In den Hütten der Aussätzigen vor Jerusalem

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Autor: Theodor Hermann Lange
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Titel: In den Hütten der Aussätzigen vor Jerusalem
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 419–421
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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In den Hütten der Aussätzigen vor Jerusalem.

Bei Jaffa betrat mein Fuß die Erde des „heiligen Landes“. Arabische Barkenführer hatten mich von Bord des großen Triester Post- und Passagierdampfers, der schon weit draußen in der See die Anker fallen ließ, abgeholt und das schwankende Boot mit erfahrener Hand an Klippen und Untiefen vorüber durch die grollende Brandung bis an den zerfallenen Quai geführt. Es war zur Zeit der Orangenernte, im Februar. Die breiten Aeste bogen sich unter den goldenen Früchten, den Gärten entströmte ein balsamischer Duft, Tausende fleißiger Hände regten sich, pflückten die schweren Aepfel, verpackten sie in Kisten und trugen die Colli zum Hafen. Kein Mensch kümmerte sich um das Treiben des andern, ein Jeder hatte genug mit seiner Arbeit zu thun. Nur drei männliche Gestalten, in Lumpen gehüllt, saßen scheinbar theilnahmlos auf der Ufermauer und schrieen mir, als ich vom Strande aus die steinerne Treppe hinaufstieg, die bekannten ominösen Worte: „Bachschîsch, ya chawâge!“ („Ein Geschenk, o Herr!“) entgegen. Es waren Aussätzige, welche sich dem Palästinareisenden gewöhnlich zuerst im alten Joppe präsentiren, obschon ihre nächste gemeinschaftliche Behausung sich in dem nahezu zwei deutsche Meilen entfernten Städtchen Ramleh befindet. Zur Osterzeit, sobald zahlreiche und wohlhabende Pilger landen, stellen sich hier solche Unglückliche selbst aus Jerusalem ein, bei denen natürlich das Leiden noch nicht weit vorgeschritten sein darf und die daher ohne sonderliche Erschöpfung noch mehrere Stunden anhaltend zu laufen vermögen. Ich warf einige Kupferpara in die blechernen Schüsseln, welche alle diese Bedauernswerthen auf den Knieen vor sich halten, und eilte zunächst in die bekannte kleine württembergische Ansiedelung, um mir dort einen Wagen nach der Hauptstadt zu miethen.

Kaum zogen die Rosse an, um das hochsitzige, eigenthümlich construirte Fuhrwerk auf die Hauptstraße zu bringen, als wiederum dieselben drei „Elenden“ – so werden sie im Volksmunde in Syrien benannt – sich an den Pforten des Hôtelhofes postirt hatten, um abermals ihre leeren Gefäße jammernd und winselnd emporzuheben. Touristen, die auf der erwähnten Zwischenstation Ramleh vielleicht ein wenig länger als nöthig rasten, sind dann nicht selten auf das Höchste erstaunt, wenn direct vor den Thoren Jerusalems jene nämlichen Bettler zum dritten Male tributfordernd erscheinen, die ihnen beim Ausschiffen entgegentraten, und welche bei der Abfahrt aus der Colonie sich an sie herandrängten.

So seltsam es auch klingt, die Aussätzigen in Jerusalem und Ramleh bilden thatsächlich unter sich eine wohlorganisirte – Corporation mit einem „Scheich“ an der Spitze, der in den Frühjahrsmonaten die schnellsten Läufer auswählt und hinab nach Jaffa sendet, sobald dort die Ankunft eines wohlbesetzten europäischen Steamers erwartet wird. Während der Reisende in Ramleh ruht, um die heißen Mittagsstunden nicht in einem unbedeckten Gefährt auf der völlig schattenlosen Chaussee verbringen zu müssen, eilen diese aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, so schnell sie nur ihre Füße tragen können, auf kürzeren Seiten- und Gebirgspfaden voraus, um sich etwa fünfhundert Schritt vor der Stadtmauer Jerusalems rechts oder links von der Landstraße mit den anderen Leidensgenossen vereint zu lagern. Letztere gehören durchschnittlich schon zu den „Invaliden“ der Corporation. Ihre Glieder sind steif, ihr Gang schleppend, die Stimme heiser, die Finger nach innen gebogen und ohne Gefühl – in jeder Beziehung die mitleiderweckendsten Geschöpfe, die kaum aus ihren Hütten hierher zu kriechen vermochten.

Vernehmen sie aber den Hufschlag der Pferde, das Rollen der Räder, sehen sie eine Staubwolke auffliegen, so stoßen sie gemeinschaftlich ihren Ruf nach „Bachschisch“ in so denkbar kläglicher und gellender Weise aus, daß der Neuling in diesem Lande ein Unglück vermuthet und den Wagen halten lassen will.

Noch vor zehn Jahren waren diese Leprosen eine Plage für die Stadt, besonders fur die einzelnen europäischen Familien in derselben. Betrat man damals Jerusalem beim Zionsthor, so erblickte man zur Rechten sechszehn niedrige Hütten, aus unbehauenen Steinen aufgeführt und mit Stroh und Lehm zugedeckt. Diese Hütten – richtiger wäre schon die Bezeichnung Höhlen gewesen – waren kaum zehn Schritt von der an diesem Punkte ziemlich hohen Stadtmauer errichtet. Eine stieß an die andere, aber alle wandten ihr Angesicht von der Straße ab und der Mauer zu. Die Parias des „heiligen Landes“ hatten hier ihr Unterkommen gefunden. Niemand sorgte für sie, keiner kümmerte sich um sie, weder der Pascha, noch der Moschee-Vorstand; kein Hakim (Arzt), kein Marabut, kein Mensch brachte ihnen Hülfe, bezeigte ihnen Interesse, Jedermann ging ihnen aus dem Wege, nachdem er von weitem eine Scheidemünze oder eine Frucht in ihren Eimer geworfen hatte. Mitunter erschienen aber auch die Aussätzigen in den Häusern der Stadtbewohner und waren nicht eher zum Weggang zu bewegen, bevor man ihnen nicht ein Almosen reichte. Besonders ekelerregend mußte ihr Besuch in den Wohnungen der Europäer sein, die sich mit den Zudringlichen theilweise gar nicht oder nur äußerst mangelhaft verständigen konnten. War der hingeworfene Bachschisch dem unausstehlichen Gaste zu gering, so blieb derselbe so lange im Hause, bis ein zweiter größerer folgte.

Endlich raffte sich die türkische Behörde auf. Kiamil Pascha, Gouverneur der „heiligen Stadt“, erließ ein Bittschreiben an die europäischen Konsuln, die christlichen Bischöfe, Priester und Missionare, desgleichen an die wohlhabenderen Deutschen, Engländer und Franzosen in seinem Paschalik mit dem Ersuchen, ihm so rasch und so viel als möglich Gelder zu übermitteln, damit man den von aller Welt Gemiedenen eine halbe Stunde vor der Ringmauer ein Asyl erbauen und endlich die Baracken am Zionsthor niederreißen könne. Die Beiträge flossen reichlicher und schneller, als der Pascha geglaubt, da besonders die ansässigen Deutschen und Engländer von der unangenehmen Nachbarschaft in Bälde befreit sein wollten.

Der Bau des Spitals wurde diesmal wirklich sofort begonnen, wie gesagt, zum Besten mohammedanischer Araber und für Unterthanen des Sultan, obwohl kein Moslem auch das geringste Scherflein beigesteuert hatte. Noch ehe das Gebäude beim Dorfe Siloah gänzlich fertig gestellt ward, trieb Ali Bey, der Nachfolger Kiamil Paschas, die „hoffnungslos Elenden“ mit Gewalt in die neue Caserne, da sich freiwillig keiner zu einer Uebersiedelung bequemen wollte. Der Wechsel des Domicils war weniger die Ursache des Sträubens, als das zugleich unter Androhung der schwersten Strafen erlassene Verbot, sich künftighin noch in den Straßen und Häusern der Stadt zu zeigen. Nur für den zweiten Tag des Monat Schauwal („Kleiner Beiram“) sollte diese Bestimmung außer Kraft bleiben. Als man das schmutzige Gemäuer am Zionsthor zerstörte, blieb den Bejammernswerthen [420] natürlich nichts Anderes übrig, als sich in das neue Quartier zu flüchten. Sie versuchten aber ein Letztes. Ein Protest über die stattgehabte Austreibung, von ihrem „Scheich“ aufgesetzt, ging „in Aller Namen“ an die hohe Pforte in Stambul ab unb zwar als – Telegramm. Die Kosten beliefen sich auf nahezu hundert Franken, sie wurden auf einstimmigen Beschluß der Corporationscasse entnommen, aber eine Antwort kam vom Goldenen Horn nicht zurück. Dies geschah im Mai 1875.

Wohl ein Dutzend Mal habe ich meine Schritte nach dem Asyl bei Siloah gelenkt. Vom Jaffathor aus erreicht man es in etwa fünfundzwanzig Minuten. Der steinige Pfad führt thalwärts, die Vegetation ist dürftig und monoton, nur vereinzelt trifft man Gruppen verkümmerter Oliven. Schon im April sind die Bäche ausgetrocknet, Sand und Kiesel füllen ihr Bett aus, und einzig an dem Gipfel des Oelberges findet das Auge einen angenehmen Ruhepunkt. Bald aber ist auch dieser den Blicken entschwunden. Siloah, dessen Häuser wie Schwalbennester an den Felsen kleben, bleibt zur Linken liegen, während „das Haus der Kranken“ unterhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe steht. Es ist ein langer einstöckiger Bau mit acht Kammern. Im Rücken des Spitals, wenn dieser Ausdruck hier angewandt werden kann, sind beträchtliche Bodenerhebungen, und als ich das erste Mal den schmalen Hof zwischen dem Hause und der Bergwand betrat, standen drei Frauen und zwei Mädchen am Eingange. Sie waren nicht wenig überrascht, daß ein Nasrani (Christ) ihre sonst von Jedermann ängstlich gemiedenen Wohnungen aufsuchte. Konnte ich doch nie einen Touristen bewegen, mich nach diesem Hause zu begleiten, ja selbst ein amerikanischer Journalist prallte entsetzt vor mir zurück, als ich ihn darauf aufmerksam machte, für seine Zeitung eine detaillirte Schilderung dieses dürftigsten aller Hospize zu geben. Das Alter der drei Frauen, die mich sofort anbettelten, ließ sich nicht einmal annähernd feststellen, während die Mädchen mir auf Befragen mittheilten, daß sie elf und zwölf Jahre zählten.

Ich inspicirte zunächst die letzte Kammer des Hauses, denn hierher führte man mich, um desto wirksamer an mein Mitgefühl zu appelliren. In dem niedrigen rauchgeschwärzten Raume lagen auf schmutzigen Lumpen zwei Männer, denen jedenfalls der Allerlöser Tod sehr nahe war. Keiner der Beiden vermochte aufzublicken, die Nase sowie die Nägel an den Fingern fehlten dem Einen sowohl als dem Andern, kein Glied konnten die Unglücklichen bewegen, und die Sprache ähnelte nur noch einem schwachen Röcheln. Neben den Lagerstätten standen Schüsseln mit erkaltetem Reis und Krüge mit Wasser.

Hülfe und Heilmittel gegen diese Pest kennt die Wissenschaft bislang nicht. Arzneien, eine gewisse Diät, selbst die größte Reinlichkeit schaffen nur eine zeitweilige Linderung. Vor ungefähr acht Jahren glaubten intelligente französische und deutsche Mediciner mit den neuentdeckten sogenannten indischen Medicamenten Erfolge erzielen zu können, indem man nämlich den Krankheitsstoff nach außen trieb. Aber die so behandelten Personen verfielen dabei zunächst in Fieber, dann in derartige starke und gefährliche Krämpfe, daß man von diesen angeblichen Remedien gänzlich absehen mußte.

Europäer werden nie von der Lepra ergriffen, auch die Gefahr einer Ansteckung existirt für sie nicht. In Palästina ist es fast ausschließlich die ärmere Landbevölkerung, welche von dem Uebel heimgesucht wird. Professor Dr. Häsert, eine der ersten Autoritäten auf dem Gebiete der Hautkrankheiten, schreibt darüber wörtlich:

„Die allgemeinen Ursachen des Aussatzes sind bekannt genug. Sie liegen in der tiefsten körperlichen, geistigen und sittlichen Verwahrlosung der betreffenden Volksclassen. Die Lepra ist die Wirkung aller der Einflüsse, welche den Menschen auf der niedrigsten Stufe der Cultur umgeben. Sie findet sich nur, wo diese Bedingungen zusammen wirken. Aus Mitteleuropa, besonders Deutschland, Frankreich etc., wo der Aussatz bis zum fünfzehnten Jahrhundert ganz allgemein verbreitet war, ist er durch die Cultur verschwunden, und diese allein wird ihn auch im Orient, und wo er sonst noch sich erhält, verdrängen.“

Die Lepra verschont kein Geschlecht, kein Alter, und was das Furchtbarste, sie vererbt sich, geringe Ausnahmen abgerechnet, von Generation auf Generation, bis die Familie gänzlich ausgestorben ist. Wohl überspringt die Krankheit zuweilen ein Glied, der aussätzige Vater oder die aussätzige Mutter können Eltern völlig gesunder Kinder sein, die bis zu ihrem Tode rein und intact bleiben. Aber an den Enkeln zeigt sich das Gift sicherlich wieder. Sobald die ersten Spuren dieses gräßlichen Fluches bei einer Person wahrgenommen werden, ist ihres Bleibens in der Gemeinde nicht mehr. Sind es Erwachsene, so verkaufen sie sofort ihren beweglichen oder unbeweglichen Besitz und gehen zumeist nach Jerusalem, seltener nach Ramleh oder Nablus (Sichem), wo kleinere Zufluchtsstätten bestehen. Jerusalem erhält deswegen den Vorzug, weil ihnen dort, wie mir einer der Aermsten naiv mittheilte, „die Jaffastraße gehöre“.

Kommen die Ausgestoßenen in Siloah an, so prüft sie zunächst der „Scheich“, natürlich selbst ein „Unheilbarer“, ob sie zur Aufnahme in die „Zunft“ sich eignen. Den Eintritt erkaufen sie sich dann je nach ihren Vermögensverhältnissen mit 2 bis 10 Silber-Medjidie (7 bis 35 Mark). Dafür erwerben sie folgende Berechtigungen. Zunächst einen Sitz an der Landstraße gegenüber der Wohnung des armenischen Patriarchen, weil dort die Fremdenpassage am lebhaftesten ist. Diesen Sitz darf ihnen Niemand streitig machen. Sind sie noch jung und körperlich rüstig, so werden sie auch nach Ramleh und Jaffa gesandt, um die erste „Steuer“, die häufig die beste ist, von den ankommenden Reisenden zu erheben. Vermögen ihre Glieder sie aber nicht mehr zu tragen, werden sie schwächer und schwächer und sozusagen geschäftsuntauglich, dann haben sie als „Eingekaufte“ stets einen gewissen Antheil an der Gesammteinnahme der Uebrigen.

Der „Scheich“ pflegt nur in Ausnahmefällen zu „arbeiten“. Er gruppirt vielmehr die Seinen ganz zweckmäßig vor dem Jaffathore und wacht ängstlich darüber, daß nur Angehörige der Corporation sich einen Platz auswählen; Leprosen, die sich nicht eingekauft haben und vor dem Jaffathore betteln wollen, werden von ihren „zünftigen“ Leidensgenossen so lange mit Schlägen tractirt, bis sie todt liegen bleiben.

Zunächst erblickt der Reisende, sobald er der „hochgebauten Stadt“ ansichtig wird, die weniger Kranken, die natürlich am meisten schreien müssen. Er giebt ihnen einen Bachschisch. Nunmehr gewahrt er erst die am gräßlichsten Verstümmelten. Diese heben ihre zerfressenen Glieder – Hände und Füße – so lange es der Aufwand der spärlichen Kräfte erlaubt, unverhüllt empor, und meist fällt wieder ein Piaster in die aufgestellten Blecheimer.

Beginnt die Zeit der Ernte, so hat der „Scheich“ das Recht, die Seinen an einem gewissen Tage auf die Felder zu schicken. Was sie an Früchten an einem Nachmittag fortschleppen können, ist ihr Eigenthum.

Schließt sich ein Leprose der Zunft nicht an, dann muß er wohl in der Herberge bei Siloah von den Anderen geduldet werden, aber sein Loos ist ein unerträgliches. Man verleidet ihm den Aufenthalt in jeder Weise, man bestiehlt ihn, ja man läßt es selbst an den gröbsten Mißhandlungen nicht fehlen, bis gewöhnlich der doppelt Verfehmte in das deutsche und christliche Aussätzigenasyl flieht, das sich ebenfalls vor den Thoren der Stadt, unweit des Stationsgebäudes des bekannten internationalen Reise-Unternehmers Cook, befindet. Dieses Haus ist eine Musteranstalt in jeder Beziehung, nur den Aussätzigen selbst gefällt sie nicht. Als sie vor einigen Jahren eröffnet wurde, waren Consuln, Priester, Missionäre, Aerzte – aber keine Aussätzigen anwesend. In neuerer Zeit haben sich mehrere Unglückliche eingefunden.

„Es ist jedoch nicht nur einmal vorgekommen,“ sagte mir der Vorsteher dieses Instituts, ein Mitglied und Lehrer der Brüdergemeinde, „daß Leute, die Jahre hindurch von uns auf das Beste verpflegt worden sind, heimlich das Haus verlassen haben, um nie wieder zurückzukehren.“

Den Gästen dieses Hospitals ist nämlich das Betteln auf das Strengste verboten, sie müssen außerdem, so weit es ihre physischen Kräfte gestatten, leichte Garten- und Feldarbeiten verrichten, sich regelmäßig waschen und baden, und alles das behagt ihnen nicht.

Die „Zölle“, welche die Wegelagerer an der Jaffastraße erheben, sind gar nicht so geringfügig. Im April 1881 starb beispielsweise in Siloah ein fünfzigjähriger Mann, der in wenig Jahren von den erbettelten Beträgen neunzig Silber-Medjidie (über dreihundert Mark) sich erübrigt hatte. Und dabei hindert sie noch oft im Winter die Witterung, die Hütten zu verlassen. Beginnt die Regenperiode, schwellen die Bäche an, werden die [421] Pfade unwegsam, dann verbietet sich von selber der Aufenthalt an der Landstraße. Man bleibt „unten“ in Siloah, kocht Reis, Kaffee und spielt mit Würfeln um Einsätze, die oft aus halben und ganzen Piastern bestehen. Der Aufenthalt im Asyl bei Siloah ist für Europäer geradezu unmöglich, den Arabern mag er gar nicht so fürchterlich erscheinen. Luft und Licht haben nur durch eine niedrige Thür Zutritt, durch welche der Rauch ebenfalls seinen Abzug findet. Polster, Matratzen sind nirgends vorhanden, nur Lumpen, Stroh und Unrath starren uns entgegen, aber schließlich sieht es in den Hütten der Landbewohner in Palästina auch nicht besser aus.

Lange währt ein solches Leben natürlich nicht. Vier, fünf Jahre nach Ausbruch der Krankheit schwinden die körperlichen und mit ihnen die geistigen Kräfte. Patienten, welche nach zehnjährigen Leiden sterben, sind Seltenheiten. Indessen ist es gar nichts Ungewöhnliches, daß Männer und Frauen, die bis zum fünfzigsten Lebensjahre gesund ihrer Beschäftigung nachgehen konnten, dann doch noch von der heimtückischen Krankheit erfaßt werden. Bei weitem mehr sind wohl jene Kinder, Knaben sowohl als Mädchen, zu beklagen, die bereits in ihrem neunten und zehnten Jahre „der erstgeborene Sohn des Todes“ für sich reclamirt.

Das Elend in unseren großen Welt- und Culturstädten, in den Metropolen Europas und Amerikas kann unter Umständen ein Stück Poesie besitzen, und öfters schlägt auch für den verzweifeltsten Proletarier darin die Messias-Stunde. Aber die Misère zu Siloah hat keinen Trost, keine Versöhnung, keine Erlösung und obendrein den entsetzlichen Fluch der unverschuldeten Pein. Es liegt ein fremder Ausdruck in den Zügen dieser aus der menschlichen Gesellschaft und vom eigenen Haus und Hof Gejagten. Auch die „Geflohenen“ – so nannte sie Mohammed – können zu Stunden lachen und scherzen, doch seltsam klangen stets diese Laute der Freude an mein Ohr. Denn nie verlieren sie die Gewißheit, daß Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr ihre Krankheit furchtbarer, ihre Leiden unsäglicher werden. Die Schmerzen in den gekrümmten und zitternden Gliedern, in den offenen und zuckenden Wunden, in der beständig brennenden Kehle erreichen die letzten Wochen vor dem Tode eine Höhe, die wir nicht kennen und die wir auch kaum verstehen, weil in diesem Stadium der Auflösung nur schwache, unarticulirte Laute über die vertrockneten Lippen dringen. Und endlich – nicht einmal die Gleichheit des Todes existirt für sie, denn abseits scharrt man sie ein, ohne daß auch nur ein Marabut oder Fakir ein Gebet für sie spricht, für sie – „die hoffnungslos Elenden“.
Theodor Hermann Lange.