Heroinen der deutschen Bühne
Heroinen der deutschen Bühne.
Es scheint, als ob eine wehmüthige Beleuchtung auf die Gruppe der Heldinnen fiele, welche in Deutschland noch das Banner der Tragödie hochhalten. Denn wie steht es mit dem deutschen Trauerspiel selbst? Nagt nicht schon der Holzwurm an seinem stolzen Baue? Erschallt nicht unkentönig sein Grablied? Brechen nicht alle seine Stützen zusammen unter dem Sturme und Drange hereindringender litterarischer Neuerung? Und, in der That, wenn man die neuen Lehren hört, so geht es jetzt zu Ende mit dem Trauerspiel, dessen Helden und Heldinnen auf dem Kothurn schreiten und sich groß abheben vom Hintergrund der Geschichte; so ist die Zeit gekommen, wo nur innere Seelenkämpfe alle auf dem Boden unserer gesellschaftlichen Verhältnisse berechtigt sein sollen, sich auf der Bühne abzuspiegeln und höchstens eine eingeteufelte Intrigantin oder eine leidenschaftliche Salondame, die das unterste zu oberst kehrt, noch von einem Abglanz des weiblichen Heldenthums aus früherer Zeit verklärt wird. Dann sähe es freilich schlimm aus mit den Heroinen unserer Bühne, und sie hätten nichts Besseres zu thun, als in den Charonsnachen zu steigen, den jene Kritik für sie bereit hält, und in der Schattenwelt zu verschwinden.
Doch die Aussichten sind nicht so trübe, wie es scheinen mag: noch ist ja unser Bühnenschiff fest verankert im Hafen unserer klassischen Dichter, noch wehen von seinen Masten die stolzen Flaggen eines Shakespeare, Schiller und Goethe, und es ist nicht zu befürchten, daß es so bald von diesen Ankern losgerissen werde, um ziellos auf den Wellen der neuen Sturm- und Drangzeit dahinzutreiben. Und immer wieder tauchen dichterische Talente auf, die nach den gleichen Lorbeeren streben wie jene unsterblichen Dichter. Sie werden sich wieder an Gestalten wagen wie diese, und wenn die hochgehende Brandung der Gegenwart sie zunächst in ihrem schaumspritzenden Wogenschlag begräbt, sie werden wieder auftauchen, und ihr Banner wird sich demjenigen der großen Dichter der Vergangenheit gesellen.
Damit soll indeß nicht gesagt sein, daß es der aus dem Leben der Gegenwart schöpfenden Dichtung, wenn sie von hervorragend Begabten gepflegt wird, versagt sei, Charaktere zu schaffen, deren Verkörperung eine Aufgabe ist für großangelegte dramatische Künstler. Es ist nur schwieriger, solche Gestalten von monumentaler Größe aus dem allzuweichen Material unseres bürgerlichen Lebens herauszuarbeiten, und es ist bisher nur in den seltensten Fällen gelungen.
Unter den Heldinnen unserer Bühne nimmt Charlotte Wolter vom Wiener Hofburgtheater einen hervorragenden Rang ein. Wir haben in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1876, Nr. 6) bereits ihr Bild gebracht, und zwar in einer ihrer Glanzrollen als Messalina in Wilbrandts Trauerspiel „Arria und Messalina“; sie ist also unseren Lesern keine Fremde mehr. Ein Kind der schönen Rheinlande, in Köln geboren, hat sie dort von der Pike auf gedient. Sie begann ihre Laufbahn als Choristin des Kölner Stadttheaters; dann erschien sie an der blauen Donau, ohne Ahnung davon, daß dort einmal ihre Lorbeeren wachsen sollten; denn am Karltheater in Wien war kein Boden für tragische Begabungen, und es war ein weiter Weg von der Leopoldstadt zum Burgtheater auf dem Michaelerplatz, ein Weg, den sie damals unmöglich zurücklegen konnte. Ihr Name wurde zuerst in weiteren Kreisen genannt, als Dingelstedt am Berliner Viktoriatheater seine Bearbeitung von Shakespeares „Wintermärchen" in Scene setzte. Mit so glänzendem Geschick auch diese Bearbeitung das so wenig einheitliche Stück mit seinen oft kindlichen Motivierungen theatralisch wirksam gemacht hatte, ohne das plötzlich auftauchende Talent der Charlotte Wolter würde der Erfolg doch kein so nachhaltiger gewesen sein. Das Schauspiel hat eine große Scene, die Gerichtsscene, und in dieser erhebt es sich zu dramatischer Bedeutung, wenn die Rolle der Hermione von einer berufenen Tragödin gespielt wird. Und als solche offenbarte sich Charlotte Wolter an diesen Abenden; an Shakespeare entzündete sich zuerst ihr Feuer und Dingelstedt war ihr erster dramatischer Mentor. Heinrich Laube hatte schon länger ein Auge auf sie geworfen; er hatte seine dramaturgischen „Detektives", welche sich an die Fersen der jungen Talente hefteten, und Lewinsky, den er nach Berlin geschickt hatte, berichtete von dort, daß die junge Künstlerin sich vielversprechend entwickle. Maurice hatte sie für das Hamburger Stadttheater engagiert, Laube wollte sie für die „Burg“ gewinnen, und es gelang ihm mit schweren Opfern. Hier endlich fand ihre große Begabung die Kunststätte, wo sie sich frei und bedeutsam entfalten konnte. Die ganze Eigenart derselben zeigte sich in leidenschaftlichen Rollen; der Affekt, die Leidenschaft wirkten bei ihr wie eine Naturkraft mit hinreißender, zündender Gewalt. Der unnachahmliche „Wolterschrei“, dieser stärkste packende Ausdruck der aufs höchste gesteigerten Gemüthsbewegung, ist für ihre ganze Darstellungsweise bezeichnend.
Charlotte Wolter ist niemals durch eine strenge Schule gegangen, so groß auch Laubes Einfluß auf sie gewesen sein mag; das Regelrechte, Schulmäßige, am Spalier Gezogene ist ihr stets so fremd geblieben, daß es ihrem Spiele nicht an einzelnen überwuchernden Ranken fehlte. Die harmonische schwungvolle Dichtersprache Schillers und Goethes mochte in ihrer ganzen Klarheit und Reinheit bei geringeren Talenten mehr zur Geltung kommen, wenigstens wo es sich um den ruhigen Vortragston handelte, und die Glanzrollen der Schillerschen Dramen waren nicht die ihrigen; aber Grillparzers Sappho, besonders in den späteren Scenen voll seelischer Erregtheit, seine Medea mit ihrer wilden Leidenschaftlichkeit, die Lady Macbeth, die Gräfin Orsina, die Deborah, die Phädra, die Krimhild und Maria Magdalena in Hebbels Dramen, die Messalina, das waren Gestalten, in denen sie mit ihrem ganzen Naturell aufging, Gestalten voll Lebensblut und, wo es darauf ankam, voll berauschender Liebesgluth, und keine neuere Darstellerin vermochte so wie Charlotte Wolter die Stürme der Leidenschaft zu entfesseln. Schöne ausdrucksvolle Züge, eine Gestalt von Ebenmaß und Fülle zugleich unterstützten ihre künstlerischen Triumphe, und was die gesellschaftliche Stellung betrifft, so konnte die frühere Kölner Choristin als Gräfin O’Sullivan in den Salons der Gattin des obersten Theaterleiters, des Prinzen Hohenlohe, einen bevorzugten Rang behaupten, denselben Rang, den sie in der Glanzepoche des Wiener Hofburgtheaters
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Neben dieser leidenschaftlichen „Naturalistin“, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, neben dieser Darstellerin, bei der alles Eingebung des Genies war, ist Klara Ziegler als die stilvollste Heroine unseres deutschen Theaters zu betrachten. Alles, was sie schafft, ist in großen Linien ausgeführt, ihre mächtige Erscheinung, der Vollklang ihres Organs, ein gewisser majestätischer Faltenwurf ihres Spiels erinnern uns stets an das Bild der Melpomene selbst; es ist, als ob die Göttin der Tragödie in lebensvoller Gestalt vor uns hinträte. Klara Ziegler hat die großen Rollen in getragenem dichterischen Stile stets vor den Aufgaben, welchen etwas Zersetzendes, Auflösendes, geistig Zerklüftetes oder eigenartig Ungewöhnliches beigemischt ist, bevorzugt. So spielt sie bei ihren Gastspielen lieber die Brunhild Geibels als diejenige Hebbels, welche allerdings nicht das ganze Drama beherrscht wie Geibels Heldin; aber davon abgesehen hatte Hebbels absonderliche isländische Norne mit ihren geheimnißvollen Visionen wenig Anziehendes für eine Darstellerin, welche sich lieber der klargezeichneten Brunhild des Lübecker Dichters zuwandte. Nicht als ob Hebbels Muse ihr fremd geblieben wäre: die Judith war eine ihrer Glanzrollen, aber das Heldenmädchen von Bethulia ist in der Bühneneinrichtung des Dramas vorzugsweise eine thatkräftige Heldin, welche den Feind ihres Volkes dem Tode weiht, während in der Buchausgabe die Beleuchtung der großen Scene in sonderbaren Lichtern spielt und allerlei Halberklärtes, Räthselhaftes seine Schatten mit hereinwirft. Uebrigens hat, besonders bei ihrem Engagement in Leipzig 1868, Klara Ziegler auch die Brunhild Hebbels gespielt, und unser Blatt brachte damals ein Bild der Darstellerin in dieser Rolle (Jahrg. 1868, Nr. 32). Auch spielte Klara Ziegler in Kleists wild genialem Drama „Penthesilea“ am Münchener Hoftheater mit vielem Erfolg die Titelrolle. Bei Gelegenheit ihres fünftundzwanzigjährigen Jubiläums haben wir über den Lebensgang der Darstellerin eingehend berichtet (Jahrg. 1887, Halbh. 4). Neue Bahnen hat sie seitdem nicht eingeschlagen und konnte sie nicht einschlagen, denn durch ihre Naturanlage, ihre Erscheinung, ihren früheren Entwicklungsgang ist ihr der Weg ein für allemal fest vorgezeichnet, und wenn neuere Dichtung die modernen Seelengemälde mit roherem oder feinerem Farbenauftrag bevorzugt, so wird sie ihr dorthin nicht folgen wollen und nicht folgen können.
Die vielseitigste der Heldinnen unserer Bühne ist jedenfalls Pauline Ulrich, die ebensogut unter die ersten Liebhaberinnen, ja unter die Lustspieldarstellerinnen eingereiht werden könnte, die aber auch an einem hervorragenden deutschen Theater, dem Dresdener Hoftheater, seit Jahrzehnten die Rollen spielt, welche ins Fach der Heroinen schlagen. Auch diese Künstlerin ist den Lesern unseres Blattes nicht mehr fremd, bereits im Jahrgang 1875 (Nr. 3) brachten wir das anziehende Bild derselben. Pauline Ulrich, eine geborene Berlinerin, trat, nachdem sie als Schülerin der Krelinger in Berlin die fleißigsten Vorstudien gemacht hatte, 1859 in Dresden in den Rollenkreis, welchen Frau Bayer-Bürck damals verlassen hatte, aber sie erweiterte diesen bald nach allen Seiten hin. Ihre hohe Gestalt ist nicht in das feierliche Gewand der Tragödie gleichsam hineingewachsen: sie ist schlank, biegsam, anmuthig, sich auch dem leichten Spiele des Konversationsstückes anschmiegend. Pauline Ulrich spielt Goethes Iphigenie mit dichterischem Adel, aber sie ist auch eine vortreffliche Heldin der Scribe’schen geschichtlichen Lustspiele, und wenn sie überall am Platze ist, wo sie eine große Dame darzustellen hat, so weiß sie auch die Salonrollen des leichten Lustspiels mit feinem Humor zu geben; sie vereinigt markige dramatische Kraft mit einer geistvollen Beweglichkeit und bringt als Shakespeares Beatrice jeden launigen Einfall des großen Dichters zu wirksamer Geltung. Durch zahlreiche Gastspiele hat sie sich in ganz Deutschland und weiter hinaus einen Namen gemacht, doch blieb sie stets fest mit dem Dresdener Hoftheater verwachsen.
Wo aber Pauline Ulrich auftrat, war sie ein gern gesehener Gast: die Harmonie ihres Wesens, das geistvolle Leben, das ihrer Darstellungsweise eigen war, die Vielseitigkeit ihres Talentes übten eine bestechende Wirkung aus, und sie fesselte bei wiederholten Gastspielen das Publikum stets von neuem. –
Es war unter der Direktion Friedrich Haases in Leipzig, als eine junge stattliche blonde Dame zuerst versuchte, die tragischen Lorbeeren zu erringen. Es war eine Märkerin, eine echte Norddeutsche, und sie schien uns allen aus dem Holze zu sein, aus dem man Tragödinnen schnitzt. Leider strafte der erste Theaterabend die günstigen Vorhersagungen Lügen; die junge Kunstnovize trat als Gräfin Julia Imperiali im „Fiesko“ auf, allerdings eine der gefährlichsten Rollen und das Publikum lehnte diese Kunstleistung ab, die Kritik des Foyers äußerte sich nur kopfschüttelnd über die junge Darstellerin. Plumps, Anna Martha – da lag der Topf mit allen schönen Zukunftshoffnungen! Und in der That, Gräfin Julia Imperiali schien den Schleier genommen zu haben, denn sie war gänzlich von der Bühne verschwunden. Nach geraumer Zeit las man eines Tages den Namen der Debütantin wieder auf dem Zettel; sie hatte einen Prolog zu sprechen und sie sprach ihn mit einem so volltönenden Organ, mit solchem Verständniß und so nachdrucksvoll, daß ihr dafür rauschender Beifall zutheil wurde. So war sie wieder aus dem Dunkel hervorgetaucht; sie hatte die Pleißestadt nicht verlassen und in aller Stille Studien gemacht. Nicht lange darauf trat sie als Adelheid im „Götz“ auf und hatte einen durchschlagenden Erfolg; die große Scene mit dem Sendboten der heiligen Feme hatte sie mit hinreißender Kraft gespielt. An diesem Abend hatte die deutsche Bühne eine neue Heroine gewonnen. Anna Haverland wurde zunächst in Leipzig die Trägerin großer Rollen, dann vom Dresdener Hoftheater engagiert, später eine Zierde der Meininger Truppe. Alle Zwischenstationen ihrer künstlerischen Laufbahn, alle Gastspielreisen zu erwähnen, ist hier nicht der Ort; vergangenen Winter gastierte die Künstlerin in New-York, dem großen Wallfahrtsort der deutschen Berühmtheiten, und gegenwärtig ist sie am Berliner Theater Ludwig Barnays thätig. Sie hat ein schönes, klangvolles Organ, und melodisch fließen die Goetheschen Verse von ihren Lippen, wenn sie die Priesterin an Tauris’ Strand darstellt. Für solche getragene hoheitsvolle Aufgaben ist sie in erster Linie berufen, das unvergänglich schöne Dichterwort findet in ihr eine begabte Vermittlerin, die durch ihren Vortrag alle seine Schönheiten unverblaßt zur Geltung bringt. Wo es die Darstellung erregter Leidenschaft gilt, hat sie Kraft und Nachdruck, wenn auch das Verweilen in dämonischen Tiefen ihrem Talent ferner liegt; im ganzen sind ihre Gestalten mehr in ein helles Licht gerückt. Ihr Repertoire ist jetzt dasjenige der gefeierten Heroinen, während sie früher häufiger in den Rollen der ersten tragischen Liebhaberinnen auftrat.
Die Heldin des Stuttgarter Hoftheaters, Eleonore Wahlmann, hat, im Gegensatz zu Anna Haverland, nicht allzu häufig die Stätte ihres künstlerischen Wirkens verlassen, obschon sie an der Wiener „Hofburg“, in München und mehrmals auch an norddeutschen Bühnen gastiert und überall Anerkennung ihrer hervorragenden Begabung gefunden hat. Zu Klagenfurt in Kärnten geboren, ein echtes Theaterkind, da sie schon in Kinderrollen auftrat, einmal als Genius aus den Wolken flog, ein anderes Mal zu ihrer Freude als naturwüchsiger „Bub“ glänzen konnte, hatte sie sich schon mit der Welt der Prosceniumslampen vertraut gemacht, als sie von ihren Eltern in eine Wiener Erziehungsanstalt gebracht wurde, da diese selbst bei ihren wechselnden Engagements an verschiedenen Provinzbühnen ihr keinen regelmäßigen Unterricht zuheil werden lassen konnten. Aus der Anstalt entlassen, trat sie bei kleinen Bühnen auf, bis eine Heirath sie drei Jahre lang der dramatischen Kunst entfremdete. Doch sie kehrte wieder zur Bühne zurück, als Emil Devrient bei einem Gastspiel in Amsterdam sie bewogen hatte, die Rolle der erkrankten Liebhaberin zu übernehmen. Seitdem ist sie der Kunst treu geblieben; kurze Zeit nach ihrem Wiederauftreten löste der Tod ihre Ehe. Sie war dann zwei Jahre lang in Graz engagiert; seit dem Jahre 1866 ist sie Mitglied des Stuttgarter Hoftheaters, und obwohl sie es im allgemeinen nicht liebte, durch große Gastspielreisen in die Ferne zu wirken, ist ihr Ruhm doch in die weitesten Kreise gedrungen. Sie ist eine Meisterin edeln und gediegenen Vortrags, das hat sie nicht nur als Iphigenie in den Goethe-Aufführungen des Hoftheaters, sondern auch als Vorleserin der Sophokleischen „Antigone“ in Stuttgart und Tübingen bewiesen. Auch Schillers große Rollen, eine Maria Stuart, eine Jungfrau von Orleans, führt sie mit meisterlicher Beherrschung des dichterischen Wortes durch; doch erst in schärfer gezeichneten Charakteren bewährt sie ihre ganze Gestaltungsgabe; eine Lady Milford, eine Gräfin Orsina, eine [635] Medea stattet sie mit dämonischen Zügen aus, die eine ergreifende Wirkung ausüben. Eine Glanzleistung war ihre Margarethe in dem von Dingelstedt eingerichteten Königsdrama Shakespeares „Heinrich VI.“. Am Münchener Hoftheater spielte sie diese Furie der englischen Bürgerkriege, für welche ihr jedes Vorbild fehlte, selbstschöpferisch mit hinreißender Kraft, so daß die Kritik ihr warme Anerkennung zollte. Auch ihre Sappho, ihre Phädra, ihre Thusnelda und Isabella sind hervorragende Leistungen. Die Künstlerin hat ausdrucksvolle Züge, dunkle Augen, eine edle Gestalt und plastische Bewegungen.
Wenden wir uns jetzt jenen Schauspielerinnen zu, welche im Laufe des letzten Jahrzehnts sich einen Namen gemacht haben! Eine geborene Kölnerin wie Charlotte Wolter, ist Gertrud Giers in die Fußtapfen der Wiener Meisterin getreten. Von der eigenen Mutter ausgebildet, in der Plastik von dem italienischen Meister Perini unterrichtet, spielte Gertrud Giers schon im Alter von sechzehn Jahren ihre Heroinen; denn sie war ein hochgewachsenes deutsches Heldenmädchen. Sie glänzte an den großen Stadttheatern in Hamburg und Frankfurt, feierte in St. Petersburg und New-York Triumphe und ist gegenwärtig am Hoftheater in Hannover engagiert. Ihre äußeren Vorzüge, insbesondere ein sehr modulationsfähiges, glockenhelles Organ von großer Kraft, gehen Hand in Hand mit den inneren: einem feurigen Temperament und einem warm empfindenden Herzen. Ihr Mienenspiel ist höchst beweglich, ihre beredten Augen geben jeder Empfindung seelenvollen Ausdruck; sie arbeitet ihre Rollen mit feinem Verständniß durch. Wir lasen einmal in den Blättern, welch hohe Meinung Ernst von Wildenbruch von dieser Darstellerin hat, – er erklärte sie für das größte Talent unter den deutschen Bühnenkünstlerinnen. Jedenfalls liegt ihr alles Kühle und Eingelernte fern; sie spielt eben mit dem Herzen und giebt dadurch ihren Gestalten den Ausdruck voller Lebenswahrheit. Als eine vorzügliche Leistung wird ihre Jungfrau von Orleans bewundert; in den beiden großen Monologen und in der Kerkerscene wirkt sie hinreißend; sie bringt in dem Auftritt mit Burgund den Zauber des echt Weiblichen zu gewinnendem Ausdruck und läßt die schlichte Hirtenjungfrau Johanna nicht hinter der begeisterten Prophetin und Kriegerin verschwinden. Ihre Phädra, ihre Messalina, ihre Medea, ihre Iphigenie werden in gleicher Weise von der Kritik gerühmt. Fräulein Giers hat für diese Heldinnen des Alterthums den hohen Schwung, die plastische Gebärde, aber sie hat nichts Versteinertes, sie giebt auch diesen Gestalten ein reiches inneres Leben.
Die erste Heldin des Berliner Hofschauspiels, Rosa Poppe, ist eine Ungarin; ihre Eltern waren wohlhabende Weinbauern und sie hatten zugleich eine Gastwirthschaft, in welcher sie einen Theil ihres Weins ausschenkten; es giebt noch viele, denen die jetzige Berliner Tragödin ein Glas echten Adlersberger kredenzt hat. Sie wurde damals von ihrer Mutter zu einer tüchtigen Hausfrau erzogen, wie diese es war und noch ist. Vom Theater hatte man in den Kreisen des ungarischen Weinbauern keine Ahnung; auch die Tochter des Hauses hatte nie ein Theater gesehen, las aber in der Stille mit Heißhunger die Trauerspiele ihres geliebten Schiller. Durch elementare Ereignisse, Hagel und Ueberschwemmungen, durch ein vierjähriges Krankenlager des Vaters, der auch schließlich ein Opfer seiner Krankheit wurde, verlor die Familie ihr Vermögen, und Rosa Poppe mußte entweder die Hand eines ungeliebten Mannes nehmen oder sich selbst ihr Brot verdienen. Sie entschied sich für das letztere und wurde gegen den Willen aller ihrer Verwandten Schauspielerin. Sie machte das ganze Elend der kleinen Bühnen durch, hatte mit Noth und Sorgen zu kämpfen, bis ihr künstlerischer Lebenslauf allmählich in geregeltere Bahnen einlenkte. Wir finden sie am Wiener Karltheater, am Augsburger Stadttheater; doch erst seit ihrem Auftreten an der Berliner Hofbühne zog sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Anfangs schien ihr Spiel noch unausgeglichen und entbehrte des rechten künstlerischen Maßes; sie that hier und dort zu viel; auch die Gebärde war nicht immer angemessen. Doch gerade an der Hofbühne machte sie glänzende Fortschritte, und ihre Medea in der Grillparzerschen Trilogie bezeichnete einen Höhepunkt ihrer Entwicklung, der von der Kritik mit Begeisterung anerkannt wurde. Max Grube, der zuerst Grillparzers „Goldenes Vließ“ als Gesammtdichtung auf die Berliner Bühne gebracht hat, gab dadurch auch der Darstellerin Gelegenheit, den ganzen Entwicklungsgang der Heldin uns vorzuführen, während in der Regel den Heroinen der anderen Bühnen nur die Aufgabe zufällt, die Medea der dritten Abtheilung zu spielen. Diese Entwicklung aber mit aller Gewalt der Liebe und des Hasses brachte Rosa Poppe in ergreifender Weise und mit hinreißender Steigerung zur Anschauung. Ihre Darstellungsweise strebt nach Naturwahrheit, sie vermeidet den getragenen deklamatorischen Ton, doch nimmt sie nicht immer genug Rücksicht auf die dichterische Schönheit der Verse. Jedenfalls ist sie durchaus eigenartig und in dieser Eigenart bedeutend. Rosa Poppe hat eine hohe, schlanke Gestalt, angenehme Gesichtszüge, ein gutes, in großen Affekten machtvolles Organ. Von klassischen Rollen hat sie am Berliner Hoftheater außer der Medea die Adelheid im „Götz“, die Turandot, die Eboli, die Elisabeth, dann noch die Marquise von Pompadour gespielt. Am erfreulichsten ist der Fortschritt eines starken leidenschaftlichen Talents zu immer wachsender künstlerischer Bedeutung.
Wie Bogumil Dawison der polnischen Bühne angehörte, ehe er deutscher Schauspieler wurde, so war Marie Pospischil, die jetzt als jüngere Heroine am Wiener Hofburgtheater thätig ist, tschechische Schauspielerin, ehe sie sich dem deutschen Theater zuwandte. In Prag geboren, kam sie schon mit sechzehn Jahren an das tschechische Nationaltheater, wo sie fünf Jahre blieb. Dann widmete sie ein Jahr Gastspielen in Rußland und Polen. Hierauf wagte sie den Uebergang zur deutschen Bühne und spielte die Jungfrau von Orleans am Deutschen Landestheater in Prag mit großem Erfolg. Die Tschechen verloren ungern ein so bedeutendes Talent, das sich nach einem größeren Wirkungskreis sehnte, als ihn die böhmische Nationalbühne gewähren konnte, und es fehlte nicht an heftigen Angriffen auf die abtrünnige Künstlerin. Von Prag aus wurde sie an das Deutsche Theater in Berlin engagiert, wo sich ihre Umwandlung in eine deutsche Schauspielerin vollendete. Vor allem gab sie sich Mühe, die tschechischen Dialektanklänge aus ihrer Aussprache zu verbannen, obschon noch immer jener Rest angeborener Eigenart übrig blieb, der auch bei Dawison stets, wenn auch noch so leise, an den Ausländer gemahnte. Dann brach sie mit der mehr deklamatorischen Vortragsweise des tschechischen Theaters und strebte nach Naturwahrheit des Ausdrucks, ohne den idealen Zug zu verkümmern. Für glänzende Farbengebung war sie geschaffen; das breit Verschwommene, allzu Ueppige der Darstellungsweise mußte sie zu vermeiden suchen, und es gelang ihr, bei der strengen Zucht des deutschen Theaters, alle Auswüchse, die theils ihrer Nationalität, theils ihrem Naturell entstammten, immer mehr zu beschneiden. Ihre Eigenart schildert ein namhafter Kritiker mit folgenden Worten: „Marie Pospischil ist eine Heroine mit der Erscheinung einer Salonliebhaberin und der Stimme einer Sentimentalen, und diese Mischung wird zusammengeschweißt durch die Leidenschaft der Empfindung.“
Marie Pospischil tritt jedenfalls in die Fußtapfen von Charlotte Wolter; sie hat nicht die marmorne Hoheit der Klara Ziegler und ihrer Nachfolgerinnen. Ihre tragische Kraft liegt in ihrem leidenschaftlichen Naturell; auch der „Wolterschrei“ ist ihr nicht versagt, wie ihre Adelheid im „Götz“ in der Ermordungsscene beweist. Zu ihren Glanzrollen gehören diejenigen, in denen eine glühende Sinnlichkeit sich ausprägt wie die Messalina und die Udaschkin in Freytags „Graf Waldemar“; aber auch die Lady Macbeth, die Orsina, Sappho und Porcia stellt sie in interessanter Weise dar, wenn sie auch nicht überall jene widerstrebenden Züge ihres Wesens zu harmonischem Einklang zu stimmen vermag. Das gelang ihr vorzüglich als Hjördis in Ibsens „Nordischer Heerfahrt“, einer Rolle, die ebenso den Höhepunkt ihrer Entwicklung bezeichnete wie die Medea denjenigen von Rosa Poppe. An das Wiener Hofburgtheater berufen, hatte sie mit ihren Proberollen der Orsina und Maria Stuart einen großen Erfolg – und so gehört sie jetzt dem gefeierten Künstlerstabe dieser Bühne an.
Noch ist eine Reihe jüngerer Kräfte vorhanden, die in
ernstem Vorwärtsstreben den hohen Aufgaben der Tragödie gerecht
zu werden trachten. Einer späteren Zeit wird es vorbehalten
sein, über sie das endgültige Urtheil zu fällen. Dann wird
vielleicht auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern einen neuen stolzen
Kranz von Meisterinnen der tragische Muse vorführen können,
wie die heute geschilderten ihn bilden. †