Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl (Die Gartenlaube 1871)

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Autor: Georg Horn
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Titel: Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 2, 3, 5, 8, 9, 12, S. 7–10, 26–28, 46–50, 77–80, 127–130, 148–150, 196–200
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
frühere Briefe: Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl
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[7]
Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Achter Brief. „An der Loire grünem Strande“.


„O, glauben Sie nur nicht, daß Ihre Armee mit dem Heere Frankreichs, welches ihr in furchtbaren Massen gegenübersteht, so leichtes Spiel haben wird, wie mit den Soldaten Napoleon’s.“

„Aber wer sagt Ihnen denn, Herr Abbé, daß unsere bisherigen Erfolge uns wie reife Früchte in den Schooß fielen? Ich sage Ihnen, unser Volk und seine Führer haben heiß darnach gerungen, sie haben gekämpft mit dem Kopfe, mit dem Herzen, mit dem Aufgebote aller Kraft. Sie haben die Schlachtendonner nicht gehört. Sie haben das Wüthen des Kampfes, das Ringen der Verzweiflung nicht gesehen, mit dem die französischen Soldaten den Unseren den Sieg abtrotzen wollten. Sie saßen in Ihrer dichten Laube, lasen die telegraphischen Berichte, ließen Ihrem cholerischen Temperamente seinen Lauf, riefen am nächsten Sonntage gegen uns von der Kanzel das göttliche Strafgericht herab und begehen jetzt das Unrecht – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das sage, – Ihr eigenes Volk herabzusetzen; denn die Soldaten Napoleon’s sind so gut Ihres Volkes Kinder, als es jetzt die Schaaren an der Loire sind.“

„Schaaren, Monsieur? Nein, nein, das ist eine disciplinirte Armee –“

„Verzeihung, Herr Abbé, man schafft in drei Monaten keine disciplinirte Armee – o ja, man bringt Leute zusammen, man zieht ihnen eine Uniform an, giebt ihnen ein Gewehr in die Hand und spricht zu ihnen: Ihr seid die Hoffnung Frankreichs, ihr seid die Säulen des Vaterlandes, en avant! Ich sage Ihnen, beim ersten Kanonenschusse werden manchen dieser Säulen des Vaterlandes die Beine gewaltig schlottern – und die Hoffnung Frankreichs wird zuletzt die Beine über die Achsel nehmen, und man wird ein großes Laufen erleben – doch ich will nicht der Unglücksprophet sein – bitte, geben Sie mir gefälligst noch ein Stück Braten.“

Der Herr Abbé reichte mir die Schüssel mit dem Braten.

„Danke, danke, Herr Abbé, und nun noch eine freundliche Bitte. Sie waren als Quartiergeber so freundlich und zuvorkommend gegen mich, daß es mir peinlich ist, Ihnen Dinge sagen zu müssen, die Ihnen nicht angenehm sein können und es mir noch weniger sind. Sie sind Franzose, von Natur von leicht erregbarem Temperament, ich bin als Deutscher vielleicht ruhiger, aber man fängt im Fortgange des Krieges an, seine Nerven zu spannen, man ist nicht mittelbarer oder unmittelbarer Zeuge so großer Ereignisse der Geschichte, ohne daß diese Aufregungen ihre Nachwirkung üben – Sie werden heftig, ich werde empfindlich – lassen wir daher diese Gespräche, wir kommen in unseren Ansichten und Empfindungen doch nie zusammen. Sie waren mit Monseigneur Dupanloup beim Concile in Rom. Sie haben mir gestern davon sehr interessante Schilderungen gegeben, wenn Sie mir davon noch etwas erzählen wollen, würden Sie sehr liebenswürdig und ich Ihnen sehr dankbar sein.“

„Wie Sie wünschen, mein Herr. Haben Sie den Brief gelesen, den Monseigneur Dupanloup jetzt an die Pfarrgeistlichen von Orleans geschrieben hat?“

„Nein, Herr Abbé. Aber was Monseigneur Dupanloup schreibt, ist immer bedeutend, vom Standpunkte ganz abgesehen, und da mich kirchliche Fragen sehr interessiren, so würde ich Ihnen sehr verbunden sein, wollten Sie mich den Brief lesen lassen.“

„Hier ist er! Lesen Sie!“

Damit zog der Abbé aus der Tasche seiner Soutane ein Zeitungsblatt und deutete auf eine Stelle, wo der erwähnte Brief begann. Ich sah sehr wohl das triumphirende Lächeln, das über seine Züge glitt.

Ich las allerdings eine vorzüglich stylisirte und äußerst schwungreiche und beredte Lobrede auf die Loirearmee, der Brief enthielt zum Schlusse eine Parallele der jetzigen Zeit und der vor vierzehnhundert Jahren, als Attila, der Hunnenkönig, gegen Orleans zog, dasselbe bedrohte und plötzlich durch das Erscheinen des römischen Feldherrn Aëtius zum Abzuge gezwungen wurde und kurz darauf auf den catalaunischen Feldern eine schmähliche Niederlage erlitt.

„Nun, was sagen Sie dazu?“ frug der Priester, als ich ihm den Brief zurückgab, mit leuchtenden Augen und mit gespannten Mienen,

„Wenn der Vergleich mit dem Hunnenkönig nun nicht zutrifft, Herr Abbé, was dann?“

„Was meinen Sie?“

„Merkwürdiges Zusammentreffen! Unser Generalfeldmarschall trägt als Uniform allerdings einen Attila. So weit stimmt die Anspielung – aber wie, wenn ihn das prophezeite Schicksal nicht erreichte, wenn es im Gegentheil Ihre Armee wäre, die eine Niederlage erlitte?“

„Unmöglich! Niemals – nie – nie! Die Jugend Frankreichs steht Ihnen entgegen, es ist Frankreich selber, in jedem Arme schlagen tausend Herzen, die Begeisterung lehrt sie die Waffen führen, die Führer sind alte, erprobte Generale, ich sage Ihnen, diese Armee wird nicht vor der Ihrigen weichen – ein furchtbares Strafgericht Gottes wird über die deutschen Länderräuber hereinbrechen, und dieses wird sie in dem Walde vor Orleans erreichen!“

Ich hätte dem sonst sehr gescheidten und im Umgange liebenswürdigen Manne sagen können, daß ich mich vor jeder wahren nationalen Begeisterung, als etwas Großem und Herrlichem, tief beuge, daß aber die jetzige Stimmung Frankreichs nur ein Wuthgeschrei des verletzten Selbstgefühls ist, und darum auch zu keinem gedeihlichen Ziele führen wird; ich hätte ihm erwidern können, daß ein guter Unterofficier ein viel besserer Lehrer ist, die Waffen zu gebrauchen, als die flammendste Begeisterung; aber zu solchen Erwiderungen war der Mann plötzlich zu „wild“ geworden, es blieb mir also nichts Anderes übrig, als von dem Tische aufzustehen, indem ich ihm sagte:

„Herr Abbé, um das Gespräch mit einer erneuerten Bitte um den Braten abbrechen zu können, dazu bin ich zu satt. Um aber derartigen Aufregungen zu begegnen, bleibt mir nichts Anderes übrig, als mich Ihnen für heute ganz gehorsamst zu empfehlen.“

Diese Unterhaltung, wie ich sie hier mitgetheilt habe, wurde in einem katholischen Erziehungshause zu Pithiviers zwischen mir und dem Vorsteher dieser Anstalt, bei dem ich einquartiert war, geführt.

Wie sind Sie denn von Metz nach dem Westen von Frankreich gekommen? werden mich manche der lieben Leser fragen.

Von der Mosel bis zur Loire ist ein gutes Stück Wegs, wir brauchten dazu mit den paar Ruhetagen, die wir unterwegs gemacht hatten, gerade vierunddreißig Tage, und dabei machte das Hauptquartier per Tag durchschnittlich vierundzwanzig Kilometer, also, die Stunde zu viertausend Schritt angenommen, sechs Stunden oder drei deutsche Meilen. Wir berührten auf dem Wege Domremy, den Wohnort der Jungfrau von Orleans, wir sahen das noch vorhandene Haus, in welchem sie gewohnt haben soll, ehe sie der Stimme von Oben folgte, die ihr zurief: Va en France – en France! Es ist ein dem Verfall naher steinerner Bau, der mehr einer Höhle, als einer Wohnung für menschliche Wesen ähnlich sah. Das Haus hatte links eine sehr niedrige Thür, die Fräulein Ziegler, die geniale Darstellerin der Schiller’schen Jungfrau, nicht passiren könnte, einen Wohnraum, dem ein einziges Fenster Licht verschafft; vier nackte, kahle Wände starrten uns fast feindselig an; der Bau schien bewohnt zu sein, obwohl wir Niemanden fanden; in dem Kamin glimmte noch die Asche.

Es waren herrliche, warme Novembertage, in denen wir so durch Frankreich zogen, der General-Feldmarschall Prinz Friedrich Karl immer voran und so und so viel Reiter und Pferde und Wagen ihm nach, und die Franzosen standen in Blaukitteln, Holzschuhen und weißen Zipfelmützen vor ihren Häusern und meinten, in Deutschland könne Keiner daheim geblieben sein.

Von Troyes aus aber ging es rascher. Die französische Loirearmee hatte sich tüchtig auf die Beine gemacht und war vielleicht schneller, als man’s dachte, auf Orleans marschirt, um General von der Tann mit seinen Baiern aufzuheben und den Herren Parisern zu Hülfe zu kommen. Hätten sie das ausgeführt, dann stünde Manches für uns jetzt nicht mehr so günstig, als es der Fall ist, und sie machten wirklich Miene, den ganz geschickten Gedanken in’s Werk zu setzen. General von der Tann zog sich vor der großen Uebermacht des Feindes zurück – das Einzige, was er unter diesen Umständen thun konnte. Das soll auch General von Moltke’s Meinung gewesen sein. Freilich, den

[8] Franzosen stieg dieser scheinbare Sieg bei Coulmiers gewaltig zu Kopfe. Nun konnte der Loirearmee nichts mehr widerstehen und welche Hoffnungen man auf sie setzte, hat man aus den Aeußerungen des Herrn Abbé vernommen. Es war aber doch sehr gut, daß die Dinge vor Metz ihren Abschluß erreicht hatten, daß die Truppen aus dem Morast und von dem angestrengten Dienst erlöst wurden, und daß der König seinem Neffen, dem General-Feldmarschall, in dem Sinne schreiben konnte: „Fritz Karl, jetzt marschire weiter, damit die von der Loire herauf uns hier vor Paris nicht über den Hals kommen.“

Und es wurde weiter darauf losmarschirt, trotz der Steine und Bäume, die man überall unseren Colonnen in den Weg zu werfen bemüht war, trotz der tiefen Gräben, die man hier über die Wege gezogen hatte. Die armen Schächer von Franzosen, die kennen unsere Pionniere nicht. Wenn so ein Hinderniß kam – „Angepackt, Jungen! So was darf einen Deutschen nicht geniren! Frisch drauf los!“ In einer halben Stunde war die Geschichte gemacht, und fort ging es, unaufhaltsam, und immer frisch und fröhlich, immer mit einem Scherz oder einem Liede – unser General, unsere Officiere und Soldaten haben in diesen Märschen Außerordentliches geleistet.

In Pithiviers, wo ich in dem oben erwähnten katholischen Erziehungshause Quartier fand, wurde Halt gemacht, um die Truppen in dortiger Gegend auf einem Punkte zu vereinigen; man mußte sich auch erst vergewissern, wo denn eigentlich der Feind sich aufgestellt hatte und welches seine Absichten waren. Dazu gehört Zeit, namentlich einem Feinde gegenüber, der sich unseren Fängen mit Schlangenklugheit zu entziehen suchte; denn der damalige Führer der Loire-Armee, Aurelles de Paladines oder „General Oreiller“, wie ihn unsere Soldaten nennen, ist ein ganz tüchtiger General. Den Feind durch einzelne Ordonnanzofficiere oder durch zusammengesetzte Truppenabtheilungen aufsuchen, das nennt man in der militärischen Sprache „Fühlung gewinnen“, und unsere Officiere und Soldaten bekamen es auch zu fühlen; es gab da heftige Zusammenstöße und blutige Köpfe hüben und drüben und dort mehr als bei uns. Man sagte sich, daß es zu einer Schlacht kommen würde, aber wo und wann, das wußte eigentlich Niemand. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin wurde erst mit seiner Armeeabtheilung erwartet und es kam auf die Bewegungen des Feindes an; dieser war diesmal sehr unbeständig; er wechselte mehrmals mit seinen Stellungen, er argwöhnte ein zweites Sedan; dem wollte er entgehen; aber wieder die alte Geschichte, die Maus, die auf den Speck in der Mausefalle nicht anbeißt, die fängt sich an ihrem langen Schweife.

In der Nacht vom zweiten zum dritten December, als ich eben einen süßen Traum von der Heimath träumte – da wurde an meine Thür gepocht.

„Wer ist da?“

„Eine Ordonnanz!“ war die Antwort. „Morgen früh sieben Uhr rückt das Hauptquartier ab.“

„Wohin?“

„Ist nicht gesagt. Guten Morgen!“

„Guten Morgen! Wie viel Uhr ist es denn?“

„Ein Uhr.“

Nach dieser kurzen Unterhaltung durch die Thür trabte die Ordonnanz die Treppe hinab.

Was soll das bedeuten? Wozu dieser plötzliche Aufbruch? Wodurch war dieser veranlaßt? Sollte es sich bewahrheiten, was man seit einigen Tagen munkelte, sollte der Feind wirklich beabsichtigen, Pithiviers und das Hauptquartier überfallen zu wollen? Das wäre ja nicht so sehr schwer gewesen. Stand er doch auch mit fünf Brigaden um Beaune la Rolande, ehe man sich dessen versah. Es wäre eine Unwahrheit, wollte ich sagen, ich hätte meinen Traum vom Rheine weiter geträumt; abgesehen von allen diesen Gedanken und Möglichkeiten, in welchen sich die erregte Phantasie bewegte, war das unthunlich, denn unter mir waren die beiden großen Schlafsäle „Dortoir de St. Joseph de Gonzague“ und „Dortoir de St. Charles“ zu Lazarethen eingerichtet worden; die verwundeten Preußen und Franzosen jammerten und stöhnten die ganze Nacht, daß man sich fast seines gesunden Schlafes schämte. Auf dem Hofe war das Rad, um frisches Wasser zu pumpen, fast unaufhörlich in Bewegung, und durch die Nacht ging das Heulen der Hunde, als ginge selbst ihnen der Jammer der Menschen zu Herzen.

Am frühen Morgen war der Herr Abbé sehr verwundert, mich schon gerüstet zur Abreise zu sehen. Er kam eben aus der Kirche zurück, wo er täglich um sechs Uhr die Messe zu lesen pflegte.

„Ich muß Ihnen leider Adieu sagen, mein verehrter Herr Abbé. Schade, daß wir unsere lebhaften Tischgespräche nicht fortsetzen können; aber der Aufenthalt in Ihrem Hause wird mir immer eine interessante Erinnerung sein.“

„Ah, Sie gehen so schnell? Vielleicht ein Rückzug?“

„Im Gegentheil, ein Vorgehen, Herr Abbé – auf Orleans ist die Losung.“

„Niemals, mein Herr! Geben Sie den Gedanken nur auf. Ich sage Ihnen noch nicht Adieu[WS 1]; ich denke immer, Sie werden nach Pithiviers zurückgehen.“

„Da kennen Sie die Brandenburger nicht; die gehen niemals zurück. Adieu!“

Am Sammelplatze, von dem die Abfahrt stattfinden sollte, frug ich einen Officier, warum der Befehl zum Abrücken zu so ungewöhnlicher Zeit gegeben worden sei.

„Um die Einwohner hier nicht vorher aufmerksam zu machen, um der Benachrichtigung des Feindes durch sie zu begegnen,“ war die Antwort. „Ganz sicher haben die Einwohner trotz unseres strengen Vorpostendienstes mit dem Feinde Verbindungen. Wer kann die geheimen Waldwege in dem Walde von Orleans alle kennen? Gerade heute wäre das ein verwünschter Streich.“

„Warum heute? Steht etwas zu erwarten?“

„Seine königliche Hoheit wird mit dem Stabe ebenfalls um sieben Uhr abreiten; das heißt soviel, als in den nächsten Stunden werden die Kanonen die erwartete Schlacht intoniren.“

Es war ein recht naßkalter Morgen und der Himmel hing voller Schnee, nachdem wir kurz vorher das herrlichste Wetter, den hier zu Lande sogenannten „Martinssommer“ gehabt hatten. Gegen zwei Uhr Mittags waren wir nach Toury gekommen; dort sollten wir weitere Ordre empfangen, wohin das Hauptquartier vorgehen sollte. Vor dem Orte fuhr der Wagenpark auf, große Bivouacsfeuer wurden gemacht, Kessel mit Wasser aufgestellt und in diese die Büchsen mit präparirtem Fleische gestellt. Teller gab es nicht, man aß nach türkischer Weise mit den Fingern, und zur Gesellschaft stellte sich der Schnee ein. Wie den ganzen Morgen über, so horchten wir auch jetzt überall hin, ob nirgends Kanonendonner zu vernehmen sei. Alles war still. Also keine Schlacht.

„Das Hauptquartier soll nach Artenay vorrücken!“ meldete eine ankommende Ordonnanz dem Führer der Colonne, dem Gensd’armerierittmeister Schröder.

„Artenay? das war aber am Morgen noch vom Feinde besetzt?!“

„Alles rausgeschmissen!“

„Also war doch eine Schlacht?“

„Na, und was für eine! Ich sag’ Ihnen, ganz propper. Unser Herrgott da oben hat sich heute vor dem Lärm gewiß die Ohren zuhalten müssen.“

„Aber wir haben doch nichts gehört!“

„Dann waren Sie nicht im richtigen Wind. Seien Sie froh, mir ist von dem ‚Bumbum‘ jetzt noch, als hätte ich mir eine Ohrenklappe von Pelz umgebunden.“

„Ist der Generalfeldmarschall schon in Artenay?“

„Was Sie denken! Heute war er wieder ‚All vorrup‘, erst bei der sechsten Cavalleriedivision, dann beim neunten Corps. Heute ist wieder sein Plaisir – heut’ läßt er nicht locker, und die Herren Adjutanten und Ordonnanzofficiere müssen sich die Seele aus dem Leibe reiten; heut’ dirigirt er das Ganze. Aber auch die Keile, die die Franzosen besehen haben!“

Zum Rittmeister sich wendend, ob derselbe noch weitere Befehle für dieselbe habe, sprengte die Ordonnanz davon.

Die Straße nach Artenay war mit fünffachen Colonnen bedeckt. Proviant- und Munitionscolonnen, Infanteriebataillone, Ulanenschwadronen und Wagen mit Verwundeten; die Fahrer fluchten, die Soldaten sangen, die Verwundeten stöhnten, und dabei goß es vom Himmel in Strömen. In Artenay war fast kein Durchkommen. Wo sollte in dem kleinen Orte Raum für die Tausende herkommen, die sich in den beiden Straßen der Stadt zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen den Platz streitig machten?! „Jeder von den Herren nehme Quartier, wo er es findet!“ lautete die Weisung des Quartiermachers. Das hieß eine Anweisung auf [9] ein Nachtlager unter freiem Himmel ausstellen. Viele der Häuser waren zerschossen, und die noch bewohnbar, waren bereits voll Soldaten gepfropft, sie hatten sich nach den Strapazen eines heißen Kampftages auf eigene Faust Quartier gemacht; das war nicht schwer, die Einwohner der meisten Häuser waren geflohen, Alles, was transportabel war, hatten sie mitgenommen, nur die Räume und die Möbel hatten sie zurückgelassen; glücklich aber, wer zuerst gekommen war und vier Wände gefunden hatte. Endlich in einem Hofgebäude über einem Pferdestalle war es auch mir gelungen, eine bewohnbare Stätte und darin ein Unterkommen zu finden. Die Stube hatte wenigstens einen Kamin, Holz war auch bald gefunden, bald brannte ein gemüthliches Feuer, und das Stroh, das zum Nachtlager auf den Steinboden gestreut wurde, war immer besser als ein unreinliches Bett. Mit einem Lederkissen und ein paar Decken wurde eine ganz prächtige Lagerstatt zugerichtet, während der Nacht wurde das Kaminfeuer unterhalten und sanft hätte man in den Morgen hineingeschlummert, wenn nicht plötzlich schnelle Tritte die Treppe heraufgekommen wären mit dem Rufe:

„Feuer – Feuer! Im Nebenhause brennt es!“


Der Bürgermeister von Riedselz und sein Sohn im Verhör.
Nach der Natur aufgenommen von Prof. P. Thumann.

Ein recht angenehmes Erwachen! Durch die Spalten der Fensterläden sah man an der weißen Wand eine rothe Flamme züngeln, als ich das Fenster aufstieß, stieg die Lohe aus dem Dachstuhle des Nebenhauses bereits auf. In demselben hatte der Commandeur der hessischen Division, Prinz Ludwig von Hessen, Wohnung genommen. Es brauchte dieses Zwischenfalles nicht, um den tapferen Prinzen im Feuer zu sehen, er war mit seinen braven Hessen während dieses Feldzuges so oft im dichtesten Kugel- und Granatenregen gewesen, und was am Tage von Mars la Tour die hessische Artillerie durch ihr Erscheinen geleistet, wird nicht vergessen werden. Auch an den glorreichen Erfolgen des 3. und 4. Decembers hat die hessische Division einen namhaften ruhmreichen Antheil.

[10] Vom Feuer, das bald gelöscht wurde, ging es schon am frühen Morgen in’s Feuer, das hüben und drüben wieder entbrennen wollte. Der Feind war bis zum Rande des Waldes von Orleans zurückgeworfen worden, heute sollte er bis nach Orleans gedrängt werden.

Das Hauptquartier sollte nachrücken. Wohin? Wer wußte es? – selbst die leitenden Spitzen nicht. Des Tages über mußten die Schlafstätten, in denen man Abends sein Haupt hinlegen konnte, erst erprobt werden.

[26] Ganz Artenay war in ein Lazareth verwandelt worden. Von allen Seiten wurden die Verwundeten vom Schlachtfelde des gestrigen Tages hereingebracht, die Mehrzahl Franzosen, in allen Winkeln, in den Höfen der Häuser, in den Schuppen, auf dem Kirchhofe lagen die todten Franzosen reihenweise, Jünglinge von siebenzehn Jahren, Männer bis zu vierzig bis fünfundvierzig Jahren, Alle steif gefroren; der Regen hatte in der Nacht aufgehört und war einem starken Froste gewichen; es wehte vom Walde herüber scharf und kalt, und man mußte erst Feuer auf dem Boden anmachen, um Gräber graben zu können – auch für zwei preußische Officiere. Mit dem Mantel und dem Helme bedeckt, wurden die Bahren nach dem neuen Kirchhofe gebracht, wo bereits ein preußisches Soldatengrab aufgeworfen war. Ich und mehrere Bekannte, wir folgten dem stillen Leichenzuge. Der eine der Gefallenen war Hauptmann, wenn ich nicht irre, im fünfundachtzigsten Regiment, der älteste Sohn eines hochbetagten Vaters, der andere Reserveofficier in demselben Regiment, ein Holsteiner, Wirthschaftsbeamter, Gatte und Vater von vier Kindern. So sagte der Officier, der den Trauerconduct leitete; ein stilles Gebet, drei Hand voll Erde, eine im Namen des Vaterlandes und die anderen für den Vater, für die Gattin und Waisen, und im Gedanken an die blutenden Wunden des Herzens, welche diese Gräber reißen und welche vielleicht niemals heilen werden. Gott möge sich der Verlassenen erbarmen!

Heute hatten wir den „richtigen Wind“; heute hörte man den Kanonendonner und das Kleingewehrfeuer ganz deutlich und gar nicht aus zu weiter Ferne. Aber im Laufe der kommenden Stunden entrückte der Schall unserm Ohre immer weiter; ein Beweis, daß die Unseren im Vorrücken waren. Gegen Nachmittag bekam das Hauptquartier den Befehl zum Abrücken; es war gegen drei Uhr, als die Colonne sich in Bewegung setzte. Aber so breit die von Paris nach dem Süden führende Heerstraße war, so schwer war das Durchkommen. Gleichzeitig mit uns rückten auch Theile des neunten Armeecorps vor; Infanterie, Cavallerie und Artillerie. Kaum hatte die Colonne ein kurzes Träbchen angeschlagen – da stand sie auch schon wieder, wie festgerammt.

„Verfluchte Sch......ei!“ schreit unser Wagenlenker aus dem Spreewalde. „Da bleibt man noch heute auf der Straße liegen. Ick seh’ es der Jeschichte schon an, et wird woll so ’n Bivouäkchen wer’n bei achte Réammur. Schockschwernoth, wie der Wind pfeift! Aujust, hest de kenen vor de Binde? Na, et is nur jut, daß wir in dem Lande sind, wo der Cognac wächst. Aujust, jieb sie her de Pulle!“

Der Fahrer hinter unserem Wagen reicht freundschaftlichst seinem Collegen eine Feldflasche, unser Fahrer trinkt, und giebt die Flasche zurück. „Det is besser wie een halb Dutzend Leibbinden übereinander. Na, Aujust, wo hast denn den her – oller Junge?“

„Et war noch so’n Resteken in dem Keller, wo wir im Quartier lagen. Die Leute waren ausjerückt, also mußten wir schon alleene eenen Spaziergang durch die unbewohnten Jemächer des Hauses machen. Wenn jar nischt mehr da is, ick finde immer noch wat, und wenn es ooch nur die Photojraphie einer jeflohen seienden französischen Köchin is. Na, nu jeht’s ja weiter!“

Die Sonne geht blutroth unter; heut hätte man sagen können, der Himmel sei mit dem Blute des Tages gemalt. Es mußte vorne heiß hergehen, gegen Abend war das Feuern in erneuter Heftigkeit zu vernehmen. Ueber die Ebene, die mit dem Plateau von Mars la Tour und Gravelotte einige Aehnlichkeit hat, wehte ein schneidender Wind, und man zog den Pelzkragen des Mantels höher. Die Soldaten auf den Pferden nahmen ihre weißen Wollendecken hervor und banden sie wie Mäntel um; in der Dämmergluth des Abends boten sie einen höchst malerischem Anblick; man glaubte einen Zug von Beduinen aus der Wüste zu sehen. Rechts von der Chaussee sah man eine Windmühle, deren Flügel still standen, sie waren ganz zerschossen. Dort war einer der entscheidenden [27] Momente des gestrigen Tages. Die Franzosen hatten Artenay geräumt, sich dort aber festgesetzt und gaben auf die Avantgarde des neunten Corps (von Manstein) Kreuzfeuer. Die sechsunddreißigste Brigadedivision (Freiherr von Wrangel), unter dem Commando des Oberst Freiherrn von Falkenhausen, wurde vorgeschickt.

„Sie müssen raus,“ hatte der wackere, energische Mansteiner befohlen.

„Sie müssen raus!“ widerhallte es in den Reihen des fünfundachtzigsten Regiments, und das zweite Bataillon avancirte. Die Mühle war von den Franzosen zu einer Festung umgewandelt worden, hinter den Mauern derselben lagen sie in guter Deckung; aus jeder Oeffnung, jeder Ritze blitzte, knallte und krachte es, die Holsteiner wurden mit Blei überschüttet – aber „sie müssen raus!“ hatte der General befohlen, und sie stürmten mit schlagendem Tambour unter Hurrah auf das Bollwerk zu los – als machten die da drinnen und droben mit ihren Flinten nur einen kleinen Spaß, den man mit Schnellfeuer und mit dem blanken Bajonnet erwidern müsse. Mancher Sohn aus den Marschen wird freilich nicht wieder heimkehren, von Manchem wird Weihnachten umsonst ein Brief erwartet werden, und anstatt eines Briefes wird die Zeitung den Namen bringen, mit dem Vermerke: „Gefallen bei Moulin d’Anvillers“ – aber es hatte gar nicht lange gedauert, und sie waren „raus“.

Aber was ist das? Was kommt uns dort entgegen? Kanonen – bespannt, von Franzosen gefahren, mit Franzosen als Bedienungsmannschaft – eins, zwei, drei – sechs, eine ganze Batterie – auch Officiere der Franzosen sind dabei. Was soll das bedeuten? Wäre etwas geschehen? Mein Gott! O nicht doch – es sind ja braune preußische Husaren dabei, welche die ganze Batterie mit Munitionswagen und allem Zubehör in ihre sichernde Mitte genommen haben.

„Wo kommen Sie denn her?“ frug ich den Führer der Husaren.

„Da vorn von dem Dorfe Cercoltes, da haben wir die Batterie attaquirt und mit Pferd und Mann, wie sie dastand, gleich mitgenommen.“

„Gratulire zum eisernen Kreuz!“

„Na, wenn das wahr wäre! Das wäre schon unter der Kanone!“

„Wie sieht es denn vorn aus? Halten die Franzosen Stand? Gehen die Unsrigen vorwärts?“

„Nu, und wie! Hol’ auch der Teufel! Der General von Blumenthal hat das Dorf Cercoltes genommen, und nun geht’s immer voran – hast du nicht gesehen.“

„Cercoltes ist in der Mitte des Waldes von Orleans gelegen; wer das Dorf hat, hat auch den Wald, und der Besitz des Waldes ist auch der Besitz der Stadt.“

„O, nicht doch,“ wurde mir von Seiten eines Fachmanns erwidert. „Der Besitz der Stadt wird noch harten Kampf kosten. Die Franzosen haben sich dort tüchtig verschanzt und Marinegeschütze aufgefahren. Es wird wohl noch der morgende Tag vergehen, ehe wir in Orleans einrücken können.“

„Dann bin ich nur begierig, wo wir unser müdes Haupt heute niederlegen werden. Dessen bin ich gewiß, daß sich’s in einem Berliner oder sonstigen Hôtel besser schlafen wird als da, wo wir heute bleiben werden.“

Die Nacht war schon hereingebrochen, am wolkenlosen Himmel stand der Mond, aber es hätte seines Lichtes nicht bedurft, ringsum wurde die Nacht durch aufsteigende Feuergarben erhellt, es waren die Bivouacsfeuer der Reservetruppen – es waren auch brennende Dörfer.

„Colonne Halt! Nun wieder einmal! Was ist denn los?“

„Cercoltes! Hier macht das Hauptquartier Halt. Quartiere giebt es hier nicht; wer aber eins findet, darf von großem Glücke sagen.“

Man war von dem Sitzen im Wagen ganz steif gefroren; die einzige Möglichkeit, wieder ein Gefühl von Wärme zu bekommen, war die, im Trabe neben dem Wagen herzutrotten; man tröstete sich im Gedanken an eine warme Stube, und nun –

Recht angenehme Mittheilung! Ein neues Artenay! O, noch weit schlimmer als das. Artenay war ein Paris gegen das Dorf Cercoltes. Viele von den Dorfhäusern waren zerschossen, und die schwarzen noch rauchenden Ruinen starrten gespenstisch in den Nachthimmel hinein. In denen jedoch, die noch unversehrt, waren die Fenster erleuchtet, also jedenfalls noch Einwohner vorhanden. Ein Blick durch die Fenster – Soldaten saßen am Kaminfeuer und kochten, und wie im ersten, so im zweiten Hause, so in allen, die wir einer Untersuchung unterwarfen. Die Soldaten auffordern, die Häuser zu räumen? Niemals! Eher unter freiem Himmel übernachten und sich die Knochen zu Stein frieren lassen. Wer weiß, nach wie viel kalten Bivouacnächten dieses das erste erträgliche Quartier für sie war, während Unsereiner immer in guten Ställen gelegen hatte – es wird sich schon noch eine Scheune finden. Dort biegt eine Querstraße von der großen Dorfstraße ab – dort sind einigermaßen stattliche Häuser. Versuchen wir dort unser Glück!

Ich schloß mich dem Armeepostmeister Bock, seinem Secretair Nienow und dem Ingenieurgeographen Hammer an, demselben, der unserer Armee die Wege durch Frankreich vorgezeichnet hat. Das war eine gute Adresse, der wird wohl auch in Cercoltes einen Weg zu einem Nachtquartier finden. Wir kamen vor das erste Haus, klopfen an, es wird uns aufgethan, wir bringen unsere Frage nach einem Zimmer im elegantesten Französisch vor, als Antwort bekommen wir das Wort „Ambulance“ und einen Hinweis auf das rothe Kreuz an der Thür. Dieses hatten wir im Eifer unserer Hoffnungen nicht gesehen. So weiter im nächsten Hause, so im dritten; dann gaben wir unsere Nachforschungen auf. Es war kein Zweifel, das Dorf lag nicht nur voll Soldaten, sondern auch voll Verwundeter. Es war gestern, es war heute den ganzen Tag gekämpft worden, und wo zwei so erbitterte Feinde aufeinanderstoßen, da giebt es Blut und Wunden.

Weiter vor lag noch ein kleines Haus im Dunkel der Nacht. Dasselbe war nicht wie die bisherigen erleuchtet; es schien noch nicht belegt, es schien auch keine Ambulance zu sein – es ist ein Winken der Hoffnung. Darauf hin wird angeklopft. Wer tritt uns entgegen? Der erste Kammerdiener des Generalfeldmarschalls, der biedere Bock. Seine blasse Erscheinung ist ein „lasciate ogni speranza“.

„Bedaure, meine Herren; dieses Häuschen ist für Seine Königliche Hoheit und den Herrn General von Stiehle reservirt; mit Mühe und Noth haben wir hier zwei Stübchen entdeckt, wenn die Herren überhaupt hier übernachten und nicht vielleicht bei den Truppen bleiben werden.“

In demselben Augenblicke wurde vom Eingange der Querstraße her Pferdegetrappel vernehmbar.

„Hier scheint unser gnädigster Herr zu kommen. Verzeihen Sie – –“

Es war Prinz Friedrich Karl mit seinem Stabe. Der Feldherr hatte mit demselben in der Mitte der Truppen an einem Bivouacfeuer bis in die Nacht verweilt; erst als General von Treskow, der Commandeur der siebenzehnten Division, die Meldung schickte, daß er diese Nacht Orleans noch nehmen werde, erst als der Erfolg des Tages gesichert war, beschloß der Feldmarschall, in Cercoltes sein Hauptquartier zu beziehen.

Wir Armen suchten fast noch eine Stunde nach Quartier und ohne Erfolg. Ich weiß nicht, wem der Gedanke kam, uns in der Kirche des Dorfes einzuquartieren; aber er schien uns als letztes Rettungsmittel vor den Unbilden einer sehr kalten Decembernacht äußerst plausibel. Da man Wirthshäuser und Kirchen überall am leichtesten findet, so sahen wir denn auch bald einen ganz stattlichen Kirchenbau vor uns, aber auch zugleich erleuchtete Fenster, und von innen hörten wir lauten Gesang von Männerstimmen erschallen. Was war das? Jedenfalls keine Hoffnung auf ein Nachtquartier. Aber sehen wollten wir dennoch, was da drinnen vorging; denn nach dem Rhythmus der Töne zu schließen, schien der Gesang eben kein kirchlicher zu sein.

„Halt! Wer da?“

Ein Doppelposten hielt uns an. Auf unsere Frage, wer denn in der Kirche sei, ward uns die Antwort: „französische Gefangene,“ und auf unsere Legitimation deutscher Sprache hin die Erlaubniß zum Eintritt. Die ganze Kirche war von gefangenen Franzosen angefüllt. Linientruppen und Mobilgarde, Infanteristen, Cavalleristen und Artilleristen, Weiße und Schwarze – Alles durcheinander. An der Orgel saß ein Zuave und spielte auf.

„Nun genug für Euch – nun möchten wir auch einmal was gespielt haben,“ sagte einer der Soldaten, die Gewehr in Arm die Wache in der Kirche hatten. „Sag’, Franzos’,“ radebrechte er [28] auf Französisch, „kannst Du das spielen?“ Und dabei gab ihm der Soldat die Melodie des „Heil dir im Siegerkranz“ an.

„Ei, wo werd’ ich denn das nit könne?“

„Was, Franzosenzuav’, Du kannst Deutsch?“

„Ich bin aus dem Elsaß, mein Vater ist in einem Dorf bei Hagenau Schulmeister.“

„Na, nun ist’s gut, nun spiel’ mal drauf los.“

Mit den ersten Orgeltönen des Volksliedes vermischte sich die kräftige sonore Stimme des wachhabenden Soldaten, erst sang er allein, dann fielen seine Cameraden ein und bald brauste das Lied in vollem, mächtigem Chor durch die hohe Kirchenhalle.

„Aber den Gedanken an Dach und Fach müssen wir für diese Nacht schon aufgeben,“ sagte ich beim Zurückgehen aus der Kirche. Wir kamen auf unserem Wege des Umherirrens ohne Zweck und Ziel an einem kleinen vierstöckigen Hause vorüber, aus dem uns ein Feuerschein entgegenleuchtete. Der Wunsch nach einem Unterkommen war in uns durch die vielen mißlungenen Versuche bereits Instinct geworden, und dieser ließ uns einen Blick in das Innere der Hütte werfen. Wir sahen einen Mann in einer blauen Blouse und eine Frau mit einem splitternackten Kinde von etwa acht Wochen am Kamine sitzen. Das Haus war nicht belegt. Wir traten ein. An das Zimmer mit dem Kamin stieß noch ein anderes, in dem sich Niemand befand. Das war über alles Erwarten, gefunden war – gefunden, was wir so lange und trotz der heißen Sehnsucht unseres Herzens vor Kälte schlotternd gesucht hatten. Den Leuten ward der Standpunkt bald klar gemacht; in dem anstoßenden Zimmer war noch ein Bett, darauf verzichteten wir, das sollten sie in die Stube mit dem Kamine bringen, auf diesem sollten sie schlafen, wir wollten uns in dem anderen ein Strohlager machen.

„Aber meine Kinder – wo sollen denn die schlafen?“ jammerte der Mann.

„Ihre Kinder? Sie haben ja doch nur eines.“

„O nein,“ war die Antwort des Mannes, indem er auf das Bette deutete. In demselben lagen noch vier Stück nebeneinander wie die Orgelpfeifen.

Aber es konnte nichts helfen; die Kinder wurden in das Bett in die andere Stube gepackt, das letztere selbst getheilt, so daß die ganze Familie die Nacht noch ganz passabel zubrachte. Ich wurde der Expedition zugetheilt, die beauftragt war, Stroh zu holen. Dessen war einige hundert Schritt vom Hause noch ein ganzer Haufen vorhanden. Jeder bepackte sich mit einem tüchtigen Bund, und als ich ein solches eben fassen wollte, fuhr meine Hand vor einer Berührung mit einer Bewegung des Entsetzens zurück – ich blickte nach der Stelle, dort lag ein französischer Soldat todt – ich hatte ihm in’s Gesicht gegriffen.

Während der Nacht fing von den Kindern, die in der Nebenstube schliefen, eines nach dem andern eine liebliche Musik in allen Tonarten des Weinens an, von dem Bivouacfeuer in dem gegenüberliegenden Hofe tönte die ganze Nacht Gesang und Gelächter herüber – zwei Decken und ein Mantel waren kaum ausreichend, um uns vor Kälte zu schützen; aber dennoch fühlte man sich doch glücklich gebettet, wenn man an die Verwundeten dachte, die draußen auf freiem Felde vielleicht nach Hülfe riefen, nach einem Tropfen Wasser schmachteten; wenn man am andern Morgen sah, wie die höchstgestellten älteren Herren aus den Wagen, aus den Scheunen, von den Heuböden hervorkamen, wo sie die Nacht zugebracht hatten. Die Nacht wurde zu einem köstlichen Tage durch die Nachricht: „Orleans ist vom Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, vom neunten und dritten Corps in der Nacht genommen worden – das Hauptquartier wird um elf Uhr nach Orleans verlegt. Hurrah!“

„Auf nach der Stadt der Jungfrau – auf nach Orleans!“

Was aber wird der Herr Abbé in Pithiviers bei der Nachricht sagen?

[46]
Neunter Brief. In der Stadt der Jungfrau.


Der Platz du Martroi ist eine der wenigen Herrlichkeiten, welche die in baulicher Hinsicht gerade nicht sehr hervorragende Stadt Orleans aufzuweisen vermag. Derselbe bildet ein Oval, das von stattlichen Gebäuden umgeben ist. Unter ihnen nimmt die ehemalige Chancellerie des Hauses Orleans den ersten Platz ein; hier war der Sitz der Administration der Familiengüter, hier war ihr Archiv niedergelegt. Der Mittelpunkt, der Glanz und die Zierde des Platzes ist jedoch die kolossale Reiterstatue der Jungfrau von Orleans; die Stadtgemeinde hat dieselbe auf ihre eigenen Kosten errichten lassen, am 8. Mai 1858 war sie enthüllt worden. Die Jungfrau, deren Glieder in rauhes Eisen gekleidet sind, ist in dem Augenblicke dargestellt, wo sie dem Herrn der Heerschaaren den Dank dafür darbringt, daß er sie so Großes hat vollenden lassen. Ihr Haupt ist himmelwärts erhoben, mit der rechten Hand senkt sie das Schwert vor dem, der es in ihre Hand gegeben hat. Die Statue imponirt weniger durch die Kunst ihres Schöpfers, als durch die dargestellte Persönlichkeit und durch ihre Erzmassen; die Figur mit dem Pferde ist etwa vierundeinenhalben Meter, also fast sieben rheinische Ellen hoch und demnach von gleicher Höhe wie das Piedestal aus Granit, auf dem sie sich erhebt. Ein weites eisernes Gitter umgiebt dieselbe. Sie ist das Wahrzeichen, das Palladium der Stadt und in den angstvollen Tagen des dritten und vierten Decembers, als draußen von dem Wald von Orleans herein die Kanonen mit ihrem dumpfen Gebrüll fast den Erdboden erschütterten, als das Dröhnen derselben der Stadt immer näher kam und einen unheilvollen Ausgang anzukündigen schien, da war dieses Gitter von knieenden, betenden, weinenden Frauen umgeben, die ihre Thränen, ihre Seufzer, ihre Gebete und Gelöbnisse zur Heiligen der Stadt emporschickten und Kränze zu ihren Füßen niederlegten, auf denen ihres Herzens Angst und Gebet in den Worten zu lesen war: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“ Es folgte dem vierten December für die Einwohner von Orleans eine gar angstvolle Nacht. Bis in den späten Abend hatte der Kampf gedauert. Welches war der Ausgang? wird die Armee des französischen Volkes die Hoffnungen, die man auf sie setzte, erfüllen, wird sie die „Prussiens“ zwingen, einen ebenso plötzlichen Abzug zu nehmen, wie an diesen Ufern vor mehr als einem Jahrtausend Attila und vor Jahrhunderten die Engländer gethan? Keine Nachricht – wie manches bangklopfende Herz mag da in die Nacht hinausgehorcht haben – um ein Zeichen, um eine Hoffnung, eine Beruhigung, und dann bekümmert und sorgenvoll das Lager gesucht haben mit dem wiederholten Gebete: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“

Am Morgen des nächsten Tages, den fünften December, ging es wie Reveille durch die Stadt – die Trommeln wirbelten, die Pfeifen schwirrten und die Colonnen marschirten. Aber die langen anhaltenden Wirbel kamen nicht von französischen Trommeln; die Töne derselben sind kürzer, schneller, das war auch keine französische Marschmusik – und so marschiren auch die heimischen Rothhosen nicht – das ist ein wuchtiger, trotziger, markiger Schritt. Ja, es sind wirklich die Prussiens! Auf dem Platze der Jungfrau erglänzen im Scheine der Wintersonne die Helme und Bajonnete, in dichten Massen stehen sie da gesammelt und die eherne Jungfrau steigt nicht vom Pferde und hebt nicht ihr Zauberschwert, um die verhaßten Feinde zu vertreiben. Sie läßt den Frevel ihrer Anwesenheit geschehen. Die Prussiens ziehen nach den verschiedenen Straßen ab, die von dem Platze ausstrahlen, sie suchen sich Quartier und ihnen nach rücken andere, neue, größere Massen – Pferdegetrappel läßt sich hören – dort wird Cavallerie sichtbar – o, die furchtbaren Ulanen! und so viele! Gott sei Dank, nun sind sie alle – nun kommen keine mehr. Neuer Trommelschlag – neue Marschmusik! das sind bekannte Töne, die in den Straßen von Orleans schon gehört worden waren – wenn es auch nicht französische Militärmusik war, richtig, es sind die Baiern! Man hatte über ihren Abzug Anfangs November so sehr gejubelt – nun sind sie doch wieder da. Werden sie Vergeltung üben? Auch die Baiern nehmen auf der Place Martroi Aufstellung, dicht unter den Augen der heiligen Jungfrau. Nicht genug – es kommt wieder ein neues Regiment, aber nicht mit Raupen auf den Helmen, wie die Baiern, sondern Spitzen, wie die Preußen, wenn auch nicht mit dem Adler vorn, sondern mit dem springenden Löwen. Diese bleiben nicht auf dem Platze, sie ziehen die Rue Royale hinab – doch nicht über die Loirebrücke? Kein Feind vom Norden hat diese je überschritten. Und doch – doch! Sie überschreiten die Loire. Wird die Brücke nicht in die Luft fliegen? Ein Pfeiler war von den Franzosen schon angebohrt. Nein, sie marschiren ganz wacker hinüber – und kein Widerstand hält sie auf.

Der französische Stolz, daß kein Feind vom Norden oder Osten je über die Loire gedrungen sei, ist gebrochen durch ein hessisches Bataillon, von der Avantgarde des neunten Armeecorps, von den braven, tapferen Mansteinern. Die Deutschen haben den Uebergang gemacht, und das war am 5. December 1870.

Den Erinnerungen an die Jungfrau von Orleans oder die „Pucelle“, wie sie von den Franzosen bezeichnet wird, begegnet man in der Stadt allerwärts, aber merkwürdiger Weise ist Gestalt und Gegenständliches von ihr nicht mehr vorhanden, kein Waffenstück, keine Reliquie kann man von ihr aufzeigen, und so existirt auch kein Bild von ihr, das heißt, kein gleichzeitiges; man zeigt deren wohl, alte Steinbilder, Reliefs, die eine Figur zu Pferde darstellen, aber diese können ebenso gut den heiligen Georg oder den unheiligen Karl den Siebenten von Frankreich darstellen, Beglaubigtes ist nicht mehr vorhanden. Das älteste Bild, welches durch die Unterschrift besagt, daß es die Pucelle d’Orleans darstellen soll, ist aus dem neunzehnten Jahrhundert. Johanne ist auf demselben als ein sehr corpulentes Mädchen abgebildet, hat einen Federhut auf dem Kopfe, in der rechten Hand einen Floretdegen und in der linken ein feingesticktes Schnupftuch.

So ungefähr mögen unsere Ureltermütter sie auf einem Maskenballe vorgestellt haben, aber daß sie dadurch dem Ideale entspräche, das Schiller’s Genius für ewige Zeiten geschaffen hat, das möchte ich nicht behaupten. Fast scheint es, als könnte nur der visionäre Geist des Dichters ein Wesen, wie das ihrige, in Fleisch und Blut wieder neu schaffen, nicht der Pinsel, nicht die Hand des Bildhauers. Vielleicht aber vermochte es doch auch die künstlerische Hand eines Mädchens, dessen Wiege in einem Königsschlosse stand und in dessen Herzen selbst ein Funke der Flamme glühte, welche die Seele des Hirtenmädchens von Domremy erfüllte. Prinzessin und Hirtenmädchen! Welcher Contrast des äußeren Lebens, an Rang, Gewöhnung, Sitte und Zeit, und doch wie nahe haben sich diese Gegensätze berührt, wie innig sich vereinigt in einer Statue vor der Mairie in Orleans – da steht sie, die Jeanne d’Arc, das eigene Abbild derjenigen, die sie schuf, Marie von Orleans, dieser erhabenen Künstlerseele, die nebenbei eine Königstochter war.

Was in der Jungfrau wohnt, Heiliges und Großes, Tiefes und Begeistertes, Gedanken- und Ahnungsvolles, was von Glück und Schmerz, von Zeitlichem und Ewigem in einem Bilde liegen kann, das liegt in dieser Gestalt ausgedrückt. Die Jungfrau ist in stehender Figur; ihren Oberkörper bedeckt eine Rüstung; die Arme und über der Brust gekreuzt und halten das von Gott verliehene Schwert fest an das Herz gedrückt; das Haupt ist in Gedanken geneigt, und auf den Zügen des Antlitzes liegt eine unendliche Traurigkeit und Resignation, vermischt mit einem Strahle des Lichtes aus der Glorie der Märtyrer und Heiligen. Das ist keine Heroine wie die Figur der Reiterstatue auf dem Platze Martroi; das ist das einfache Mädchen, das Kind des Volkes, der keusche Busen einer Jungfrau, eingeschlossen in das enge ungewohnte eiserne Kleid. Ich verweile gern bei diesem edlen Werke; es überkommt mich dabei im fremden Lande ein Hauch der Erinnerung aus der deutschen Heimath; in früheren Tagen hatte ich oft mit derselben Bewunderung, mit derselben künstlerischen Erfüllung wie jetzt, vor jener kleinen Gypsstatue gestanden, nach welcher die Prinzessin die Marmorstatue in der Galerie von Versailles gearbeitet hat; nach der letzteren aber ist erst diese hier in Erz gebildet und nach dem Tode der Künstlerin vom Könige Ludwig Philipp der Stadt Orleans geschenkt worden. Der erwähnte erste Entwurf in Gyps befindet sich in Schloß Fantaisie bei Baireuth, dem Eigenthume des Herzogs Alexander von Württemberg, des Gemahles der 1838 verstorbenen Prinzessin. Dorthin wurden nach ihrem Tode alle Kunstgegenstände [47] gebracht. Sie füllen eine kleine Galerie und darunter befindet sich auch ein Bild Ary Scheffer’s, des Lehrers der Prinzessin, welches dieselbe in ihrem Atelier darstellt, ein kleines Meisterstück. Vielleicht, daß diese Erinnerungen an die Jugend bei der Betrachtung dieses Kunstwerkes mitsprechen; doch hat es auch Anderen und Größeren denselben Genuß gewährt.

Das Stadthaus von Orleans ist ein in vieler Hinsicht merkwürdiges Gebäude – ein Gedächtniß an die Zeit, wo die Lehre Luther’s und die Richtung Calvin’s in Frankreich mächtige Wurzeln geschlagen hatten und fast ein Sechstheil der Stadt sich zu der neuen oder vielmehr der gereinigten Lehre bekannte. Der Voigt der Mutter Heinrich’s des Vierten, Jacques Grostot, das Haupt der neuen Secte, hat es gebaut; nüchtern, ernst und streng wie die Doctrin Calvin’s wurde auch das Haus, das er zum Sammelplatze seiner Partei machte. Neuester Zeit wollte man dem finstern Hause ein neues Gewand anziehen: man hat dem Dache elegante Galerien von Eisen im Style der Renaissance angefügt; man hat einen graciösen Glockenturm darauf gesetzt, Nischen ausgehauen und Statuen in dieselben gesetzt zum Andenken an Personen, die sich um Orleans verdient gemacht haben; man hat vor dem Hauptgebäude eine gebrochene Freitreppe mit reicher Ornamentirung angebracht; aber es sind dieselben steifen Giebel, dieselben rothen Backsteinmauern, die ursprünglichen nüchternen Linien geblieben, und in jedem Fenster glaubt man trotz des neuen coquetten Anputzes den alten finsteren Hugenottenchef zu erblicken. Auch die inneren Gemächer sind im Style der Renaissance prächtig mit großartigem Geschmacke decorirt. Ich zweifle, daß irgend eine Stadtgemeinde einen Sitzungssaal habe, der eleganter und imposanter wäre als der im Stadthause von Orleans. Styl und Geschmack kommen sich gegenseitig zu Hülfe.

In der Mairie war der Municipalrath während der letzten Tage der zweiten Occupation in ununterbrochener Thätigkeit. Die Orleanaiser haben sich nämlich eine Zeitrechnung nach einer ersten und zweiten Occupation zurecht gemacht. Die erstere geschah durch die Baiern; von dem was zwischen beiden liegt, nämlich vom Zwischenreich der französischen Loirearmee, sprechen sie nicht; die Freude war auch hier zu kurz. In den Räumen der Mairie drängten sich die Quartiermacher für das Obercommando, für die Generalcommandos der einzelnen Armeecorps, für die einzelnen Truppentheile. Für den Generalfeldmarschall waren die Prachträume der früheren kaiserlichen Präfectur eingeräumt worden; General von Alvensleben, der Commandeur des dritten Corps, wurde zum Bischof Dupanloup in’s Quartier gelegt.

„Monsieur – logement – compagnie!“ das war die stehende Redensart jedes neu eintretenden Quartiermachers, und um die Zahl zu markiren, streckt er die Finger aus, was deutlicher als das beste Französisch sein soll.

„Aber wir haben ja schon die ganze Armee im Quartier,“ replicirt ein Municipalrath, dem der Angstschweiß auf der Stirn steht, in französischer Sprache.

„Das hört ja gar nicht auf!“ wendet sich ein junger Mann in deutscher Zunge redend zu dem Quartiermacher.

„Ach so! Sie parliren Deutsch, Camerad?“

„Ja, ich bin der von der Mairie bestellte Dolmetscher.“

„Ja, da haben Sie Recht, dat hört bei uns nich uf!“

„Wieviel kommen denn noch Regimenter?“

„Wieviel? Bis in die Puppen!“

„Combien?“ fragt der Municipalrath dazwischen.

„Wat sagt der Herr Stadtrath mit’s weiße Halstuch?“

„Wieviel noch kommen? fragt er.“

„Na, ick habe es Ihnen doch schonst jesagt, bis in die Puppen.“

„Was heißt das?“

„Wat? Dat wissen Sie nich und wollen Tollpatsch sind? Sie wissen nich, wat ‚in die Puppen‘ uf Französch heißt? Dat heißt: immer mang die Franzosen. Nu vertollpatschen Sie’s mal!“

„Toujours – toujours!“

Die Quartiermacher sind die Schrecken der Stadtbeamten, die mit der dornenvollen Aufgabe betraut sind, Quartier zu machen, Quartier für fast zehntausend Mann.

„Es geht nicht mehr, es ist nicht mehr möglich!“ stöhnte am Abend des 5. December der betreffende Beamte, in seinen Fauteuil müde zurücksinkend. „Wir haben kein Quartier, wir haben gar nichts mehr – nichts, nichts.“

„Für zwei Batterien bitte ich,“ erwiderte der Unterofficier, der vor ihm stand und dem er diesen Bescheid gegeben hatte.

„Batterie“ – wiederholte der Beamte wie elektrisirt von seinem Sitze aufschnellend. „Vous – vous êtes Batterie?“

„Artillerie,“ versetzte der Unterofficier.

„Hier – hier haben Sie Ihr Billet! Nehmen – nehmen Sie, Monsieur!“

Zur Erklärung muß hier beigefügt werden, daß die Einwohner von Orleans in den ersten Tagen der zweiten Occupation in beständiger Angst lebten, die Stadt möchte bombardirt werden. Sie hatten kein gutes Gewissen von der ersten Occupation her; Deutsche waren von ihnen ohne alle Veranlassung zu Gefangenen gemacht worden, und dann war es ausgemacht, daß sie mit der Regierung von Tours in Verbindung standen und dieser über die Armeeabtheilung des Generals von der Tann Nachrichten zukommen ließen.

Der große Vorhof vor der Mairie wurde des Tages über nicht mehr leer. Soldaten aller Waffengattungen, aller deutschen Stämme, Franzosen in Civil, Männer in blauen Blousen, Frauen, Kinder, Alles drängte sich bunt und wirr durcheinander; jeder von ihnen hatte eine Frage, ein Anliegen, eine Klage, eine Remonstration an die Mairie, die Menschen hatten sich in dichten Massen die Freitreppe hinauf bis an den Eingang gedrängt, so daß die Behörde sich genöthigt sah, Queue machen zu lassen. Die Herren in Civil trugen im Gesicht Knebelbärte und im Knopfloch ein rothes Band, sie standen in Gruppen beieinander, gedämpft, wenn auch mit lebhaften Gesten sprechend, lauter waren schon die Blaukittel, die zur Bekräftigung ihrer Worte noch mit den Holzschuhen klapperten, die Frauen weinten und nur ab und zu hörte man die Worte „Brod! Brod!“ heraus, dazwischen riefen die Kinder Cognac, Aepfel, Wurst und Käse aus. Ein Gemeinsames ließ sich für diese französische Gruppe als Behauptung aufstellen: Alle beklagten sich, daß sie zu viel Einquartierung hätten, Keiner, daß man ihm zu wenig Soldaten gegeben habe.

Eine Frau zeigte mir einen kleinen schmutzigen Wisch Papier; den habe ihr ein „Bavarois“ gegeben, der sich mit seinen Cameraden Wein aus den Kellern geholt habe. Ob das Papier Gültigkeit habe? Auf dem Papiere stand Folgendes: „Unterzeichneter bezeugt, aus dem Keller dieser Madame ein Faß Wein geholt zu haben. Der Bismarck bezahlt Alles. (Unterschrift.)“

In der Nähe der Mairie liegt die Kathedrale – ein imposanter gothischer Bau voll Würde und Majestät. Derselbe ist erst in neuerer Zeit vollendet worden, nachdem er unter Heinrich dem Vierten begonnen worden war. Die Erbauung dieser Kirche war der Preis, um den vom Papste der große Bann von ihm genommen wurde; bekanntlich hatte sich der König von Navarra zur neuen Lehre bekannt und diese dann erst wieder verlassen, als er den französischen Thron bestieg. Heinrich der Vierte war eine leichtblütige Natur und nahm die Sache mit seiner Rückkehr in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche nicht sehr genau. „Paris ist wohl eine Messe werth,“ war sein Wort, und die Franzosen, denen es in allen Dingen mehr um ein Schlagwort, als um ernste Untersuchung zu thun war, freuten sich über diesen Witz und ließen sich von ihm regieren. Den Orleanaisern trug seine Rückkehr in die Messe eine imposante Domkirche ein, wenngleich Heinrich der Vierte das großartige Bauwerk nicht vollendet hat. Von dem Gründer der Dynastie der Bourbons an bauten alle bis zum letzten Bourbon an der Domkirche „zum heiligen Kreuz“, unter Ludwig dem Sechszehnten wurden die Thürme beendet, unter Karl dem Zehnten das große Portal, und merkwürdigerweise – vierzehn Monate darauf war es in Frankreich auch mit der Dynastie zu Ende.

Die Länge der Kirche beträgt hundertdreiundvierzig Meter, die Breite sechsundsechszig Meter, die Höhe des Schiffes bis zu dem Gewölbe dreiunddreißig Meter, die Höhe der Thürme sechsundachtzig Meter. Wenn sich überhaupt eine Annäherungssumme für die Kosten der Erbauung annehmen läßt, da nach den verschiedenen Perioden des Baues der Werth des Geldes ein anderer war, so möchte die Summe von zweiundzwanzig Millionen Franken nicht zu hoch gegriffen sein – die Thürme allein erforderten einen Kostenaufwand von sieben Millionen.

Diese majestätisch in den Himmel aufsteigenden Thürme mit ihrer steinernen durchbrochenen Arbeit, ihren durchsichtigen Treppen und luftigen Säulenstellungen, diese tausend und aber tausend in Stein gehauenen Blumen und Blätter, diese eleganten Strebepfeiler,

[48]

Das Gardecops bei der Erstürmung von St. Privat la Montagne in der Schlacht bei Gravelotte.
Originalzeichnung von Christian Sell.

[50] diese Fenster mit ihrem kunstvollen Glaswerk, diese durchbrochenen Galerien, diese vertieften Karniese – welche Fülle, welche Pracht, welche Herrlichkeit! Wie macht diese grandiose Außenseite auf das Innere dieses wunderschönen Gotteshauses[WS 2] begierig! Und in welchem Zustande mußte ich dasselbe sehen!

Es befanden sich Tausende von französischen Kriegsgefangenen in der Kathedrale. Man hatte anfangs das Bahnhofsgebäude dazu benutzt, dieselben unterzubringen, als aber dieses gefüllt war, und die Zahl der Tausende mit jeder Stunde zunahm, fühlte man sich endlich zu der Nothwendigkeit gedrängt, die große Kirche öffnen zu lassen. Es gab zwar noch andere Kirchen in der Stadt, um die hungernden, frierenden Franzosen unterbringen zu können, aber dieselben waren zu klein, und man konnte nicht so viel Mannschaften entbehren, als zur Bewachung der Kriegsgefangenen in kleineren Räumlichkeiten nothwendig gewesen wären. Sollte man sie bivouakiren lassen – bei acht bis zehn Grad Kälte? Dagegen sprach die Menschlichkeit, und gegen die Benutzung der Kathedrale sprach der Bischof; aber es gab unter diesen Umständen keinen andern Ausweg.

Der ganze grandiose Raum war von Rauch erfüllt, daß man fast keine der architektonischen Linien mehr zu erkennen vermochte; die Franzosen hatten sich im Hauptschiffe und den Seitenschiffen große Feuer gemacht und saßen im Kreise um dieselben, hielten die Hände an das Feuer, schlenkerten mit den Füßen, einer erzählte etwas und sämmtlich waren sie guter Dinge; wenn das Feuer ausgehen wollte, wurden die mit Stroh geflochtenen Kirchenstühle genommen, zertrümmert und in die Gluth geworfen, die brannten gut. Dabei waren die Fliesen des Erdbodens mit Nässe und Schmutz bedeckt und ein furchtbarer Geruch durchdrang das Gebäude. Im hohen Chor befindet sich der Thron des Bischofs, der mit rothen Sammetvorhängen bekleidet und mit einem dichten Teppich bedeckt ist. In diesem Raume lagen die Zuaven, die Turcos, wie Stücke Vieh einer über dem andern, die Sammetvorhänge waren herabgerissen und zu Couvertdecken für ihre Lagerstätten benutzt worden, auf dem Throne machte ein Zuave ganz ungenirt Toilette und auf dem Betpulte des Bischofs schrieb Einer auf das Eifrigste einen Brief, dessen Ueberschrift war: „Ma bien-aimée Naëmi!“ Sie schliefen in den Beichtstühlen, sie lagen auf den Treppen des Hochaltars, der Kanzel, in den Chorstühlen, überall, und dabei war ein Summen, ein Geschwirre, ein Lärmen, das in den gewölbten Räumen tausendfach widerhallte. Nun ließen sich auch noch Orgeltöne vernehmen, und als ich näher trat, sah ich, daß eine dichte Gruppe das Orgelpult umgab, einer saß vor dem Griffbrett und intonirte eine religiöse Melodie, im nämlichen Augenblick riß ihn aber ein Anderer weg, intonirte einen Walzer, ein Zuave ergriff den ihm zunächststehenden Cameraden, drehte sich mit ihm im Tanze und bald tanzte die ganze Gesellschaft im hohen Chor.

Mit dieser Empörung über eine solche Entweihung ging ich hinweg, ich war fest entschlossen, davon Meldung zu machen; es war aber unnöthig, denn gleich darauf geschahen von der Militärbehörde, die schon davon gehört[WS 3] hatte, die entsprechenden energischen Schritte, um die Wiederkehr derartiger Excesse zu verhindern und die Franzosen zur Ordnung zu bringen. Wie aber, fragte ich mich beim Weggehen, muß es um die Herzens- und Gemüthsbildung eines Volkes bestellt sein, auf dessen religiöse Erziehung doch so viel verwendet wird, daß es so wenig das Heiligthum respectirt, das sie an die weihevollsten Momente ihres Lebens erinnert? Würden unsere Soldaten, gleichviel ob evangelische oder katholische oder Juden, so in einer Kirche gehaust haben? Nie, selbst wenn das physische Bedürfniß, wenn Hunger und Kälte sie gequält hätten, und dieses war es hier nicht allein, hier war es ein Kitzel, ein Taumel, der zu Ausartungen der letztgeschilderten Art verleitet hat, es war der Cancan im Gotteshause!

[77]
Zehnter Brief. Eine Audienz beim Bischof Dupanloup.


Wer sich um die Geschichte der Gegenwart wirklich kümmert, hat auch den Namen des berühmten Bischofs von Orleans schon gelesen und weiß, daß dieser, Dupanloup, es war, welcher vor Jahren den Muth hatte, mit glänzender Beredsamkeit und mit dem Erfolge eines großen Eindrucks alle jene Schritte und Maßnahmen des Kaiserreichs auf das Heftigste anzugreifen, welche darauf gerichtet waren, den Papst in seiner weltlichen Herrschaft zu schädigen und zu beschränken. Als dann in Rom das Concil zusammentrat, erschien Bischof Dupanloup in der Peterskirche, um vor den Thronstufen Sr. Heiligkeit mit einer Kraft, welche die Bewunderung der ganzen gebildeten Welt für sich hatte, gegen die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes zu protestiren.

Es war zu erwarten, daß der Bischof Dupanloup, der sich zu jeder Zeit und vor Allem als Franzose gefühlt hatte, auch den [78] jüngsten Ereignissen der Gegenwart gegenüber, die er auf das Schmerzlichste empfinden mußte, sich nicht stillschweigend verhalten werde, und in der That, schrieb er, als der Napoleonidenthron nach der Schlacht von Sedan zusammengebrochen war, einen Brief, der „an einen Politiker“ gerichtet, aber für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Man konnte, um gerecht zu sein, nichts gegen den französisch nationalen Standpunkt des Schreibers einwenden, noch weniger gegen die moralisch-religiösen Gedanken des Briefes, der dahin sich aussprach, daß die Franzosen die Schuld an dem Elend und den Schrecken des Krieges in sich selber trügen, in ihrer moralischen Verkommenheit, in ihrer religiösen Gleichgültigkeit. Ohne Seitenhiebe auf die Sieger geht es freilich nicht ab; dem Könige von Preußen wird das Schicksal des ersten an seinem unersättlichen Ehrgeize zu Grunde gegangenen Napoleon vorgehalten und der königliche Sohn an seine verklärte Mutter, die Königin Louise, erinnert und an deren unvergeßliche Worte: „Ich glaube nicht an die Gewalt, ich glaube nur an die Gerechtigkeit.“ Der Brief ist, wie alle diese Kundgebungen des Bischofs, mit hohem oratorischem Schwunge geschrieben, Dupanloup ist einer der ersten Prosaisten des heutigen Frankreichs, dabei geht durch die Zeilen ein wohlthuender Ton der Würde, Mäßigung und politischer Rücksicht. Ganz anders ist der zweite Brief, den er bei Gelegenheit des Festes des heiligen Aignan an die Pfarrgeistlichen von Orleans gerichtet hat. Aignan war der zweite Bischof von Orleans, derselbe, welcher bei dem Heranziehen des Hunnenkönigs gegen Orleans die Hülfe des Aëtius herbeigeholt und durch Rede und Beispiel die Gemüther der bereits verzagt gewordenen Bewohner von Orleans zu neuem Muthe, zu verdoppelter Widerstandsfähigkeit entflammt hatte. Wenn man diese Zeilen liest, die eigentlich an die Adresse von ganz Frankreich gerichtet waren, so bekommt man das Bild eines Priesters, der fanatisirend mit dem Kreuze in der Hand den Kämpfern voranschreitet, man fühlt, wie der Schreiber sich im Drange eines glühenden patriotischen Herzens, einer kühnen Einbildungskraft mit dem zweiten Bischof von Orleans identificirt, die Loirearmee mit den rettenden Schaaren des Aëtius und Attila mit – dem Führer der zweiten Armee. –

Als wir in Pithiviers vor dem Walde von Orleans lagen und warteten, was denn wohl der General Aurelles de Paladine unternehmen möchte, zu dieser Zeit war der Bischof der Gegenstand häufiger Unterhaltung zwischen mir und meinem Quartiergeber, dem Herrn Abbé, den meine lieben Leser bereits kennen. Dieser wußte mir viel zu erzählen von dem persönlichen Zauber seines Wesens, dem Niemand zu widerstehen vermöge, von der Macht seiner religiösen Ueberzeugungen, die schon Unzählige, namentlich Engländer und Amerikaner, in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurückgebracht habe, von seiner unbegrenzten Liebesthätigkeit, die Alles der Noth des Nächsten opfere, von der patriarchalischen Einfachheit seiner Lebensweise, die sich mit dem Gewöhnlichsten und Geringsten begnüge, um das Uebrige an die nothleidende Menschheit abgeben zu können. Derartige Schilderungen wurden mir übrigens auch von anderer nicht geistlicher Seite gemacht, so daß ich eines Tages gegen den Herrn Abbé den Wunsch äußerte, wie sehr ich wohl wünschte, die Bekanntschaft eines nicht nur berühmten Mannes, sondern noch mehr ausgezeichneten Menschen zu machen.

„Das möchte Ihnen wohl schwer werden,“ meinte mein Wirth mit etwas spitzem Lächeln.

„Wie so schwer?“

„Weil Sie das nur in Orleans in dem Bischofshofe erreichen könnten.“

„Gewiß – und nun?“

„Weil Sie jetzt wenigstens nicht dahin kommen werden.“

„Nun, wir wollen ja sehen, Herr Abbé.“

Am 5. December Morgens wehte die preußische Fahne von der Kathedrale in Orleans, am Mittag fuhren wir in die Stadt der Jungfrau ein. Ich war mit dem festen Vorsatze in dieselbe gekommen, daselbst Nachforschungen nach dem Verbleib eines höchst achtbaren Collegen, des General-Correspondenten der Berliner Zeitungen im großen Hauptquartier, des Dr. Kayßler aus Berlin, anzustellen. Derselbe war einen Tag zuvor, ehe General von der Tann aus Orleans sich zurückzog, dahin gekommen, war dort zurückgeblieben, zum Kriegsgefangenen gemacht worden und von da ab verschwunden. Von Versailles aus war Befehl ergangen, in Orleans nach dem Verschwundenen zu forschen. Leider war das Resultat der Nachforschungen, welche der preußische Commandant Oberst Leuthaus anstellte, nur ein geringes; Kayßler hatte aus seiner Gefangenschaft in Orleans einmal an seinen Freund, den Redacteur der Spener’schen Zeitung in Berlin, Dr. Alexis Schmidt, geschrieben und seitdem war jede Spur von ihm wie verschüttet. Unter den Personen, welche sich für das Schicksal des deutschen Journalisten interessirten, war auch der Bischof Dupanloup genannt. An ihn beschloß ich mich zu wenden, um etwas Näheres über den Vermißten zu erfahren. Jedoch waren gewisse Verhältnisse mitwirkend, daß ich meinen Vorsatz nicht bei unserem ersten Aufenthalte in Orleans vom 5. bis 12. December ausführen konnte, sondern erst an den Bischof schrieb und in der erwähnten Angelegenheit um einen Ausweg bat, als wir von unserer achttägigen Excursion nach dem Süden, und nachdem die französische Loirearmee aus nördlicher nach Paris zugewendeter Richtung gänzlich nach dem Westen sich gezogen, nach Orleans zurückgekehrt waren. Am Tage darauf erhielt ich eine Einladung, den Bischof in den Stunden von fünf bis sieben Uhr, wenn mir das gelegen sei, zu besuchen.

Das bischöfliche Palais liegt unmittelbar hinter der Kathedrale; durch einen stattlichen Thorweg tritt man in einen großen Vorhof, dessen ganze Tiefe von dem Bischofspalaste eingenommen wird. Ueber dem Thorwege prangt das Wappen des Bisthums Orleans, und unter demselben hingen eine französische Flagge, eine andere mit dem Genfer Conventionszeichen und in der Mitte eine größere preußische, ein Anzeichen, daß in dem Palaste preußische und französische Verwundete liegen, darum stand an dem Thorwege auch ein Wachtposten, der zu dem Gerüchte Anlaß gegeben hatte, der Bischof sei von den Preußen in seiner Wohnung gefangen gehalten worden. Rechts von dem Thorwege liegt die Wohnung des Hausmeisters. Ich klingelte und frug nach dem Aufgange zu den Gemächern Monseigneurs. Der Hausmeister schien von meinem Besuche unterrichtet und schickte sich an, mich zu führen. Ich wollte auf den Eingang zu dem palastähnlichen Hauptgebäude zugehen, das sich in nichts von allen derartigen Bauten unterschied, der Hausmeister zeigte jedoch nach links und bat um Entschuldigung, wenn er mich nicht die große Treppe hinauf und durch die Empfangsgemächer führte, diese seien für die Verwundeten eingerichtet, er müsse mir durch einen Seiteneingang den Weg zu den Gemächern Monseigneurs zeigen. Wir durchschritten mehrere kleine Höfe, in denen preußische Soldaten Holz spalteten, traten durch eine unscheinbare Thür in einen Seitenflügel des Gebäudes und gingen eine ziemlich breite Treppe hinauf, an deren Ende mein Führer ein langes schmales Vorzimmer öffnete und mich eintreten hieß; das Gemach, in welchem ich mich befand, war ziemlich einfach eingerichtet, an beiden Seiten stand eine Reihe Stühle, an den Wänden hingen Aquarellbilder, Zeichnungen in Rahmen, wahrscheinlich die Arbeiten vornehmer und frommer Dilettantinnen und Beichtkinder des Bischofs, welcher der Freund, Berather, der Gewissensrath des legitimistischen Adels von Frankreich ist. Aus allen Theilen des Landes, und nicht immer Frankreichs, sondern auch Englands, kommen die schönen vornehmen Sünderinnen, um ihre Gewissensnoth ihm anheimzugeben; in Orleans befindet sich eine Colonie von hochstehenden katholischen Engländern und sehr oft wird auch der Bischof zu geistlichen Verrichtungen nach Paris berufen.

Als ich mir diese Bilder betrachtet hatte, hörte ich, wie draußen vor der Thür der Hausmeister mit Jemandem leise sprach, doch konnte ich nur die in halb ängstlichem, halb erstauntem Ton gesprochenen Worte vernehmen. Le Prussien! Zur Erklärung, daß der Sprecher mich als solchen erkannte, diene die Bemerkung, daß ich in der Wintercampagne einen langen preußischen Militärmantel und die preußische Infanteriemütze trage. Wer weiß, für welche wichtige Persönlichkeit der um seinen geistlichen Herrn besorgte alte Diener mich gehalten haben mag! Im nächsten Augenblick trat ein junger Abbé ein, glitt lautlos auf dem Teppich des Zimmers dahin, um mir ein links von dem Empfangszimmer gelegenes Gemach zu öffnen und mich zum Eintritt in dasselbe einzuladen, mit der Bemerkung, daß Monseigneur sogleich erscheinen werde.

Allem Anscheine nach befand ich mich in dem Arbeitszimmer des Bischofs. Es war ein großes Gemach in Quadrat, sehr hoch, und hatte zwei Fenster, die nach dem Hofe gingen. Die Wände waren mit einer dunklen Tapete bekleidet, die den Fenstern gegenüber liegende Wand war vom Boden bis an die Decke von einer [79] Bibliothek eingenommen. An der Wand links von den Fenstern hingen große Kupferstiche in Rahmen; die Mitte der gegenüber liegenden nahm der große Marmorkamin ein, auf dessen Brüstung eine Uhr im Geschmack Ludwig’s XVI. stand; die Stelle des Spiegels füllte ein großes Crucifix aus; ein zweites hing an der Wand zwischen den Fenstern, darunter war ein Betstuhl. Rechts an dem Fenster stand ein großer Schreibtisch, daran ein mit grauem Leder gepolsterter kleiner Lehnstuhl; an diesem schien der Bischof zu arbeiten, an einem anderen, der vor dem Bücherrepositorium aufgestellt war, die Secretäre, deren er nicht weniger als sechs hat. Die Correspondenz des Bischofs erstreckt sich, wie man mir sagte, über die ganze katholische Erde, und das will noch viel mehr sagen, als über die civilisirte. Seine Thätigkeit ist rastlos, sehr häufig dictirt er mehreren Secretären zugleich; am Morgen pflegt er um vier Uhr aufzustehen, um neun Uhr des Abends legt er sich zu Bett, und von letzterer Gewohnheit vermag ihn nichts abzubringen, weder die Gesellschaft in einem fremden, noch die im eigenen Hause. Er pflegt in Orleans nur zum Präfecten und zum ersten Präsidenten des Cassationshofes zu gehen; an Sonntagen hat er seine eigenen Empfangstage, an welchen er die Gesellschaft der Stadt empfängt. Um seine Gesellschaft länger zu genießen, und da man weiß, daß er sich Schlag neun Uhr zurückzieht, versammelt man sich schon um sieben Uhr, und nirgends sieht man in Orleans mehr Menschen und bessere Gesellschaft versammelt, als bei den Empfangstagen Monseigneurs. Die Bewohner von Orleans halten aber auf ihren Bischof auch große Stücke, wie überhaupt der Einfluß desselben auf den moralischen Geist der Bevölkerung unverkennbar ist. Es herrscht in den Familien eine fast deutsche Zucht und Strenge, und nirgends in Frankreich hat sich gegen das Pariser Treiben größere Abneigung gefunden, als in Orleans.

„Sie sind mit Ihren Zeilen meinem Wunsche, etwas über Dr. Kayßler zu erfahren, begegnet, und ich heiße Sie willkommen, mein Herr.“

Es war eine weiche, etwas in hohen Tönen sprechende, aber musikalisch klingende Stimme, die sich vernehmen ließ, eine hohe ehrwürdige Greisengestalt stand vor mir, gehüllt in eine violette Soutane, mit einem bis zur Mitte gehenden Kragen gleicher Farbe. Unter dem schwarzen Käppchen, welches den Kopf bedeckte, quoll feines schneeweißes Haar hervor, das Gesicht hatte viel Farbe, der untere Theil desselben, das runde Kinn, der angenehm gebildete Mund bildeten einen merkwürdigen Contrast gegen die scharf geschnittene Nase und die lebendigen feurigen Augen. Um den Hals trug er die den Geistlichen der gallikanischen Kirche eigenthümlichen schwarzen, weißgeränderten Rabaten, auf der Brust das goldene Bischofskreuz, die ganze Erscheinung vom Scheitel bis zur Sohle der Typus eines Kirchenfürsten.

Mit graciöser Bewegung ersuchte er mich, auf dem einen der vor dem Kamin stehenden Fauteuils Platz zu nehmen, ich that es, er setzte sich mir gegenüber und ersuchte mich nun, meine Füße auf die Messinggallerie zu stellen, welche den Kamin von dem Parquet trennte. Ich entschuldigte mich, wenn ich im Laufe der Mittheilung die französische Sprache nicht mit der Feinheit spräche, welche ein Geist wie der seinige zu fordern berechtigt wäre.

„Wer französisch so schreiben kann, wie Sie es in Ihren Zeilen gethan haben, und wer sich so entschuldigen kann, der kann auch französisch sprechen.“

„Letzteres ist noch leichter, als das Schreiben, Monseigneur; bei dem Abfassen meines Billets an Monseigneur habe ich mir von meinem Wirthe, bei dem ich in Quartier liege, helfen lassen.“

Der Bischof lachte.

„Sie nennen,“ fuhr er dann fort, „mir in Doctor Kayßler keinen Fremden. Der Genannte war am Vorabend des Rückzugs der Baiern aus Orleans hier angekommen, hatte von dem Abmarsche des Generals von der Tann keine Ahnung, wurde von der Frau, bei der er wohnte, als Preuße verrathen und gefangen genommen. Er war mit einem Grafen Arco aus München gekommen, und mein Generalvicar Hetsch, ein geborener Württemberger, führte mir die beiden Herren zu, ich sah dieselben zu Tisch bei mir, und ich muß Ihnen sagen, Doctor Kayßler hat mir sehr – sehr – sehr gefallen. Der ist ein Mann von Welt, von Geist und Kenntnissen. Um den beiden Herren die Rückreise nach Deutschland durch die Schweiz zu ermöglichen, schrieb ich an die Regierung von Tours und erbat für dieselben einen Geleitsbrief. Es kam aber nur ein solcher für den Grafen Arco, nicht auch für Doctor Kayßler. Was war zu machen? Ich wußte, daß Graf Arco unter den bei der Regierung in Tours beglaubigten Gesandten Bekannte hatte, und rieth ihm daher, Doctor Kayßler mitzunehmen und durch diplomatische Vermittlung auch für seinen Begleiter einen Geleitschein zu erwirken. So reisten Beide ab. Seitdem habe ich von Beiden nichts mehr gehört.“

„Wie ich gehört habe, ist Graf Arco nach München zurückgekehrt,“ bemerkte ich.

„So, das ist mir neu. Ich habe keine Nachricht von ihm. Was ist aber aus Doctor Kayßler geworden?“

„Man vermuthet, daß er in Pau sei. Soviel ich weiß, hat man keine directen Nachrichten von ihm seit Orleans.“

„Das beunruhigt mich sehr,“ versetzte der Bischof. „Wenn er wirklich in Pau sein sollte, warum hat er nicht geschrieben? Hm, hm! Was ist da zu machen? Geben Sie mir einen Weg an – ich will Alles für ihn thun, was in meinen Kräften steht, ich will selbst an Gambetta schreiben.“

„Vorläufig, Monseigneur, käme es darauf an, sich zu vergewissern, ob der Verschwundene wirklich in Pau ist, und sich dann mit ihm in das Vernehmen zu setzen, was und in welcher Weise etwas für ihn geschehen kann. Im großen Hauptquartier interessirt man sich sehr für sein Schicksal. Es sollen auch Gefangene nach den hyèrischen Inseln gebracht worden sein.“

„Nach den Inseln, das ist nicht möglich, denn diese sind ganz kahl, fast unbewohnbar, nur ein Strafhaus für Kinder befindet sich dort. Aber nach der Stadt Hyères, das ist möglich. Ich will an den Pfarrer von Hyères schreiben, an eine mir bekannte Dame in Pau, an den Père Gentry, der Ihnen jedenfalls dem Namen nach bekannt sein wird – die sollen Erkundigungen einziehen. Aber wie die Briefe nach Südfrankreich bringen, wie eine Antwort erhalten? Da fällt mir etwas ein, eine französische Dame hat vom Prinzen Friedrich Karl einen Geleitsbrief erhalten, kraft dessen sie mit der Leiche ihres bei Creyant gefallenen Sohnes die preußischen Linien passiren kann, um nach Südfrankreich zu gelangen. Diese könnte die Briefe mitnehmen, um sie in einem noch nicht von den Preußen besetzten Orte auf die Post zu geben. Die Antwort soll durch den Erzbischof von Tours gehen – ja, das wird das Beste sein. Ich werde auch an den Erzbischof schreiben.“

„Aber Monseigneur, erlauben Sie mir gnädigst die Frage, wie soll von Tours die Antwort hierher gelangen?“

„Vielleicht sind Ihre Truppen schon um diese Zeit in Tours, denn dahin gehen doch Ihre Operationen auf dem rechten wie dem linken Loireufer.“

Das war ein Fühler, den der Bischof ausstreckte; ich konnte nichts Anderes darauf erwidern, als:

„Ich weiß nicht, Monseigneur. Wenn es wirklich der Fall sein sollte, so sind Monseigneur besser unterrichtet, als ich. Aber ich wüßte vielleicht einen andern sicherern Weg, die Briefe zu befördern und Antwort zu erhalten, durch Vermittlung unseres Gesandten Herrn von Rüder in Bern. Wenn Monseigneur die Gnade haben wollten, mir die Briefe in offenen Couverts, wie es gesetzmäßig ist, zu schicken, dann würde ich dieselben an Seine Excellenz befördern, mit der Bitte, sie auf die Schweizerpost zu geben, und Monseigneur würden sich für Ihre außerordentliche Güte den Dank aller meiner Collegen verdienen.“

„Gut, gut – ich werde Ihnen die Briefe noch diesen Abend senden. O wie ist das Alles so schwierig – so verwickelt! In welche furchtbare Lage sind wir gerathen! Was wird aus dem armen Frankreich werden!“

„Eine Republik wird es jedenfalls nicht bleiben,“ bemerkte ich, und bei dieser Gelegenheit gab ich ihm eine kurze Schilderung der Stimmung, die ich südlich von Orleans bei unserem achttägigen Ausfluge in den Dörfern und kleinen Städten angetroffen hatte, eine Stimmung, die der Republik nichts weniger als freundlich, und gegen Herrn Gambetta am allerentschiedensten gerichtet war. Hiermit waren wir auf dem politischen Gebiete angelangt. Es hieße die einer so berühmten öffentlichen Persönlichkeit schuldige Discretion verletzen, wollte ich seine Anschauungen und Aeußerungen hier wiederholen; die freundlichen Leser müssen sich begnügen zu erfahren, daß sich sein Wesen von Augenblick zu Augenblick immer mehr belebte und in Erregung gerieth; ein Gedanke drängte sich an den andern, eine Folgerung jagte die andere, philosophische Sätze und historische Facta drängten sich durcheinander, aber Alles war mit

[80] originellem Geiste erfaßt, in höchster Formvollendung wiedergegeben, und dabei sprachen der Mund, die Augen, die Hände, der achtundsechszigjährige Greis verjüngte sich, und die Rede nahm einen so begeisterten Schwung an, daß ich bewundernd schwieg, und hier in einer einfachen Conversation vor dem Kamine begriff ich die hinreißende Macht, welche dieser Mann als Kanzelredner auf das Publicum ausübte, und das Zuströmen desselben zu seinen Predigten sowohl hier in Orleans, als auch früher, da er noch Pfarrgeistlicher von St. Roche in Paris war. Nicht allein das religiöse Element ist es, was diese bezwingende Wirkung hervorbringt, sondern die Vermischung desselben mit dem nationalen. Dupanloup gehört mit seinen drei großen Freunden Montalembert, Lamennais und Lacordaire einer Schattirung der römisch-katholischen Kirche an, welche sich zu einem liberalen Katholicismus oder besser ausgedrückt zu einem nationalen bekennt, und dessen erster Grundsatz ist: Erst Franzose, dann Priester.

Es ist eine große nationale Beweglichkeit und Lebendigkeit in diesem Manne, ein unaufhörliches Arbeiten der Gedanken und namentlich der Phantasie. Ich sah ihn am ersten Weihnachtsfeiertage in der Kathedrale, derselben Kathedrale, von deren Verwüstung ich in meinem letzten Artikel ein Bild zu geben versucht hatte, die nun wieder gereinigt ihrem gottesdienstlichen Zwecke anheimgegeben war und an diesem Tage im höchsten Glanze strahlte. Der Bischof saß in seinen goldenen priesterlichen Gewändern auf seinem Throne, umgeben von dem Glanz und Nimbus des katholischen Ritus. Dieses ruhige Sitzenmüssen auf einem Platze während der monotonen Gesänge der Vesper schien ihm gar nicht zu behagen, er rückte immer umher auf seinem Sitze, zupfte an seinen Gewändern, als ob ihm diese zu schwer und unbequem wären, er sah sich auch mehrmals um, er schien nach allem Anscheine mit seinen Gedanken ganz wo anders zu sein, als in der Vesper der Kathedrale von Orleans, was ich ihm gar nicht zum Vorwurfe machen kann. Diese Gesänge sind zu andachts- und eindruckslos, eine Bewegung der Lungen, aber nicht des religiösen Gemüthes. Der Eindruck war ein ganz anderer, als er umgeben von seinem Clerus mit dem Stabe und der Mitra die Stufen zum Hochaltar hinanstieg und den Gläubigen den Gruß gab. Da ging er in großen sicheren Schritten voran, und man hatte von ihm den Eindruck eines Kirchenfürsten, der unter dem Priestergewande einen Harnisch trug; es ist gar nicht zu leugnen, daß in dem Bischofe etwas Streitbares liegt, das ist auch in dem erwähnten Briefe an die Pfarrgeistlichen gelegentlich des Festes des heiligen Aignan ausgedrückt.

„Ich weiß,“ sagte er, „man hat mir diesen Brief vielfach vorgeworfen – von preußischer Seite. Habe ich aber die Armee, das preußische Volk beleidigt, kann man mir eine Invective nachweisen?“

„Nein, Monseigneur, das kann man nicht, aber der ganze Brief ist eine Erklärung gegen uns.“

„Man hat mir einen Ausdruck sehr verübelt, den ich gebraucht habe, ‚wilde Horden‘.“

„Das weiß ich nicht, und, verzeihen Sie, Monseigneur, daran zweifle ich auch, man wird nur da empfindlich, wo man sich getroffen fühlt.“

„Wenn Sie den Brief gelesen haben, so werden Sie allerdings einen solchen Ausdruck finden, aber nicht ich gebrauche ihn, sondern derselbe befindet sich in einem Citat, das ich gebraucht habe, aus Gregor von Tours, wie Sie wissen, dem Vater unserer nationalen Geschichte.“

Darauf hätte ich erwidern können, daß die eben gebrauchte Beweisführung eine sehr gewagte sei, denn wozu gebraucht man ein Citat anders, als um ein fremdes Wort, die Meinung eines Andern, an die Stelle des eigenen zu setzen, um diese noch mehr zu bekräftigen? Ein Citat ist ein Wort, das man sich aneignet und vertreten muß. Doch das sagte ich nicht. Der Bischof war freundlich und entgegenkommend gegen mich und Güte pflegt man doch nicht mit Unannehmlichkeiten zu erwidern. Wenn ich bisher auf Manches zu antworten veranlaßt war, so war das geschehen, um den nationalen Standpunkt zu wahren, und in diesem Sinne bemerkte ich denn dem Bischof auch, daß das Gefährliche seines Briefes nicht in der gegen uns gerichteten Spitze gelegen habe, sondern darin, daß er die Gemüther seiner Landsleute zum Widerstande entflammt und Hoffnungen rege gemacht habe, die sie nicht erfüllen konnten.

„Das war meine Pflicht – dafür bin ich Franzose. O, ich habe den Krieg verwünscht, aber da sich nach der Niederlage der kaiserlichen Armee das Volk erhoben hatte, warum sollte ich die Gemüther durch Hoffnungen nicht stärken? Warum sollte ich nicht dem Glauben Ausdruck geben, daß der heilige Aignan, daß die Jungfrau uns beistehen und uns zum Siege führen könnte?“

„Ihre Hoffnungen, Monseigneur, sind auf die Jungfrau gerichtet; das Frauenideal, zu dem wir in diesem Kriege unsere Herzen und Gedanken emporheben, das ist die Königin Louise.“

„Ich habe ihrer in meinem ersten Briefe erwähnt.“

„Ich habe denselben gelesen, Monseigneur, und die Worte, die Monseigneur Ihrem Volke als Trost hingeben: ‚Ich glaube nicht an die Gewalt, ich glaube nur an die Gerechtigkeit.‘ Aber verzeihen Sie, Monseigneur, die Königin hat durch Frankreich gelitten, ist an Frankreich gestorben, dieser heilige Schatten ist unser allein, auch dieses Wort ist unser und wir dürfen es uns nicht entreißen lassen; denn das Andenken an die Königin ist unsere Rechtfertigung und unser Panier; unser ist in diesem Kriege die Gerechtigkeit und weil diese, so auch nicht die Gewalt, aber die Stärke. Monseigneur deuten in Ihrem ersten Briefe an, als wenn es der militärische Ehrgeiz wäre, der den König zur Fortsetzung des Krieges veranlagte. Nein, Monseigneur, das ist unser Volk, und der König und Graf Bismarck wissen das sehr wohl und wissen auch, daß sie für Deutschland nur einen Frieden machen können, der diesem den Elsaß und einen Theil Lothringens zurückbringt.“

Darauf gab der Bischof keine Antwort, vielleicht daß es nicht sehr tactvoll von mir war, diese empfindliche Seite im Herzen eines Franzosen zu berühren – vielleicht, aber ich hatte mich fortreißen lassen, die Lebendigkeit seines nationalen Empfindens hatte auch mich angesteckt. Mit der ganzen Kunst eines Mannes, der die Gabe der Rede und der geselligen Unterhaltung im höchsten Grade inne hat, ging er von dieser allgemeinen Discussion auf Persönliches über, er äußerte sich mit hohem Respecte über den König, er sprach in höchster Verehrung von der Königin Augusta.

„Ich habe der Königin im vorigen Jahre in Coblenz meine Aufwartung gemacht, und an Würde, Grazie, Geist und Pflichtgefühl eine wahrhafte Königin gesehen. Es hat mich sehr interessirt, die Bibliothek Ihrer Majestät kennen zu lernen, die mir die Königin durch eine Palastdame zeigen ließ. Sie in Preußen sind glücklich, Sie haben eine starke Regierung; wann werden wir soweit kommen? Seit 1789 kommen wir nicht mehr aus der Revolution heraus, und dieses ewige Vibriren derselben erzeugt die sociale Zuchtlosigkeit, an der Frankreich krankt. O das arme Frankreich! Friede – Friede – Friede! Warum hat man den Waffenstillstand in Versailles nicht angenommen?“

„Vermuthlich, Monseigneur, weil er den Franzosen größere Vortheile bot als uns.“

„Das ist Ihre Auffassung, Thiers hatte eine andere, er ist ein alter Freund von mir und war auf dem Wege von Versailles nach Tours bei mir, er stellte mir die Sache anders vor. Ich glaube, man hätte Ihrerseits andere Bedingungen gemacht, hätte man wissen können, daß Paris so viel Lebensmittel besitzt. Und doch bin ich der Ueberzeugung, daß unsere jetzige Regierung, und vor Allen Trochu, zu Unterhandlungen geneigt sein würden, wenn ihnen die Stimmung des Landes bekannt wäre, namentlich der vom Kriege heimgesuchten Provinzen. Aber wer soll es jenen sagen? Graf Moltke hat zwar etwas Aehnliches versucht, aber das geschah von feindlicher Seite; es müßte Jemand sein, der das Vertrauen unseres Landes besäße – aber das Alles sind fromme Wünsche, und doch thut uns Allen Friede so sehr nöthig!“

Damit war die Audienz zu Ende; es war sechs Uhr geworden. Mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit begleitete mich der Bischof bis vor den Ausgang des Vorzimmers; am Abend noch sandte er mir die für Doctor Kayßler zugesagten Briefe.

[127]
Elfter Brief. Am Tage von Sanct Hubert.

Es war nach dem Gefecht von Vendome, am 8. Januar, also zwei Tage nach dem blutigen Strauße, bei welchem die Brandenburger wieder „’rangemußt“ hatten und bei welchem General Chanzy eine sehr unangenehme Schlappe erlitten hatte. Denn das Gefecht von Vendome eröffnete uns die Straße vorwärts, immer auf den General Chanzy zu, und die zogen wir nun hin, über uns den Himmel bedeckt und trübe, zur Seite den Wald von Vendome grau und finster wie ein Leichentuch. Und dort drüben ist denn auch manch Einer eingesunken zum letzten Schlaf, nach dem es kein Erwachen giebt, als nur in dem Gedanken der zurückgebliebenen Lieben.

Was man so Alles auf der Landstraße erlebt, halb zum Lachen und halb zum Weinen! und wenn man daheim das Folgende liest, möchte man’s vielleicht kaum für wahr halten.

Wir kamen die Straße nach Le Mans vorwärts an ein Gehöft, das links von der Straße liegt; natürlich war es verlassen. Wenn die französischen Bauern in der Nähe das Schießen hören, dann nehmen sie ihr Bischen Bestes und gehen mit schnellen Schritten landeinwärts – ich glaube, die Deutschen würden es nicht anders machen. An Stelle der Bewohner hatten sich Soldaten vom fünfunddreißigsten Regiment, das in Brandenburg an der Havel in Garnison liegt, dort eingerichtet; einige standen unter der Thür des Hauses, die Lübbener Pfeife im Munde und zu der Uniform die weiße Zipfelmütze der Bauern auf dem Kopfe, die sie in einem geheimen Schranke vielleicht noch vorgefunden hatten; andere Soldaten waren im nebenanliegenden Garten; der eine grub ein Grab, und er hatte dazu eine schöne Stelle ausgesucht, gerade mitten unter einem Apfelbaume, damit dieser es im Frühling mit seinen rosenrothen Blüthen überschütten könne. Da trat ein anderer hinzu.

„Aber dat ist ja viel zu kurz – da geht er doch nich rin; der hat doch seine fünf Fuß acht Zoll im Leben jehabt, und den hat dat Sterben alleene nich kleen jekriegt – et war doch een höllischer Kerl – ick sag’ es Dich, et is zu kleene.“

„Ach wo! Ick hab’ doch noch meine Oogen im Koppe,“ antwortete der Arbeitende und grub weiter.

„Na, wir wollen uns nich darüber erzürnen – dat Beste is, wir nehmen Maß und – dort hinterm Haus liegt er – wir holen ihn her.“

Sprach’s, spuckte sich in die Hände, um besser anfassen zu können, und kam nach ein paar Minuten mit einem zweiten Soldaten, den er sich zu Hülfe genommen hatte, mit dem Todten an. Derselbe, vom fünfunddreißigsten Regiment, hatte einen Schuß in der Brust, die Arme wie gewöhnlich krampfhaft nach den Schultern gezogen und die Augen nach oben weit offen. Es wurde richtig Maß genommen, und der Todtengräber hatte Recht gehabt, das Grab war lang genug; aber er sprach kein Wort darüber, er fuhr in seiner Arbeit auch nicht fort, sondern setzte sich am Fuße des Grabes auf seinen Spaten und schaute ernst und still vor sich hin.

Zu der Gruppe im Garten trat jetzt ein Soldat von der Stabswache des Hauptquartiers; er wollte sich auch den Todten besehen. Aber mit der Regung von Neugier war es bald zu Ende, als er demselben nur kaum in’s Gesicht gesehen hatte, dann kam der Schreck, die Ueberraschung, der Schmerz.

„Herrjott! Det is ja Tetzler!“

„Wat? Du kennst’n?“ frug der eine der Fünfunddreißiger.

„Wie sollt’ ick ihn denn nich kennen? War er doch so und so lange im Regimente mein Nebenmann – sonst ein Klempner – aus Berlin – ein braver – ein schneidiger Kerl – Hansen Tetzler!“

Dann kam ihm so was vom Weinen; aber ein Märker läßt so was nicht gern sehen, und auf einmal wendet er sich nach einem Cameraden, der in der Colonne zurückgeblieben ist, und ruft diesem zu:

„Du – komm’ mal her – Tetzler ist hier.“

„Tetzler? Ach wat! Aber da kann er doch her zu mir kommen.“

„Schafskopp – er ist ja todt!“ – –

Es war zwei Tage später; wir hatten in Bouloire Halt gemacht; der Ort hatte vielleicht fünfzehnhundert Seelen, aber doppelt so viele Soldaten waren darin. Das kam daher, daß wir viel schneller marschirt waren, als die Franzosen retiriren konnten; von den Divisionen des Generals Chanzy, die uns bei Vendome Eines auswischen sollten, stak auch die ganze Umgegend von Bouloire voll, und da war es doch sehr leicht möglich, daß sie das, was sie dort nicht erreicht, hier versuchen konnten. Wäre das ein Fang gewesen, wenn die Rothhosen einmal das Hauptquartier aufgehoben hätten! Zwar an unser Einem wäre dabei so viel nicht gelegen gewesen, aber an dem Kopfe, der Alles regiert! Wie oft haben die französischen Zeitungsschreiber unsern Feldherrn schon „caput“ gehen lassen! Einmal fiel er von einem Schuß durch die Brust getroffen todt vom Pferde, blieb einige Zeit todt und stand plötzlich von den Todten wieder auf, um wahrscheinlich wie der spanische Cid eine Schlacht zu commandiren; ein anderes Mal verlor er, nach einer Marseiller Zeitung, beide Arme; dann müssen diese plötzlich wieder gewachsen sein, denn ein anderes Blatt schrieb einige Tage darauf, daß dem Prinzen-Feldmarschall die Hand zerschmettert worden sei, und eine dritte Zeitung meldete endlich aus Nantes gar, daß dem hohen Herrn durch eine Granate der Kopf abgerissen worden sei – wie ungeschickt! Unser Feldherr kann das Leben verlieren, aber nie den Kopf. Aber so etwas hätte den Franzosen gefallen können, und darum weiß man gegen solche nächtliche Besucher seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen, wie eben durch eine starke Besetzung des Ortes Bouloire. An Schlachtenlärm war dieser Tage kein Mangel; am Morgen ging das Kanonenbrummen an und so bis in die sinkende Nacht hinein. Bis Artenay hatten uns die Franzosen kommen lassen, aber dann ging ihnen die Laune und die Geduld aus, und vor Artenay stellten sie sich und sagte zu den Preußen: „Nix weiter!“

In Frankreich streckt unser Herrgott an den Landstraßen nicht weniger seinen Arm heraus als in Deutschland; es giebt dort ebenso viele Wirthshäuser, die einen gehorsamen soliden Ehe- und Jägersmann in Versuchung führen können, und ein solches Haus ist das Wirthshaus „Zum St. Hubert“ an der Straße von Vendome nach Le Mans. Es ist ein ganz anständiger Gebäudecomplex; das Hauptgebäude liegt rechts von der Straße, zwei kleinere Baulichkeiten als Flügel vor demselben und bilden so einen ziemlich geräumigen Hof. Links von der Straße, dem Haupttheile gegenüber sind eine Scheune und ein Schuppen. Daß es ein Wirthshaus ist, steht über der Thür geschrieben und darunter: „Hier servirt man Speise und Trank.“ In Lothringen „giebt“ man, in der Normandie „verkauft“ man Speise und Trank. Die Herberge liegt mitten im Walde, dessen prächtiges Nadelholz mit dichtem Schnee bedeckt ist; hundert Schritte vor dem Wirthshause kreuzt eine quer durch den Wald laufende Straße die schnurgerade ausgehende Chaussee; von dort nimmt dieselbe eine ziemliche Steigung, und etwa tausend Schritte weiter sieht man, daß der Wald ein Ende hat und dahinter die Lichtung beginnt.

Sonst mag es hier recht einsam sein, aber heute kann man vom Kriege hier ein tüchtiges Stückchen erleben.

Auf der schneebedeckten Straße vorwärts, noch über den Kreuzweg hinaus, dann rechts und links in den Wald hinein, so weit man sehen kann, Gespanne, Uniformen und blitzende Bajonnete. Rechts und links ist die Artillerie aufgefahren; an der Achselklappe der Fahrer und der darauf befindlichen Nummer 3 erkennt man, daß es die des dritten Corps ist. Sie wird wohl noch nicht gebraucht werden. Denn das ganze Land ist derart mit Einschnitten, Alleen und Hecken überdeckt, daß die Artillerie weder auffahren, noch zielen, noch visiren kann. Um auf’s Gerathewohl über den nächsten Hügel, der ihr vor der Nase liegt, hinwegzuschießen, dazu haben die Artilleristen ihre kostbaren eisernen Zuckerhüte nicht mitgebracht. Darum abwarten, es wird schon noch kommen.

Währenddem ist rechts im Felde ein höllisches Feuer losgelassen, es kann keine halbe Stunde entfernt sein. Aber hier herum ist Alles ruhig, als ob die da drinnen im Walde nur so zum Schützenfeste wären. Links in einem Knicke sind rothe Husaren abgesessen und wärmen sich an einem großen Feuer; denn [128] die Kälte dringt durch, trotz der warmen Sachen, welche die Mutter von Hause geschickt hat. Das ist das schneidige Regiment vom Zieten aus dem Busch, das heißt nur eine Schwadron, die als Stabsschwadron beim Feldmarschall Dienst thut; die anderen Schwadronen sind beim Herzog Wilhelm von Mecklenburg, bei dem tapfern Reiterführer. Aber weiter davon liegen auch noch Husaren – eine andere Couleur – das sind stämmige Burschen, rothe, blonde Gesichter, und mit Rößchen so gelenk, graciös und leicht, als müßten sie kaum den Erdboden berühren – es sind die Holsteiner sechszehnten Husaren, die kecke behende Reiterschaar aus den Marschen. Weiter vorn hält eine Reitergruppe von Officieren auf prächtigen stämmigen Pferden, Generalstäbler, Infanteristen und Cavalleristen, soweit man aus den Paletots und Mänteln und übergeschlagenen Kapuzen ersehen kann. Ein älterer Herr ist in der Mitte, der trägt keine Kapuze, nur eine simple Infanteriemütze, aber was darunter sitzt und hervorschaut, das ist die Hauptsache, ein eiserner Kopf von einem grauröthlichen Barte umgeben und ein Paar helle, klare, kecke, kriegslustige Augen. Er ist der älteste unter denen, die um ihn sind, vielleicht sechszig Jahre, vielleicht ein paar darüber, aber er scheint das nicht zu spüren, denn er sitzt gar frisch und wohlgemuth auf dem Pferde, den Krimstecher um die Schultern und eine Karte in der Hand. Da kommt ein Jüngerer an ihn herangeritten, macht seine Honneurs und redet ihn mit „Excellenz“ an, und dann hört man so etwas vom neunten Corps – „Excellenz“ und „neuntes Corps“? Richtig, der junge Sechsziger ist der General von Manstein, der Commandirende des neunten Corps. Er versammelt jetzt seine Generale um sich und scheint ihnen Befehle zu geben, er zeigt auf die Karte, dann nickt er grüßend und reitet mit seiner Suite rechts in den Wald hinein. Einer der jüngeren Officiere reitet die Straße nach Artenay zurück.

„Wohin, Herr Camerad?“ fragt einer der bei der Batterie stehenden Artillerieofficiere.

„Nach Champigne, dort sollen sie noch am dichtesten sitzen, ich hole die Elfer und Vierundachtziger heran; das neunte Corps löst das dritte ab, das dritte hat andere Direction bekommen. ’Morgen!“

Vorne, von der Waldecke her, kommen ein paar Bataillone anmarschirt, sie sind vom dritten Corps, biegen links in den Wald ein; nun kommt auch an die Artillerie der Befehl, der Infanterie weiter in den Wald nachzufahren; die Gäule werden angetrieben, vorwärts geht’s, die Bedienungsmannschaften acht Mann hinter der Kanone her, und wenn die Franzosen jetzt dort in dem Holze sich zeigen würden, keine drei Minuten dauerte es, so hätten sie die erste Leib- und Magenpille weg; so fix ist unsere Artillerie. Aber auch rechts von der Straße fährt jetzt die des neunten Corps um die Ecke nach dem Walde hinein, in der nämlichen Richtung, die der General von Manstein vorhin genommen hat. Die Elfer und Vierundachtziger waren etwa drei Viertelstunden auf der Straße zurück, am Morgen war ich durch ihre Colonnen durchgefahren; seit sechs Uhr standen sie gefechtsbereit, die Einen bemüht, sich äußerlich an einem Feuer zu wärmen, die Anderen innerlich aus der Flasche, die wollenen Leibbinden hatten sie sich um den Hals gelegt, die Arme mit den großen Fausthandschuhen schlugen sie sich über die Brust und mit den Füßen hopsten sie, um sich ein Bischen Wärme in den Leib zu bringen. Ich glaube, daß es den Soldaten gar nicht so unlieb war, als der Befehl sie in Bewegung setzte, gleich querüber in den Wald, von wo das Geschützfeuer kam, dort wird’s ihnen noch heiß genug werden, und so zog Alles auf verschiedenen Wegen in den Kampf hinein.

Das ist heute ein Marsch – Marsch – Trab – Trab – Galoppiren und Carrièren auf der Straße, die so etwas wohl noch nicht erlebt hat. Dort kommt schon wieder eine Colonne von zwei, drei Wagen, eine ganze Reihe lange graugestrichene Wagen mit Stangen und Werkzeugen fast übervoll beladen und zu Allem noch oben mit Soldaten und Gewehrläufen dicht besetzt. Bei solcher Ladung sind schon vier und selbst sechs Pferde nicht zuviel. Voran reitet ein Officier – ein Dragoner – wenn man den kennt und sieht, dann weiß man auch, wer ihm folgt. Es ist der Lieutenant Flaminius, aber, wie ich gleich beisetzen will, um Irrthümer zu vermeiden, kein alter Römer. Im Kriege sitzt er als Officier auf dem Pferde, im Frieden aber auf einer königlichen Domaine in der Mark, was auch nicht zu den Unannehmlichkeiten des Lebens gehören soll. Die er führt, das ist die Etappen-Telegraphenabtheilung Nr. 2. Die Wagen halten, die Pionniere sitzen ab, richten eine Stange auf, rammen dieselbe in die Erde ein, und wie sie fest ist, lehnt Einer eine schmale Leiter an, steigt auf und wickelt oben um die Glocke einen Draht, den die Anderen unterdessen in großem schweren Bunde aus dem Wagen genommen haben. Etwa zehn Minuten dauert das Ganze, dann ist die Sache gemacht, die von den Franzosen abgeschnittene zerstörte Telegraphenleitung wieder flott gemacht, und so geht es von einer Stange zur andern, bis vor an die Waldecke. Aber dort steigt der Pionnier, kaum oben angelangt, gleich wieder von der Leiter herunter, so schnell, daß er den Draht noch nicht befestigt haben kann. Er sieht nämlich schwarze Punkte in der Luft – es sind Granatenstücke, die von den Franzosen herüberkommen, ein Beweis, daß diese nicht allzu fern sind. Wenn die aber mit solchen Telegraphen arbeiten und sprechen, dann zieht sich der Pionnier sachte zurück und denkt sich: „Na denn nich.“

Nunmehr macht sich der Pionnier an eine andere Arbeit; es muß doch ein Eckchen zu finden sein, wo man den Apparat aufstellen kann. Vielleicht im Wirthshause selbst – du lieber Gott, das liegt noch vom gestrigen Tage voll Verwundeter, kein Raum ist leer, in dem einen Flügelgebäude ist auch nichts zu machen, da haben die Granaten von gestern gewirthschaftet und Löcher gerissen, daß man besser thäte, den Apparat gleich draußen auf der Straße aufzustellen. Endlich ist in dem andern kleinen Hause ein Local gefunden, aber in einem erbarmungswerthen Zustande. Tische und Stühle, Gläser, zerbrochene Weinflaschen, Patronen und abgenagte Knochen liegen in einem Wust von schmutzigem Stroh; es sieht aus, als hätte sich ein Zug französischer Soldaten darin betrunken und wäre dann durch unsere Granaten genöthigt worden, das Local gefälligst zu verlassen. Wo aber eine Scheuerfrau verzweifeln würde, da greift ein tüchtiger Pionnier wacker zu, und so ist es denn auch schon nach einer halben Stunde vollständig gereinigt, gelüftet, im Kamin brennt ein tüchtiges Feuer und auf dem Tische hämmert bereits der Telegraph. Das ist doch ein ganz eigen Ding, an solch einsamer Stätte im tiefen Walde den Pionnier der Civilisation arbeiten zu hören. Das Hauptquartier hat einen eigenen Telegraphendirector, von Brabender, der sitzt am Apparat und prüft, ob Strom da sei. Er versucht mit Versailles zu sprechen und seinen dortigen Collegen zu fragen, ob er gut geschlafen habe und wie es mit dem Bombardement stünde. Nach einer Weile antwortet der auch, und Herr von Brabender kann dem Generalfeldmarschall melden, die Telegraphenstation Auberge St. Hubert sei eröffnet. Das Jägerwirthshaus im Walde kann nun der ganzen Welt einen schönen guten Tag wünschen, und in ein paar Stunden können es die drüben über’m Wasser in Amerika wissen, daß man sich in Europa, in Frankreich, vor Le Mans im Walde rechts um die Ecke schlug.

Es mochte zwei Stunden später, so am Nachmittage sein. Wenn man über den Hof und den Garten des Wirthshauses und den gefrorenen Schnee hinweggeht und sich nicht scheut, daß Einen hie und da aus dem Schnee ein gelbes Todtengesicht anstarrt, dann kommt man auf den breiten Waldweg, den unsere Truppen am Morgen gegangen sind. Das Kanonen- und Gewehrfeuer wird mit jeder Stunde toller. Vergnügtere Gesichter hatte ich lange Zeit nicht gesehen, als die der französischen Gefangenen, welche uns an dieser Stelle des Tages vorher entgegengekommen waren – meistens Milchgesichter, die man bei uns daheim erst in die Schule, aber noch nicht in den Krieg schickt, auch einige bärtige alte Kerle darunter, die schon Großväter hätten sein können. Die ganze Gesellschaft frierend und abgerissen wie die Betteljungen, aber Allen stand es auf der Stirne geschrieben, wie froh sie in ihrem Herzen, daß sie, wie man in Berlin sagt: „scheene raus wären“. Die heldenmüthigen Kämpfer wurden von den Elfern escortirt, die hatten sie auch zu Gefangenen gemacht.

„Sind Sie Gefangene vom heutigen Tage?“ so fragte ich auf französisch und auf deutsch gab mir einer zur Antwort:

„Jawohl, Herrle, abbe noch kei Viertelstund’ ist’s, da habbe mer uns zu Prisonniers mache lasse.“

„Sie sind wohl ein Elsässer?“

„Noi, Herrle, ich bin aus Saargemünd und hab’ in Lyon und Bordeaux als Böttcher g’schafft und dann sind die Autoritäte komme und habbe g’sagt, ich müßt’ die Patrie mit rette helfe. Aber do glaube mer schon lang’ nit mehr dra – mer sagt bei uns zwar immer, wir hätte de Preiße besiegt, aber dabei müsse mer immer [129] retirire und immer gleich vierundzwanzig Stunde in eener Tour fort – aber nu wolle mer nit länger – bei der erst’ beste Occasion habb’ ich mir vorgenumme gehabt – da hock ich mich nieder.“

„Wieso denn? Was soll denn das bedeuten?“

„Ei, daß ich will nit mehr länger uf die Preiße schieße, erst wirft man die Fusil weg, dann duckt mer sich und dann wisse sie’s scho, daß mer will Prisonnier sei, und dann komme se nach gleich und hole Een. Sage Se, Herrle, wisse Se nit, wohin mer kumme?“

„Wie soll ich Ihnen das sagen können?“

„No, ich meint’ als nur. Es is aber immer besser, lebendig in Preiße, als todtg’schosse in Frankreich.“

Zweihundert Schritte vorwärts, da lichtet sich der Wald auf der einen Seite, da hat man einen freien Ausblick, an der andern See des Holzes im Graben sind Feuer angezündet, um diese liegen Officiere, junge und ältere, Infanteristen, Cavalleristen, Artilleristen und Ingenieure, mitten im Schnee, als wäre es auf grünem, blühendem Rasen und als hätten wir statt des Januar einen sonnigen Juninachmittag – aber so was darf einen echten Kriegsmann nicht geniren.

Transport gefangener Franctireurs bei Rimogue.
Nach einer Skizze des Freiwilligen Knackfuß im Husaren-Regiment Nr. 15.


Weiter nach vorne kann man eine kleinere Gruppe sehen, das sind höhere Stabsofficiere, auch Generale sind darunter; auf einer kleinen Erhöhung steht der Feldherr Prinz Friedrich Karl, den erkennt man an seiner rothen Husarenmütze weithin, die sticht von dem Schneefelde gar hübsch ab, um den Paletot schlingt sich eine Art hellbraune Kapuze, und durch ein Fernglas sieht der Feldherr unbeweglich und ohne abzusetzen nach der schieferen Ebene, die vor ihm aus dem Walde zu einem Hügel ansteigt. Dort auf dem Schneefelde ist der Kampf.

Aus dem Hügelkamm zieht sich eine schwarze Linie hin, das sind aber keine Bäume, wie man glauben möchte, das sind lebendige Franzosen, Linie, Mobilgarde und wer weiß, was für Sorten, aber wie die Bäume scheinen sie dort auf den Höhen zu stehen, diese beherrschen die große Straße von Le Mans und auf dieser wollen sie uns nicht verlassen, und doch müssen die Unseren die Höhen haben. „Das geht nicht anders,“ denkt der Feldmarschall und denkt der Manstein, der dort sein Avantgardenregiment, die Elfer mit der gelben Achselklappe, vorgeschickt hat, später noch die Vierundachtziger – auch eine der besten Regimentsnummern, die wir auf dem Lager haben. Die Franzosen lösen sich von oben in Tirailleurlinie auf – die Unseren von rechts nach dem Hügel auf – es blitzt und knallt von oben und von unten, dann hüllt Pulverdampf die Kämpfenden ein, und man erkennt diese nur als einzelne schwarze Punkte. Da lichtet sich die Rauchwolke wieder – der Kampf setzt sich in ausgeschwärmten Linien fort – er zieht sich bald nach rechts, bald nach links, je nachdem der eine oder der andere Gegner eine schwache Stelle zeigt – er wogt auf und wogt ab, keiner der Beiden kann einen Vortheil über den andern gewinnen; die oben auf dem Hügelkamm haben an einer Stelle Posto gefaßt, wie man sich keine bessere wünschen kann, und die Preußen sind zähe wie Hagebuchen, sie lassen nicht ab und machen immer neue Versuche; bald kommen sie dünner, bald dichter aus dem Walde heraus; wenn sie von denen droben auch einen Sprühregen von Blei bekommen – schadet nichts, und wenn auch manch Einer getroffen in den Schnee hinsinkt und die Stelle weithin mit Blutstropfen färbt, sie gehen doch wieder vor, und daß sie dabei auch im Feuern nicht faul sind, versteht sich von selbst. So währt es wohl eine Weile, bald hat der eine der Gegner einen kleinen Vortheil, bald der andere, einen nennenswerthen Keiner. Dabei geht das Feuern lustig fort, bald stärker, bald schwächer, und ganze Züge sieht man das Gewehr umdrehen und mit dem Kolben arbeiten, gerade wie damals bei Großbeeren, wo es ganz eklig „gefluscht“ hat. Nun aber scheint der Kampf auf unserer Seite zu ermatten, unsere Linien ziehen sich zurück und stellen das Feuer ein – das Feuer schweigt ganz und der Feind scheint das zu benutzen – in hellen Haufen kommt er das Schneefeld herab, um sich auf die Zurückziehenden zu werfen – aber so leicht fängt man die Preußen nicht; mit einem Hurrah und blitzenden Bajonneten stürzen die Unseren aus dem Walde hervor, in panischem Schreck machen die Rothhosen Kehrt, und laufen was sie nur immer können hügelaufwärts, die Unseren mit den blanken, kitzelnden Bajonneten ihnen feste nach, sie immer wie eine Jagd Hasen vor sich hertreibend. Zu gleicher Zeit wälzt es sich den Bataillonen wie eine schwarze Schlange nach – das ist eine Batterie – dort oben ist eine [130] Stelle, wo sie Position nehmen und in die Fliehenden hineinpfeffern kann. Das geht wie ein Donnerwetter – jetzt sind sie oben – aufgefahren – abgeprotzt – da blitzt’s auch schon über die Schneefläche dahin – und das Gewehrfeuer wird immer ferner und ferner – durch die Bäume hindurch kommt die rothe Abendsonnengluth – den Wald entlang ziehen langsam die Krankenträger-Compagnien und hinter ihnen fahren die Wagen mit den wehenden weißen rothgekreuzten Fähnlein; dort oben ist heute für sie noch genug zu thun; die schwarzen Punkte auf dem Schnee sind die Todten und Verwundeten.

Das war der Tag von St. Hubert, einer der heißesten, aber wohl auch einer der letzten Kampftage in diesem gewaltigen erbitterten Kriege. Möge dieser auch der letzte in dem Jahrhundert der Civilisation sein.

[148]
Zwölfter Brief.0 Unter dem Kreuze von Genf.

Le Mans! Von den Höhen von Pontlieue herab rückten die deutschen Truppen unter General von Voigts-Rhetz in unabsehbaren Colonnen in das Thal der Sarthe nieder, sie kamen auf drei Straßen zugleich, sie kamen zu Fuß und zu Roß, mit Wagen, mit Brücken und Geschütz, und auf dem Schneefelde bewegten sich die dunklen Massen immer näher der Stadt; die Bajonnete blitzten im Glanze der herrlichsten Wintersonne – und die Trommeln wirbelten. So ein Einmarsch in eine feindliche Stadt ist für die an der Spitze Marschirenden wie ein Gang in eine Pulverkammer; aus jeder Jalousieluke können die Kugeln geflogen kommen; mit jedem ihrer Schritte kann sich eine Mine entladen, ein gelegtes Torpedo Compagnien in Stücke zerreißen; der Volkskrieg hält Alles für erlaubt. Darum zogen auch die Unseren mit großer Vorsicht in die Stadt ein; es war das oldenburgische Regiment Nr. 91; das Gewehr im Anschlag gingen die Spitzen vor, die Augen nach rechts, nach links, nach vorwärts gerichtet; in den Straßen lagen zerbrochene Karren, todte Pferde, französisches Officiergepäck, zerbrochene Gewehre – die Franzosen waren erst kurz vorher desselben Weges gekommen, überall waren die Spuren der Verwirrung, Ueberstürzung, und Auflösung der Armee des Generals Chanzy erkennbar – und die Deutschen setzten über diese Trümmer hinweg ihren Marsch fort. Es kam keine Kugel, es sprang keine Mine, es entlud sich kein Torpedo, aber die Deutschen entfalteten sich immer mehr. Die Einwohner haben sich hinter Mauern und Fensterläden zurückgezogen – sie hören das Wirbeln der deutschen Trommeln, es klingt ihnen wie der Leichenmarsch ihrer Hoffnungen, sie wagen einen Blick auf die marschirenden Züge hinabzuwerfen und fragen sich ganz erstaunt, ob denn die Deutschen unter ihren Truppen auch Schwarze haben. Ja wohl, für heute, wo die Gesichter noch vom Pulverdampf des Gefechtes geschwärzt sind, aber nicht für immer. Halt!

Die Einundvierziger werden beordert, den Bahnhof zu besetzen – die Jäger marschiren nach dem Innern der Stadt weiter. Nach einer Viertelstunde fallen Schüsse – erst einzelne, dann mehrere, immer rascher, ein wahres Schnellfeuer – jetzt sogar eine Salve – auf der Place des Halles kommen die Kugeln aus allen Häusern, allen Etagen und Fenstern geflogen, die Jäger stürzen sich in die Häuser, andere werden nach den vom Platze ausmündenden Straßen dirigirt, um diese zu säubern, andere nach der östlichen Lisière von Mans, von dort dem Andringen gemeldeter feindlicher Truppenmassen zu wehren – folgen wir diesen.

Ohne nennenswerten Widerstand marschiren sie durch die engen, dunklen Straßen der alten Stadt, die Magazine sind geschlossen; daß Menschen noch vorhanden sind, beweisen die ausgehangenen weißen Fahnen mit dem rothen Kreuz. Es kommen ihnen eine Reihe zweirädriger Karren mit Militärgepäck entgegen; beim Anblick der Preußen wenden die französischen Fahrer flugs um und hauen wie besessen auf die Pferde ein, um den Feinden zu entgehen. Es gelingt ihnen auch, bis sie an eine Kreuzstraße kommen, wo wenigstens zwanzig solcher Fuhrwerke zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengefahren sind. Ein paar Jäger sind mit ihrem kräftigen Arm und ihren drohenden Büchsen genügend, die Fliehenden zum Stehen zu bringen. An dieser Stelle sammeln sie sich und rücken weiter vor, immer die Richtung nach Osten einhaltend; aus den engen, älteren Straßen hinaus in weitere, neue, in denen schon die Gärten anfangen. Plötzlich kommt ein Geräusch durch die Luft, die Jäger halten still und horchen – jetzt wieder derselbe Ton – sie kennen denselben recht gut, auf dem ganzen Wege von Vendôme bis hierher hörten sie diese Melodie pfeifen, die Melodie der Kugeln, die jetzt immer dichter über ihren Köpfen wegfliegen. Aber woher? Sie können nur dort oben aus jenem Hause kommen, das erhöht in einem Garten liegt, anders ist es nicht möglich. Aber aus dem Dacherker des Hauses weht die weiße Fahne mit dem rothen Kreuze von Genf, das Haus ist ein Lazareth. Sollte man dieses heilige Zeichen der Menschlichkeit so entwürdigen, diese Stätte durch einen so fluchwürdigen Frevel entweihen? Es ist nicht denkbar; die Franzosen sind doch keine Nation von Wilden, und selbst diese würden diesen Ort der Wunden und der Schmerzen als eine Stelle heilig achten, an welcher aller Kampf verstummen und das Mitleid und die Barmherzigkeit in ihre unantastbaren Rechte eintreten muß. Die Kugeln kamen aber doch von dort. Man will in den Garten eindringen, die eiserne Thür zu demselben ist verschlossen.

„Die Thür eingeschlagen!“ ruft der commandirende Officier, Lieutenant Kramer-Möllenberg. „Auf die Canaillen in dem Hause los! Vorwärts!“

Im Nu flog die Thür auf, hinten vom Hause aber auch gleich zwei Schüsse. Durch den Garten stürmten die Jäger nach dem Hause vor – sie kamen auf einen Hof; sie traten in einen großen Thorweg, dessen nach der Straße führender Eingang verschlossen war. Niemand ließ sich sehen. Der Officier vertheilte seine Leute, um das Haus zu durchsuchen, in der ersten Etage bis hinauf in die Bodenräume. Er selbst trat, begleitet von einigen seiner Leute, mit gezogenem Säbel in ein Zimmer des Erdgeschosses mit vier nackten kahlen Wänden – an denselben standen drei eiserne Bettstellen und aus den Kissen derselben schauten Köpfe mit den üblichen weißen Nachtmützen. Aus ihren Mienen sprach Furcht und Angst.

„Wer sind Sie?“ frug der Officier die Kranken.

„Mobile der Bretagne!“

„Verwundet?“

„Ja, mein Capitain.“

„Wo?“

Da hob der Eine seine wunde verbundene Hand, der Andere ein Bein aus dem Bette, seinen durchschossenen Fuß zeigend, ein Dritter deutete auf die Schulter und die Wunde in derselben.

„Ich meine nicht, an welchem Theile des Körpers, sondern bei welcher Gelegenheit Sie Ihre Blessuren bekamen.“

„Bei Artenay. – O, wie wird es uns ergehen!“ jammerte Einer. „Wir haben die Schüsse aus dem Hause wohl gehört, und Sie, mein Capitain, werden blutige Revanche nehmen.“

„An den Unschuldigen niemals. Sind denn noch französische Soldaten in dem Hause versteckt?“

„Wir wissen gar nichts, wir haben nur die Schüsse fallen hören. Schonen Sie unser!“

„Haben Sie keine Furcht!“ sprach dann der Officier zu ihnen, „es wird Ihnen kein Leids geschehen – wir sind keine Barbaren, wie man uns von Seite Ihrer Landsleute dargestellt hat, uns ist die Stätte der Schmerzen und der Wunden heilig. Beruhigen Sie sich – fürchten Sie nichts.“

Damit verließ der Officier mit seinen Mannschaften das Krankenzimmer; im Erdgeschosse links war nur noch ein Wohnungsraum, der nach der Straße zu gehen schien, aber er war verschlossen. Der Officier gab Befehl, die Thür mit Gewalt zu öffnen, und die Jäger machten sich eben daran, als von außen plötzlich ein heftiges Gewehrfeuer vernehmbar wurde. Die Hausthür war verschlossen, sie gab auch den eifrigsten Anstrengungen der Jäger nicht nach, man hatte sonst keinen Ausblick nach der [149] Straße und konnte nicht sehen, woher das erneute Feuer kam. Rechts vom Hausflur lag die Treppe, mit einigen Sätzen waren der Officier und seine Leute oben in der ersten Etage; das erste Zimmer, in das sie eintraten, gewährte ihnen einen Anblick auf die Straße, den sogenannten Boulevard Negrier. Mit einem Blicke wurde die Situation klar. Die Straße war an der gegenüberliegenden Seite unbebaut; man sah von den Fenstern des Lazareths gerade auf offenes Terrain, auf einen Hügel, der mit Erdaufwürfen und Hecken umgeben war. Von dort kamen die Kugeln herüber; sie waren auf die übrigen Mannschaften der Jägercompagnie gerichtet, die unten auf dem Boulevard angerückt kamen. Bald befanden sich dieselben im heftigsten Feuer. Zwei von seinen Leuten schickte Lieutenant Kramer-Möllenberg hinab, um den ohne jede Deckung auf der Straße den feindlichen Geschossen ausgesetzten Cameraden die Thür des Hauses öffnen zu lassen, mit den anderen begab er sich nach dem obersten Bodenraum; dort hatte er vom Garten her Dacherker wahrgenommen; das waren geeignete Stellen, um die Jäger zu postiren und hinüber auf die Schützen hinter den Hecken und Gräben Feuer zu geben. An zwei Erkern stellte er seine Leute auf; aber es waren in der Front des Hauses noch zwei vorhanden, zu denen der Zugang durch eine durchzogene Bretterwand verschlossen war. Diese wurde mit Kolben und Absätzen eingeschlagen; das Holzwerk fiel prasselnd zu Boden und zu gleicher Zeit wurden durchdringende Schreie vernehmbar. Einen Moment standen die Jäger verblüfft. Sollten dort Diejenigen sich versteckt haben, die aus den Fenstern der Ambulance geschossen hatten? Das wäre ein guter Fang. Im Hintergrunde des Raumes standen zwei Betten; in diesen mußten sie sich verkrochen haben. Herzhaft faßten die Jäger zu und zogen – keine Franctireurs, wohl aber zwei Nonnen hervor, zwei barmherzige Schwestern. Stotternd und zitternd erzählten sie, daß sie beim Nahen der „Prussiens“ vom Garten her sich auf den Boden geflüchtet hätten in die Betten der beiden Krankenwärter der Ambulance. Der Officier bedeutete sie, daß sie sich in die unteren Räume zurückbegeben möchten und dort ihres Dienstes warten; sie befänden sich unter dem mächtigsten Schutze, dem des rothen Kreuzes, des Zeichens des Friedens und der Menschlichkeit.

Aus den Dacherkern eröffneten die Jäger ein lebhaftes Feuer auf die Feinde gegenüber, aber dieselben erwiderten es nicht minder stark und mitten in das Knattern und Knallen mischte sich das Krachen der unter den Schlägen der Jäger zusammenbrechenden Hausthür. Nun war den Cameraden draußen auf der Straße eine Schutzwehr gegen die wie Hagelwetter fallenden feindlichen Kugeln geöffnet und im Nu strömten sie mit ihrem Compagnieführer Hauptmann v. Wildemann an der Spitze zum Hause herein, um wie ihre Cameraden von den Dacherkern sowie den Fenstern des Erd- und ersten Geschosses aus ihr Feuer auf die Knicks und die Erdaufwürfe zu eröffnen.

Da gellte ein furchtbarer Schrei durch das ganze Haus.

„Was ist geschehen?“ riefen die Officiere, von denen der eine vom Flure herauf-, der andere vom Bodenraume herabkam. Es war ein erschütternder, Mark und Bein durchdringender Schrei – er klang wie der letzte Laut eines mit dem Tode Ringenden. Sie traten Beide in ein kleines Zimmer der ersten Etage. Dort stand ein Jäger mit einem blutigen Hirschfänger in der Hand und zeigte auf ein Bett an der Wand; in diesem lag ein Blousenmann in vollem Anzuge mit einem Gewehr an der Seite, todtenbleich, röchelnd, in den letzten Zügen; aus einer Brustwunde quoll schwarzes Blut.

„Der hat geschossen. So wie er da ist, mit Stiefeln und Gewehr, habe ich ihn unter der Bettdecke gefunden, und als ich die Decke wegzog, da wollte er noch auf mich anlegen, da habe ich meinen Hirschfänger aufgesetzt und ihm sein Theil gegeben. Allen muß es so gehen, die aus einem Hause mit dem rothen Kreuz schießen. Er hat seinen Lohn.“

In der Thür erschien jetzt ein junger Priester. Nach allen Anzeichen, nach den Schreckensmienen zu schließen, nach der stummen Frage, die auf seinen Mienen lag, schien er ebenfalls den Schrei vernommen zu haben und war gekommen, um nach der Ursache desselben zu forschen. Hinter ihm wurden noch einige jüngere Geistliche, auch die barmherzigen Schwestern in der Thür sichtbar.

„Wer sind Sie?“ frug der Hauptmann den Priester.

„Ich bin der Aumonier dieser Ambulance.“

„Wer ist der Vorsteher derselben?“

„Der bin ich auch.“

Dabei stellte sich der Officier so, daß er dem Priester den Anblick des Sterbenden verdeckte.

„Man hat aus den Fenstern Ihres Hauses auf meine Leute geschossen.“

„O nein, mein Capitain! Wie wäre das möglich? Nicht Ein Schuß ist aus meinem Hause abgegeben worden! Unser Haus ist ein Haus des Friedens –“

„Das sollte man glauben, und doch ist es geschehen.“

„Nein, nein, nein – das ist ein Irrthum!“

„Aber meine Leute haben Ohren zu hören und Augen zu sehen – sie haben die Kugeln bekommen. Sie sind übrigens zu gewissenhaft, etwas zu behaupten, wovon sie nicht die feste Ueberzeugung haben.“

„Aber ich schwöre es Ihnen, mein Capitain, daß dem nicht so ist –“

„So – also Sie schwören – nun denn, werden Sie hier im Angesichte dieses Sterbenden auch noch Ihren Schwur aufrecht halten?“

Damit trat er zurück, so daß der Priester den vollen Anblick des in den letzten Zügen liegenden Franctireurs hatte. Der Aumonier wurde blaß wie der Sterbende, und ein fast convulsivisches Zittern überfiel ihn. Dann aber, als er sah, daß noch Leben ist diesem sei, sprang er auf das Bett zu, holte ein Crucifix aus seiner Soutane und hielt es dem Röchelnden vor die brechenden Augen. Dabei bewegten sich seine Lippen in eifrigem Gebete, bis dieser den letzten Seufzer von sich gegeben hatte. Dann brach der Geistliche in Klagen und Vorwürfe aus, daß der Todte ohne die Sacramente hinübergegangen sei, daß dieses Haus der Schauplatz einer solchen That geworden sei.

„Sie haben sich nur allein die Schuld zuzuschreiben,“ erwiderte ihm der Officier, der des Französischen in vollendeter Weise mächtig war. „Sie haben die Thatsache abgeleugnet, Sie sind überführt worden – Sie sind der Mitschuldige dieser Fanatischen. Sie haben das rothe Kreuz geschändet. Sie haben die Fahne, unter der Sie dienen, verrathen, das Zeichen, das über Ihrem Hause weht und das allem Kampfe wehrt, das haben Sie gefälscht. Ich habe das Recht und die Macht, Sie in diesem Augenblicke noch füsiliren zu lassen.“

Bei der Drohung des Erschießens brach ein allgemeines Wehgeschrei aus, von dem Aumonier sowohl als seinen Collegen und den barmherzigen Schwestern.

„Und ich werde es thun, wenn Sie noch länger leugnen werden.“

Eine peinliche Pause entstand. Das Gesicht des Geistlichen hatte eine erdfahle Farbe angenommen, seine Augen hafteten am Boden; mit Angstblicken hingen die anderen Priester und die Nonnen an seiner sich nur mit Mühe aufrecht haltenden Gestalt. Endlich öffneten sich seine Lippen und er sagte:

„Ja, es ist aus dem Hause geschossen worden.“

„Dann liefern Sie mir die Schuldigen aus.“

„Sie sind nicht mehr im Hause.“

„Wo sind sie?“

„Sie haben sich bei Ihrer Annäherung dort nach jener Höhe zurückgezogen; nur dieser hier hat nicht mehr Zeit gehabt, sich zu retten.“

„So! Ich werde mich selbst überzeugen, ob die Kranken, die in den übrigen Stuben sind, lauter Kranke sind. Ich werde das Haus besetzt halten und dann einen Arzt schicken, der eine Untersuchung anstellen soll.“

Der Officier wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Mannschaften zu, die auf seinen Befehl an den Fenstern Stellung genommen die Jalousien derselben geschlossen hatten und zwischen den Oeffnungen hindurch die gegenüberliegende Position wacker beschossen. Von dort wurde das Feuer mit großer Heftigkeit erwidert, dasselbe mußte unter allen Umständen zum Schweigen gebracht werden, und dazu war es nothwendig, daß die Schützenlinien verlängert und der Feind auch vom nebenangelegenen Hause noch beschossen wurde.

„Aber die Thür desselben ist verschlossen,“ bemerkte einer der Jäger.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der Hauptmann.

„Weil wir schon vorhin in dem Hause Deckung suchen wollten, ehe man uns hier die Thür öffnete.“

[150] „Dann muß sie mit einer Axt eingeschlagen werden.“

„Das kann uns bei dem tollen Feuer von drüben einen, das kann uns zwei Mann kosten; denn sie werden diese gerade zum Zielpunkte nehmen,“ bemerkte Lieutenant Kramer-Möllenberg.

„Nein, nein,“ versetzte der Hauptmann, „nicht ein Haar soll meinen Leuten von diesen Schurken gekrümmt werden, die Unsrigen haben sich in diesen Tagen im offenen Gefecht gegen den Feind so brillant benommen, daß ich ihr Lebens gewiß nicht dieser Schurkerei zum Opfer, selbst nicht in Gefahr bringen will. Wer ist hier?“

Klagende, bittende Laute wurden im Rücken des Compagnieführers hörbar. Derselbe wandte sich um und blickte in die Jammermienen der beiden Collegen des Aumoniers. Der Eine derselben nahm das Wort.

„Oh, mon capitaine, ist es wahr, daß unser Bruder erschossen werden soll – und gleich auf der Stelle? O Barmherzigkeit! O, schonen Sie seiner, die Franctireurs haben sich des Hauses bemächtigt, was konnten wir gegen sie ausrichten? Wir mußten sie gewähren lassen. O, schonen Sie seiner!“

„Gut, ich werde Gnade für Recht ergehen lassen – ich will Ihrem Collegen sogar auch die Strafe schenken –“

„O Dank, Dank!“

„Wie gut, wie großmüthig Sie sind!“

„Halt, meine Herren, nicht zu schnell, ich bin nicht so großmüthig, wie Sie denken, denn bei Ihnen ist es manchmal nicht angewandt; ich spreche nicht so leicht von Schuld und Strafe los. Ihr Herr College muß sich sein verwirktes Leben wieder verdienen.“

„Aber wie, mon capitaine?“

„Was können Sie darunter verstehen?“

„Sie kennen das Haus, das links hier an dieses anstößt, und dessen Thür geschlossen ist.“

„Die Einwohner sind geflohen, mon capitaine.“

„Das ist kein Grund, daß man es nicht öffnen soll. Ihre Landsleute dort hinter den Knicks werden mir zu hitzig; sie verdienen eine energische Lection von unserer Seite, darum ist mir das Haus nothwendig. Ihr Herr College wird eine Axt nehmen und die Thür einhauen.“

Oh, mon capitaine, unter diesem starken Feuer!“

„Wenn ihn eine Kugel träfe!“

„Dann ist es immer besser, sie trifft ihn, als einen braven Soldaten. Sie wird ihn aber nicht treffen; auf meine Leute würden Jene drüben gehalten haben, auf den Franzosen – den Priester – werden sie nicht zielen. Sagen Sie ihm, das ist meine Bedingung.“

Nach einigen Minuten trat der Priester mit einer starken Axt aus der Hausthür der Ambulance und machte sich daran, die gelbe Thür des Nebenhauses einzuschlagen; er führte einen ganz kräftigen Hieb, denn schon nach einigen Schlägen gab diese seinen Anstrengungen nach. Der Hauptmann hatte vollkommen Recht gehabt, es wurde keine Kugel nach dem Manne im schwarzen Kleide geschickt, es war aber auch für den Capitain und seine Leute kein Verlust zu beklagen; im Laufschritt rückten sie aus dem Hause in das andere, und als die feindlichen Kugeln ankamen, waren sie schon Alle geborgen und richteten ihr Feuer mit der ihnen eigenen Zielsicherheit und Energie nach der feindlichen Stellung, die denn auch bald gänzlich zum Schweigen gebracht wurde.

Schneller mag wohl der Priester nie einen Weg zurückgelegt haben, als den von der geöffneten Hausthür nach seiner Ambulance zurück, in zwei Sprüngen war das geschehen, und merkwürdig – in dem Momente, wo er sein Haus wieder erreicht hatte, zerschmetterte eine Kugel den Stab der Fahne, die aus dem Fenster heraushing, und prasselnd fiel das weiße Tuch mit dem rothen Kreuze, das in diesem Hause entweiht worden war, zu seinen Füßen nieder.



[196]
Dreizehnter Brief. Ein Stündchen in der Armeepost.


Napoleon der Erste ließ seinen Soldaten von den Briefen, welche dieselben aus der Heimath bekamen, nur den vierten Theil zustellen, ebenso machte er es mit den Correspondenzen, welche aus dem Felde nach der Heimath gingen. Wenn er aber einen Sieg errungen hatte, da gestattete er die Beförderung aller Soldatenbriefe, da waren sie ihm ein willkommenes Mittel, die freudige Botschaft in Frankreich zu verbreiten, während sonst die Schilderungen der Mühen und Strapazen des Krieges, vielleicht auch der Niederlagen die Stimmung daheim verderben konnten, und im Felde hinwieder die allzu lebhafte Verbindung mit der Heimath einen üblen, erschlaffenden Einfluß auf den militärischen Geist ausüben konnte. Das war Napoleon’sche Praxis und für einen Eroberer in den damaligen Zeiten mochte dieselbe auch ganz zweckmäßig sein, die moderne Kriegführung aber würde damit nicht mehr auskommen. Wir führen ja auch keinen Eroberungskrieg, bei dem nur das Interesse eines Einzigen im Spiele ist, und der darum die Wahrheit und die öffentliche Meinung zu scheuen hat, wir führen einen Nationalkrieg, an dem die Interessen unseres ganzen Volkes betheiligt sind; wir haben auch keine Söldlinge, keine Prätorianer im Felde stehen, es ist unser ganzes Volk, das die Waffen trägt, die deutsche Familie. [197] Die Verbindung der Armee mit der Heimath wird, anstatt den militärischen Geist zu schädigen, denselben im Gegentheil beleben, den Muth, die Pflichttreue stärken; jeder einzelne Mann wird im Fortleben mit seiner Familie auf brieflichem Wege von dem Bestreben erfüllt werden, sich auszuzeichnen, er wird, durch seine Kraft und strengste Pflichterfüllung, einen Zustand des Friedens herbeizuführen bestrebt sein, welcher ihm und den Seinigen den Segen friedlicher Arbeit, Wohlfahrt, Gedeihen und Glück dem ganzen Vaterlande verheißt. Und wird nicht der Gefahr der Verwilderung, welche jeder Krieg in gewissem Sinne mit sich bringt, durch die beständige Verbindung mit dem Hause ein moralisches Gegengewicht entgegengesetzt?


Das ausgebrannte Schloß Meudon, im Februar 1871.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.


Von solchen Gesichtspunkten aus ist dem brieflichen Verkehr in diesem Feldzuge aller nur mögliche Vorschub geleistet worden. Jeder Soldat kann so viel und so oft schreiben, als er will, jeder Brief von ihm und an ihn geht nicht nur frei, es wird ihm auch noch die Postkarte zum Schreiben geliefert, jeder Brief endlich von ihm oder an ihn wird mit nicht geringerer Sorgfalt behandelt, als ein Brief an seinen commandirenden General. Jede Division hat ihre Post und jeden Tag kann der Soldat vom Hause seinen Brief haben.

Welche riesenhafte Verhältnisse hat aber auch der Postverkehr in diesem Feldzuge angenommen! Bekannt ist die Veröffentlichung des Generalpostmeisters Stephan, eine Statistik des vom 16. Juli bis 31. December stattgehabten Feldpostverkehrs. Nach derselben sind von der Heimath in das Feld und von da in die Heimath an Briefen, Zeitungen Dienst- oder Privatgeldern Dienst- oder Privatpaketen täglich an vierhundertfünfzigtausend Stück hin- und hergegangen. Welche enorme Ziffer.

„Eigenthümliche Menschen, Ihre Landsleute,“ sagte mir einst ein Franzose, „wenn sie nicht kämpfen oder marschiren, so putzen sie, und wenn sie nicht putzen, so essen sie, wenn sie mit dem Essen fertig, so schreiben sie; letzteres am meisten, und Jeder kann auch schreiben! Das ist komisch!“

Der Franzmann hatte Recht. Ich habe unsere Soldaten überall schreiben sehen, vor und nach den Schlachten, bei Sonnenschein und bei Wind und Sturm, im Quartier wie auf der Feldwache, hinter Hecken und in Gräben; der Tornister muß als Unterlage dienen, und dann geht es flink fort auf dem Papier, wie etwa: „Wir hatten eine Schlacht, ich war mitten drin, unsere Compagnie verlor so und so viel, ich bin aber gesund geblieben; schickt mir Tabak, auch einige Thaler können nicht schaden; im Uebrigen grüßt Euch von ganzem Herzen Euer lieber Sohn.“

Wie bereits bemerkt, hat jede Division ihre eigne Post, zwei oder drei große grau angestrichene Postwagen, welche die Sendungen aus oder in die Heimath und zugleich alle Bureau-Utensilien enthalten, diese Wagen werden von den Postillonen gefahren und von den Postschaffnern begleitet, erstere wie letztere sind aus dem heimathlichen Postdienst genommen und keine Soldaten. Während der Märsche fahren sie mit der Division, der Postmeister mit dem Secretär in einem eigenen Wagen voraus. Außerdem hat jedes Obercommando seine eigene Post; dieselbe wird zum Unterschiede von Divisionsfeldposten Armeepost genannt. Oft kommt es vor, [198] daß an einem Orte, wie z. B. in Orleans, drei verschiedene Postanstalten waren, die Armeepost, mehrere Divisionsposten und ein Relais, d. h. eine Posteinrichtung, die an einem Knotenpunkte an Stelle der Landespost getreten ist, und für die auf dem Marsche befindlichen Obercommandos und Divisionen die Sendungen in Empfang nimmt. Marschiren wir z. B. heute von Orleans ab und machen einen Marsch von drei Meilen bis nach Beaugency, so wird von der Armeepost die nächste Post aus Orleans beim Relais geholt werden müssen. Rücken wir am nächsten Tage weiter nach Blois, so ist während des Tages bereits in Beaugency ein Relais eingerichtet worden, an welches die Postsachen von Orleans aus geschickt und bei welchem sie von unserer Armeepost von Blois aus abgeholt werden. In dieser Weise wird die Verbindung mit den Truppenteilen hergestellt.

Je weiter wir natürlich vorrücken, desto schwieriger und langsamer wird der Postdienst, ich will nicht sagen ungewisser. Ich habe sehr selten über abgesandte und nicht angekommene Briefe klagen hören; mir persönlich ist es nur zweimal passirt, daß ein Brief verloren gegangen ist, und zwar nach Frankreich aus einem deutschen Lande, das ich nicht nennen will, über dessen Postanstalten ich aber mehrfache Klagen gehört habe, namentlich im Beginn unseres Feldzuges. Ich kann annehmen, daß ich während der sieben Monate desselben hundertfünfzig für die Oeffentlichkeit bestimmte Briefe geschrieben habe, und kein einziger derselben ist ausgeblieben, alle haben sie den Ort ihrer Bestimmung erreicht. Je weiter wir nach Westen kamen und je zahlreicher die Relais wurden, desto weniger war die Laufzeit eines Briefes zu bestimmen; von Le Mans aus gingen manche in sieben Tagen nach Berlin, andere brauchten elf Tage, aber sie kamen doch an. Wie überhaupt in diesem Kriege an jede Kraft, an jede Thätigkeit die höchsten Anforderungen gestellt wurden, so auch an den Postdienst. Die oben angeführten Zahlen sind die besten Belege.

Aber nicht allein die unausgesetzte Regsamkeit, die nie ruhende Arbeit verlangen ihre Würdigung, sondern auch die Strapazen und die Gefahren, die mit dem Postdienste verknüpft waren, und der Muth, der erforderlich war, um ungeachtet dieser Gefahren die Transporte zur festgesetzten Stunde heranzuschaffen. Der vergangene Winter war einer der strengsten, die Frankreich seit dreißig Jahren gehabt hatte, die Wege waren oft verschneit, von Gräben durchrissen, ganz und gar unpassirbar gemacht, ohne Wegweiser an ihren Scheidepunkten, und nun mußten Schaffner und Postillone mit den schweren Wagen durch, wegen mangelnder Sprachkenntniß unfähig, nach dem richtigen Wege zu fragen, und wenn sie im Dunkel des Abends an dem ihnen vorgeschriebenen Ziele angekommen zu sein glaubten, dann zeigte sich vielleicht, daß sie so und so viele Kilometer falsch gefahren waren, dann befanden sie sich in einem Orte, in welchem nicht ein Mann Militär war, noch dazu umringt von einer feindseligen Bevölkerung. Ebenso auch der Beamte, der mit seinem Relais oft in einem Orte saß, in welchem meilenweit und breit kein deutscher Soldat zu spüren war, ausgesetzt jede Stunde am Tage wie in der Nacht den Angriffen einer fanatisirten Menge, in deren Sinne der Todtschlag eines Feindes ein Verdienst um das Vaterland war.

Es ist an einem der gewöhnlichen Marschtage, deren wir in diesem Feldzuge so viele hatten. Am Morgen ist das Obercommando vom letzten Hauptquartier abgerückt, hat auf offener Landstraße bei einem Bivouakfeuer Mittag gemacht und ist nun gegen drei Uhr Nachmittags in’s Quartier gekommen. Bei den ersten Häusern des betreffenden Ortes hatte einer der Schaffner, der vorausgeschickt war, um Quartier zu machen, die Colonne erwartet, um den Weg nach dem Logis zu zeigen.

„Nun, Brodhuhn, wie sieht’s hier aus; haben wir ein Local, in dem sich’s existiren läßt?“

„Herr Sekertär – es is Sie wieder sehr faul. Es is eben wieder eine Kneipe, wie immer. Nischt andersch war zu finden – es is Sie wieder ein elendes Nest.“

Kaffeehauslocale müssen nämlich immer für die Etablirung der Postbureaus herhalten. Es ist gewissermaßen, als ob zwischen Beiden eine geheime Anziehungskraft stattfinde. Sie bieten wenigstens einen hinreichenden Raum, um die Postsachen, die Bureau-Utensilien unterzubringen, den regen Verkehr ohne Belästigung unterhalten zu können. Eine halbe Stunde nach der Ankunft des Hauptquartiers ist Alles in Ordnung, die Tagesstempel eingeschraubt, die königlich preußische Postfirma ausgehängt; in den Kamin hat Brodhuhn einige Baumstämme geschoben, damit die Dinte nicht einfriert, denn draußen ist es eklig kalt. In dieses Local treten wir ein, wir fragen, ob die Post noch nicht angekommen, wir haben einen Brief zu erwarten. „Nein,“ heißt es, „die Post wird vielleicht erst in einer halben Stunde kommen.“ Wir wollen so lange warten. An der gewöhnlichen Wirthstafel sitzt „der Herr Sekertär“ Ninow und „bearbeitet die Sachen“. In einer Ecke sitzt der Schaffner Brodhuhn und liest die Nordhausener Zeitung, „die von Baltzern geschrieben wird“.

„Brodhuhn, wo ist denn Wilke?“

Wilke ist nämlich der erste Unterbeamte. Vielleicht erinnern sich seiner die Leser aus der Schilderung des Hauptquartiers vor Metz.

„Wilke is mit die faulen Briefe fort. Herr Sekertär, mir is wahrhaftig keine Arbeit zu viel, aber wenn ich Sie schon immer die faulen Fuhrmannsbriefe kommen seh, dann werd’ ich Sie giftig, wie der Baltzer in der Nordhäuser. Draußen vor dem Neste hält nur eine Proviantcolonne – keiner von den Fuhrleuten kennt den Namen vom Andern, nun such’ mir einer die Ritter von Madrid! Gestern hatt’ ich Sie zwei Briefe: einen ‚an den Fuhrmann Stefen Krautherr, Colonnenwagen Nr. 304 in Frankreich.‘ In Frankreich! Das schreiben die zu Haus in Großenhain oder in Penig nur so flottweg hin – da sucht ihn auch in Frankreich! Und der zweite Brief war Sie noch scheener. Da hieß die Adresse: ‚An den Colonnenfuhrmann Martin Baßler von den Magdeburger Fuhrleuten, die am 6. August nach Frankreich gefahren sind. Er hat einen Schecken und einen Braunen.‘ Reene des Deibels möchte man wär’n, wenn man solche Adresse liest. Es ginge bei uns Alles so glatt und scheene ab – wenn nur die verfluchten Fuhrmannsbriefe nich wären. Die hab’n mer schon manche schwere Stunde gemacht. Und was steht drin in den Briefen? Ich weeß nicht, aber ich denk’ mersch so: daß sie’s sehr kalt zu Hause haben und daß die Nachbarschaft scheene grüßen läßt.“

„Das ist ganz gleich, was drin steht,“ versetzt der ‚Sekertär‘, „für uns kommt es nur darauf an, was darauf steht und ob der Mann zu finden ist. Und dazu darf uns keine Mühe und keine Arbeit zu viel sein; der arme Colonnenmann hat dasselbe Bedürfniß, von den Seinigen Nachrichten zu erhalten, wie der vornehmste Officier. Im Gegentheil, er hat so viele Mühen und Strapazen zu erdulden, daß ihm die Freude, von den Seinigen zu Hause ein Lebens- oder Liebeszeichen zu erhalten, um so mehr zu gönnen ist.“

Brodhuhn studirt die Nordhäuser Zeitung weiter. Im Kamin knistert das Feuer, nach einer Weile kommt Wilke, wirft ein Paket Briefe auf den Tisch und stimmt dasselbe Klagelied an. Er war bei der Proviantcolonne gewesen, kein einziger von den Adressaten war zu finden.

„Seit acht Tagen treiben sich nun die Briefe hier herum und jeden Tag dieselbe Geschichte. Da möcht’ man ja lieber Franctireur werden, als Briefträger für die Colonne. Es wird den Leuten zu Hause doch so bequem gemacht, so und so müßt ihr die Adresse schreiben – aber sie capiren’s nicht. Hier, Herr Sekertär, ist ein Brief – Name, Vorname, aber welche Colonne, bei welchem Corps, welcher Division? Gar nischt – nur die Bemerkung: ‚er fährt den Wagen mit der Erbswurst‘. Nu, da brat’ mir jetzt Eener einmal einen Storch!“

Plötzlich wird die Thür aufgerissen. Zwei Soldaten mit sehr fröhlichen Gesichtern Arm in Arm erscheinen, und rufen gleich beim Eintreten:

Monsieur – öng – öng Getreidekümmel!“

„Hier ist die Armeepost, aber kein Kaffeehaus!“ ruft Wilke mit Stentorstimme.

„Ach so, verzeihen Sie, Herr Oberpostdirector Stefan, ick habe Ihnen nich jleich erkannt – ick dachte, weil’s so hell hier war, et wär’ eene Kneipe.“

„Dann muß es schon sehr duster bei Ihnen aussehen, wenn Sie das Postschild draußen nicht sehen.“

„Wat haben Sie jesprochen, Herr Oberpostdirector Stefan?“

„Die Thür sollen Sie von außen zumachen!“

Nix comprends – nix comprends!“ versetzen die Schelme und verschwinden unter lautem Lachen. Sie geben einem andern Soldaten die Thür in die Hand. Ein fröhliches jugendliches Gesicht in Husarenuniform schaut zur Thür herein. Es ist ein Officierbursche, im ganzen Hauptquartiere wegen seiner Schalksstreiche

[199] bekannt. Sowie Wilke denselben erblickt, ruft er ihm entgegen:

„Noch nischt. In einer halben Stunde kommen Sie wieder. Da wird die Post da sein.“

„I da verlohnt sich’s doch nicht mehr, daß man zu Hause geht, denn wenn ich ohne Postsachen komme, da schnauzt mich mein Lieutenant doch an. Es ist doch ein übel Ding, so wie er in den Krieg zu müssen und eine sechsunddreißigstündige junge Frau zu Hause zu lassen. Täglich nur ein Brief, dann ist’s schon nicht recht, dann sind die Stiefeln nicht blank, dann ist das Pferd nicht gut geputzt, dann hab’ ich ein sehr dummes Gesicht – nächstens aber werd’ ich mich hinsetzen und an die gnädige Frau schreiben und sie bitten: ‚Ach schreiben Sie ihm doch so viel Papier voll, daß er gar nichts weiter zu thun hat, als immer nur zu lesen, damit er wenigstens nur mich zufrieden läßt.‘ Also in einer halben Stunde? Bon.

Er will gehen, kehrt aber um und wendet sich an Wilke:

„Meine Pfeife ist ausgegangen. Haben Sie nicht ein Bischen Feuer? Sie verzeihen, Herr Secretair.“

Wilke giebt ihm Feuer, er will gehen; die Thür in der Hand haltend kehrt er nochmals um und bittet um ein paar Couverts. Wilke giebt ihm auch Couverts, bemerkt aber in etwas unwirschem Tone, daß die Post zwar Postkarten, aber keine Couverts ausgebe.

„Aber zu den Couverts gehören auch noch ein paar Briefbogen,“ bemerkt der Bursche. „Das können Sie auch noch für’s Vaterland thun. Die ganze Briefmappe von meinem Herrn steht mir zu Gebote, aber seine Briefbogen sind alle mit dem Namenszug und mit der Krone, und wenn ich auf einem solchen Bogen an meine Auguste schreibe, dann ist der Teufel los, dann denkt sie, ich stehe mit einer hohen französischen Chateaubesitzerin in einem so vertrauten, unerlaubten Verhältnisse, daß ich schon auf ihrem Papiere schreibe. Man muß an Alles denken. Ein paar Briefbogen, Herr Secretair, ja?“

Der Secretair giebt ihm auch noch die Briefbogen, und fragt mit unverkennbarer Ironie, ob er nicht noch einen Zehnthalerschein wünsche.

„Wahrhaftig, das hätte ich fast vergessen, den können Sie mir auch noch wechseln, das ist sehr gut, daß Sie mich selbst darauf gebracht haben.“

Wohl oder übel muß der Beamte auch diesem Ansinnen nachkommen; er selbst hat die Sache angeregt; er zählt aus einer kleinen, eisenbeschlagenen Cassette zehn blanke Thaler auf, der Bursche streicht diese ein, sagt schönen Dank und will gehen.

„Aber bitte um den Zehnthalerschein!“ ruft ihm der Secretair nach.

„Ach so – den wollen Sie auch haben. Fast hätt’ ich’s vergessen!“ und zögernd holt er die Banknote aus der Tasche, legt sie auf den Tisch. „In einer halben Stunde also! Was man derweile nur macht!“

Da fällt sein Blick auf Brodhuhn, der noch immer am Kamin sitzt und die Zeitung liest. Auf diesen geht er zu, zieht ihm sachte die Zeitung aus der Hand und sagt:

„Die können Sie mir so lange borgen. Ich bringe sie, wenn ich die Post hole, wieder. Nordhäuser? Das war immer mein Fall. Jeder Deutsche hat ein geistiges Bedürfniß nach etwas Bismarck. Das ist das Schlimme. Mein Lieutenant hält nur französische Zeitungen, und diese Sprache verachte ich – ich bin ein deutscher Jüngling.“

Fort ist er. Der Secretair lacht, die beiden Schaffner sind über diese „Ausverschämtheit“ wüthend, Brodhuhn sagt:

„Das geht doch noch über die Colonnenbriefe! Ich laß mir die Zeitung extra von Hause kommen und der liest sie. Gerad’ mitten in einem Artikel, wo beschrieben ist, wie die Pariser die beiden Elephanten gegessen haben. Das war Sie sehr scheene zu lesen, Herr Sekertär.“

Auch als Dolmetscher muß der Secretair dienen. Ein Officierbursche tritt mit einem Franzosen, seinem Quartiergeber, in’s Local und klagt seine Noth. Der Bursche soll dem Mann die Wäsche seines Herrn geben, um sie zur Wäscherin, zu einer femme de lavement, zu bringen, und nun wolle der Blaukittel nicht capiren, er frage immer, ob Officier malade wäre. Er, der Bursche, spreche doch sehr deutlich, laver heiße waschen, also lavement Wäsche, und femme de lavement, Wäscherin. Schließlich muß ihm der Secretair begreiflich machen, daß die französischen Wäscherinnen nur auf das Wort blanchisseuse hörten und daß das andere Wort eine ganz andere Bedeutung habe.

Es vergehen fünf Minuten – es vergehen zehn Minuten, ohne daß die Glasthür des Postbureaus in Bewegung gesetzt wird, was allerdings zu den Seltenheiten gehört. Die Post ist, wie wir gesehen haben, für alle Wünsche, für alle Bedürfnisse, für alle Angelegenheiten da; zu Hause würde sich ein Beamter für diese Nebenbeschäftigungen höflichst bedanken. Hier im Felde jedoch bringen das die Verhältnisse mit sich.

„Brodhuhn!“ ruft der Secretair.

„Herr Sekertär!“

„Legen Sie diesen Brief hier zu denen, die zurückgeschickt werden. Tour Köln-Hamburg.“

Es ist ein Feldpostbrief, adressirt: „An den Gefreiten Christian Baumgardt bei der neunten Compagnie des fünfundachtzigsten Regiments, sechsunddreißigste Brigade, achtzehnte Division, neuntes Armeecorps.“ Unten am Rande des Couverts steht: „Absenderin: Wittwe Katharina Baumgardt in Altona.“ Wenn die Absenderin auch nicht auf dem Briefe verzeichnet stünde, so würde man doch an der Schrift, an den etwas weitgezogenen, von der zitternden Empfindung des Herzens geführten Zügen erkennen, daß es eine Mutterhand war, die dieses geschrieben hat. Die Adresse ist ganz richtig, jedenfalls hat ihr der Sohn vor dem Abschiede dieselbe vorgeschrieben, und ein Labsal war es für das treue Mutterherz, mit Feder und Dinte, die sie vielleicht lange nicht mehr in der Hand gehalten hatte, den vorliegenden Worten langsam nachzufahren. So sieht die Adresse des Briefes aus. Derselbe ist dicker, als ein gewöhnlicher Brief; das Papier des Couverts ist an einer Stelle zerrissen und einige Tabaksblätter fallen heraus. O treue, liebende Sorgfalt! Der Mutter ist vielleicht im Momente des Absendens noch eingefallen: Ei, du könntest diesem Briefe noch etwas beifügen – ein wenig Tabak; kann’s auch nur wenig sein, so sieht er doch die Liebe. Vielleicht könnte die Frau auch nicht mehr beipacken, selbst wenn es die Postbehörde gestattete, vielleicht hat sie ihren letzten Groschen hingegeben, um dem Sohne das Liebeszeichen senden zu können. Weihnachten ist zudem nahe, und da macht man den Kindern immer eine kleine Vorfreude. Wie wird ihm die Pfeife schmecken, wie wird er dabei immer an seine Mutter daheim denken und sich in seinem Herzen sagen: die Alte ist doch die Beste! Wer weiß, dieser Sohn ist vielleicht das einzige Kind, ihr einzig Gut und Blut, Alles, was einer Armen an Erdenglück geblieben ist, ihr Glück im Leben und ihr Trost im Sterben; wie sehnsüchtig wird sie eine Antwort von ihrem Kinde erwarten, wie freudig wird ihr Herz aufschlagen, wenn sie den Briefträger auf ihr Haus zukommen sieht, er kann ja nur einen Feldpostbrief bringen, einen Brief von ihrem Kinde. Der Briefträger hat auch einen Brief in der Hand, er giebt ihr denselben, aber es ist ihr eigener. Im ersten Augenblick wird sie den Zusammenhang nicht fassen können, sie wird das Nächste und Natürlichste glauben, daß bei dem Briefe irgend eine Unregelmäßigkeit war, in Folge derselben die Postanstalt ihn zurückgehen läßt, bis sie den Brief umkehrt. Auf der Rückseite stehen einige Worte mit kleiner, fremder Schrift, die sie mit bloßem Auge nicht lesen kann; sie muß ihre Brille zur Hülfe nehmen und liest: „Adressat ist am vierten December in der Schlacht vor Orleans gefallen. Feldwebel Ohm.“ –

Kehren wir jedoch aus dem Stübchen in Altona in das deutsche Postbureau nach Frankreich zurück. Zwei Geldbriefe werden aufgegeben; den ersten bringt ein Soldat von einem Regimente, das zufällig die Besatzung des Ortes bildet. Der Brief ist an eine Frau in einem Dorfe Litthauens adressirt. Der Soldat fragt, ob ein Brief wohl richtig nach Litthauen komme, auch wenn er nicht fünffach gesiegelt sei. Das sei gar nicht nöthig, giebt man ihm zur Antwort, vorausgesetzt, daß kein Geld darin sei.

„Es ist aber Geld darin,“ gesteht der Absender.

„So geben Sie doch die Summe an, die sich in dem Briefe befindet!“ räth der Beamte.

Darauf wird der Bringer des Briefes merkbar verlegen. „Hm, Sie meinen, Herr Postdirector, es muß darauf stehen, wie viel darin ist?“

„Es muß nicht, aber Sie sind mehr gesichert. Der Brief wird wohl auch so ankommen; aber wenn Sie wollen, will ich die Summe darauf schreiben!“

„Bitte, Sie können den Brief fünffach siegeln!“

[200] „Wie viel ist denn darin?“

„Ach, nehmen Sie es nicht übel, es ist nur ein Thaler, den ich meiner Frau schicke. Mehr hab’ ich von meinem Sold bisher nicht erübrigen können. Sie kann unser Kind nicht stillen, weil sie auf Arbeit geht; von dem Thaler kann sie wenigstens Milch kaufen. Ich wollte darum nicht darauf schreiben, daß Geld darin ist, weil es sonst gleich in dem ganzen Dorfe herum ist: ‚Fritze Nujahn hat Geld geschickt!‘ Dann kommt der Krämer, dem wir zwei Thaler, und die Hebamme, der wir noch einen Thaler schuldig und, und wollen Geld haben, und meine Frau in ihrer Angst – ja, die giebt’s hin. In drei Wochen will ich wieder etwas schicken; dann sollen die Schulden zum Theil wenigstens bezahlt werden – aber den Thaler soll meine Frau behalten.“

„Gut, dann schicken Sie den Brief als einfachen Brief; ankommen wird er eben so sicher wie ein Geldbrief. Aber machen Sie das Couvert noch einmal auf. Hier ist ein anderes; hier können Sie auch noch einmal die Adresse schreiben.“

„Warum denn das, Herr Postdirector?“

„Warum? Ich – ich muß mich überzeugen, ob der Papierthaler auch darin ist.“

Das sagte aber der Secretär nur so; vielleicht liegt in dem Briefe, wenn er in dem ärmlichen polnischen Dorfe ankommt, das Dreifache von dem, was der pflichttreue Gatte und Vater in Frankreich eingesiegelt hat. Wer weiß, vielleicht war’s ein Heckethaler, den er gerade gefaßt hat; die sollen, wie man sagt, im Handumdrehen mehr werden.

„Noch ein Geldbrief!“ ruft der Secretär, von einem neu eintretenden Soldaten einen Brief empfangend. „Das geht ja heute, als ob’s der Erste im Monat wäre. Aber über hundert Thaler werden nicht angenommen, sag’ ich Ihnen gleich.“

„Hundert Thaler? Ach du lieber Gott! So viel Geld hab’ ich noch nicht gesehen. Zehn Silbergroschen sind drin.“

Dieser Betrag als Privatgeldsendung war dem Beamten noch nicht vorgekommen.

„Ach, schicken Sie’s nur fort, Herr Expeditor! Sehen Sie, ich will Ihnen ja auch sagen, wofür diese Summe ist. Beim Ausrücken aus der Garnison hat mir mein Bruder vier Thaler eingesteckt. ‚Wenn Du was brauchst, wenn Du mal einen Extraappetit kriegen solltest; verstehst Du mich?‘ ‚Ach wo,‘ sprach ich, ‚wo werde ich denn Geld von Dir nehmen!‘ ‚Sei kein Hansnarre,‘ spricht er wieder. ‚Nimm’s nur; was Du übrig behältst, kannst Du mir wiedergeben.‘ Nun hab’ ich aber im Anfang der Campagne immer sehr vielen Hunger gehabt und auch drei Thaler zwanzig Silbergroschen von dem Gelde ausgegeben; aber nun haben wir Alles genug, nun liegen wir immer in feinen Quartieren, die Kopfkissen haben Garnirungen, die Pommedeterres sind auf französische Art gemacht, und die gebratenen Puten haben alle noch ihre Köpfe, wenn sie auf den Tisch kommen – kurz, es geht uns sehr gut, und da ich nichts mehr von den vier Thalern brauche, muß ich doch als preußischer Soldat auch ein ehrlicher Kerl sein und ihm das Uebriggebliebene nach Hause schicken. ‚Was Du übrig behältst, kannst Du mir wiedergeben,‘ hat er gesagt, und nun, Herr Expeditor, nun bitte ich über meine zwei Fünfgroschenstücke um einen Postschein.“

Der Litthauer war gegangen; auch der Absender des zweiten Briefes ist abgefertigt worden. Er hat seinen Schein bekommen, seine Sendung ist in zwei Bücher eingetragen worden, um seinen Brief wird ein eigenes Couvert gemacht, mit Bindfaden umwunden, versiegelt, Alles das um zehn Silbergroschen. – Der Secretär sieht auf die Uhr und findet, daß die Post lange ausbleibt. Wilke erinnert an die schlechten Wege und daß das eine Pferd seit gestern lahme.

„Und dann ist ja auch noch Hänfling nicht da,“ meint Brodhuhn im Scherze. „Ehe er nicht da ist, eher kann auch die Post nicht kommen.“

In dem Augenblick thut sich die Thür auf, die kurze gedrungene Gestalt eines Trainsoldaten erscheint und mit ihr das komischste Gesicht, das man sehen kann: als ob es in Kautschuk gedrückt wäre und die eine Hälfte desselben lacht, während die andere weint. Bedächtig macht der Eintretende die Thür hinter sich zu, geht langsam einige Schritte vorwärts, sieht sich nach allen Seiten um und sagt ernst und feierlich:

„Guten Abend in’s Local!“

„Nun ist die Brieftaube ja da!“ meint Wilke.

„Verzeihen Sie, ich gehöre zu das Geschlecht der Hänflinge, und mein Herr heißt mich flattern, um die Post zu holen.“

„Bedaure, Herr Hänfling, Sie müssen sich noch etwas gedulden; aber da Sie da sind, kann die Post unmöglich lange bleiben.“

„Heute ist mein Herr zu happig auf Briefe – man kann’s ihm ja nicht verdenken, morgen ist sein Geburtstag; jeder Mensch ist froh, geboren zu sein; nun hört er gern, wenn auch Andere ihm sagen, wie glücklich sie sein Dasein mache. Na, das Papier ist ja geduldig. Herr Sekertär, erlauben Sie, daß ich meine Füße ein wenig an’s Kaminfeuer halte? Die Sohlen von den Parisern sind zu dünn und das Schneewasser beißt sich überall durch, wie die Mäuse durch die Speckseite.“

„Warum tragen Sie denn auch immer Pantoffeln? An Stelle Ihres Herrn hätte ich es Ihnen schon längst untersagt. Das ist gar nicht militärisch.“

„Militärisch nicht, mein Sekertär, aber seelenvoll. Sehen Sie, Herr Sekertär, diese Pariser hat mir meine Alte in den Krieg mitgegeben; Kinder haben wir nicht, daß sie auf den linken Fuß derselben den Knaben, auf den rechten vielleicht das Mädchen hätte sticken können; aber einen Hund haben wir, und den hat sie mir zur Erinnerung mit ihrer kunstvollen Hand in Wolle genäht. Hier können Sie’s sehen. Da ich aber während des Tages keine Veranlassung habe, an meine Emilie zu denken, so ziehe ich des Abends die gestickten Pariser an, um mich im Geiste zu ihr zu versetzen. Sagen Sie, Herr Sekertär, ist in letzter Zeit keine unserer Posten durch die Franctireurs abgeknöpft worden?“

„Daß ich nicht wüßte, Hänfling.“

„Schade darum, daß die Franctireurs keine erwischt haben. Es wäre mir sehr lieb gewesen.“

„Wieso denn?“

„Gestern hat mir meine geliebte Emilie in einem Schreibebriefe vier Seiten voll Vorwürfe gemacht, daß ich so lange nicht geschrieben. Wenn nun glücklicher Weise uns so ein Malheur arrivirt wäre, so könnte ich ihr doch schreiben, daß ein langer Brief an sie durch die Franctireurs abgekniffen worden ist und daß sie bedenken möge, daß das Alles nicht so glatt abgeht wie zwischen Berlin und Potsdam, sondern daß wir hier im blutigsten Kriege sind. Aber heute scheint die Post überfallen worden zu sein.“

„Hänfling, malen Sie mir den Teufel nicht an die Wand! Wir haben heute an die sieben Paketsäcke dabei, und fast werde ich ein wenig unruhig, da Götting, der beim Wagen, doch ein so gewissenhafter Schaffner ist.“

Da läßt sich von der Straße das Pferdegetrappel vernehmen und das Rollen eines schweren Wagens. Brodhuhn geht hinaus, um demselben das Postlocal zu zeigen. Die übrigen im Locale Befindlichen lauschen hinaus.

„Ist es der Postwagen?“

„Es scheint nicht so, er fährt zu schnell,“ bemerkt Wilke, „und durch die Ortschaften fahren unsere Postillone immer langsam.“

Auf dem Gesichte der Beamten prägt sich lebhafte Besorgniß aus. Der Wagen kommt näher, er fährt jetzt draußen vor, er ist’s, die Post ist angekommen. Draußen hört man die eiserne Stange fallen, welche den Wagen verschließt, und im Bureau erscheint nun der Schaffner Götting, den Beutel mit den Werthsachen in der Hand, halb erfroren trotz Decken und Mantel. Er war nicht durch Franctireurs angegriffen worden, aber ein Wagenrad war gebrochen und mußte in einem Dorfe erst ausgebessert werden.

„Die Post ist da!“ rufen in allen an der Hauptstraße gelegenen Wohnungen die Herren, welche den Wagen hatten ankommen hören, ihren Burschen zu; in Zeit von einigen Minuten ist der Platz vor dem Locale äußerst belebt, aber die Herren Burschen dürfen nicht eher eintreten, als bis die Post sortirt ist. In einer Viertelstunde ist das geschehen, und nun wird ein Herrenname nach dem andern aufgerufen, und der Bursche empfängt für denselben die Briefe, Zeitungen und Pakete. Wilke fliegt als Brieftaube mit den Sachen des Obercommandos nach dem Bureau desselben. Auch uns ist ein Brief mit einer angenehmen Botschaft zugekommen, und wenn wir auch ein Stündchen warten mußten, so wünschen wir nur, daß dasselbe unseren lieben Lesern nicht langweilig geworden.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Adien
  2. Vorlage: Gntteshauses
  3. Vorlage: gehörte