester


Kritische Umschau.
I.
Ouverturen.
Erste Ouverture von J. W. Kalliwoda, W. 38.
Zweite Ouverture von demselben, W. 44.
[H 1]


Die Gegenwart wird durch ihre Parteien charakterisirt. Wie die politische kann man die musikalische in Liberale, Mittelmänner und Reactionäre oder in Romantiker, Moderne und Classiker theilen. Auf der Rechten sitzen die Alten, die Contrapunctler, die Antichromatiker, auf der Linken die Jünglinge, die phrygischen Mützen,[H 2] die Formenverächter, die Genialitätsfrechen, unter denen die Beethovener als Classe hervorstechen. Im Juste-Milieu[H 3] schwankt Jung wie Alt vermischt. In ihm sind die meisten Erzeugnisse des Tags begriffen, die Geschöpfe des Augenblicks, von ihm erzeugt und wieder vernichtet.

Kalliwoda gehört zu den Mittelmännern, zu den Freundlichen, Klugen, zu Zeiten Gewöhnlichen. Seine Symphonieen sind Blitze, die einmal an römischen und griechischen Ruinen hingleiteten. Sonst hat man von ihm als Republicaner nichts zu fürchten.

Als Einleitungssätze zu dieser oder jener öffentlichen Zusammenkunft mögen diese Ouverturen gut geheißen werden. Das Volk will dabei so wenig wie möglich nachdenken. Es gibt noch dies und das vor Schauspielanfang, vor dem eigentlichen Concert abzumachen — da sind denn musikalische Allgemeinheiten, leichte, hübsch gestellte Redensarten am rechten Ort.

Das erste Violinthema der ersten Ouvertüre ist in der Art, wie sie durch Spohr und Weber bei Marschner, Reißiger, Wolfram[H 4] angeregt worden. Das zweite in der gewöhnlichen Durtonart der Oberterz nicht neu, aber gut singend. Der Mittelsatz aus der Figur im einleitenden Adagio entlehnt, gut eingefügt, wenn auch nicht hoch contrapunctisch. Etwas zu kurz abspringende Cadenz in der Wiederholung des ersten Violinthemas. Alles wie vorher in der transponirten Uebergangwendung nach dem zweiten hin. Anspannung durch ein più mosso. — Die zweite scheint nur eine Zwillingsschwester der ersten, sonst freundlich genug mit italiänischen Augen sehend. Hat man über die eine gesprochen, so läßt sich wenig über die andere sagen. Als schöner ist das zweite Thema auszuzeichnen. Die Sextolen im Adagio sind keine, sondern Triolen.[H 5] Wie oft soll man auf den Unterschied aufmerksam machen! –




J. Moscheles, Ouverture zu Schillers Jungfrau von Orleans. W. 91.[H 6]

Die Armuth der wörtlichen Beschreibung fühlt man bei seinen Lieblingsstücken am lebhaftesten; diese Ouverture gehört zu unsern und nicht nur unter den Compositionen von Moscheles. Wenn bei ihrer Aufführung in Leipzig — so viel wir wissen, der ersten in Deutschland — das Publicum dieser gebildeten Stadt sich theilnahmloser bezeigte, als die Composition verdiente, so ist das erklärlich. Vielleicht dachten Viele an die Schillersche prächtig costümirte Tragödie, während unsre Musik allerdings von jener berühmten Begebenheit und einer bewegten Zeit berichtet, aber ohne groß Gepränge und leidenschaftlichen Ausdruck, gleich als ob uns nur die Geschichte interessiren sollte, nicht die Person des Erzählers. Es ist mir bei dieser Musik immer als läse ich in einer alten Ritterchronik, die sauber mit gothischen Buchstaben geschrieben und alterthümlich bunt ausgemalt. Nur gegen den Schluß hin wird es dem Componisten selbst wie wehmüthiger ums Herz an der schönen Stelle, wo Flöten und Clarinetten von oben herab rufen, — derselbe Augenblick, wo die Schillersche Johanna nach dem Regenbogen in der Luft zeigt bei den Worten „Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen“ u. s. w. Wollte man sonst Gestalten suchen, so würde man leicht die demüthige Helden-Jungfrau, den ritterlichen Talbot u. A. erkennen können. Hier thut bei Jedem die Phantasie das ihrige; darin aber werden Alle übereinstimmen, daß die Ouverture kaum zu einem andern Sujet gedacht werden könne, so sehr scheint sie uns von dessen Geiste durchdrungen.

Von einem Orchester, das mir die Ouverture zu Dank spielen sollte, würde ich mehr als gewöhnliches Beherrschen der Noten, ja mehr als blos feurigen Vortrag verlangen. Es müßte eine Musik sein, worauf man nicht klatschen dürfte, eine Musik, deren Bedeutung uns erst nach ihrem Verklingen aufginge und dies durch einen Vortrag, wo jede einzelne Virtuosität auf Beifall resignirt, durch eine gleichsam erzählende Darstellung, die nicht sich, sondern die Begebenheit allein hervorzuheben gesucht hätte. –




H. Marschner, große Festouverture (in D.). W. 78.[H 7]


Vor Marschners Talent haben wir jederzeit ehrerbietig den Hut gezogen, vor dieser Ouverture thun wir’s gar nicht. Es ist sehr zu wünschen, daß das Fach der Dutzend- und Juste-Milieu-Ouverturen, in denen 1/4 italiänisch, 1/4 französisch, 1/8 chinesisch, 3/8 deutsch und die Summe null ist, nicht noch auch von unsern besten Componisten cultivirt werde. Lieber lauter Rossinis, als Leute, die es Allen recht machen wollen. Hielten wir Marschner nicht für einen guten Königlichgesinnten, so könnten wir übrigens in seinen Gedanken über das God save the king (namentlich im Allegro, wo es verkürzt englisirt erscheint,) ganz andre erblicken als enthusiastische. Doch das gehört vor ein anderes Gericht.

12.




Hector Berlioz, Ouverture zur heimlichen Vehme (Ouverture des Francs-Juges). W. 3.[H 8]

Die Wahl der Stoffe, die sich Berlioz als Hintergrund seiner Musik stellt, verdient an sich schon den Beinamen des Genialischen. So schrieb er Compositionen zu Goethe’s Faust, zu Moore’s Gedichten, zum König Lear, zum Sturm von Shakespeare, zu Sardanapal, zu Childe Harold von Lord Byron.[H 9] Von der obigen Ouverture weiß ich nicht, ob sie eine freie Concertouverture ist oder ein Drama einleiten soll.[H 10] Indeß bezeichnet der Titel den Inhalt und Charakter scharf genug. Sie ist, wie sich der Leser aus einer frühern Lebensskizze über Berlioz entsinnen wird,[H 11] in einer kritischen Epoche seines Lebens entstanden und trägt davon die Spuren. Freilich ist das Arrangement kaum mehr als ein ärmliches Skelett, worauf der Componist den Arrangeur gerichtlich belangen könnte,[H 12] und allerdings mag sich wohl keine Orchestermusik schwerer zu einem Arrangement eignen, als Berliozsche. So viel aber die Phantasie das Orchester nach den Stimmen ergänzen kann, verlohnt es sich wohl der Mühe eines deutschen, die Ouverture aufzuführen, wär’ es auch nur, um die Extreme der französischen Musikschulen, der Auberschen und dieser, daraus zu sehn. So federleicht scribisch jene, so ungeschlacht polyphemisch diese. Cantoren werden in Ohnmacht fallen über derlei Harmonieen und über Sansculottismus[H 13] schreien. Auch uns fällt nicht bei, die Ouverture etwa mit der Mozartschen zum Figaro vergleichen zu wollen. In der festen Ueberzeugung jedoch, daß gewisse Schulbank-Theoristen viel mehr geschadet als unsre praktischen Himmelsstürmer und daß Protection elender Mittelmäßigkeit viel mehr Unheil angerichtet, als Auszeichnung solcher poetischer Extravaganz, fordern wir zugleich ein- für allemal unsre Nachkommen auf, uns zu bezeugen, daß wir in Hinsicht der Compositionen von Berlioz mit unsrer kritischen Weisheit nicht wie gewöhnlich zehn Jahre hinterdrein gefahren, sondern im Voraus gesagt, daß etwas von Genie in diesem Franzosen gesteckt.[H 14]



Anmerkungen (H)

  1. [WS] Johann Wenzel Kalliwoda (1801–1866), böhmisch-deutscher Komponist, Kapellmeister und Violinist. Ouverture Nr. 1 d-moll op. 38 (vor 1833); Ouverture Nr. 2 F-Dur op. 44 (1832), beide für Orchester.
  2. [WS] Phrygische Mütze oder Jakobinermütze, Kennzeichen revolutionärer Gesinnung.
  3. [WS] Juste-Milieu, die Mitte, das Mittelmaß.
  4. [WS] Louis Spohr (1784–1859), Carl Maria von Weber (1786–1826), Heinrich August Marschner (1795–1861), Karl Gottlieb Reißiger (1798–1859), Joseph Maria Wolfram (1789–1839).
  5. [WS] Im Sinne einer musikalischen Orthographie werden 3er-Unterteilungen auf den Grundschlag bezogen geschrieben. Kalliwoda schreibt in einem 2/2-Takt (alla breve) Sextolen für den ganzen Takt, statt Triolen bezogen auf die Halben Noten – siehe im Klavierauszug S. 6 u.ö.
  6. [WS] Ignaz Moscheles (1794–1870), böhmisch-österreichischer Pianist und Komponist, seine Konzert-Ouverture für Orchester Jeanne d’Arc F-Dur op. 91 ist von 1834–35. Fassung für Klavier zu vier Händen bei IMSLP
  7. [WS] Heinrich August Marschner (1795–1861), die Grande Ouverture solennelle D-Dur op. 78 wurde 1834 gedruckt.
  8. [WS] Hector Berlioz (1803-1869): Grande Ouverture des Francs-Juges op.3 (1826/1834) Partitur bei IMSLP. Die Oper in drei Akten ist bis auf sechs Nummern verlorengegangen.
  9. [WS] Nach Goethe: Huit scènes de Faust op.1 (1828–1829), 1846 erweitert zu La damnation de Faust op.24, dramatische Legende in vier Akten. Nach Thomas Moore: der Liederzyklus Irlande op.2 (1829), das Chorstück Méditation religieuse op.18,1 (1831/1849), die Ballade La belle voyageuse op.2,4 (1829/1844). Nach Shakespeare: die Konzert-Ouverture Grande Ouverture du Roi Lear op.4 (1831) für Orchester, Fantaisie sur la Tempête (1831, aus dem Monodrame lyrique, Lélio ou Le retour à la vie op.14b) für Chor und Orchester – später komponierte Berlioz weitere Stücke zu Motiven von Shakespeare. Zu Sardanapal: die Kantate nach Jean-François Gail La dernière nuit de Sardanapale (1830), mit der er den Rom-Preis gewann. Nach Byron: Harold en Italie op.16, (1834) für Viola und Orchester.
  10. [GJ] Berlioz schrieb 1826 eine Oper: Les francs-juges, die aber niemals aufgeführt wurde.
  11. [HS] Von Panofka gelegentlich der Symphonie fantastique für die „N. Zeitschr.“ geschrieben. [WS] Heinrich Panofka: Aus Paris – Über Berlioz und seine Compositionen, in: Neue Zeitschrift für Musik 1835, Bd. 2, S. 67–69, 71–72. Internet Archive
  12. [GJ] In der That brachte Nr. 19 der Pariser Gazette musicale einen Brief von Berlioz an F. Hofmeister (vom 8. Mai), worin er sich über die vierhändige Bearbeitung seiner Ouverture hart beklagte. Internet Archive
  13. [WS] Daniel-François-Esprit Auber (1782−1871), französischer Komponist, Vertreter des leichten Genres; Eugène Scribe (1791–1861), französischer Dramatiker und Librettist (u.a. für Auber), Modeschriftsteller seiner Zeit; Polyphem, ein Kyklop (oder Zyklop), ein einäugiger Riese der griechischen Mythologie, primitiv, gewalttätig, frisst Menschen; Sansculottes, Bezeichnung für die revoltierenden Pariser Arbeiter und Kleinbürger während der Französischen Revolution.
  14. [GJ] Ein Jahr später wurde die Vehmrichter-Ouvertüre der Gegenstand eines Federkrieges zwischen Lobe und Zuccalmaglio. Lobe veröffentlichte in der Zeitschrift (1837, VI, 147) ein enthusiastisches „Sendschreiben an Hrn. Hector Berlioz“, in welchem er die Ouvertüre als eine „tiefe, originelle, naturwahre, den ganzen Menschen emporwirbelnde Schöpfung“, als „echte Volksmusik“ pries und verkündete, daß in dem Werte „mehr Regeln beobachtet seien, als wir bis jetzt kennen“ u. s. w. Zuccalmaglio schrieb einen Gegenartikel, ein „Sendschreiben an die deutschen Tonkundigen“, trat bei der „Heiligsprechung Berlioz'“ als advocatus diaboli auf und bezeichnete die Ouvertüre als „alltäglich, ja schülerhaft“. Schumann hatte Zuccalmaglios Artikel anfänglich abgelehnt wegen zu großer Länge und weil ihm die Ouvertüre „gar nicht das viele Reden werth scheine“. Darauf kürzte Zuccalmaglio seinen Aufsatz und ersuchte schließlich die Redaktion „um ein entscheidendes Schlußwort“. Schumann schrieb nun folgendes Nachwort:
    „Wo hier anfangen, wo aufhören! Auf der einen Seite ein excentrischer Lobredner, auf der anderen ein gepanzerter Ankläger, der Gegenstand der Schilderhebung ein dem Componisten vielleicht selbst schon entfremdetes Werk! — Wir glauben, alle drei müssen Zugeständnisse machen: Lobe, daß er die einzelnen Schwächen, die ihm bei ruhigem Blute nicht entgehen konnten, verschwiegen habe — Wedel, daß er, ohne die Partitur und ohne das Werk von einem großen Orchester in Vollkommenheit gehört zu haben, sich nicht wohl zutrauen dürfe, einen Eindruck des Ganzen zu besitzen — Berlioz endlich, daß er selbst recht gut wisse, kein Meisterstück, daß sich eben mit Beethovenschem messen könne, geliefert zu haben. So hätten wir es denn mit dem Werke eines achtzehnjährigen Franzosen zu thun, der wenn auch etwas weniger Genie hat, als der Eine, doch auch mehr Schöpferkraft, als der Andere will. Eine genauere Auseinanderlegung der Gründe verlangte abermals [einen] so großen Artikel. Besser, man spiele die Ouvertüre aller Orten, am besten endlich, man mache, anstatt sich über die Jugendarbeit eines wenn auch ungebildeten, immerhin merkwürdigen Talentes zu erhitzen, schönere und die schönsten; und damit sei Eins dem Anderen empfohlen!
    Die Redaction“.

    Ueber Berlioz' künstlerische Ausbildung zu der Zeit, als er die Vehmrichter componirte, sagt F. Hiller („Künstlerleben“ S. 101): „In der ganzen Musikgeschichte findet sich kein zweites Beispiel von einem Componisten, der bis ins neunzehnte Jahr so wenig Musik gekannt und gehört hatte, wie es bei Berlioz der Fall gewesen, — von dem, was Musiker Musik nennen, hatte er kaum eine Vorstellung. Ebenso wenig mag ein anderer mit complicirteren Versuchen begonnen haben als er, — denn nach den Aufführungen, welchen er in der großen Oper beigewohnt, nach dem Studium Gluckscher Partituren, das er mit bewundernder Freude aufgenommen, begab er sich unmittelbar an die Composition größerer Gesangstücke mit Orchester“. — Damit stimmt, was Berlioz selbst in seinen Memoiren über die Vehmrichter-Ouvertüre, seine erste Orchestercomposition, sagt: „Ich war noch so unwissend in Betreff des Mechanismus einiger Instrumente, daß ich, nachdem ich in der Introduction der Ouvertüre den Des dur-Accord für die Posaunen geschrieben, befürchtete, es werde dies den Bläsern die größten Schwierigkeiten bereiten. Aengstlich befragte ich darüber einen Posaunisten der großen Oper, der mich vollkommen beruhigte und mir von dieser Stelle sogar einen großen Effect versprach. Diese Versicherung erfüllte mich mit solcher Freude, daß ich, nach Hause eilend, auf den Weg nicht achtete und mir den Fuß verstauchte. Seitdem thut mir der Fuß weh, so oft ich das Stück höre. Anderen wird vielleicht der Kopf weh thun“. I.340–341. Anmerkung 58.

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