Im Schloß

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Autor: Theodor Storm
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Titel: Im Schloß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10–12, S. 145–149, 161–164, 177–181
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145]
Im Schloß.
Von Th. Storm.[1]


1. Von der Dorfseite.

Vom Kirchhof des Dorfes ein Viertelstündchen hinauf durch den Tannenwald, da lag es vor Einem; zunächst der parkartige Garten von alten ungeheueren Lindenalleen eingefaßt, an deren einer Seite der Weg vom Dorfe vorbeiführte; dahinter das große steinerne Herrenhaus, das nach vorn hinaus mit den Flügelgebäuden einen geräumigen Hof umfaßte. Es war früher das Jagdschloß eines reichsgräflichen Geschlechts gewesen; die lebensgroßen Familienbilder bedeckten noch jetzt die Wände des großen Rittersaals, wo sie vor einem halben Jahrhundert beim Verkaufe des Guts mit Bewilligung des neuen Eigenthümers vorläufig hängen geblieben und seitdem, wie es schien, vergessen waren. – Vor etwa zwanzig Jahren war das Gut, dessen wenig umfangreiche Ländereien zu den Baulichkeiten in keinem Verhältniß standen, in Besitz einer alten weißköpfigen Excellenz, eines früheren Gesandten, gekommen. Er hatte zwei Kinder mitgebracht, ein blasses, etwa zehnjähriges Mädchen mit blauen Augen und glänzend schwarzen Haaren und einen noch sehr jungen kränklichen Knaben, welche beide der Obhut einer ältlichen Verwandten anvertraut waren. Später hatte sich noch ein alter Baron, ein Vetter des Gesandten, hinzugefunden, der Einzige von der Schloßgesellschaft, der sich zuweilen unten im Dorfe blicken ließ und auch mit den Leuten im Felde wohl einmal einen kurzen Discurs führte; denn im heißen Sommer oder an hellen Frühlingstagen pflegte er weit umher zu wandern, um allerhand Geziefer einzusammeln, das er dann in Schachteln und Gläsern mit nach Hause nahm. Selten einmal war auch das junge Fräulein bei ihm; sie trug dann wohl eins der leichteren Fanggeräthschaften und ging eifrig redend an des Oheims Seite, aber um die Begegnenden kümmerte sie sich nicht weiter. Die kleine hagere Gestalt der alten Excellenz hatte, außer beim sonntäglichen Gottesdienste in dem herrschaftlichen Kirchenstuhle, kaum Jemand anders als vom Wege aus gesehen, wenn er in der breiten Lindenallee des Gartens auf und ab wandelte oder stehen bleibend das Moos auf dem Steige mit seinem Rohrstocke losstieß. Den scheuen Gruß der vorübergehenden Bauern pflegte er wohl mit einer leichten Handbewegung zu erwidern; was er sonst mit ihnen zu schaffen hatte, wurde von dem Verwalter abgethan, dem die Bewirthschaftung des kleinen Gutes überlassen war.

Nach Jahren war diese Hausgenossenschaft noch durch einen Lehrer des kleinen Barons vermehrt worden. Die Leute im Dorfe erinnerten sich noch sehr wohl seiner; er war aus der Umgegend und stammte auch von Bauern her. Man hatte ihn oft mit dem alten Baron gesehen, und auch das Fräulein, damals schon eine junge Dame, war mitunter in ihrer Gesellschaft gewesen. Man erzählte sich noch, wie er mit dem alten Herrn in den Tannen einen Dohnenstieg angelegt; aber das Fräulein sei meist schon vor ihnen dagewesen und habe die Drosseln, die sich lebendig in den Schlingen gefangen, heimlich wieder fliegen lassen. Einmal auch hatte der junge freundliche Herr den kleinen verkrüppelten Knaben auf dem Arm durch das Tannicht getragen, denn mit dem Rollstühlchen war auf dem schmalen Steige nicht fortzukommen gewesen, und das Kind hatte die gefangenen Vögel selbst aus den Dohnen nehmen können.

Bald aber war es wieder einsamer geworden; der arme Knabe war gestorben und der Hauslehrer fortgegangen. Schon früher hatte man im Dorfe selten von den Gutsnachbarn oder aus der Stadt drüben einen Besuch den Weg nach dem Schlosse fahren sehen; jetzt kam fast Niemand mehr; auch die alte Excellenz sah man selten in der breiten Allee des Gartens wandern.

Nur noch einmal, im Herbste des folgenden Jahres, war es droben auf einige Tage wieder lebendig geworden, als die Hochzeit des jungen Fräuleins gefeiert wurde. Unten in der Dorfkirche war die Trauung gewesen; seit lange hatte man dort so viele vornehme Leute nicht gesehen. Aber die hagere Gestalt des Bräutigams mit dem dünnen Haar und den vielen Orden wollte den Leuten nicht gefallen; auch die Braut, als sie von der alten Excellenz an die mit Teppichen belegten Altarstufen geführt wurde, hatte in dem langen weißen Schleier, mit den dicht zusammen stehenden schwarzen Augenbrauen ganz todtenhaft ausgesehen; was aber das Schlimmste war, sie hatte nicht geweint, wie es doch den Bräuten ziemt. Der alte Baron, der in sich zusammen gesunken in dem herrschaftlichen Stuhl gesessen und mit trübseligen Augen auf die Braut geblickt hatte, war nach Beendigung der Ceremonie allein und heimlich seitwärts über die Felder gegangen. Am darauf folgenden Nachmittag hielt der Wagen mit den Neuvermählten eine kurze Zeit in der Durchfahrt des Dorfkreuzes; und die Leute standen und besahen sich das Wappen auf dem Kutschenschlage, einen Eberkopf in blauem Felde. Der hagere, vornehme Mann war ausgestiegen und brachte der jungen Frau ein Glas Wasser an den Wagen; von dieser selbst war wenig zu sehen, sie saß im Dunkel des Fonds schweigend in ihre Mäntel gehüllt.

Der Wagen fuhr davon, und seitdem vergingen Jahre, ohne daß man von dem jungen Fräulein wieder etwas hörte. Nur dem Prediger hatte einmal der alte Baron erzählt, daß ein Knabe, den sie im zweiten Jahre der Ehe geboren habe, von einer Kinderepidemie dahin gerafft worden sei; und später dann, als die alte [146] Excellenz gestorben und Abends bei Fackelschein auf dem Kirchhof hinter den Tannen zur Erde gebracht wurde, sollte sie Nachts auf dem Schlosse gewesen sein; aber von den Leuten im Dorfe hatte Niemand sie gesehen. Bald verließ auch der alte Baron mit seinen Sammlungen und Büchern das Schloß, wie es hieß, um bei einem andern Vetter seine harmlosen Studien fortzusetzen.

Einen Sommer lang wohnte Niemand in dem steinernen Hause, und das Gras wuchs ungestört auf den breiten Steigen der Gartenallee.

Da, eines Nachmittags, es mochte jetzt ein Jahr vergangen sein, hielt wiederum der Wagen mit dem Eberkopf in dem Wirthshause des Dorfes. Die junge Frau saß darin, das einstige Fräulein vom Schloß; sie sprach freundlich zu den Leuten, erzählte ihnen, daß sie ihr Gut jetzt selbst bewirthschaften und bewohnen werde, und bat um treue Nachbarschaft. Aber froh sah sie nicht aus, auch nicht ganz jung mehr, obwohl sie kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre zählen mochte.

Die Leute wußten sich keinen Vers daraus zu machen; bald aber kam das Gerücht über Stadt und Land und auch in die Gaststube des Dorfkruges. Das in der Kirche drüben geschlossene vornehme Ehebündniß war nicht zum Guten ausgeschlagen. Die junge Frau sollte in der Residenz, wo ihr Gemahl eine Hofcharge bekleidete, eine Liebschaft mit einem jungen Professor gehabt haben; Einige wollten sogar gehört haben, es sei der ihnen wohlbekannte Hauslehrer des verstorbenen kleinen Junkers. Die Dame habe einmal selbst in großer Gesellschaft ihre Schuld verrathen, und nun sei sie so was wie verbannt und dürfe nicht in die Residenz zurückkehren.

Während dessen hauste die Baronin droben in dem alten Schlosse in großer Einsamkeit, denn niemals sah man aus der Stadt oder von den benachbarten Adelsfamilien einen Wagen an dem Tannicht hinauffahren. Wie der Schullehrer sagte, hatte sie sich Bücher aus der Stadt kommen lassen, in denen sie die Landwirthschaft studirte; auch mit Dorfleuten, wenn sie solche auf ihren täglichen Spaziergängen traf, führte sie gern derartige Gespräche. Ja, man hatte sie am heißen Juninachnmittage gesehen, wie sie auf einem Acker die Steine in ihre seidene Schürze sammelte und an die Seite trug, begleitet von einem großen schwarzen St. Bernhardshunde, der nie von ihrer Seite wich.

Sie mochte sich indessen doch der übernommenen Aufgabe nicht ganz gewachsen fühlen; denn vor etwa einem Vierteljahre war ein Verwalter angelangt; aber es war ein junger, vornehmer Herr, für den der Vater längst ein mehr als doppelt so großes Gut in Bereitschaft hatte. Die Bauern konnten nicht begreifen, was der in der kleinen Wirthschaft profitiren wolle, zumal sie es bald heraus hatten, daß er seine Sache aus dem Fundament verstehe; der Schulmeister meinte freilich, es sei ein weitläufiger Vetter der Baronin; allein der Förster wollte die Anwesenheit des jungen Herrn nicht als verwandtschaftliche Hülfeleistung gelten lassen. Er kniff die Augen ein und sagte geheimnißvoll: „Was einmal in der Stadt geschehen – – – nun Gevatter, Ihr seid ja ein Schulmeister, macht Euch den Satz selber zu Ende!“


2. Im Schloß.

An dem linken Ende der Front neben dem stumpfen Eckthurme führte eine schwere Thüre ins Haus. Rechts hinab, an der gegenüberliegenden breiten Treppenflucht vorbei, auf welcher man in das obere Stockwerk gelangte, zog sich ein langer Corridor mit nackten weißen Wänden. Den hohen Fenstern gegenüber, welche auf den geräumigen Steinhof hinaussahen, lag eine Reihe von Zimmern, deren Thüren jetzt verschlossen waren. Nur das letzte wurde noch bewohnt. Es war ein mäßig großes, düsteres Gemach; das einzige Fenster, welches nach der Gartenseite hinaus lag, war mit schweren, dunkelgrünen Wollgardinen halb verhangen. In der tiefen Fensternische stand eine schlanke Frau in schwarzem Seidenkleide. Während sie mit der einen Hand den Schildpattkamm fester in die schwere Flechte ihres ebenholzschwarzen Haares drückte, lehnte sie mit der Stirn an eine Glasscheibe und schaute wie träumend in den draußen webenden Septembernachmittag hinaus. Vor dem Fenster lag ein etwa zwanzig Schritte breiter Steinhof, welcher den Garten von dem Hause trennte. Ihre tiefblauen Augen, über denen sich ein paar dunkle, dicht zusammen stehende Brauen wölbten, ruhten eine Weile auf den kolossalen Sandsteinvasen, welche ihr gegenüber auf den hohen Säulen des Gartenthores standen. Zwischen den steinernen Rosenguirlanden, womit sie umwunden waren, ragten Federn und Strohhalme hervor. Ein Sperling, der darin sein Nest gebaut haben mochte, hüpfte heraus und setzte sich auf eine Stange des eisernen Garterthors; bald aber breitete er die Flügel aus und flog in dem schattigen Steig entlang, der zwischen hohen Hagebuchenwänden in den Garten hinabführte. Hundert Schritte etwa vor dem Thore wurde dieser Laubgang durch einen weiten sonnigen Platz unterbrochen, in dessen Mitte zwischen wuchernden Astern und Reseda die Trümmer einer Sonnenuhr auf einem kleinen Postamente sichtbar waren. Die Augen der Frau folgten dem kleinen Vogel; sie sah ihn eine Weile auf dem metallenen Weiser ruhen; dann sah sie ihn auffliegen und in dem Schatten des dahinter liegenden Laubganges verschwinden.

Mit leichtem Schritt, daß nur kaum die Seide ihres Kleides rauschte, trat sie in’s Zimmer zurück, und nachdem sie auf einem Schreibtische einige beschriebene Blätter geordnet und weggeschlossen hatte, nahm sie einen Strohhut von dem an der Wand stehenden Flügel und wandte sich nach der Thür. Von einem Teppich neben dem Kamin erhob sich ein schwarzer St. Bernhardshund und drängte sich neben ihr auf den Corridor hinaus. Während sie wie im stillen Einverständniß ihre Hand auf dem schönen Kopf des Thieres ruhen ließ, erreichten beide eine Thür, welche unterhalb der großen Haupttreppe in den schmalen Hof hinausführte. Sie gingen über die mit Gras durchwachsenen Steine und durch das dem Fenster des Wohnzimmers gegenüber liegende Gitterthor in den breiten Gartensteig hinab.

Die Luft war erfüllt von dem starken Herbstdufte der Reseda, welcher sich von dem sonnigen Rondel aus über den ganzen Garten hin verbreitete. Hier an der rechten Seite desselben bildete die Fortsetzung des Buchenganges eine Nachahmung des Herrenhauses: die ganze Front mit allen dazu gehörigen Thür- und Fensteröffnungen, das Erdgeschoß und das obere Stockwerk, sogar der stumpfe Thurm neben dem Haupteingange, Alles war aus der grünen Hecke herausgeschnitten und trotz der jahrelangen Vernachlässigung noch gar wohl erkennbar; davor breitete sich ein Obstgarten von lauter Zwergbäumen aus, an denen hie und da noch ein Apfel oder eine Birne hing. Nur ein Baum schien aus der Art geschlagen; denn er streckte seine vielverzweigten Aeste weit über die Höhe des grünen Laubschlosses hinaus. Die Dame blieb bei demselben stehen und warf einen flüchtigen Blick umher; dann setzte sie den geschmeidigen Fuß in die unterste Gabel des Baumes und stieg leicht von Ast zu Ast, bis die Umgebung der hohen Laubwände ihren Blick nicht mehr beschränkte.

Nach der Seite hin erhob sich der Tannenwald, unmittelbar am Garten, und verdeckte das tiefer liegende Dorf; vor ihr aber war die Schau in’s Land hinaus eine unbegrenzte. Unterhalb des Hochlandes, worauf das Schloß lag, breitete sich nach beiden Seiten eine dunkle Haidestrecke fast bis zum Horizont; in braunviolettem Duft lag sie da; nur an einer Stelle im Hintergrunde standen schattenhaft die Thürme einer Stadt. Die schlanke Frauengestalt lehnte sorglos an einen schwanken Ast, indeß die scharfen Augen in die Ferne drangen. – Ein Schrei aus der Luft herab machte sie emporsehen. Als sie über sich in der sonnigen Höhe den revierenden Falken erkannte, hob sie die Hand und schwenkte wie grüßend ihr Schnupftuch gegen den wilden Vogel. Ihr fiel ein altes Volkslied ein; sie sang es halblaut in die klare Septemberluft hinaus. – Aber unten neben dem auf dem Boden liegenden Sommerhut stand der Hund, die Schnauze gegen den Baum gedrückt, mit den braunen Augen zu seiner Herrin emporsehend. Jetzt kratzte er mit der Pfote an dem Stamme. „Ich komme, Türk, ich komme!“ rief sie hinab; und bald war sie unten und ging mit ihrem stummen Begleiter den hinteren Buchengang hinab, der von dem Rondel aus nach der breiten Lindenallee führte.

Als sie in diese eintrat, kam ihr ein junger, kaum mehr als zwanzigjähriger Mann entgegen, in dessen gebräuntem Antlitz mit der feinen vorspringenden Nase eine Familienähnlichkeit mit ihr nicht zu verkennen war. „Ich suchte Dich, Anna!“ sagte er, indem er der schönen Frau die Hand küßte.

Ihre Augen ruhten mit dem Ausdruck einer kleinen mütterlichen Ueberlegenheit auf ihm, als sie ihn fragte: „Was hast Du, Vetter Rudolph?“

„Ich muß Dir Vortrag halten!“ erwiderte er, während er [147] sie höfisch zu einer in der Nähe stehenden Gartenbank führte. Dann begann er, vor ihr stehend, einen ernsthaften Vortrag über die Drainirung einer kaltgründigen Gutswiese, über die Art, wie dies am zweckmäßigsten in’s Werk zu richten sei, und über die Kosten, die dadurch veranlaßt werden könnten. Er hatte schon eine Zeit lang gesprochen. Sie lehnte sich zurück und gähnte heimlich hinter der vorgehaltenen Hand. Endlich sprang sie auf. „Aber Rudolph,“ rief sie, „ich verstehe von alle dem nichts; Du hast es mir ja selbst erklärt!“

Er runzelte die Stirn. „Gnädige Frau!“ sagte er bittend.

Sie lachte. „So sprich nur; ich habe schon Geduld!“

Dann brachte er’s zu Ende. – Sie reichte ihm die Hand und sagte herzlich: „Du bist ein gewissenhafter Verwalter, Rudolph; aber ich werde mich nach einem andern umsehen müssen, ich kann dies Opfer nicht länger von Dir fordern.“

Ein leidenschaftlicher Blick traf sie aus seinen Augen.

„Es ist kein Opfer,“ sagte er, „Du weißt es wohl.“

„Nun, nun! Ich weiß es,“ erwiderte sie ruhig, „Du bist ja sogar als zehnjähriger Knabe mein getreuer Ritter gewesen. – Bestelle mir nur den Rappen; wir können gleich miteinander zur Wiese hinabreiten.“

Er ging; und sie sah ihm nachdenklich und leise mit dem Kopfe schüttelnd nach.

Bald waren Beide zu Pferde. Der junge Reiter suchte an ihrer Seite zu bleiben; aber sie war ihm immer um einige Kopfeslängen voraus. Sie ließ den Rappen ausgreifen, der Schaum flog von den Ketten des Gebisses, während der Hund in großen Sätzen nebenher sprang. Ihre Augen schweiften in die Ferne, über die braune Haide, auf der sich schon die Schatten des Abends zu lagern begannen. – – – –

Einige Stunden später saß sie wieder allein in ihrem Zimmer am Schreibtisch, die am Nachmittage weggeschlossenen Blätter vor sich. Neben ihr auf seinem Teppich ruhte Türk. – Von der Lampe beleuchtet erschien ihre nicht gar hohe Stirn gegen die Schwärze des schlicht zurückgestrichnen Haars von fast durchsichtiger Weiße. Sie schrieb nur langsam; mitunter ließ sie die Feder gänzlich ruhen und blickte vor sich hin, als suchte sie die Gestalten ferner Dinge zu erkennen. Sie gedachte einer Novembernacht, da sie zum letzten Mal vor ihrem gegenwärtigen Aufenthalt das Schloß betreten hatte. – Der Brief des Oheims, der ihr die Nachricht von der tödtlichen Erkrankung ihres Vaters in die Residenz brachte, trug auf dem Couverte einen mehrere Tage alten Poststempel. Eilig war sie abgereist; nun dämmerte schon der zweite Abend, und die Wälder und Fluren an der Seite des Weges wurden allmählich ihr bekannter. Schon machte aus der Dunkelheit die Nähe des letzten Dorfes sich bemerklich; sie hörte die Hunde bellen und spürte den Geruch des Haidebrennens. An einem kleinen Hause in der Dorfstraße hielt der Wagen. Ihre Jungfer stieg ab, der sie erlaubt hatte, bei ihren dort wohnenden Eltern bis zum andern Morgen zu bleiben. Dann ging es weiter; sie hatte sich in die Wagenecke gedrückt und zog fröstelnd den Mantel um ihre Schultern. Vor ihrem innern Auge war die Gestalt ihres Vaters, sie sah ihn, wie er in der letzten Zeit ihres Zusammenlebens zu thun pflegte, im Zwielicht in dem öden Rittersaale mit seinem Rohrstock auf und ab wandern; den weißen Kopf gesenkt, nur zuweilen vor einem der alten Bilder stehen bleibend oder aus den schwarzen Augen von unten auf einen Blick zu ihr hinüberwerfend. – Es war ganz finster geworden, die Pferde gingen langsam; aber sie wagte nicht den Postillon zum Schnellerfahren zu ermuntern. Eine unbewußte Scheu schloß ihr den Mund, es war ihr fast lieb, daß der Augenblick der Ankunft sich verzögerte. Immer aber, wenn sie die Augen schloß, sah sie die kleine hagere Gestalt an sich vorüberwandern, und unter dem Wehen des Windes war es ihr, als höre sie den bekannten abgemessenen Schritt und das Aufstoßen des Rohrstocks auf den Fußboden. – – Als die Ulmenallee erreicht war, welche über die Brücke nach dem Schloßhof führte, vernahm sie das Schlagen der Thurmuhr, deren Regulirung die alte Excellenz immer selbst überwacht hatte. Sie athmete auf und lehnte sich aus dem Wagen. Eine ungewohnte Helligkeit blendete ihre Augen, als sie in den Hof einfuhren. Die ganze obere Front des Gebäudes schien erleuchtet. Der Wagen rasselte über das Steinpflaster und hielt vor der Eingangsthür neben dem Thurm; der Postillon klatschte mit der Peitsche, daß es an den Mauern des alten Rittersaals wiederklang; aber es kam Niemand. Nach einer Weile vergeblichen Wartens ließ die zitternde Frau sich den Schlag öffnen und bezeichnete ihrem Fuhrmann einen Raum, worin er seine Pferde zur Nacht unterbringen könne. Dann stieg sie aus und trat, nachdem sie die schwere Thür zurückgedrängt, in den großen Corridor des Erdgeschosses. Einige Augenblicke blieb sie stehen und blickte unentschlossen um sich her. Auf den Geländersäulen der breiten Treppe, die in das obere Stockwerk führte, brannten Wachskerzen in schweren silbernen Leuchtern. – Sie beugte sich vor und lauschte; aber es war Alles still. Leise, kaum aufzutreten wagend, begann sie die Stufen hinanzusteigen. Da war ihr, als höre sie droben auf dem Flur die Thür zum Rittersaale knarren; und gleich darauf kam es ihr entgegen, die Treppe herab. Sie sah es nun auch, es war der Hund ihres Vaters; sie rief ihn bei Namen; aber das Thier hörte nicht darauf, er jagte an ihr vorbei auf den Corridor hinab und entfloh durch die offene Thür in’s Freie. – – Erst jetzt fiel ihr ein dumpfer Geruch von Rauchwerk auf. Sie stieg langsam die letzten Stufen in dem hellen Treppenhause hinauf, bis sie den oberen Flur erreicht hatte. Die Thür des Rittersaals stand offen; in der Mitte des weiten Raums sah sie zwei Reihen brennender Kerzen auf hohen Gueridons; dazwischen wie ein Schatten lag ein schwarzer Teppich. Aber es war Niemand drinnen; nur die Bilder verschollener Menschen standen wie immer schweigend an den Wänden. Die gegenüberliegende Thür zu des Oheims Zimmer war weit geöffnet, und auch dort schienen Kerzen zu brennen. Zögernd trat sie über die Schwelle in den Saal; aber von Scheu befangen blieb sie zunächst der Thür in einer Fensternische stehen. Als sie durch die Scheiben einen Blick in das Dunkel hinauswarf, sah sie drüben jenseits der Tannen, von dort, wo der Kirchhof lag, einen rothen Schein am Himmel lodern. – – Sie wußte es nun, sie war zu spät gekommen; unwillkürlich mußte sie die Augen in den leeren Saal zurückwenden Die Kerzen brannten leise knisternd weiter; nur mitunter, wo der Sarg mochte gestanden haben, lief ein Krachen über die Dielen, als drängte es sie, sich von der unheimlichen Last zu erholen, die sie hatten tragen müssen. – Es war nicht Trauer, es war nur Grauen, das sie empfand. – – – – – – – –

Aber ihre Gedanken waren ihrer Feder weit voraus.


3. Die beschriebenen Blätter.

Ich will es niederschreiben, mir zur Gesellschaft; denn es ist einsam hier, einsamer noch, als es schon damals war. Sie sind alle fort; es ist nur Täuschung, wenn ich draußen im Corridor mitunter das Husten der Tante Ursula oder die Krücke des kleinen Kuno zu vernehmen glaube. Es war ein goldner Herbsttag, als wir das Kind begruben; die Leute aus dem Dorfe standen alle umher mit jener schauerigen Neugier, die wenigstens den letzten Zipfel vom Leilaken des Todes noch in die Grube schlüpfen sehen will. – Dann, als ich fern war, starb die Tante, und dann mein Vater. Wie oft habe ich heimlich in seinen Augen geforscht, was wohl im Grund der Seele ruhen möge, aber ich habe es nicht erfahren; mir war, als hielten jene ausgeprägten Muskeln seines feinen Antlitzes gewaltsam das Wort der Liebe nieder, das zu mir drängte und niemals zu mir kam. – Droben im Rittersaal hängen noch die Bilder; die stumme Gesellschaft verschollener Männer und Frauen schaut noch wie sonst mit dem fremdartigen Gesichtsausdruck aus ihren Rahmen in den leeren Saal hinein; aber aus dem dahinter liegenden Zimmer läßt sich jetzt weder das Pfeifen des Dompfaffen, noch das Gekrächze Don Pedro’s, des lahmen Staarmatzes, vernehmen; der gute Oheim mit seinen harten Worten und seinem weichen Herzen, mit seinem todten und lebendigen Gethier hat es seit lange verlassen. Aber er lebt noch; er wird vielleicht zurückkehren, wenn es Frühling wird; und ich werde wieder, wie damals, meine Zuflucht in dem abgelegenen Zimmer suchen.

Damals! – – Ich bin immer ein einsames Kind gewesen; seit der Geburt des kleinen Kuno steigerte sich die Kränklichkeit meiner Mutter, so daß ihre Kinder nur selten um sie sein durften. Nach ihrem Tode siedelten wir hier hinüber. In der Stadt hatten wir, wie hergebracht, nur die Etage eines großen Hauses bewohnt; jetzt hatte ich ein ganzes Schloß, einen großen, seltsamen Garten und unmittelbar dahinter einen Tannenwald. Auch Freiheit hatte ich genug; der Vater sah mich meistens nur bei Tisch, wo wir Kinder schweigend unser Mahl verzehren mußten; die [148] Tante Ursula war eine gute förmliche Dame, die nicht gern ihren Platz dort in der Fensternische verließ, wo sie ihre saubern Strick- und Filetarbeiten für ferne und nahe Freunde verfertigte; hatte ich meinen Saum genäht und meine Lafontainesche Fabel bei ihr aufgesagt, so warf sie höchstens einen Blick durch’s Fenster, wenn ich mit dem grauen Windspiel meines Vaters zwischen den Buchenhecken des Gartens hinabrannte.

Spielgenossen hatte ich keine, mein Bruder war fast acht Jahre jünger als ich, und die von Adelsfamilien bewohnten Güter lagen sehr entfernt. Von den bürgerlichen Beamten aus der Stadt waren im Anfang zwar Einzelne mit ihren Kindern zu uns gekommen, da wir jedoch ihre Besuche nur selten und flüchtig erwiderten, so hatte der kaum begonnene Verkehr bald wieder aufgehört. – Aber ich war nicht allein, weder in den weiten Räumen des Schlosses, noch draußen zwischen den Hecken des Gartens oder den aufstrebenden Stämmen des Tannenwaldes; der „liebe Gott“, wie ihn die Kinder haben, war überall bei mir. Aus einem alten Bilde in der Kirche kannte ich ihn ganz genau, ich wußte, daß er ein rothes Unterkleid und einen weiten blauen Mantel trug; der weiße Bart floß ihm wie eine sanfte Welle über die breite Brust herab. Mir ist, als sähe ich mich noch mit dem Oheim drüben in den Tannen; es war zum ersten Mal, daß ich über mir das Sausen des Frühlingswindes in der Krone eines Baumes hörte. „Horch!“ rief ich und hob den Finger in die Höhe, „da kommt er!“ – „Wer denn?“ – „Der liebe Gott!“ – Und ich fühlte, wie mir die Augen groß wurden; mir war, als sähe ich den Saum eines blauen Mantels durch die Zweige wehen. – Noch viele Jahre später, wenn Abends in meinem Kissen der Schlaf mich überkam, war mir, als läge ich mit dem Kopf in seinem Schooß und fühlte seinen sanften Athem an meiner Stirn.

Mein Lieblingsaufenthalt im Hause war der große Rittersaal, der das halbe obere Stockwerk in seiner ganzen Breite einnimmt. Leise und nicht ohne Scheu vor der schweigenden Gesellschaft drinnen schlich ich mich hinein; über dem Kamin im Hintergrund des Saales, von Marmor in Basrelief gehauen, ist der Krieg des Todes mit dem menschlichen Geschlechte dargestellt. Wie oft habe ich davor gestanden und mit neugierigem Finger die steinernen Rippchen des Todes nachgefühlt! – Vor Allem zogen mich die Bilder an, auf den Zehen ging ich von einem zu dem andern; nicht müde konnte ich werden, die Frauen in ihren seltsamen rothen und feuerfarbenen Roben, mit den Papageien auf der Hand oder dem Mops zu ihren Füßen wieder und wieder zu betrachten, deren grelle braune Augen so eigen aus den blassen Gesichtern herausschauten, so ganz anders, als ich es bei den lebenden Menschen gesehen hatte. Und dann dicht neben der Eingangsthür das Bild des Ritters mit dem bösen Gewissen und dem schwarzen, krausen Bart, von dem es hieß, er werde roth, sobald ihn Jemand anschaue. Ich habe ihn oftmals angeschaut, fest und lange; und wenn, wie mir es schien, sein Gesicht ganz mit Blut überlaufen war, so entfloh ich und suchte des Oheims Thür zu erreichen. Aber über dieser Thür war ein anderes Bild, es mochten die Portraits von Kindern sein, die vor einigen hundert Jahren hier gespielt hatten; in steifen, brocatnen Gewändern mit breiten Spitzenkragen standen sie wie die Kegel neben einander, Knaben und Mädchen, Eines immer kleiner als das Andere. Die Farben waren verkalkt und ausgeblichen, und wenn ich unter dem Bilde durch die Thür lief, war es mir, als blickten sie Alle aus den kleinen begrabenen Gesichtern mit ihren beerschwarzen Augen auf mich herab. War dann der Oheim in seinem Zimmer, so flog ich auf ihn zu, und er, von seinen Büchern auffahrend, schalt mich dann wohl und rief: „Was ist? Sind Dir die albernen Bilder schon wieder einmal auf den Hacken?“

Großes Bedenken hatte es für mich, in der Dämmerung durch den Saal zu kommen. Zum Glück waren die sich gegenüberstehenden Thüren an der Gartenseite, die Fenster sahen hier nach Westen, und der Abendschein stand tröstlich über dem Tannenwalde. In des Oheims Zimmer waren dann die Vogelstimmen schlafen gegangen; nur draußen vor dem Fenster wurde der Kauz in seinem großen Käfich nun lebendig. Der Oheim saß dann wohl mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl, während das Abendroth friedlich durch die Fenster leuchtete. Aber ich wußte ihn zum Sprechen zu bringen; ich ließ mich nicht abweisen, bis er mir das Märchen von der Frau Holle oder die Sage vom Freischützen erzählte, an der ich mich nie ersättigen konnte. Einmal freilich, als die Geschichte eben im besten Zuge war, stand er auf und sagte: „Aber, Anna, glaubst Du denn all’ das dumme Zeug? – Wart nur ein wenig,“ fuhr er fort, indem er seine Schiebelampe anzündete, „Du sollst etwas hören, was noch viel wunderbarer ist.“ Dann haschte er eine Fliege und, nachdem er sie getödtet, legte er sie vor uns auf den Tisch. „Betrachte sie einmal genau!“ sagte er. „Siehst Du an ihrem Körperchen die silbernen Pünktchen auf dem schwarzen Sammetgrunde, die zwei schönen Federchen an ihrem Kopf?“ Und während ich seiner Anweisung folgte, begann er mir den kunstreichen Bau dieses verachteten Thierchens zu erklären. Aber ich langweilte mich; die Wunder der Natur hatten keinen Reiz für mich nach den phantastischen Wundern der Märchenwelt. – – –

Indessen war ich unmerklich herangewachsen; und wenn ich, was selten genug geschah, einmal vor meinem Spiegel stand, so schaute mir eine schmächtige Gestalt mit einem gelben scharfgeschnittenen Gesicht entgegen. Zwar bemerkte ich die auffallende Bläue meiner Augen; im Uebrigen aber hatte dies zigeunerische Wesen mit dem ebenholzschwarzen Haar keineswegs meinen Beifall. Mein Aussehen kümmerte mich indessen wenig. Ich war über die Bibliothek meines Vaters gerathen, in der sich eine Anzahl schönwissenschaftlicher Bücher aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts befand. Ich begann zu lesen, und bald befiel mich eine wahre Lesewuth; ich kauerte mit meinen Büchern in den heimlichsten Winkeln des Hauses oder des Gartens und hatte ein paar Mal eine strenge Rüge meines Vaters zu erdulden, weil ich nicht gehört, daß ich zu Tisch gerufen wurde.

Eines Nachmittags war ich draußen, mein Lesefutter in der Tasche, in eine der oberen Fensterhöhlen des Laubschlosses hineingeklettert und hatte es mir auf dem flach geschorenen Gezweig bequem zu machen gewußt. Ich saß im Schatten, die grüne Blätterwölbung über mir, und hatte mich bald in ein Bändchen von Musäus’ Volksmärchen vertieft, während unten in der Mitte des Rondels die heiße Junisonne kochte. Plötzlich kam die Stimme des Oheims in meine Märchenwelt hinein. Als ich hinabblickte, sah ich ihn zwischen den Zwergbäumchen stehen und, die Augen mit der Hand beschattend, zu mir hinaufreden. „So?“ rief er, „es wird sich wohl Niemand darum kümmern, wenn Du hier das Genick brichst?“

„Ich breche ja nicht das Genick, Onkel!“ rief ich hinunter, „es sind lauter alte vernünftige Bäume!“

Aber er ließ sich nicht beruhigen; er holte eine Gartenleiter, stieg zu mir hinauf und überzeugte sich selbst von der Sicherheit meines luftigen Sitzes. „Nun,“ sagte er, nachdem er noch einen kurzen Blick in mein Buch geworfen hatte, „Du bist ja doch nicht zu hüten; spinne nur weiter, Du wilde Katz!“ – –

Um dieselbe Zeit war es, daß eine seltsame Schwärmerei von mir Besitz nahm. Im Rittersaal auf dem Bilde oberhalb der Thür befand sich seitab von den reichgekleideten Kindern noch die Gestalt eines etwa zwölfjährigen Knaben in einem schmucklosen braunen Wams. Es mochte der Sohn eines Gutsangehörigen sein, der mit den Kindern der Schloßherrschaft zu spielen pflegte; auf der Hand trug er, vielleicht zum Zeichen seiner geringen Herkunft, einen Sperling. Die blauen Augen blickten trotzig genug unter dem schlicht gescheitelten Haar heraus; aber um den fest geschlossenen Mund lag ein Zug des Leidens. Früher hatte ich diese unscheinbare Gestalt kaum bemerkt; jetzt wurde es plötzlich anders. Ich begann der möglichen Geschichte dieses Knaben nachzusinnen; ich studirte in Bezug auf ihn die Geschichte seiner vornehmen Spielgenossen. Was war aus ihm geworden, war er zum Manne erwachsen und hatte er später die Kränkungen gerächt, die vielleicht jenen Schmerz um seine Lippen und jenen Trotz auf seine Stirn gelegt hatten? – Die Augen sahen mich an, als ob sie reden wollten; aber der Mund blieb stumm. Ein schwermüthiges, mir selber holdes Mitgefühl bewegte mein Herz; ich vergaß es, daß diese jugendliche Gestalt nichts sei, als die wesenlose Spur eines vor Jahrhunderten vorübergegangenen Menschenlebens. So oft ich in den Saal trat, war mir, als fühle ich die Augen des Bildes auf meinen Lidern, bis ich emporsah und den Blick erwiderte; und Abends vor dem Einschlafen war es nun nicht sowohl das Antlitz des lieben Gottes, als viel öfter noch das blasse Knabenantlitz, das sich über das meine neigte. Einmal, da der Oheim über Feld war, trat ich aus seinem Zimmer, wo ich die Fütterung des Käuzchens besorgt hatte. Während ich durch den Saal ging, wandte [149] ich den Kopf zurück und sah das Bild oberhalb der Thür von der Nachmittagssonne beleuchtet, die durch die naheliegenden hohen Fenster schien. Das Gesicht des Knaben trat dadurch in einer Lebendigkeit hervor, wie ich es bisher noch nicht gesehen, und mich erfaßte plötzlich eine unwiderstehliche Sehnsucht, es in nächster Nähe zu betrachten. Ich horchte, ob Alles still sei; dann schleppte ich mit Mühe drei an den Wänden stehende Tische vor des Oheims Thür und thürmte sie auf einander, bis ich die Höhe des Bildes erreicht hatte. Während ich mitunter einen scheuen Blick über die schweigende Gesellschaft an den Wänden gleiten ließ, mit der ich mich in dem großen Raume eingeschlossen hatte, kletterte ich mit Lebensgefahr hinauf. Als ich oben stand, wallte mein Blut so heftig, daß ich das laute Klopfen meines Herzens hörte. Das Angesicht des Knaben war gerade vor meinem eigenen; aber die Augen lagen schon wieder im Schatten; nur die rothen, festgeschlossenen Lippen waren noch von der Sonne beleuchtet. Ich zögerte einen Augenblick, ich fühlte, wie mir der Athem schwer wurde, wie mir das Blut mit Heftigkeit in’s Gesicht schoß; aber ich wagte es und drückte leise meinen Mund darauf. – Zitternd, als hätte ich einen Raub begangen, kletterte ich wieder hinab und brachte die Tische an ihre Stelle.

[161] Dies Alles hatte ein plötzliches Ende. An meinem vierzehnten Geburtstag kündigte mein Vater mir an, daß ich die nächsten drei Jahre bis nach meiner Einsegnung, die dort erfolgen solle, bei der Tante in einer großen Stadt sein würde. – Und so geschah es. Ich war wieder, wie in den ersten Jahren meiner Kindheit, auf den Raum einiger Zimmer beschränkt, ohne Wald, ohne Garten, ohne ein Plätzchen, wo ich meine Träume spinnen konnte. Ich sollte Alles lernen, was ich bisher nicht gelernt hatte, ich wurde dressirt von innen und außen, und die Tante, unter deren Augen ich jetzt mein ganzes Leben führte, war eine strenge Frau, die von den gesetzlichen Formen kein Titelchen herunterließ. Der Einzige, der etwas über sie vermochte, war vielleicht der kleine Rudolph, dessen allzu leidenschaftliche Anhänglichkeit mich gegenwärtig zu beunruhigen beginnt. Mit ihm vereint, gelang es mitunter, uns zu einer gemeinschaftlichen Wanderung in die Anlagen vor der Stadt los zu bitten. – Der Aufenthalt wurde mir erst erträglicher, als der Musikunterricht mir größere Theilnahme abgewann und als ich durch Vermittelung meines Lehrers die Erlaubniß erhielt, einem Gesangverein beizutreten. Dann und wann kam ein kurzer förmlicher Brief meines Vaters, der mich ermahnte, in Allem der Tante Folge zu leisten, oder ein längerer des Oheims, der kaum etwas Anderes enthielt, als das Gegentheil, bisweilen freilich auch einen Bericht über Schloß und Garten, der mich mit Heimweh nach diesen einsamen Orten erfüllte. – Endlich war der dreijährige Zeitraum verflossen; Tante Ursula und mein Vater kamen um mich nach Hause zu holen, und Rudolph’s Mutter übergab mich ihnen als ein nicht ganz mißlungenes Werk ihrer Erziehung. Auch mein Bruder Kuno hatte die Reise mitgemacht, er war gewachsen, aber er sah blaß und leidend aus, und es schnitt mir in’s Herz, als bei der Ankunft eine kleine Krücke mit ihm vom Wagen gehoben wurde. Wir waren bald vertraute Freunde; auf dem Heimwege saß er zwischen mir und der Tante und ließ meine Hand nicht aus der seinen.

An einem klaren April-Nachmittage langten wir zu Hause an. Schon als wir über die Brücke in den Hof einfuhren, sah ich den Oheim neben dem Thurme in der Thür stehen. Er war barhäuptig, wie gewöhnlich; sein volles graues Haar schien in der Zwischenzeit nicht bleicher geworden. „Nun, da bist Du ja!“ sagte er trocken und reichte mir die Hand. Als wir hier im Wohnzimmer waren und ich mich aus meinen Umhüllungen herausgeschält hatte, ließ er einen mißtrauischen Blick über meine modische Kleidung gleiten. „Wie willst Du denn mit den Fahnen in die Bel-Etage Deines Gartenschlosses hinaufkommen?“ sagte er, indem er den Saum meiner weiten Aermel mit dem Fingerspitzen faßte, „Und ich hab’ es eben expreß für Dich putzen lassen.“

Aber seine Besorgniß war überflüssig; das Wesen, das in den Kleidern mit Volants und Spitzen steckte, war dem Kerne nach kein anderes, als das in den knappen Kinderkleidern. Es ließ mir keine Ruhe; mit Entzücken lief ich in den Garten, wo eben das junge Grün an den Buchenhecken hervorsprang, durch das Hinterpförtchen in den Tannenwald und von dort wieder zurück in’s Haus. Ich flog die breite Treppe hinauf; es kam mir Alles so groß und luftig vor. Dann begrüßte ich die altfränkischen Herren und Damen im Rittersaal; aber ich trat unwillkürlich leiser auf, es war mir doch fast unheimlich, daß sie nach so langer Zeit noch ebenso wie sonst mit ihren grellen Augen in den Saal hinein schauten. Droben über der Thür neben den kleinen Grafenkindern stand noch immer der Knabe mit dem Sperling; aber mein Herz blieb ruhig. Ich ging achtlos, und ohne seinen trotzigen Blick zu erwidern, unter dem Bilde durch in das Zimmer des Oheims. Da saß er wieder wie sonst in seinem alten Lehnstuhl unter seinen Büchern und seinem lebenden und todten Gethier; Don Pedro, der lahme Staarmatz, krächzte noch ganz in alter Weise, als ich den Finger durch die Stangen seines Käfigs steckte, und auch draußen vor dem Fenster saß wieder ein Käuzchen in einem großen hölzernen Bauer und schaute träumend in den Tag. Der Oheim hatte seine Bücher fortgelegt, und während ich die bekannten Dinge eines nach dem andern wieder begrüßte, fühlte ich bald, wie seine grauen Augen mit der alten Innigkeit auf mich gerichtet waren.

Als ich nach einer Weile in die Wohnstube hinabkam, saß Tante Ursula schon wieder strickend in ihrer Fensternische, und nebenan in seinem Zimmer sah ich durch die offene Thür meinen Vater, über seine Correspondenzen und Zeitungen gebückt. So war denn Alles noch beim Alten; nur eine Vermehrung unserer Hausgenossenschaft stand bevor, da noch am selben Abend ein junger Mann erwartet wurde, der von meinem Vater auf die Empfehlung eines Gymnasial-Directors als Lehrer für den kleinen Kuno engagirt war. Er hatte Philologie und Geschichte studirt und sich nach einem längern Aufenthalt in Italien dem akademischen Lehrfach widmen wollen, war aber durch äußere Umstände zu einer vorläufigen Annahme dieser Privatstellung genöthigt worden. Außer seinen sonstigen Kenntnissen sollte er, was besonders mich interessiren mußte, ein durchgebildeter Klavierspieler sein.

Ich sah ihn zuerst am folgenden Tage, da er unten an der Mittagstafel neben seinem Zögling saß. Das blasse Gesicht mit den raschblickenden Augen kam mir bekannt vor; aber ich sann [162] umsonst über eine Aehnlichkeit nach. Während er die Fragen meines Vaters über seinen Aufenthalt in der Fremde beantwortete, strich er mitunter mit einer leichten Kopfbewegung das schlichte braune Haar an der Schläfe zurück, als wolle er dadurch ein tiefes inneres Sinnen mit Gewalt zurückdrängen. Nach Beendigung des Mittagsessens brachte mein Vater das Gespräch auf Musik und bat ihn, bisweilen meinem Gesange mit seinem Accompagnement zu Hülfe zu kommen.

Obgleich aber dies mit Bereitwilligkeit zugesagt wurde, so verflossen doch einige Wochen, ohne daß ich mich dieser Abrede erinnert hätte; überhaupt bekümmerte ich mich um den neuen Hausgenossen nicht weiter, als daß ich ihn zu Mittag und bei dem gemeinschaftlichen Abendthee in der herkömmlichen Weise begrüßte. Eines Nachmittags aber war mit einer jungen Dame aus der Stadt, mit der ich zuweilen zu singen pflegte, eine Sendung neuer Musikalien angelangt. Wir hatten ein Duett von Schumann hervorgesucht; aber die eigensinnige Begleitung ging über unsere Kräfte. „Wir wollen den Lehrer bitten,“ sagte ich und schickte den Diener nach dessen Zimmer.

Er kam nach einer Weile zurück: „Herr Arnold könne augenblicklich nicht, werde aber sobald wie möglich die Ehre haben.“ So mußten wir denn warten; ich sah nach der Uhr, eine Minute nach der andern verging, es war schon über eine Viertelstunde. Wir hatten uns eben wieder selbst daran gemacht, da ging die Thüre, und Arnold trat herein. „Ich bedauere, meine Damen, die Stunde des Kleinen war noch nicht zu Ende.“

Ich erwiderte hierauf nichts. – „Wollten Sie die Güte haben?“ sagte ich und zeigte auf das aufgeschlagene Notenblatt.

Er trat einen Schritt zurück. „Darf ich bitten, mich der Dame vorzustellen?“

„Herr Arnold!“ sagte ich leicht hin und ohne aufzublicken; ich nannte den Namen des jungen Mädchens nicht, ich wollte es nicht.

Er sah mich an. Ein überlegenes Lächeln glitt über sein Gesicht, und die leicht aufgeworfenen Lippen zuckten unmerklich. „Fangen wir an!“ sagte er dann, indem er sich auf das Tabouret setzte und mit Sicherheit die einleitenden Takte anschlug. Dann setzten wir ein; nicht eben geschickt, ich vielleicht am wenigsten; nur die Sicherheit des Klavierspielers hielt uns. Als wir aber bis etwa auf die Mitte des Stückes gekommen waren, hielt er inne. „Ancora!“ rief er, indem er mit der flachen Hand die Noten bedeckte; „aber jede Stimme einzeln! – Sie, mein Fräulein, – ich darf mir vielleicht Ihren Namen erbitten“

Die junge Dame nannte ihn.

„Wollen Sie den Anfang machen!“ – Und nun begann, bald auch mit mir, eine strenge Uebung; unerbittlich wurde jeder Einsatz und jede Figur wiederholt, wir sangen mit heißen Gesichtern, es war, als seien wir völlig in der Gewalt unseres jungen Meisters. Mitunter fiel er selbst mit seiner milden Baritonstimme ein, und allmählich trat das Musikstück auch in seinen einzelnen Thesen immer klarer hervor, bis wir es endlich unaufgehalten bis zu Ende sangen.

Als er sich lächelnd zu uns wandte, stand mein Vater hinter ihm, der unvermerkt herangetreten war. Das etwas abgespannte Gesicht des alten Herrn, der für Musik kein besonderes Interesse hatte, nahm sich zu der herkömmlichen Freundlichkeit zusammen. „Bravo, mein lieber Herr Arnold,“ sagte er, indem er den jungen Mann auf die Schulter klopfte, „Sie haben den Damen heiß gemacht; aber Sie sollten uns auch nun selbst noch etwas singen!“

Arnold, der noch die eine Hand auf den Tasten hatte, setzte sich wieder und begann eines jener italienischen Volkslieder, in denen die Klage um den Glanz der alten Zeit wie ein ruheloser Geist umgeht. Mein Vater blieb noch einige Augenblicke stehen; dann wandte er sich ab und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken waren längst bei andern Dingen, vielleicht bei dem Bildniß des Königs, das er durch Vermittelung eines einflußreichen Freundes als Geschenk der Majestät zu empfangen Hoffnung hatte. Statt seiner war der kleine Kuno mit seiner Krücke an’s Klavier geschlichen und lehnte sich schweigend an seinen Lehrer. Dieser legte unter dem Spielen den Arm um ihn und sang so das Lied zu Ende. – „Hörst Du das gern, mein Junge?“ fragte er, und als der Knabe nickte und mit zärtlichen Augen zu ihm aufsah, nahm er ihn auf den Schooß und sang halblaut, als solle es dem Kleinen ganz allein gehören, das liebe deutsche Lied: „So viel Stern’ am Himmel stehen!“

Aber ob mit oder ohne seinen Willen, auch für mich war es gesungen. Er sang es später noch oft für mich; denn unmerklich bildete sich seit diesem Tage ein freundlicher Verkehr zwischen uns. Es war aber nicht nur die Musik, die uns zusammenführte, der kleine Kuno hatte bald seine Liebe zwischen mir und seinem Lehrer getheilt und veranlaßte uns dadurch zu mannigfachem Beisammensein in und außerhalb des Hauses.


Eines Tages im Juli waren der Oheim, Arnold und ich mit dem Knaben in der Stadt, um uns nach einem Rollstühlchen für ihn umzuthun, denn das Gehen wurde ihm oftmals schwer. Da unser Geschäft bald besorgt war, so nahmen wir auf Arnold’s Vorschlag einen etwas weitern Rückweg, der am Saume eines schönen Buchenwaldes entlang führte. Hinter demselben in einem Dorfe ließen wir den Wagen halten und wandelten miteinander die Straße hinab zwischen den meist großen strohgedeckten Bauerhäusern. Nach einer Weile bog Arnold wie zufällig in einen Fußweg ein, welcher zwischen zwei mit Nußgebüsch und Brombeerranken bewachsenen Wällen entlang führte. Wir Andern folgten ihm; Kuno hatte seine Augen auf den Hummeln und Schmetterlingen, welche im Sonnenschein um die am Wege stehenden Disteln schwärmten. Es dauerte indeß nicht lange, so hörten zu beiden Seiten die Wälle auf, und vor uns in einer weiten Busch- und Wieseneinsamkeit lag ein stattlicher Bauerhof. Unter einer Gruppe dunkelgrüner Eichen erhob sich das Gebäude mit dem mächtigen fast bis zur Erde reichenden Strohdache, die braungetünchte Giebelseite uns entgegen, aus der die weißgestrichenen Fenster freundlich hervorleuchteten.

„In jenem Hause“, sagte Arnold, „bin ich als Knabe oft gewesen, und weil es mir hier wie fast nirgend in der Welt gefallen hat, so wünschte ich, daß auch Sie es einmal sähen.“

Der Oheim nickte. „Wer ist denn der Besitzer jenes schönen Gutes?“

„Es ist der Schutze Hinrich Arnold.“

„Hinrich Arnold?“

„Ja, der Bauer auf diesem Gute heißt allzeit Hinrich Arnold.“

„Aber,“ sagte ich jetzt, „heißen Sie denn nicht auch so?“

„Die ältesten Söhne aus dieser Familie tragen alle diesen Namen,“ erwiderte er, „auch bei dem Zweige derselben, der in die Stadt übergesiedelt ist. Der Vater des gegenwärtigen Besitzers war der Bruder des meinigen.“

Mittlerweile waren wir bei dem Hause angelangt; Durch das offenstehende Eingangsthor am andern Ende des Gebäudes führte uns Arnold auf die große, die ganze Länge desselben einnehmende Diele, an deren beiden Seiten sich die jetzt leerstehenden Stallungen für das Vieh befanden. Ein leichter Rauchgeruch empfing uns in dem dämmrigen Raume. Im Hintergrunde, wo vor den Thüren der Wohnzimmer sich die Diele erweiterte und durch niedrige Seitenfenster erhellt war, saß neben einem am Boden spielenden kleinen Knaben eine alte Frau in der gewöhnlichen Bauertracht von dunklem eigengemachtem Zeuge, das graue Haar unter die schwazseidne Kappe zurückgestrichen. Als wir näher getreten waren, stand sie langsam auf und musterte uns gelassen mit ein paar grauen Augen, die unter noch schwarzen Brauen kräftig aus dem gebräunten Gesicht hervorsahen. „Sieh, sieh, Hinrich!“ sagte sie nach einer Weile, indem sie unserm jungen Freunde die Hand schüttelte, scheinbar ohne uns Andern weiter zu beachten.

„Das ist meine Großmutter,“ sagte dieser, „da meine Eltern nicht mehr leben, meine nächste Blutsfreundin.“ Dann bedeutete er ihr, wer wir seien, und sie reichte nun auch uns der Reihe nach die Hand.

Während sie halb mitleidig, halb musternd auf die Krücke des kleinen Kuno blickte, fragte Arnold: „Ist denn der Schulze zu Haus, Großmutter?“

„Sie heuen unten auf den Wiesen“, erwiderte sie.

„Und Ihr,“ sagte mein Onkel, „wartet indessen vermuthlich den jüngsten Hinrich Arnold?“

„Das mag wohl sein,“ erwiderte sie, indem sie die Thür des einen Zimmers öffnete, „so ein abgenutzter alter Mensch muß sehen, wie er sein bischen Leben noch verdient.“

„Die Großmutter,“ sagte Arnold, als wir hineingetreten waren, „kann es nicht lassen, den Jüngeren behülflich zu sein. – [163] Aber,“ fuhr er zu dieser fort, „Ihr wißt es wohl, dem Schulzen ist es schon eine Freude, daß Ihr noch da seid, und daß er und die Kinder Euch noch sehen, wenn sie von der Arbeit heimkommnen.“

„Freilich, Hinrich, freilich,“ erwiderte die Alte, „aber es erträgt Einer doch nicht allezeit, daß der Andere so überzählig nebenhergeht.“ – Sie hatte währenddeß zu dem Antlitz, ihres Enkels emporgeblickt. „Du siehst mir schwach aus, Hinrich,“ sagte sie, „das kommt von all dem Bücherlesen. – Er hätte es besser haben können,“ fuhr sie dann zu uns gewendet fort, „denn sein Vater war doch der Aelteste zum Hof, und er war wieder der Aelteste. Aber der Vater wurde studirt, da muß nun auch der Sohn bei fremden Leuten herum sein Brod verdienen.“

Der Oheim sandte ihr einen beobachtenden Blick nach, als sie bei diesen Worten aus der Thür ging. Bald aber kam sie mit einigen Gläsern Buttermilch zurück, die Arnold für uns erbeten hatte.

In der Stube, die nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt schien, stand eine Reihe sehr großer Tragkisten an den Wänden, grün oder roth gestrichen mit blankem Messingbeschlag, die eine auch mit leidlicher Blumenmalerei versehen, so daß fast nur auf der unter dem Fenster hinlaufenden Bank sich Platz zum Sitzen fand. Ich wollte der Alten eine Güte thun. „Ihr seid hier schön eingerichtet, mit all den saubern Kisten!“ sagte ich.

Sie sah mich forschend an. „Meinen Sie das?“ erwiderte sie, „ich dächte, ein paar eichene Schränke, daneben noch ein Stuhl oder ein Kanapee Platz hätte, wäre doch wohl besser; aber es ist einmal die Mode so.“

Arnold und der Oheim lächelten über meinen verunglückten Versuch, mich angenehm zu machen. Die Alte war nach der Thür gegangen, um von einem über derselben befindlichen Bretchen einen Apfel für meinen Bruder herabzuholen. Da sie nicht hinauf langen konnte, trug ich rasch einen Stuhl herbei, stieg hinauf und reichte ihr den Apfel; zugleich erfreut, dadurch eine Verlegenheit zu verbergen, die ich nicht zu unterdrücken vermochte. Sie ließ mich ruhig gewähren. „Ja,“ sagte sie, während sie dem kleinen Kuno den Apfel in die Hand drückte, „das hat jüngere Beine, da kann man nicht mehr mit.“ Als ich aber bald darauf die strengen Augen der alten Bäuerin mit dem Ausdruck einer milden Freundlichkeit auf mich gerichtet sah, war mir unwillkürlich, als habe ich etwas gewonnen, das ebenso werthvoll als schwer erreichbar sei.

Bald darauf verließen wir die Stube und besahen die Einrichtung des Gebäudes, vorab den große Sauberkeit und Frische athmenden Milchkeller; wie Arnold sagte, das eigentliche Staatszimmer unserer Bauern. Dann, während die Alte bei dem künftigen Hoferben zurückblieb, traten wir aus dem Eingangsthor in’s Freie, unter den Schatten der alten vollbelaubten Eichen. „Ihre Großmutter ist eine Frau von wenig Complimenten,“ sagte der Oheim im Gehen, „aber man weiß nun doch, wo Sie zu Hause sind.“

Arnold lächelte. Er schien mit der Art des alten Herrn schon vertraut zu sein.

Dicht neben dem Hauptgebäude lag das jetzt leerstehende Abnahme-Häuschen. Auf einer Wiese dahinter befanden sich die Reste eines im Viereck gezogenen lebendigen Zaunes, welche die Neugierde meines Bruders erregten. Auch ein paar Pfähle standen noch in den Büschen, zwischen denen einst ein Pförtchen den Eingang in den kleinen Raum verschlossen haben mochte. „Es ist ein Bienenhof,“ sagte Arnold, „den mein Vater als Knabe vor vielen Jahren angelegt hat. Als sein Bruder später das Gut erhielt, hatte er weder Zeit noch Lust, den Betrieb des jungen Bienenvaters fortzusetzen , aber er ließ den Zaun zu seinem Angedenken stehen, und mir zu Liebe hat es auch der Schulze so gelassen.“

Vor uns lag, so weit das Auge reichte, eine ausgedehnte Wiesenfläche, hier und da durch lebendige Hecken oder einzelne Baumgruppen unterbrochen. Arnold wies mit der Hand hinaus und sagte: „Hier ist es mir seltsam ergangen. Als zwölfjähriger Knabe, da ich in den Sommerferien bei dem Oheim auf Besuch war, wanderte ich eines Morgens mit meinem einige Jahre älteren Vetter, dem jetzigen Schulzen, da hinab in die Wiesen. Wir gingen immer gerade aus, mitunter durch ein Gebüsch brechend, das unsern Weg durchschnitt. Ich blies dabei auf einer Pfeife, die mir mein Vetter aus Kälberrohr geschnitten hatte; auch ist mir noch wohl erinnerlich, wie an einigen Stellen das Auftreten auf dem sumpfigen mit weißen Blumen überwachsenen Boden mir ein heimliches Grauen erregte. Nach einer Viertelstunde etwa kamen wir in einen dichten Laubwald, und nach der Sommerhitze draußen umfing uns nun eine plötzliche Schattenkühle; denn der Sonnenschein spielte nur sparsam durch die Blätter. Mein Vetter war bald weit voran; ich vermochte nicht so schnell fortzukommen, wegen des Unterholzes, das überall umherstand. Mitunter hörte ich ihn meinen Namen rufen, und ich antwortete ihm dann auf meiner Pfeife. Endlich trat ich aus dem Gebüsch in eine kleine sonnige Lichtung. Ich blieb unwillkürlich stehen; mich überkam ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es war so seltsam still hier; ein paar Schmetterlinge gaukelten lautlos über einer Blume, der Sonnenschein lag schimmernd auf den Blättern, und ein schwerer würziger Duft schien wie eingefangen in dem abgeschiedenen Raume. In der Mitte desselben auf einem bemoosten Baumstumpf saß eine glänzend grüne Eidechse und sah mich wie verzaubert mit ihren goldenen Augen an. – – Ich weiß dies Alles genau; ich weiß bestimmt, daß wir vom Bienenhof hier in grader Richtung über die Wiesen fortgegangen sind. Und doch lacht der Schulze mich aus, wenn ich ihn jetzt daran erinnere; denn dort hinunter liegt kein Wald, und hat auch seit Menschengedenken keiner mehr gelegen. – Wo aber bin ich damals denn gewesen?“

„Vielleicht dort nach der andern Seite hin,“ sagte mein Oheim.

„Dann hätte der Weg nicht über die Wiesen führen können.“

„Hm, eine grüne Eidechse? Ich habe hier herum so eine noch nicht gefunden. – Wissen Sie, Herr Arnold, es ist doch gut, daß Sie nicht der Schulze hier geworden sind. Sie sind ja ein Phantast, trotz der Anna da mit ihren alten Bildern.“

Ich weiß nicht, weshalb wir beide roth wurden, als der Oheim uns bei diesen Worten Eines nach dem Andern ansah; aber ich bemerkte noch, wie Arnold mit jener leichten Bewegung den Kopf schüttelte und wie zur Abwehr das Haar mit der Hand zurückstrich.

Auf dem Heimwege, den wir bald darauf antraten, wurde wenig zwischen uns gesprochen. Der kleine Kuno saß bald schlafend in meinem Arm; mir war still und friedlich zu Sinne. Als wir zu Hause anlangten, lagen schon die bräunlichen Tinten des Abends am Horizont, und einzelne Sterne drangen durch den Himmel.


Der Sommer ging auf die Neige, während das Leben im Schlosse seinen ruhigen, einförmigen Verlauf nahm. Arnold und sein kleiner Schüler schienen immer mehr Gefallen an einander zu finden; denn der Knabe lernte leicht und willig, wenn die Unterrichtsstunden auch mitunter durch seine Kränklichkeit unterbrochen wurden. Auffallend schwer wurde ihm dagegen das Auswendiglernen alter Kirchenlieder, von denen er an jedem Sonntagmorgen einige Verse vor dem Vater in dessen Zimmer aufsagen mußte. – Eines Vormittags wollte ich, um ihn zu ermuthigen, das ihm aufgegebene Lied von Nikolai gleichfalls auswendig lernen. Ich war in den Rittersaal hinaufgegangen; bald aber trat ich durch die offenstehende Thür in das Zimmer des Oheims, der, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Lehnstuhl an seinem Tische saß. Er warf einen flüchtigen Blick zu mir hinüber und fuhr dann schweigend fort, die am vorhergehenden Tage gefangenen Insecten auf einer Korktafel auszuspannen. Ich ging mit meinem Buche im Zimmer auf und ab, erst leise und allmählich lauter die Worte des Gesanges vor mir hinmurmelnd. So kam ich an den dritten Vers:

„Geuß sehr tief in mein Herz hinein,
Du heller Jaspis und Rubin,
Die Flammen Deiner Liebe.“

Mein Onkel erhob plötzlich den Kopf und sah mich scharf durch seine großen Brillengläser an. „Tritt her!“ sagte er, „was lernst Du da?“ – Als ich Folge geleistet hatte, zeigte er mit dem Finger auf einen schwarzen Käfer, der mit aufgesperrten Kiefern an der Nadel steckte. „Weißt Du,“ fuhr er fort, „wie der carabus den Maikäfer frißt?“ – – Und nun begann er mit unerbittlicher Ausführlichkeit die grausame Weise darzulegen, womit dies gefräßige Insect sich von andern seines Gleichen nährt. – Ich hatte selbst so etwas in unserm Garten wohl gesehen; aber es hatte weitere Gedanken nicht in mir angeregt. Jetzt tauchte eine dunkle Ahnung in mir auf; meine Augen hingen regungslos an den Lippen des alten Mannes; es überfiel mich eine unbestimmte Furcht vor seinen Worten.

[164] „Und das mein Kind,“ sprach er weiter, indem er jedes seiner Worte einzeln betonte, „ist die Regel der Natur. – – Liebe ist nichts, als die Angst des sterblichen Menschen vor dem Alleinsein.“

Ich antwortete nicht, mir war plötzlich, als wäre der Boden unter meinen Füßen fortgezogen worden. Der Ausdruck meines Gesichts mochte das verrathen haben; denn auch mein Oheim schien über die Wirkung seiner Worte bestürzt zu werden. „Nun, nun,“ sagte er, indem er mich sanft in seinen Arm nahm, „es mag vielleicht so sein; nur etwas anders doch, als es dort in Deinem Buche steht.“ – –

Aber die Worte wühlten in mir fort; mein Herz hatte in der Einsamkeit so oft nach Liebe geschrieen, während ich in den weiten Gemächern des Hauses umherstrich, wo nie die Hand einer Mutter nach der meinen langte. Um die Mittagszeit sah ich die Leute von der Feldarbeit zurückkehren. Mir war, als müsse der Ausdruck der Trostlosigkeit auf allen Gesichtern zu lesen sein; aber sie schlenderten wie gewöhnlich gleichgültig und lachend über den Hof.

Am Nachmittage, als müßte ich ihn zwingen weiter zu reden, trieb es mich wieder nach dem Zimmer des Oheims. Die Thür stand offen, aber er selbst war nicht dort. – Mitten auf der Diele lag eine schwarze Katze, eine gefangene Maus zwischen den Krallen, die sich in der Nachmittagsstille hervorgewagt haben mochte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und schaute grübelnd zu. Die Katze begann ihr Spiel zu treiben; sie zog die Krallen ein, und die Maus rannte hurtig über den Estrich und an den Wänden entlang. Aber die grünen glimmenden Augen hatten sie nicht losgelassen; ein heimliches Spannen der Muskeln, ein Satz-, und wieder lag das Raubthier da, mit dem glänzenden Schwanz den Boden fegend, die gefangene Maus vorsichtig mit den scharfen Zähnen fassend. Sie war noch nicht aufgelegt, ein Ende zu machen; das Spiel begann von Neuem. Manchmal, wenn sie die kleine entrinnende Creatur immer wieder mit der zierlich gekrümmten Pfote an sich riß, wollte mich fast das Mitleid überwältigen; aber ein Gefühl, halb Trotz, halb Neugier, hielt mich jedesmal zurück.

Während ich so vor mir hinbrütend dastand, hörte ich die gegenüberliegende Thür gehen, indeß die Katze mit ihrem noch lebenden Opfer davon sprang. „Sie, gnädiges Fräulein!“ sagte eine jugendliche Stimme; und als ich aufblickte, sah ich Arnold vor mir stehen, der seit einiger Zeit mit dein O«heim viel verkehrte. Da ich ihm nichts erwiderte, so machte er eine Bewegung, als wolle er sich entfernen; plötzlich aber, als habe er auf meinem Antlitz die Hülflosigkeit meines Innern gelesen, zögerte er wieder und sagte fast demüthig: „Kann ich Ihnen in irgend etwas dienen, Fräulein Anna?“

Es war ein Ausdruck in seinen Augen, der mich reden machte. Ich trat an den Tisch und zeigte ihm das Spannbret des Oheims, auf welchem noch der schwarze Käfer steckte. „Befreien Sie mich von dem,“ sagte ich, „und – von der schwarzen Katze!“ Und als er mich zweifelnd ansah, erzählte ich ihm, was mir am Vormittage hier geschehen und was soeben vor meinen Augen vorgegangen war.

Er hörte mich ruhig an. „Und nun?“ fragte er, als ich zu Ende war.

„Ich habe bisher noch immer den Finger des lieben Gottes in meiner Hand gehalten,“ sagte ich schüchtern.

Seine Augen ruhten eine Weile wie prüfend auf mir. Dann sagte er leise: „Es giebt noch einen andern Gott.“

„Aber der ist unbegreiflich?“

Ein mildes Lächeln glitt über sein Antlitz. „Das sind noch die Kinderhände, die nach den Sternen langen.“ – Er stand einige Augenblicke in Nachdenken verloren; dann sagte er: „In der Bibel steht ein Wort: So Ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich finden lassen! – Aber sie scheinen es nicht zu verstehen; sie begnügen sich mit dem, was jene vor Jahrtausenden gefunden oder zu finden glaubten.“ – Und nun begann er mit schonender Hand die Trümmer des Kinder-Wunders hinweg zu räumen, das über mir zusammengebrochen war; und indem er bald ein Geheimniß in einen geläufigen Begriff des Alterthums auflöste, bald das höchste Sittengesetz mir in den Schriften desselben vorgezeichnet wies, lenkte er allmählich meinen Blick in die Tiefe. Ich sah den Baum des Menschengeschlechts heraufsteigen, Trieb um Trieb, in naturwüchsiger ruhiger Entfaltung, ohne ein anderes Wunder, als das der ungeheuern Weltschöpfung, in welchem seine Wurzeln lagen.

Die Begeisterung hatte seine Wangen geröthet, seine Augen glänzten, ich horchte regungslos auf diese Worte die wie Thautropfen in meine durstige Seele fielen. Da, als ich zufällig aufblickte, sah ich meinen Oheim an dem gegenüberliegenden Fenster stehen, scheinbar an den Käfigen seiner Vögel beschäftigt; als aber jetzt auch Arnold den Kopf zu ihm hinwandte, hob er drohend den Finger. „Wenn das meine brüderliche Excellenz wüßte!“ sagte er. „Steht denn der Unterricht auch in dem allerhöchst genehmigten Stundenplan? – Nun, nun,“ fuhr er lächelnd fort, „ich werde das nicht verrathen!“ Dann trat er an den Tisch, und indem er mit einer gewissen Feierlichkeit seine Hand über die darauf liegenden Werke der neueren Naturforscher hingleiten ließ, sagte er halblaut wie zu sich selber: „Das sind die Männer, die ihn suchen, von denen er sich wird finden lassen; aber der Weg ist lang und mühsam, und führt oftmals in die Irre.“ – – –

Ich gedenke noch, wie dieser Tag sich neigte. – Das Abendroth leuchtete an den Wänden der Wohnstube; mein kleiner Bruder, der an dem Tischchen in der Fensternische saß und über den Hof in den Garten hinausblickte, wollte noch gern einmal in’s Freie, aber ich und der liebe Arnold sollten mit. Da mein Vater auswärts war, so ließ die Tante sich bereden. Nachdem Arnold von seinem Zimmer herabgekommen, packten wir den Knaben in sein Rollstühlchen und ließen es durch den Diener in den Garten bringen. Aber dann durfte wiederum Niemand anfassen, als Arnold und ich, und so schoben wir denn, jeder mit einer Hand, das kleine Gefährte in der breiten Lindenallee auf und ab. Die Tante mit ihrem Filettüchlein um den Kopf ging nebenher und zog mitunter das Mäntelchen dichter um die Füße des Knaben. Aber kaum ein Wort wurde gewechselt; es war still bis in die weiteste Ferne; nur mitunter sank leise ein Blatt aus dem Gezweig zur Erde, und oben über den Wipfeln war das stumme ruhelose Blitzen der Sterne. Das Kind saß zusammengesunken und träumend in seinen weichen Kissen, nur einmal richtete es sich auf und rief: „Arnold, Anna! Da flog ein Goldkäferchen, ganz oben bei den Sternen!“

„Das war eine Sternschnuppe, mein Kind,“ sagte Tante Ursula.

Ich sah, wie Arnold den Kopf zu mir wandte, aber wir sprachen nicht, wir fühlten, glaub’ ich, Beide, daß dieselben Gedanken uns bewegten. Als wir bald darauf mit dem schlafenden Kinde in das Haus zurückgekehrt waren, stand ich noch lange am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Es war ein Gefühl ruhigen Glückes in mir; ich weiß nicht, war es die neue bescheidenere Gottesverehrung, die jetzt in meinem Herzen Raum erhielt, oder gehörte es mehr der Erde an, die mir, wie lange nicht, so hold erschinen war.

[177] Im September hatten wir, da unten eine Reparatur vorgenommen wurde, uns oben in dem großen Bildersaale eingerichtet. Es war an einem Sonntag-Vormittage. Am Abend sollte in der Stadt die Einweihung des neuerbauten Rathhauses mit festlichen Aufführungen und darauf folgendem Ball begangen werden.

Mein Vater, der guter Laune war, da das erhoffte Königsbild seit einigen Tagen nun wirklich in seinem Zimmer hing, hatte auf die Einladung der städtischen Behörde für uns Alle zugesagt. Die Oberforstmeisterin von dem uns zunächst belegenen Gute und eine bei ihr lebende Schwester, welche den nach meiner Rückkehr abgestatteten Besuch noch nicht erwidert hatten, wurden zu Tisch erwartet. Die Damen waren gleichfalls eingeladen und wollten am Abend gemeinschaftlich mit uns zur Stadt fahren.

Ich saß mit einer Handarbeit am Fenster. Arnold, mit dem ich zuvor gesungen hatte, stand noch im Gespräche neben mir. Er hatte mich eben auf den Abend um einen Tanz gebeten, als meine Tante mit den erwarteten Gästen in den Saal trat. Die Oberforstmeisterin war eine stattliche Dame in mittleren Jahren; ihre Augen waren beständig halbgeschlossen, als sei die Welt ihres vollen Blicks nicht werth, und ich dachte immer, ihr Fuß müsse jedes kleine Geschöpf auf ihrem Wege zertreten; so wenig sah sie, was unter ihr am Boden war. Aber die Fältchen um ihre Augen verschwanden, als sie auf mich zukam; sie küßte mich, sie war entzückt von der Frische meines Teints und dem Glanz meiner Augen; in ihrer matten Sprechweise überschüttete sie mich mit Zärtlichkeiten. Meine Tante hatte ihr Arnold’s Namen genannt, und sie hatte, während sie das Gespräch mit mir fortsetzte, seine Verbeugung leicht und höflich erwidert.

„Ist der junge Mann ein Verwandter des Herrn von Arnold auf Grünholz?“ fragte sie mich nach einiger Zeit.

Ich hatte nicht den Muth es zu verneinen, als ich in das hochmüthige Gesicht dieser Frau blickte. „Ich glaube kaum,“ sagte ich leise, „er hat uns nicht davon gesprochen.“

Aber er mußte meine Lüge gehört haben, denn schon war er näher getreten, und während ich seinen ernsten Blick auf meinen niedergeschlagenen Augen zu fühlen glaubte, hörte ich ihn sagen: „Ich heiße Arnold, gnädige Frau, und bin seit einigen Monaten der Lehrer des jungen Barons.“

Die Oberforstmeisterin ließ wie musternd ihre Augen über ihn hingleiten. „So?“ sagte sie trocken. „Der Kleine macht Ihnen gewiß recht große Freude!“ Dann wandte sie sich mit einem verbindlichen Lächeln zu meiner Tante und begann mit dieser ein Gespräch.

Arnold blickte ruhig über sie hin; es war ein Ausdruck der Verwunderung in seinen dunkeln Augen.

Bald darauf ging meine Tante mit den beiden Damen nach ihrem Zimmer. Ich blieb bei meiner Arbeit am Fenster sitzen; Arnold stand neben dem offenen Clavier. Keines von uns sprach; es war wie beklommene Luft im Zimmer. „Singen Sie noch etwas,“ sagte ich endlich, „ein Volkslied, oder was Sie wollen!“

Er setzte sich, ohne zu antworten, an’s Clavier, und nach ein paar leidenschaftlichen Accordenfolgen sang er in bekannter Volksweise:

„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn.
Fällt nun der Sternenschein
Nachts in mein Kämmerlein,
Lieg’ ich und schlafe nicht,
Und denke Dein“

Die Melodie hatte ich oft gehört; aber der Text war ein anderer. Mir kam eine Ahnung, daß diese Worte mir galten; ich fühlte, wie seine Stimme bebte, als er weiter sang. Aber die Worte klangen süß, daß ich wie träumend die Arbeit ruhen ließ.

„Ist doch die Seele mein
So ganz geworden Dein,
Zittert in Deiner Hand,
Thu’ Ihr kein Leid!“

Er sang die Strophe nicht zu Ende, er war aufgesprungen und stand vor mir. „Fräulein Anna,“ sagte er, und in seiner Stimme klang noch die ganze Aufregung des Gesanges, „weshalb verleugneten Sie mich vor jener Frau?“

„Arnold!“ rief ich, „o bitte Arnold!“ denn die Worte hatten mich gerade in’s Herz getroffen.

Als ich aufblickte, fuhr ein Strahl von Stolz und Zorn aus seinen Augen. Ich konnte es nicht hindern, daß mir die Thränen über die Wangen liefen und auf meine Arbeit herabfielen. Er sah mich einen Augenblick schweigend an; dann aber verschwand der Ausdruck der Heftigkeit aus seinem Antlitz. „Weinen Sie nicht, Anna,“ sagte er, „es mag schwer zu überwinden sein, wenn Einem die Lüge schon als Angebinde in die Wiege gelegt ist.“

„Welche Lüge? Was meinen Sie, Herr Arnold?“

Seine Augen ruhten mit einem Ausdruck des Schmerzes auf mir. „Daß man mehr sei, als andere Menschen,“ sagte er langsam. „Wer wäre so viel, daß er nicht einmal auf Augenblicke dadurch herabgezogen würde!“

[178] „O Arnold,“ rief ich, „Sie wollen Alles in mir umstützen!“

Er sah mich wieder mit jenen resoluten Augen an, als da ich zum ersten Mal ihm gegenüber stand; und jetzt plötzlich wußte ich es, was mich so vertraut aus diesem Antlitz ansprach. Ich schwieg, denn mir war, als fühlte ich das Blut in meine Wangen steigen. Dann aber, als er mich fragend anblickte, suchte ich mich zu fassen und wies mit der Hand nach jenem alten Familienbilde oberhalb der Thür. „Sehen Sie keine Aehnlichkeit?“ fragte ich, „der Eine von jenen Knaben muß Ihr Vorfahr sein?“

Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. „Sie wissen ja,“ erwiderte er kopfschüttelnd, „ich gehöre nicht zu den Ihrigen.“

„Ich meine den Knaben, der den Sperling auf der Hand trägt,“ sagte ich.

Ein Ausdruck des bittersten Hohnes flog über sein Gesicht. „Den Prügeljungen? Das wäre möglich; meine Familie ist ja hier zu Haus.“ Aber gleich darauf strich er mit jener leichten Kopfbewegung das Haar zurück und sagte fast weich: „Verzeihen Sie mir, Fräulein Anna; ich bin nicht immer gut.“

Ich war aufgestanden, und ich glaube, ich habe ihn mit meinen finstersten Augen angesehen. „Sie machen mir den Vorwurf,“ erwiderte ich, „aber Sie selbst, meine ich, sind der Hochmüthige!“

„Nein, nein!“ rief er, indem er die Hand wie abwehrend von sich streckte, „das ist es nicht; ich schätze Niemanden gering.“

Unser Gespräch wurde unterbrochen. Die Damen kamen zurück, und ich hatte Mühe, meine Aufregung vor ihnen zu verbergen. – – – – – – – – – – – – – – –

Am Abend befanden wir uns Alle, außer dem Oheim, der niemals eine Gesellschaft besuchte, in dem schönen hellerleuchteten Rathhaussaale der nächsten Stadt.

Es war eine Reihe von lebenden Bildern gestellt, welche die verschiedenen Epochen der städtischen Entwickelung zur Anschauung bringen sollten. Nun wurde der Saal geräumt, um Platz zum Tanzen zu gewinnen; Jung und Alt stand umher, sich über die eben beendigten Aufführungen unterhaltend. „Charmant; in der That charmant!“ hörte ich die Stimme meines Vaters; ich sah ihn bald mit diesem, bald mit jenem in verbindlicher Weise conversiren; er lächelte, er bot den Herren seine Dose; es schien überall eine harmlose Gegenseitigkeit zu walten. Ich hatte mich Arnold zum ersten Tanz versagt; mir klopfte das Herz, denn ich hatte seit lange nicht und niemals noch mit ihm getanzt. Meine gesangeskundige Freundin hatte sich zu mir gefunden; wir hatten Arm in Arm gelegt und wandelten unter den brennenden Kronleuchtern plaudernd auf und ab. Während schon die Musikanten ihre Geigen stimmten, kam mein Vater auf uns zu. Er machte der jungen Dame über ihre Mitwirkung in den gestellten Bildern ein Compliment und sagte dann wie beiläufig: „Du wirst Dich fertig machen müssen, Anna; der Wagen ist vorgefahren.“

„Was, Sie wollen schon fort? Anna! die Uhr ist ja kaum erst zehn!“ rief das junge Mädchen.

Mein Vater neigte sich höflich zu ihr. „Wir müssen herzlich bedauern; aber ich hoffe, Sie werden uns recht bald bei uns zu Hause das Vergnügen machen!“

Mir quoll das Herz, aber ich schwieg; es konnte mich nicht überraschen, was geschah; ich hatte es in meiner Freude nur vergessen.

Nun traten auch Andere herzu, und es erfolgten Bitten und freundliches Drängen von allen Seiten; mein Vater hatte vollauf zu thun, das Alles in leicht hingeworfenen Worten abzulehnen. Die Vorwände waren zwar augenscheinlich nichtig; aber sie waren ja auch nicht darauf berechnet, Glauben zu erwecken. Man begann denn auch allmählich zu begreifen; es entstand eine Stille, und die Leute zogen sich Einer nach dem Andern zurück. Mein Vater wandte sich noch an seinen Hauslehrer. „Amüsiren Sie sich, liebster Herr Arnold, und haben Sie nur die Güte, dem Kutscher zu sagen, wann Sie geholt sein wollen.“

„Ich danke, Excellenz; ich werde gehen.“

Dann brachen wir auf. Tante Ursula, die Oberforstmeisterin und ihre Schwester nahmen mich in ihre Mitte; so schritten wir an der schweigenden Gesellschaft vorbei den Saal hinab. – Es waren Männer darunter, die den Stempel langjähriger ernster Gedankenarbeit auf der Stirn trugen, Jünglinge mit tiefen, vornehmen Augen, Mädchen mit allem Stolz und aller Grazie der Jugend; wir aber waren etwas zu Apartes, um uns mehr als andeutungsweise mit ihnen zu bemengen. Im Vorübergehen sah ich den stillen Ausdruck der Kränkung auf manchem jungen Antlitz, auf manchem alten ein ruhiges Lächeln. Ich mußte die Augen niederschlagen; ich haßte – nein, ich verachtete, mit Füßen hätte ich sie von mir stoßen mögen, die mich zwangen, mich so vor mir selber zu erniedrigen!

Am andern Vormittag, da ich noch ganz erfüllt von solchen Gedanken in den Garten gegangen war, begegnete mir Arnold in dem hinteren Quergange der Lindenallee. Es lag ein finsterer Stolz in seinen Augen, als er langsam auf mich zukam. Wie von innerer Gewalt gedrängt, streckte ich beide Hände gegen ihn aus. „Arnold,“ rief ich, „das war nicht meine Schuld!“

Er ergriff sie und sah mir eine Weile voll und tief in die Augen. „Dank, Dank für dieses Wort,“ sagte er, indem alle Düsterheit aus seinem Angesicht verschwand; „es hat nicht helfen wollen, daß ich es mir selbst schon tausend Mal gesagt habe.“

Dann gingen wir schweigend neben einander in’s Schloß zurück; mir war, als sei eine Centnerlast von meiner Brust gefallen, als ich jetzt wieder zu der Tante in den Saal trat.


Bald darauf wurde es eine trübe, einsame Zeit. Die Schwäche des kleinen Kuno nahm in einer Weise zu, daß der Arzt jeden Unterricht auf Jahre hinaus untersagte. In Folge dessen verließ uns Arnold; er wollte nach der Residenz, um sich an der dortigen Universität als Docent zu habilitiren. Der kleine Kranke wollte ihn gar nicht von sich lassen; Arnold mußte ihm versprechen, daß er wiederkomme oder daß er ihn zu sich holen wolle, sobald seine Kräfte wieder zugenommen hätten. Wenn wir vorausgewußt, daß schon nach einem Monat das kleine Bett leer stehen würde, er wäre wohl so lange noch geblieben.

An einem klaren Novembervormittag hielt unser Wagen unten auf dem Hofe, um ihn nach der nahen Stadt zu bringen. Ich war von einem Gefühl schmerzlicher Unruhe getrieben in den Garten hinabgegangen; die Buchenhecken waren schon gelichtet, die letzten gelben Blätter wehten von den Bäumen. Während ich in dem Gange hinter dem Laubschlosse auf und ab ging, sah ich Arnold in dem Hauptsteige herabkommen; er stand mitunter still und blickte um sich her; ich fühlte wohl, daß er mich suchte. Aber ich ging ihm nicht entgegen. Ein Trotz, eine Wollust des Schmerzes überfiel mich: ich sollte ihn auf immer verlieren, so wollte ich auch diese letzten armseligen Minuten von mir werfen. Ich schlich mich leise durch die Büsche in die Seitenallee und floh wie ein gejagtes Wild den Steig hinab. Unten schlüpfte ich durch eine Lücke, die in dem Zaune war, in das angrenzende Gehölz. Dann, nachdem ich seitwärts durch die Bäume gegangen war, so weit, daß ich den Hauptgang des Gartens überblicken konnte, stand ich still und schlang den Arm um einen Tannenstamm. Ich sah noch, wie Arnold aus dem Garten trat, wie hinter ihm das eiserne Gitterthor zuschlug. Ich rührte mich nicht; als ich nach einer Weile hörte, wie der Wagen über das Steinpflaster des Hofes rollte, warf ich mich auf den Boden und weinte bitterlich.

Da legte sich eine Hand sanft auf meine Schulter. Es war mein Oheim. „Komm,“ sagte er, „komm, mein Kind; wir wollen noch einige Kiefernäpfel für meinen Kreuzschnabel suchen.“ Er hob mich vom Boden auf und strich mit der Hand die trockenen Tannennadeln aus meinen Haaren; dann, nachdem er einige Kienäpfel zwischen den Stämmen aufgesammelt, führte er mich in’s Haus und über eine Hintertreppe auf sein Zimmer. „So,“ sagte er und drückte mich in seinen großen Lehnstuhl nieder und streichelte mir die Wangen, „besinne Dich, mein Kind!“ Ein paar Mal ging er die Hände auf dem Rücken im Zimmer auf nieder; dann fütterte er den Kreuzschnabel und den lahmen Staarmatz und machte sich draußen vor dem Fenster am Bauer des Käuzchens was zu thun; endlich kam er wieder zu mir zurück. „Es wird recht einsam für Dich werden,“ sagte er, „im Winter allein mit all’ den alten Menschen; aber um Ostern – ich hab’ es mir bedacht – da reisen wir beide einmal in die Residenz; ich werde den Vetter bitten, daß er Dich mit mir reisen läßt. – – Der Arnold ist dann auch dort,“ fuhr er wie beiläufig fort, „er kann uns umherführen; der Bursche muß ja dann schon überall Bescheid wissen.“

Als ich bei diesen Worten seine Augen mit dem Ausdruck der zartesten Fürsorge auf mich gerichtet sah, gedachte ich unwillkürlich der seltsamen Erklärung der Liebe, die er mir vor einiger Zeit und an derselben Stelle gegeben hatte. „Onkel,“ sagte ich leise, während ich den Druck seiner Hand an der meinen fühlte, „ist denn das auch nur die Furcht vor dem Alleinsein?“

[179] „Freilich,“ erwiderte er, „was“ denn anders, Kind? Mein lahmer Staarmatz und der alte Herr mit den Brillenaugen dort draußen vor dem Fenster, es sind zu Zeiten schon ganz unterhaltende Gesellen; aber sie gehören denn doch, wie Hegel sagt, zu dem schlechthin Fremdartigen; und mitunter, glaub’ ich, verstehen sie mich nicht ganz.“

Ich sah ihn zärtlich an und schüttelte den Kopf.

„Nun, nun,“ fügte er sanft hinzu; „vielleicht ist es auch die Furcht, daß Du allein seist.“

– – – – – – – – –

Hier brachen die beschriebenen Blätter ab.


4. Ein anderer Tag.

Die schweren Fenstervorhänge des Wohnzimmers schienen heute fast zu dunkel; denn draußen über dem Garten lag ein feuchter Octobernachmittag. – Zwischen der Gutsherrin und ihrem jungen Verwandten war so eben ein Gespräch verstummt, das von besonderer Bedeutung gewesen sein mußte; denn während sie an ihren Schreibtisch ging und das Heft hervornahm, woran sie vor einigen Wochen geschrieben hatte, lehnte er in der Fensternische und blickte augenscheinlich mit einer schmerzlichen Verstimmung kämpfend in den trüben Tag hinaus.

„Lies das, Rudolph, lies es jetzt gleich,“ sagte sie, die Blätter vor ihm auf die Fensterbank legend; „ich dachte, es sei nur für mich selbst, als ich es niederschrieb; aber ich vertraue Dir, und es wird gut sein, wenn Du weißt, wie es einst mit mir gewesen ist.“

Er nahm schweigend das Heft und begann zu lesen. Sie sah ihm eine Weile zu; dann setzten sie sich in einen Sessel vor dem Kamin, in welchem der kühlen Jahrzeit wegen schon ein leichtes Feuer brannte. – Sie durchdachte noch einmal den Inhalt des Geschriebenen, und unwilkürlich schrieb sie in Gedanken weiter. Wie Nebelbilder erhellten sich einzelne Scenen ihrer Vergangenheit vor ihrem innern Auge und erblaßten wieder. Als Rudolph einmal unter dem Lesen einen Blick nach ihr hinüberwarf, sah er, wie sie die geballten Hände gegen ihre Augen drückte. Es waren die Tage ihrer Hochzeit, die grell beleuchtet vor ihr standen. Sie suchte mit körperlicher Gewalt der Bilder Herr zu werden, die sich frech und meisterlos zu ihr herandrängten und nicht weichen wollten. – Und es gelang ihr auch. Es wurde finster um sie her; ihr war, als ginge sie durch den Bauch der Erde. Sie hörte vor sich einen kleinen schlürfenden Schritt; in tödtlicher Sehnsucht streckte sie die Arme aus; sie wußte es, es war ihr todtes Kind, das vor ihr ging, ganz einsam durch die dichte Nacht; es konnte nicht fort, es hatte Erde auf den kleinen Füßen. Aber wo war es? Ihre zitternden Hände griffen umsonst in die leere Finsterniß. – Da blickten ein Paar Augen durch die Nacht, und es wurde wieder hell; denn diese Augen gehörten noch dem Leben an. „Arnold!“ sprach sie leise. – So hatte er sie angeschaut, als die kleinen Augen ihres Kindes sich geschlossen, tröstlich und doch ein Spiegel ihres Schmerzes; so auch, jahrelang nach jenem stummen Abschiednehmen dort im Garten, als sie in der Residenz, mit ihrem Gemahl in eine Gesellschaft tretend, ihn zum ersten Male wiedergesehen hatte. Sein Name war damals schon ein vielgenannter; er war ein Mann von „Distinction“ geworden, und auch hochgestellten Personen schmeichelte es, ihn unter ihren Gästen nennen zu können. So geschah es, daß sie sich von nun an zuweilen am dritten Orte sahen; bald aber kam er auch in ihr Haus, oft und öfter, zuletzt fast täglich wenn auch nur auf Augenblicke. Was er für seine Vorlesungen, was er sonst zur Veröffentlichung niederschrieb, es war zuvor im geistigen Austausch zwischen ihnen hin und wieder gegangen. – Mittlerweile war ihr Kind geboren und nach kaum Jahresfrist wieder gestorben. Sie hatten sich dadurch unwillkürlich um so fester an einander geschlossen; sie ahnten wohl selber kaum, daß ihr Verhältniß allmählich ein Gegenstand des öffentlichen Tadels geworden sei. Auch dem Gemahl der jungen Frau schien dies verborgen geblieben; sein Amt vergönnte ihm nur wenige Augenblicke in seinem Hause; er suchte überdies nicht dort, sondern in den tausend kleinen Dingen bei Hofe den Schwerpunkt seines Lebens. – Es kam dennoch. – Die Vorlesungen des jungen Professors über neuere Geschichte waren plötzlich Modesache geworden, und neben den Studenten saß die elegante Welt beiderlei Geschlechtes auf den Bänken des großen Auditoriums. – Eines Nachmittags war auch sie in Begleitung ihres Mannes dort. Sie saß an einem Ende der ersten Bank dem Katheder gegenüber; aber die beredten Worte ihres Freundes vermochten sie nicht zu fesseln. Während alle Andere an seinen Lippen hingen, hafteten ihre Augen an einer Stuckverzierung in der Decke, welche sich gerade über dem Katheder befand. Es war eine schwere, aus Gyps geformte Muschel; aber sie sah es deutlich, sie hatte sich gelöst, und wenn sie fiel, so mußte sie das Haupt des begeisterten Mannes treffen, der ahnungslos darunter stand. Seine Worte klangen ihr nur wie das Rauschen eines fernen Stromes; mit steigender Angst beobachtete sie den schwarzen Spalt, der schon die Muschel von der Decke trennte. Und es war kein Zweifel, er hatte sich vergrößert, und bald mußte der Augenblick kommen, wo die schwache Verbindung völlig zerriß. Keiner außer ihr sah das; mit Todesangst hingen Ihre Augen an der Decke. Da – es that einen Ruck, und mit einem Schrei war sie aufgesprungen und lag in den Armen ihres Freundes, den sie mit Gewalt vom Katheder herabgerissen hatte. – Die Vorlesung war unterbrochen; aber die Muschel war nicht gefallen, sie saß an derselben Stelle, wo sie seit einem halben Jahrhundert gesessen hatte. Die beschämte Frau schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie die trockene Stimme ihres Gemahls hörte, der sie unter den tausend schadenfrohen Blicken der Anwesenden aus dem Saale führte. – – –

Rudolph hatte indessen die Geschichte seiner Verwandten gelesen, soweit jene Blätter sie enthielten. Er blickte durch das Fenster den Buchengang hinab. Dort am Ende desselben hinter der Lindenallee lag der Tannenwald, in dem damals um einen ihm unbekannten Menschen von niedriger Herkunft ihre heißen Thränen geflossen waren. – „Und wie kam es dann später?“ fragte er nach einer Weile, während er die Blätter aus der Hand legte.

Sie blickte auf, als müsse sie erst den Sinn zu dem Wortlaute finden, der eben an ihr Ohr gedrungen war. „Dann,“ sagte sie endlich, – „dann kam ein Augenblick der Schwäche.“

„Du hast ihn wiedergesehen, Anna!“

Eine dunkle Röthe bis unter das schwarze Haar überlief ihre Stirn. „Nein,“ sagte sie, „das war es nicht. Aber ich war so jung; ich duldete es, daß mich mein Vater einem fremden Mann zur Ehe gab.“

Noblesse oblige!“ erwiderte er leichthin. „Was hätte denn geschehen sollen?“

„Sprich nicht so, Rudolph; die Anmaßung wird nicht schöner dadurch, daß man sie als ein apartes Pflichtgebot formulirt.“

„Es hat sich so gefügt,“ sagte er mit einer gewissen Strenge, „daß Du durch diese Grundsätze gelitten hast.“

Sie nickte. „O,“ rief sie, „ich habe gelitten! Und nach Jahren, als mein Herz bitter und mein Sinn hart geworden, – es ist wahr, wir haben uns wiedergesehen, und jene armselige Ehe ist darüber fast zerbrochen. Aber – sie logen, sie logen Alle!“ Sie sprang auf und preßte zitternd ihre Hände gegeneinander. – „So!“ rief sie, „so, Rudolph, habe ich mein Herz gehalten.“

„Und doch,“ erwiderte er, „ich lebte damals viele Meilen von Deinem Wohnorte, und doch habe ich auch dort gehört, wie sie es sich gierig in die Ohren raunten, böse, böse Dinge ...“ Er verstummte plötzlich, als habe er zu viel gesagt.

Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an; eine Fluth von Thränen stürzte über ihr Gesicht. „Nein, Rudolph, nein – sie logen!“ sagte sie, indem sie leise und schmerzlich das Haupt bewegte. Dann warf sie sich in den Lehnstuhl und drückte beide Hände vor die Augen.

Der junge Mann war neben ihr auf’s Knie gesunken; sein Blick ruhte angstvoll auf ihren blassen Fingern, durch welche immer neue Thränen hervorquollen. Einmal erhob er die Hand, als wolle er die ihrigen herabziehen; aber er ließ sie wieder sinken. – Als sie ruhiger geworden, ließ sie einige Secunden ihre Augen auf dem jungen Antlitz ruhen, aus dem die Anbetung wie ein Opfer zu ihr emporstieg. Bald aber lehnte sie den Kopf zurück und starrte mit zusammengezogenen Brauen gegen die Zimmerdecke. „Geh jetzt, Rudolph!“ sagte sie leise.

Der junge Mann ergriff ihre Hand, die wie leblos in ihrem Schooße lag, und küßte sie. Dann stand er auf und ging.

Es war Dämmerung geworden; ein greller Abendschein leuchtete an der Wand; aber in den Ecken und am Kamin dunkelte es schon, und allmählich wuchs die Dämmerung. Die in dem tiefen Lehnsessel ruhende Frauengestalt war kaum noch erkennbar; dann fiel ein bleiches Mondlicht auf den Estrich. Draußen erhob sich [180] der Wind. Er kam aus weiter Ferne; ihr war, als sähe sie, wie er drunten über die mondhelle Haide fegte, wie er die Wolkenschatten vor sich hertrieb; sie hörte es näher kommen, die Tannen sausten, die alten Linden der Gartenalleen; und nun fuhr es gegen die Fenster und warf einen Schauer von abgerissenen Blättern an die Scheiben. Der große Hund erhob sich von seinem Teppich und legte den Kopf auf ihren Schooß. Sie blickte eine Weile auf das glänzende Auge des Thieres; dann aber sprang sie auf aus dem weichen Sessel und drückte mit beiden Händen das Haar an den Schläfen zurück, als wolle sie alles Träumen gewaltsam von sich abstreifen. „Ausharren!“ rief sie leise. Dann trat sie zur Thür und zog die Klingelschnur; über sich hörte sie Rudolph in seinem Zimmer auf- und abgehen. Es wurde Licht gebracht. „Und was denn nun zunächst?“ – Aber sie wußte es schon; nachdem sie noch einen Augenblick in das verglimmende Kaminfeuer geblickt, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. – Nach einer Stunde stand sie auf und siegelte einen Brief; die Adresse lautete an Rudolph’s Mutter.


5. Es wird Frühling.

Es war Winter geworden und einsam. In dem Zimmer oben ließ sich kein Schritt hören; Rudolph hatte, wie sie es gewollt, das Schloß verlassen. Draußen vor dem Fenster sauste es in den kahlen Zweigen, und in der Dämmerung vernahm man vom Corridor aus das Schrillen der Spitzmäuse, welche in den öden Gängen umher huschten. Manchmal, wenn sie Abends aus dem Wohnzimmer in ihr Schlafgemach trat, blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Eine Kammer zum Sterben!“ – Sie schauderte. „Aber man braucht nur still zu halten; die Natur besorgt es ganz von selber!“

Doch es wurde wieder heller in dem alten Hause. Um Weihnachten war Schnee gefallen und leuchtete in die Fenster. Eine freundliche Wintersonne begann zu scheinen. Eines Nachmittags war mit den Zeitungen ein Schreiben angelangt, das den Poststempel der Residenzstadt trug. Ihre Hände zitterten, als sie das Siegel brach. Einen Augenblick noch, und ein Schrei stieg aus ihrer Brust, wie es dem Erstickenden geschehen mag, wenn ihn plötzlich wieder der frische Strom der Luft berührt.

Sie hatte den Tod ihres Mannes gelesen.

Noch an demselben Tage reiste sie ab. – Einige Wochen vergingen; dann war sie wieder da. Während draußen allmählich der Schnee zerschmolz, correspondirte sie lebhaft mit dem alten Oheim, und endlich war es ausgemacht, sobald im Garten die Buchenhecken grün seien, wollte er kommen und sein altes Quartier beziehen; denn früher sei die große lebendige Vogelsammlung nicht zu transportiren. Als sie den Brief bekommen, ging sie hinauf in das obere Stockwerk, durch den Saal in das einst so trauliche Zimmer des guten Oheims. Die Wände waren kahl, aber draußen vor dem Fenster hing noch der große Holzkäfig des Käuzchens. Sie ging wieder zurück, sie schloß eine Thür nach der andern auf, sie ging unten durch die ganze Zimmerreihe, die sie während ihrer Anwesenheit noch nicht betreten; die verlassenen dumpfigen Räume schienen ihr nicht öde; überall in ihnen war ja Raum für den Beginn eines neuen Lebens. – –

Und endlich kam der Frühling. – Ueber der schwarzen Erde sprang an Gebüsch und Bäumen das frische Grün hervor; im Garten an den Grasrändern der Buchenhecken stand es blau von Veilchen, und Morgens und Abends hörte man drüben vom Tannenwald die Amseln schlagen.

An einem solchen Tage wandelte die junge Schloßherrin in der Seitenallee ihres Gartens. Mitunter blickte sie über den niedrigen Zaun auf den Weg hinaus oder jenseits desselben in die weite morgenhelle Landschaft. Zwischen den Feldern stand hie und da ein Baum wie brennend im Sonnenfeuer, es war Alles so licht, so heiter klangen die Grüße der vorübergehenden Arbeiter, und in der Luft schwammen die „süßen, ahnungsreichen“ Düfte des Frühlings. – Da sah sie zwei Männer aus dem Tannicht den Weg herauf kommen, ein Bursche vom Dorf trug ihnen das Gepäck nach. Der Eine, dessen Haar völlig weiß war, blieb stehen und blickte, die Augen mit der Hand beschattend, nach dem Garten hinüber. Auch sein jüngerer Begleiter zögerte; er hatte den Hut abgenommen und schüttelte mit einer leichten Bewegung den Kopf, während er an den Schläfen das schlichte Haar zurückstrich. Dann kamen sie näher; und schon waren sie von ihr erkannt. „Arnold, Onkel Christoph!“ rief sie und streckte weit die Arme Ihnen entgegen; „Beide! Alle beide seid Ihr da!“

Der alte Herr schwenkte seine Mütze. „Geduld, Geduld!“ rief er zurück. „Erst um die Ecke dort, und dann über den Hof in’s Haus! – Kommen Sie, Professor!“ setzte er hinzu, indem er fürbaß schritt.

Aber Arnold war schon jenseits des niedrigen Zauns und hielt die Geliebte fest in seinen Armen.

„Ja so!“ brummte der Alte, als er sich nach seinem Reisegefährten umsah. „Aber so geht’s mit der Cameradschaft.“ Dann schritt er, etwas langsamer als zuvor, den Weg hinauf, der nach dem Hofthor führte.

Arnold und Anna traten aus der Allee auf das Rondel hinaus, dem Laubschloß gegenüber, das hell von der Sonne beleuchtet vor ihnen lag. Er hatte ihre Hand gefaßt. So gingen sie den grünen Buchengang hinab, dem Hause zu. – Drinnen auf dem Corridor vor der Thür des Wohnzimmers trafen sie den Oheim wieder. Er schloß sein Lieblingskind in seine Arme; sie sah an seinen Lippen, daß er sprechen wollte, aber er schwieg und legte nur sanft die Hand auf ihren Kopf.

„So,“ sagte er dann, als ob es ihn dränge fortzukommen, „geht jetzt hinein, ich komme nach, ich muß einmal nach oben, mein altes Quartier zu revidiren.“

Sie hob ihr Haupt empor, das sie unter der Hand des alten Mannes gesenkt hatte, und blickte ihm nach, wie er eilig den Corridor hinabschritt und am Ende desselben in dem Treppenhause verschwand. Dann legte sie die Hand auf den Arm des Geliebten, der schweigend daneben gestanden hatte. „Arnold,“ sagte sie, „lebt denn die Großmutter auf dem Schulzenhofe noch?“

„Sie lebt, aber sie wartet nicht mehr den jungen Hinrich Arnold; es hat sich umgekehrt, sie sitzt in ihrem Lehnstuhl in der Stube, und der kleine Hinrich bedient jetzt seine Urgroßmutter.“

„So laß uns morgen zu ihr, damit auch von den Deinigen sich eine Hand auf unsere Häupter lege!“

Dann traten sie in das Wohnzimmer. Als er den offen stehenden Flügel sah, überkam es ihn plötzlich. Wie trunken griff er in die Tasten und sang ihr zu:

„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn!“

Sie stand ihm lächelnd gegenüber und sah ihn groß mit ihren blauen Augen an, während sie wie träumend mit der Hand ihr glänzend schwarzes Haar zurückstrich. Er vermochte nicht weiter zu singen; er sprang auf, faßte sie mit beiden Händen und hielt sie weit vor sich hin; seine Augen ließen nicht von ihr, als könnten sie sich nicht ersättigen an ihrem Anblicke. „Und nun?“ fragte er endlich.

„Nun Arnold, mit Dir zurück in die Welt, in den hohen, hellen Tag.“ – –

Dann gingen sie Arm in Arm, zögernd, als müßten sie die Seligkeit jeder Secunde zurückhalten, die breite Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Als sie in den Rittersaal traten, kam ihnen der Oheim aus seinem Zimmer entgegen. Seine Gestalt war noch ungebeugt, und seine Augen blickten noch so innig wie vor Jahren. „Du brauchst einen Verwalter, Anna,“ sagte er; „gegen freies Quartier werde ich diesen Posten übernehmen.“

Sie wollte Einwendungen machen. „Nein, nein,“ sagte er, „es wird nicht anders; ich bleibe hier und sehe nach dem Rechten. Aber Ich habe eine Bedingung: in den Sommerferien kommen der Herr Professor und die Frau Professorin auf das Schloß, um meine Jahresrechnung abzunehmen.“

Sie gelobten das.

Ueber ihnen auf dem alten Bilde stand wie immer der Prügeljunge mit seinem Sperling seitab von den geputzten kleinen Grafen und schaute stumm und schmerzlich herab auf die Kinder einer andern Zeit.


  1. Verfasser der in achter Auflage erschienenen Erzählung „Immensee“.