In den Wolken

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Autor: Heinrich Noé
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Titel: In den Wolken
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9–12, S. 142–144, 159–163, 176–179, 195–199
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[142]

In den Wolken.

Eine Waldgeschichte von Heinrich Noé.
1.

Nordöstlich von Görz, ungefähr zwölfhundert Meter über der Thalsohle, auf welcher diese anmuthige Stadt aufgebaut ist, ragt eine mächtige Hochfläche. Man nennt sie den Ternovaner Wald. Dieselbe zieht sich in der Richtung nach Idria hin. Mehr als neuntausend Hektare sind mit hochstämmigem Wald bedeckt, welcher an Ueppigkeit seinesgleichen kaum hat in den Gebieten Deutschlands und des österreichischen Kaiserreiches. Es ist ein Stück Nordland, welches sich gerade über den warmen Gefilden des Südens erhebt.

Der Jäger, der das Reh in seinem Dickicht jagt, sieht dort, wo sich dasselbe lichtet, auf das blaue Meer und seine weißen Segel hinab. Der Morgenstrahl macht ihm sogar in seiner Waldwohnung die ferne Stadt[WS 1] der Lagunen, das märchenhafte Venedig, sichtbar.

In diesem weiten Walde führen verschiedene Förster, lauter Deutsche, ein einsames Leben. Sie sind weltabgeschieden wie wenige ihrer Standesgenossen. Görz ist der nächste Ort, an welchem sie das erreichen, was man in Bezug auf die menschliche Gesellschaft Welt zu nennen pflegt. Dorthin aber müssen sie, abgesehen von der Entfernung in der Luftlinie, mehr als dreitausend Fuß hinab, und, was noch mehr in Betracht kommt, auf dem Rückwege wieder herauf steigen. Und gerade im Winter, in dessen stürmischer und trauriger Zeit das Bedürfniß nach dem Verkehr mit Menschen sich am meisten fühlbar macht, ist ein solcher Gang überaus beschwerlich. Die Wege sind mit Schnee und Eisplatten belegt, so daß ohne die Zuhilfenahme von Fußeisen, welche sich der Wanderer an den Schuhen befestigt, die glatten Hänge nicht überwunden werden können. Dazu kommt noch der heftige erstarrende Sturmwind, die Bora, die sich häufig genug einstellt. Wehe demjenigen, dessen sie sich bemächtigt!

Die Förster, welche in weit von einander entfernten Häusern wohnen, haben im Volksmunde den Namen „die Waldteufel“ erhalten. Es ist damit nicht gesagt, daß sie für schlimme Menschen gehalten werden, sondern die Leute wollen damit auf ihr einsames Leben im Hochwalde hindeuten.

In einem Forsthause, welches unweit der Mittagsspitze steht, die von den Slaven Poldanovec genannt wird, wohnte einer jener Förster, welcher schon viele Jahre in dieser Waldeinsamkeit zugebracht hatte. Man nannte ihn den Eisenhans. Und gewiß verdiente er diesen Namen. Es war in der That seiner Zeit ein eiserner Mann gewesen. So wetterhart, wie er, war keiner. Keine Bora war heftig genug, um ihn von irgend einem Dienstgange abzuhalten. Er war der Schrecken der Wilddiebe und anderer Forstfrevler.

Gleichwohl bekommen wir ihn im Anfange unserer Geschichte in einer Stellung zu sehen, welche nicht mit den beschriebenen Eigenschaften zusammen zu stimmen scheint.

Wir sehen ihn nämlich, wie er im pfadlosen Wald, auf dessen schneeüberwehtem Boden nicht eine einzige Spur einen Weg andeutet, auf allen Vieren sich durch den Schnee hindurchschleicht. Thut er dies, um ein Wild zu überlisten? Thut er es, um irgend einem Uebelthäter beizukommen?

Im Dickicht der schneebelasteten Bäume wäre solches Schleichen in beiden Fällen nicht nothwendig gewesen.

Wenn uns das Auge keinen Aufschluß darüber geben kann, warum der Eisenhans eine für einen waldgewaltigen Förster so sonderbare Stellung einnimmt, so würde uns das Gehör darüber sofort unterrichten.

Es geht ein Stöhnen und Dröhnen durch den Wald, als ob ein Wassersturz gleich dem Niagara in einer Entfernung von wenigen Schritten von uns zur Tiefe ginge. Aus allen Dickichten dringen klagende, heulende Stimmen hervor.

Die Bora ist über den Ternovaner Wald gekommen, und wenn der Eisenhans sich aufrichten wollte, würde sie ihn in die eisig verglasten Schneehaufen hineinwerfen. Kein Mensch vermöchte sich auf den Füßen zu erhalten, auch der Eisenhans nicht.

Die Mühsal eines solchen Sichfortbewegens verhinderte den Eisenhans nicht, von Zeit zu Zeit ingrimmige Verwünschungen auszustoßen. Er richtete diese gegen sich selbst. Warum war er auch so unvorsichtig gewesen und hatte sich beim Fortgehen nicht mit Fußeisen versehen? War es doch Winter und konnte die Bora mit einem Schlag über das Land kommen, wie es auch thatsächlich geschah.

Indessen bewährte es sich auch hier wieder, daß schlimme Erlebnisse mitunter ihr Gutes haben.

Wäre der Förster aufrecht gegangen, so wäre er nicht mit der Nase auf eine von Schneestaub überwehte Schlinge gestoßen. Sicherlich wäre ihm diese entgangen.

In dem zugezogenen Theile derselben steckte ein Hase, der zu einem Klumpen zusammengefroren war.

Dieser Anblick verblüffte den Eisenhans so, daß er darüber die Bora und das ganze Ungemach vergaß.

„Hab ich dich endlich einmal!“ sagte er laut vor sich hin. „Diesmal hast du dich wohl selbst gefangen, Meßner!“

Mit einem Blick sah er das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige vor sich.

Der Meßner des Dörfleins, welchen er längst im Verdacht der Wilddieberei und schon hundert Mal mit dem Tode bedroht hatte, mußte diese Schlinge gelegt haben. Es konnte nicht fehlen, daß derselbe in allernächster Zeit hierher kommen und nachschauen würde. Der Förster hatte nun einen bestimmten Anhalt, wo er den Frevler auf frischer That packen zu können hoffen konnte. Besonders günstig war der Umstand, daß der Meßner nicht durch die Spuren des Försters im Schnee gewarnt zu werden vermochte. Denn bei dem Sturm, welcher herrschte und voraussichtlich anhielt, mußte das fortwährend aufgewühlte Schneepulver bald jede Fußstapfe bis zur Unkenntlichkeit verwehen.

Da der Eisenhans sein Revier kannte wie seine eigene Tasche, so bot es ihm keine Schwierigkeit, sich die Stelle genau zu merken. Sie lag überdies kaum zweihundert Schritte vom Forsthaus ab und war nur durch einen Bühel, auf welchem man des Schutzes wegen, welchen die Bäume bieten, ein kleines Stück Urwald stehen gelassen hatte, von demselben getrennt.

Vorläufig aber mußte der Förster seinen seltsamen Gang auf allen Vieren fortsetzen. Erst, nachdem er eine Gruppe von ungeheuren Tannen erreicht hatte, die sich bis zum Fuße jenes Bühels fortsetzte, gelang es ihm, sich wieder aufzurichten.

Er vermochte einige Schritte weiter zu gehen, indem er sich an dem festen Geäste hielt, unter welchem zudem sehr wenig Schnee lag.

Plötzlich horchte er überrascht auf. Mitten durch das Schwirren und Pfeifen der Bora vernahm er deutlich Glockenhall. War es denn möglich, daß man schon zur Vesper läutete? Er verglich seine Uhr.

Wenn diese richtig ging – und er hatte allen Grund es anzunehmen – so fehlten noch zwei Stunden bis zur Zeit des Vesperläutens. Oder wagte es der nichtswürdige Meßner, in Abwesenheit des Geistlichen heute nach seinem Gutdünken vor der Zeit zu läuten, um bis zum Einbruch der Dämmerung eine längere Frist zum Absuchen seiner Schlingen vor sich zu haben? Von den armseligen Leuten, die unter den schwarzen Strohdächern in ihren Hütten wohnten, hatte ohnehin kaum einer eine Uhr, das Gebahren des Meßners zu überwachen. Mit einem Male aber schwieg das Geläute und klang so sonderbar aus, wie es der Eisenhans nach seiner Erinnerung kaum jemals gehört hatte.

Jetzt besann er sich, was da vorging. Es war allerdings ein seltener Fall. Nicht der Meßner hatte die Glocke in Bewegung gesetzt, sondern die Bora, welche heute so wüthete, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Die Tannen, unter welchen er sich befand, standen so dicht nebeneinander und breiteten über den Boden ein so mächtiges Schirmdach aus, daß nur wenige Schneeflecke auf dem Boden zu sehen waren.

Da ereignete sich etwas, wodurch der erfrorene Hase, die Schlinge und der Meßner augenblicklich in Vergessenheit geriethen. [143] In zwei nebeneinander liegenden, das struppige Heidekraut halb verdeckenden Schneeflecken bemerkte der Eisenhans Spuren, bei deren erstem Anblick er wie eingewurzelt stehen blieb. Nichts regte sich an ihm außer den Wimpern des blinzelnden Auges.

Die Krallen, welche hier im Schnee ihren Abdruck hinterlassen hatten, waren die eines katzenartigen Thieres.

Für eine Wildkatze oder irgend einen verwilderten, einer Bauernhütte entlaufenen Kater waren sie viel zu groß. Sie mußten also von einem Luchs herrühren. Nun hatte aber der Eisenhans seit mehr als zehn Jahren von dem Erscheinen eines solchen Thieres in den weiten Revieren des Ternovaner Waldes weder etwas gespürt noch vernommen. Es war also das genaueste Zusehen vonnöthen.

Doch je mehr der Förster die Fährte betrachtete, desto sicherer wurde er in seinem Urtheil, daß hier ein echter Luchs vorübergewechselt haben müsse. Vermuthlich war derselbe auf der Witterung nach den Schafen, die noch vor wenigen Tagen auf der schneefreien Südabdachung des Bühels geweidet hatten, hier herumgeschlichen.

Das wäre ein Jagdglück sondergleichen gewesen, dieses seltenen Räubers habhaft zu werden. Es mußte auf Wochen hinaus den Gesprächsstoff weit und breit unter den Waldteufeln abgeben. Wenn die Spur nicht trog, so war es ein starkes Thier, das wohl seinen halben Centner Gewicht haben konnte. Dann mußte es ein Fell haben, dessen Werth nicht unter dreißig Gulden zu schätzen war, dem Eisenhans also ein schönes Schußgeld eintrug.

Höchst zufrieden mit der von ihm gemachten Wahrnehmung wandte er sich nunmehr dem nahen Forsthause zu. Das Gefühl der Erstarrung, welches ihn während seiner Wanderung überkommen hatte, war ihm über dieser Aufregung völlig entschwunden.

2.

Im Hause empfing Regina, die Tochter des Försters, ihren Vater mit sanften Vorwürfen darüber, daß er bei einem solchen Wetter seine Gesundheit unnöthig aufs Spiel setze.

„Kein Mensch läßt sich sehen draußen bei dem Sturme,“ sagte das Mädchen. „Kein Thier verläßt seine Höhle, kein Raubschütze wagt sich in den Wald, der ärmste Mensch geht nicht hinaus, um Feuerschwämme oder Zunderpilze zu sammeln.“

Der Eisenhans brummte einige unverständliche Worte, welche vielleicht bedeuten sollten, daß die Weiber derlei nichts anginge, in den Bart, dann hängte er seine Büchse an die Wand, zog die schneebedeckten Schuhe und Jägerstrümpfe aus und machte es sich bequem hinter dem grünen Kachelofen, der fast den dritten Theil der Stube einnahm.

Die Stimme des zunehmenden Sturmes schien dem Mädchen Recht zu geben. Es war eine Bora, wie man sie kaum jemals erlebt hatte. Die alte Linde vor dem Fenster, deren Zweige, eben der Bora, des Nordoststurmes wegen, alle gegen Südwest gewachsen waren, schien zu beben, obwohl sie sich mit hundertjährigem Wurzelwerk weit verästelt an den Felsblöcken des moosüberwachsenen Bodens festhielt. Man hörte bis in die Stube herein aus dem Walde herüber das Krachen abgeknickter Zweige.

Der Eisenhans aber hätte sich nicht viel darum gekümmert, wenn auch das Haus selbst gewackelt hätte wie eine Wiege. Seine Gedanken waren nur auf eines gerichtet: den Luchs, und immer wieder den Luchs!

Wenn es nicht gar so gestürmt hätte, er würde sofort den weiten Weg in die Stadt hinab zum Forstmeister angetreten und ihm die unerhörte Neuigkeit hinterbracht haben.

Seit einer langen Reihe von Jahren hatte man, wie gesagt, nichts mehr von einem solchen Eindringling gehört. Derselbe mußte aus den Wäldern von Kroatien, aus dem Uskokengebirge, herübergekommen sein. Mochte dem sein wie immer, jetzt hieß es, dem Räuber so schnell wie möglich an den Leib zu gehen.

Das Einfachste wäre vielleicht gewesen, Fallen auszulegen. Das kam aber dem alten Jäger nicht weidmännisch genug vor. Eine Treibjagd bot ihre Schwierigkeiten, denn im Kalkboden des Waldgebietes giebt es zahllose Klüfte und Höhlungen, von welchen die eine mit der anderen in Verbindung steht. Den Räuber, welcher sein Handwerk fast nur bei Nacht treibt, aufzuspüren, war zudem dermalen besonders schwierig. Im tiefen Walde, dort, wo eine zusammenhängende Schneedecke lag, war dieselbe entweder gefroren, oder der Sturm wühlte sie fort und fort auf, so daß die Spuren immer wieder überweht werden mußten.

Für heute war nichts zu machen. Doch gedachte er, gegen die ersten Morgenstunden hin, in welchen die Bora oft etwas an Kraft verliert, einen Boten in die Stadt hinabzuschicken, um dem Forstmeister von dem aufgespürten Wundertiere Mittheilung zu machen, denn dieser würde es ihm gewiß niemals verziehen haben, wenn er ihm die Gelegenheit zu einem derartigen Weidgange unterschlagen hätte.

Regina hörte ohne sonderliche Theilnahme die lange Mittheilung ihres Vaters über die gemachte Entdeckung an. War sie auch Jägerskind, so hatte sich doch allmählich in ihr eine Empfindungsweise entwickelt, welche sich von ihrer gewohnten Umgebung mehr und mehr abwendete. Ihr Vater hatte, um ihr über die Einsamkeit hinwegzuhelfen, in welcher sie sich bei seiner langen Abwesenheit von Hause so häufig befand, aus der Stadt einen Büchervorrath kommen lassen, den er so oft als möglich erneuerte. Er wollte damit seinem Augapfel, dem leibhaftigen Abbild seiner verstorbenen Frau, welche so viele Jahre hindurch in dieser Einöde seine treue Gefährtin gewesen war, nicht nur Gelegenheit schaffen, sich selbständig zu unterrichten, sondern auch das Leben des jungen Mädchens bei ihm, dem ergrauenden Manne, erheitern.

Das geschah allerdings, es geschah aber noch etwas mehr. Regina lernte so viele Dinge aus der Welt kennen, von welcher sie selbst in Gebirg, Wald, Ebene, Städten, Flüssen und Meer einen so schönen Theil, freilich gleichsam nur aus den Wolken, tagtäglich überblickte. Was mußten sich dort unten, jenseit des Gewölkes für wunderbare Dinge zutragen! Was mochte es dort für schöne Häuser, für merkwürdige Menschen geben, was mochte dort alles zu sehen sein!

Regina befand sich nicht in der nämlichen Lage wie so manches Mädchen, welches in einem weltabgelegenen Dorfe sich ähnlichen Gedanken hingiebt. Jenes ahnt nur, daß in weiter Entfernung irgendwo die Dinge vorhanden sein müssen, welchen sich seine Einbildungskraft zuwendet. Regina aber sah unten die Thürme und weißen Paläste. Sie erblickte die Schiffe auf dem Meere und die Rauchsäulen der Dampfer, welche am Gesichtskreise verschwanden oder aus fernen Ländern kamen, von deren Wundern sie in ihren Büchern gelesen hatte.

Das alles überschaute sie. Wenn sie aber vor die Thüre traf, gerieth sie alsbald in das Dickicht der Tannen, von welchen die alten Flechten herabhingen, grau wie der Bart ihres Vaters. Tage lang sah sie keine andere lebendige Gesellschaft als die Schafe und Ziegen, die auf den Rodungen weideten. Während aus der Tiefe herauf, nach welcher sie so oft mit dem Fernrohre ihres Vaters hinabsah, Paläste zu ihr emporblickten, hatte sie zu Nachbarn nur die Insassen strohgedeckter Hütten, in welchen arme, halb verhungerte Leute zwischen Schmutzlachen ihr Wesen trieben.

Daher kam es, daß sie häufig an Sommerabenden, wenn die häusliche Arbeit verrichtet war, mit einem ihrer Bücher hinausging zu einem Sitze, der am Stamme einer mächtigen Tanne angebracht war. Der Baum streckte seine dichten Zweige so weit aus, daß sie dort, wenn sie auf der Bank saß, sich stets im Schatten befand. Hier blieb sie, während der Vater in den abendlichen Wald hinein auf den Anstand ging, oft sitzen, bis die Sonne hinter dem Horizonte versank. Dann wandelten ihre Gedanken über das von den letzten Strahlen purpurn übergossene Meer hin und folgten dem Gestirne, welches sich anschickte, anderen Himmelsstrichen zu leuchten.

Der Herr Forstmeister, welcher im Sommer manchmal zur Jagd heraufkam, hatte diesen Brauch Reginas mehrmals beobachtet. Er scherzte in seiner freundlichen Weise darüber und er war es, der es veranlaßte, daß der Försterstochter, als sie an einem Sommerabend wieder ihrem Lieblingssitz zustrebte, eine eigenthümliche Ueberraschung zu theil ward. Als sie ihre Blicke der Tanne zuwendete, fand sie eine künstlerisch ausgestattete Holztafel daran befestigt, auf welcher in großen Buchstaben zu lesen war: „Sehnsuchtstanne.“

Das war nun schon einige Jahre her und gerade jener Theil des Waldes, in welchem sich die Sehnsuchtstanne erhob, war [144] mittlerweile der Axt verfallen. Doch hatte der Forstmeister befohlen, daß dieser Baum nicht berührt werden dürfe. Er sollte als Denkmal an die Jugendzeit Reginas immer da stehen bleiben, bis ihn endlich einmal, wenn er alt und morsch geworden wäre, ein Herbststurm mitten unter die blauen Glockenblumen und die rothen Kelche des Heidekrautes hinstrecken würde, welche auf dem Grund unter seinen Zweigen gediehen.

Trotz ihres ungestümen Verlangens nach der Weite und trotz des schwärmerischen Nachsinnens, welchem sich Regina gerne im Bereiche der Sehnsuchtstanne hingab, hätte sie das Forsthaus niemals verlassen, so lange sie noch ihren Vater dort wußte. Mehrmals hatte eine Verwandte, welche in einer deutschen Hauptstadt wohnte, den Eisenhans aufgefordert, ihr seine Tochter auf eine Weile zu überlassen. Sie würde dort Gelegenheit finden, sich in allerlei nützlichen Dingen auszubilden und was noch derlei Vorstellungen mehr sind. Der Förster wäre bereit gewesen, einzuwilligen, das Mädchen aber antwortete mit einer festen und unerschütterlichen Weigerung.

Wenn sie nun doch hoffte, in nicht allzu ferner Zeit diese Einsamkeit verlassen zu können, so gründete sich diese Hoffnung auf manche gelegentliche Aeußerung des Vaters. Der Eisenhans sprach mitunter davon, sich zur Ruhe setzen und in die Stadt hinabziehen zu wollen. Die stürmischen Winter und der Mangel an Ansprache entrangen ihm manches vorübergehende Zeichen von Mißmuth. Das alles aber war wie weggeblasen, wenn die Herren vom Forstamt in der Stadt manchmal heraufkamen und ihm mehr Beschäftigung mitbrachten, als ihm oft lieb war. Noch gründlicher verging ihm jeder Gedanke an das Stadtleben, wenn der eine oder der andere von den Waldteufeln bei ihm vorsprach. Da ging es an ein Erzählen von Geschichten, von wirklichen oder erfundenen Erlebnissen aus dem Revier, welch letztere von den trefflichen Männern so oft erzählt worden waren, bis sie selbst daran glaubten. Da hörte man von Dachsbauen und Koppelhunden, von seltsamen Begegnungen mit Wölfen, von unglaublich wirksamen Treffern u. s. w.

Gerade heute hatte sich Regina der Hoffnung hingegeben, daß ihr Vater, wenn er aus diesem schrecklichen Sturme nach Hause käme, wieder einmal seinen Plan, um einen Ruheposten nachzusuchen, ins Auge fassen und besprechen werde. Die Zeit war günstig, denn nichts konnte der Eisenhans weniger leiden, als die Bora, welche ihn am Herumgehen im Walde hinderte. War es doch mitunter so arg, daß man am hellen Tage die Fensterläden schließen und die Lampe in der Wohnstube anbrennen mußte. Dann ging der Eisenhans wie ein gefangener Löwe in seinem Käfig hin und her, brummte und wünschte sich dahin, wo der Pfeffer wächst – und wo es keine Holz- und Wilddiebe giebt. So wäre es wahrscheinlich auch an diesem Abend gekommen, wenn nicht die Geschichte mit dem Luchs dem ganzen Denken des Försters eine andere Richtung gegeben hätte.

Indessen ereignete sich etwas, wodurch der Eisenhans in seiner Erwägung des Falles gestört wurde.

Eben dämmerte es und Regina zündete die Lampe an, als die Stubenthür aufflog. Ein Windstoß drang herein und löschte das Licht wieder aus. Dieser Windstoß kam vom Flur. Eben hatte jemand die Hausthür geöffnet und strengte sich vergeblich an, sie gegen den nachdrängenden Sturm wieder zu schließen. Als der Eisenhans dies bemerkte, sprang er hinaus und half dem Eintretenden.

„Sie sind es, Herr Kurat?“ sagte der Förster, nachdem das Thor geschlossen war. „Schönen guten Abend! Ich hätte nicht gedacht, daß Sie bei einem solchen Wetter über den Weg herüberkommen würden.“

„Es ist auch schlecht genug gegangen, Förster,“ sagte der Geistliche, ein stattlicher Mann in noch rüstigen Jahren. „Ich mußte mich fortwährend an der Mauer Eures Gartens halten, sonst hätte mich die Bora über den Berg hinabgeblasen.“

Der geistliche Herr war mittlerweile in die Stube getreten, wo jetzt die Lampe wieder brannte. Regina begrüßte ihn mit ehrerbietiger Verbeugung, der Eisenhans aber wies ihm den gewohnten Platz auf dem ledernen Ruhebett an, auf welchem der Geistliche zu sitzen pflegte, wenn er, was im Winter manchmal geschah, des Abends herüberkam, um mit dem Förster ein Spielchen zu machen.

Nachdem der Gast Platz genommen hatte, sagte er:

„Ich sag’s Ihnen rundweg, Förster, heute abend hätte es mich nicht mehr daheim gelitten und wenn mir einer viel Geld geboten hätte. Ich habe wirklich Angst bekommen. Das pfeift Ihnen im Pfarrhof, daß man meinen möchte, es komme der jüngste Tag. Von einem Augenblick zum andern habe ich geglaubt, der Glockenthurm falle um und schlage mich mitsammt dem Hause nieder. Ich habe ausgehen müssen, nur um unter die Leute zu kommen.“

Der Eisenhans lächelte und sagte:

„Man sieht wohl, daß Sie den ersten Winter hieroben sind, Herr Kurat. Mit der Zeit werden Sie sich schon daran gewöhnen. Sehen Sie, bei uns ist es gar nicht so arg mit dem Heulen und Pfeifen. Das kommt davon her, weil wir tüchtige, eichene Thüren haben, die ich mir aus unseren besten Brettern habe anfertigen lassen. Ihr Herr Vorgänger aber – Gott gebe ihm die ewige Ruhe! – hat sich um das Pfarrhaus wenig gekümmert. Die Thüren sind morsch und wackelig geworden und haben Sprünge von oben nach unten bekommen. Da pfeift es dann freilich durch, wie wenn das ganze Haus eine Geige wäre und die Bora mit dem Fiedelbogen darauf spielte.“

„Sogar die Glocken haben von selbst zu läuten angefangen,“ bemerkte der Kurat.

„Ich hab’s im Walde gehört,“ sagte der Förster, „und zuerst geglaubt, der Mensch läute wieder einmal zu früh Vesper. Doch, weil wir gerade von dem Burschen sprechen, so sage ich Ihnen, Herr Kurat, daß Sie vielleicht bald etwas von ihm zu hören bekommen, was Ihnen wenig gefallen wird.“

Der Geistliche legte den Haufen Karten, welchen er bereits in der Hand hielt, wieder auf den Tisch und horchte verwundert auf.

„Der Lump soll sich in Acht nehmen!“ schrie der Förster mit so lauter Stimme, daß Regina, welche sich mit einer Näharbeit beschäftigte, erschreckt zusammenfuhr.

Der Geistliche sagte kein Wort. Er schaute den Förster, welchen er niemals in solcher Aufregung gesehen hatte, starr an. Dieser fuhr fort:

„Draußen habe ich den zusammengefrorenen Hasen, den er gefangen hat. Ein Dieb ist er. Morgen in aller Frühe werde ich ihn beim Kriminal anzeigen.“

„Das werden Sie nicht thun, Herr Förster,“ sagte nun der Geistliche. „Wegen eines Hasen wollen Sie den Mann sicherlich nicht unglücklich machen – und noch dazu seine Frau und Kinder. Was liegt denn an einem Hasen? Ich werde Ihnen den Schaden vergüten.“

Aber der Förster, der gegen die ihm Verdächtigen unerbittlich war, hatte sich bereits in einen solchen Zorn hineingeredet, daß er die Einwendungen des geistlichen Herrn vollständig überhörte.

„Wäre nur heute nacht kein solches Wolfswetter,“ fuhr der Förster fort, indem er sich umwendete und gegen das Fenster hin schaute, dessen Läden von Zeit zu Zeit unter den Borastößen einen klagenden Laut von sich gaben, „ich hätte trotzdem gute Lust, hinauszugehen und aufzupassen. Erwische ich ihn, so ist es sein Tod. Setzt er sich zur Wehre, so schieße ich ihn nieder.“

Regina erhob sich, legte ihren Arm um den Hals des Vaters und sagte:

„Aber, bedenke nur, Vater, so etwas vor dem geistlichen Herrn!“

Und zu diesem gewendet fuhr sie fort:

„Ich bitte Sie, Herr Kurat, er meint es nicht so. Der Vater ärgert sich eben, wenn draußen im Walde ein Frevel geschieht.“

Der Geistliche dachte, es sei das Klügste, für jetzt das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen. Bei der Laune des Försters erschienen weitere Erörterungen unnütz.

„Spielen Sie aus, Förster!“ sagte er, indem er ein Kartenblatt in die Hand nahm.

Der Eisenhans seinerseits mochte einsehen, daß er sich zu sehr hatte gehen lassen. Stillschweigend nahm er das Spiel auf und bald hörte man nichts mehr als das eintönige Ansagen der Spielkarten.

[159]
3.

Als am nächsten Morgen die Magd des Försters die Hausthüre öffnen wollte, um in den Stall hinüberzugehen, wo sie die Kuh zu melken hatte, fiel ihr ein großer Schneeklumpen auf den Flur herein entgegen. Beim Lichte der Laterne sah sie, daß ein Schneehügel gegen die Thüre angeweht war, welcher fast bis zur Höhe derselben hinaufreichte. Da sie hörte, daß der Eisenhans, welcher, wie alle Jäger, zu den Frühaufstehern gehörte, sich bereits in der großen Wohnstube befand, so meldete sie diese Entdeckung alsbald ihrem Herrn. Dieser aber hatte bereits wahrgenommen, was während der Nacht geschehen war, weil er neugierig nach dem Wetter geschaut hatte.

„Ein solcher Schneefall bei Bora ist mir noch nie vorgekommen, solange ich in dem vermaledeiten Loche sitze,“ antwortete er verdrießlich der Magd.

[160] Indessen, was half es? Da hieß es zur Schaufel greifen und sich einen Ausweg schaffen. Von der stämmigen Magd unterstützt, machte er sich an die Arbeit. Dieselbe war aber rascher vollendet, als er gedacht hatte, denn schon nach wenigen Schaufelstichen war der Hügel durchbohrt. Es zeigte sich alsbald, daß der Schneefall gar nicht bedeutend gewesen war. Desto stärker hatte der Sturm gehaust, welcher nach seiner Willkür hier und dort den Boden ganz glatt gefegt, an andern Stellen aber den Schnee um so gewaltthätiger aufgehäuft hatte.

Es hatte ausgesehen, als ob man sich nur nach harter Arbeit auf den Weg hinaus durchzukämpfen vermöchte. Dieser lag aber schon nach dem vierten oder fünften Spatenstich offen da.

Der Sturm hatte etwas nachgelassen und die Luft fühlte sich an, als ob wärmeres Wetter im Anzuge wäre.

Unter diesen Umständen wollte der Eisenhans noch einmal die Spur des Luchses verfolgen, bevor er dem Forstmeister eine Nachricht zukommen ließ. Es war nicht mehr so schlecht zu gehen wie gestern. Hatten sich auch hier und dort starke Schneewehen aufgehäuft, so war dafür an vielen Stellen der Schnee zur Hälfte oder ganz weggefegt. Zum Aufspüren war das freilich weniger geeignet, aber das Jägerblut hätte dem Eisenhans nicht eine Stunde mehr Ruhe gelassen.

Er rief seinen Hund „Flott“, verabschiedete sich von seiner Tochter, welcher er sagte, daß sie ihn zur Mittagsmahlzeit nicht erwarten solle, und ging geradeswegs den Tannen des nämlichen Bühels zu, hinter welchem er gestern Schutz vor dem Andrang des Sturmes gefunden hatte.

Während der Förster dort oben immer weiter in den Wald eindrang, hatten die Leute tief unten in der Ebene, dort wo in den Gärten bereits die Knospen der Kamelien aufzuspringen begannen und hier und dort ein blühender Mandelbaum mit seinem weißen Wipfel die Schneehügel der Hochfläche nachahmte, ein wunderliches Schauspiel.

Wenn sie zum Rande der Höhe hinaufschauten, so sahen sie ein daran haftendes Gewölk, welches in der Richtung gegen das Tiefland hin eine Gestalt hatte wie eine schwere Woge, die sich auf flachem Strande überstürzt. Dies bedeutete, daß ein dichter Nebel, welcher durch den Kampf der feuchtwarmen und kalten Luftschichten entstand, sich über den Ternovaner Wald hin auszubreiten begann. Und so war es.

Schier urplötzlich befand sich der Eisenhans, nachdem er eine ziemliche Strecke in steter Aufmerksamkeit auf Wildspuren zurückgelegt hatte, mitten in einem Nebel, welcher so dicht war, daß er kaum fünf oder sechs Schritte weit zu blicken vermochte. In diesem Augenblick war der Förster in einem kleinen Schlage angelangt, in welchem große Haufen von Schnee zusammengeweht lagen. Mit einem Male schien es ihm, als ob er längs des Randes eines dieser Schneehaufen den Abdruck der breitspurigen Tatze des Luchses gewahrte. Auch „Flott“ gebärdete sich unruhig, schnüffelte hastig herum und gab alle Zeichen einer starken Aufregung. Der Eisenhans meinte, daß eine gewöhnliche Hasen- oder Rehspur derlei unmöglich veranlaßt haben könnte.

Er nahm nun den Hund an die Leine und folgte ihm in der höchsten Gespanntheit. Es ging durch dick und dünn. Hier und da sauste ein Rudel Rehe, vom Gekläff des Hundes verfolgt, durch das Dickicht oder an einem Hang hinauf. Manchmal mußte der Förster über einen halbumgestürzten Baumstamm klettern, manchmal hieß es, einen kahlen Hang ansteigen, einen jener Weideplätze, zu welchen am Abend das Wild aus dem Hochwald zur Aesung zieht.

Bald hatte er alle Richtung verloren. Obwohl er das weite Revier besser kannte als irgend einer seiner Amtsgenossen, so mußte er sich doch gestehen, daß er in diesem Nebel keine Ahnung habe, nach welchem Theil des Waldes ihn sein Flott geschleift hatte.

Er machte sich nichts daraus – in seinem Jägereifer kümmerte er sich nur um eins, nämlich den Schlupfwinkel des Katzenthieres auszukundschaften. Mitten in dem hastigen Gange vergaß er es aber nicht, vorsichtig auf den Boden zu schauen. Er wußte nur zu gut, daß derselbe in vielen Theilen des Waldgebietes von Höhlungen, Klüften, Trichtern und Schachten unterbrochen war. Die kleineren derselben konnten von darübergewehtem Schnee bedeckt sein und wehe ihm, wenn er in ein solches Loch hineinstürzte.

Als er eben sich anschickte, einen Haufen von Felstrümmern zu überklettern, zwischen welchen langästige Tannen aufragten, verspürte er einen heftigen Ruck. Es war dem Hunde gelungen, sich loszureißen. Im nächsten Augenblicke gab derselbe Standlaut. Er bellte so wüthend, doch zugleich mit solchen Zeichen von Aufregung oder Angst, daß der Förster darüber selbst in Verwirrung gesetzt wurde. War es wirklich der Luchs, der hier seinen Lagerplatz hatte, oder war es nur ein Füchslein, das sich hierher verkroch?

Der nächste Augenblick sollte ihm Aufklärung bringen. Blitzschnell sauste ein Thier, welches wohl über einen Meter lang war, aus dem Geklippe hervor und verschwand im Nebel. Nicht minder rasch hatte der Förster seine Doppelbüchse gepackt und ihm zwei Schüsse nachgesendet. Auch Flott entsprang in der gleichen Richtung. Der Förster stieg nunmehr so rasch wie möglich auf den ebenen Waldboden hinaus und strengte seine Augen an, die vor ihm stehende Nebelwand zu durchdringen. Umsonst! Er sah nicht einmal, ob er Hochwald oder eine Lichtung in unmittelbarer Nähe vor sich habe. Er durchkreuzte die Anhäufung von Felsblöcken, er ging hier und dort hin, er rief dem Hunde, alles vergeblich. Weit um die Felsen herum war der Boden schneefrei. So vermochte er nicht, sich nach irgend einer Spur zu richten.

Endlich setzte er sich auf einen Felsblock, zündete seine Pfeife an und begann über das nachzudenken, was er zu thun hatte.

Daß der Hund den Kampf mit dem Luchs, einem ihm unbekannten Thiere, aufgenommen haben sollte, war mehr als unwahrscheinlich. Es ließ sich vielmehr nur annehmen, daß der Luchs entweder irgendwo in den Wipfel eines Baumes geklettert war, oder daß er angreifend den Hund übel zugerichtet, vielleicht zerrissen hatte, oder aber auch, daß es dem Raubthier gelungen war, durch überlegene Schnelligkeit zu entkommen, vielleicht irgendwo einen Höhlengang aufzufinden, in welchen ihm der Hund nicht zu folgen vermochte. In jedem Falle aber hätte er wohl Laute vernehmen müssen, insbesondere bei der Deutlichkeit, mit welcher sich im Nebel der Schall fortpflanzt. Von einer Blutspur war nirgendwo etwas zu sehen, ein Beweis, daß er das Thier gefehlt hatte. Das Gegentheil wäre wohl ein Wunder gewesen, denn die Schüsse waren buchstäblich in den Nebel hinein abgegeben worden.

Den Eisenhans begann es zu frösteln. Es drängte sich nun eine andere Schwierigkeit an ihn heran, an welche er bis jetzt nicht gedacht hatte. Der kalte Nebel zog sich dichter und dichter zusammen. Er mochte sich anstrengen, so viel er wollte, es gelang ihm nicht, ein einziges Wahrzeichen zu entdecken, durch welches er hätte bestimmen können, wohin er gerathen war. Einmal kam es ihm vor, als hörte er Glockengeläute. Kam es aus der entfernten Stadt von unten herauf oder vom Kirchlein bei seinem Forsthause oder war es das Blut, was in seinen Schläfen hämmerte?

Noch über eine Stunde wartete er in der Umgegend der Steinblöcke, zitternd vor Frost. Alle paar Minuten rief oder pfiff er nach dem Hunde. Aber der Wald blieb regungslos. Manchmal fiel ein Tropfen von der schweren Feuchtigkeit, die sich auf den Aesten angesammelt hatte, von einer der Tannen. Hie und da raschelte es irgendwo im Geäst, vielleicht vom Flügelschlag eines Nußhähers, der sich aus Angst versteckte, weil er einen Raubvogel in der Nähe wähnte.

Es blieb nichts anderes übrig, als aufs Gerathewohl den Heimweg aufzusuchen. Manchmal zwang ihn ein Schneehaufen zur Umkehr, oft betrogen ihn die Augen, indem er aus lichteren oder dunkleren Stellen im Nebel schloß, daß er sich einer ihm bekannten Rodung oder einem ihm gleichfalls bekannten geschlosseneren Theile des Waldes nähere, wo gewaltige Bäume dichter aneinander standen. Das erwies sich aber immer als Täuschung. Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebel seine Gestalt wieder verändert.

Endlich – Stunden waren darüber hingegangen – stieß er fast mit dem Kniee gegen einen Gegenstand, welcher sich auf seinem Wege befand. Es war eine Bank. Ein Blick nach oben, dort war die Tafel, welche die Sehnsuchtstanne bezeichnete.

Jetzt war’s gewonnen. Denn die Bank stand in der Richtung gegen Südwesten, gegen das Tiefland, gegen das Meer. Wenn es ihm gelang, diese Richtung festzuhalten, so mußte er binnen kurzer Zeit die Lichtung um das Forsthaus herum erreichen.

Beim Weiterschreiten vernahm er von der Straße her ein Achsenfuhrwerk knarren, und jetzt hatte er gar ein untrügliches Kennzeichen erreicht. Vor Jahren war es ihm eingefallen, versuchsweise in einer kleinen Lichtung einen Nußbaum zu pflanzen. Die [162] Hochfläche war sonst keine Gegend für Nußbäume. Doch dieser gedieh, und jedes Jahr, wenn der neue Wein aus dem Tiefland herauf kam, verspeisten der Förster und seine Tochter dazu von den frischen Kernen. Dieser Nußbaum stand jetzt vor ihm da. Ein leiser Wind schüttelte seine noch schwächlichen Zweige und schwere Tropfen fielen auf den Boden herab und erweiterten und verlängerten die Runen, welche schon seit Stunden allmählich in den dünnen, harten Schnee hineingegraben worden waren.

In dem Augenblicke, in welchem der Förster diesen Platz betrat, schien es ihm, als hörte er aus kurzer Entfernung ein Geräusch, welches gleichfalls von Schritten herrührte. Er blieb stehen und horchte auf. Es war keine Täuschung. Näher und nähen kam es heran, bald leise, wenn die Füße über das Moos dahingingen, bald geräuschvoll, wenn sie den knirschenden Schnee berührten. Jetzt sah er eine undeutliche Gestalt. Er ging darauf los. Doch im nämlichen Augenblick stieß diese einen Schrei aus und verschwand. Der Eisenhans hörte noch deutlich die flüchtigen eiligen Schritte derselben, welche keinen Zweifel darüber ließen, daß die Gestalt vor ihm die Flucht ergriffen habe.

„Halt! Wer da?“ donnerte seine Stimme dem Flüchtling nach. Aber da war kein Aufhalten. Nach einigen Augenblicken erschien der Flüchtling wie im Nebel aufgelöst.

Dies fehlte gerade noch, um die Laune des Försters gründlich zu verbittern. Das war einer der widerwärtigsten Tage seines Daseins in diesem Walde gewesen. Erstlich hatte er den Luchs gefehlt, vielleicht gar dazu den Hund verloren, dann sich im eigenen Reviere nicht mehr ausgekannt und am Ende war er noch an einem der von ihm so gehaßten Lumpen von Schlingenlegern oder Wildschützen im Nebel vorbeigetaumelt.

„Abwärts geht’s mit Dir, Eisenhans!“ sagte er vor sich hin.

Bald tauchte das Dach des Forsthauses vor ihm auf. In solcher Laune hatte er es kaum jemals betreten. Den herzlichen Gruß Reginens beantwortete er einsilbig, und auf die Frage, wie es ihm ergangen sei, hatte er nur die Gegenfrage, ob niemand den Flott gesehen habe. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte er sich zu Tisch. Regina suchte ihm an den Augen abzulesen, was sich zugetragen haben mochte. Der Eisenhans aber hielt den Kopf gesenkt, er war ein Bild der Niedergeschlagenheit und des Verdrusses. Mit einem Male erhob er sich, zündete sich ein Licht an und sagte:

„Das Allerbeste ist das Bett.“

Die gewohnte Abendumarmung Reginens erwiderte er fast abwehrend und begab sich sofort, einige Stunden früher als gewöhnlich, in sein Schlafstübchen.

4.

Am nächsten Morgen lag ein wolkenloser Himmel über Höhen wie Tiefen. Das Glatteis glitzerte an den Aesten der Tannen wie auf den Wegen.

Aber nicht das war es, was der Förster zuerst sah, als er die Augen öffnete. Es hatte ihm geträumt, daß er mit Luka, dem Meßner, draußen im Wald zusammengetroffen sei, wie dieser mitten im Dickicht eine Schlinge legte. Er hatte ihn gepackt, aber der Meßner wehrte sich und würgte ihn am Halse. Zugleich erschien hinter ihm das häßliche Gesicht Barbaras, des Weibes des Meßners, welches schrie und Drohworte ausstieß.

Und siehe – da stand die Barbara, aber nicht im Walde, sondern vor den Fensterscheiben und schaute auf das Bett des Försters herein. Auch schrie sie, ballte die Hände zusammen, dann streckte sie wieder die Arme empor und gebärdete sich, als ob sie den Verstand verloren hätte.

Der Förster wußte nicht, wie ihm geschah. Er fuhr alsbald in seine Kleider und eilte in den Flur. Hier trat ihm Regina entgegen und hielt ihn, bevor er das Hausthor öffnen konnte, am Arme fest.

„Nun, was soll’s?“ fragte er noch halb schlaftrunken.

„Vater,“ sagte das Mädchen „denke Dir, das Weib heult schon den ganzen Morgen seit Tagesanbruch vor dem Hause herum. Sie sagt, der Luka sei schon seit dem gestrigen Morgen verschwunden. Er sei im aller Frühe aufgestanden und seit der Zeit habe er sich nicht mehr sehen lassen.“

Der Förster riß sich los, öffnete die Thür und fragte die Frau, was sie wolle. Statt aller Antwort kamen nur abgerissene Klagetöne zum Vorschein. Der Eisenhans wurde ungeduldig.

„Das Millionen –!“ schrie er, „was geht mich der Meßner an? Der Lump ist wahrscheinlich in die Stadt hinabgegangen, um die Felle von gestohlenen Hasen zu verkaufen. Da wird er seine paar Groschen vertrinken und sitzt gewiß noch in einer Kneipe, wenn sie ihn nicht hinausgeworfen haben. Geht hinunter und sucht ihn!“

Diese Ansprache erfüllte das Weib mit Trotz. Sie nahm die Hände vom Gesicht und sagte: „Todt ist er! und Ihr wißt, wo er liegt.“

Der Förster gewann alsbald seine Fassung wieder. Es fiel ihm nicht ein, mit einem Weibe zu streiten.

„Ich war selbst im Wald,“ sagte er ruhig, „und es scheint mir doch, als habe ich läuten hören. War er denn damals nicht daheim?“

„Ich habe für ihn geläutet,“ sagte die Frau schluchzend.

„Nun, so geht nach Hause, er wird schon wiederkommen.“

„Es ist nicht wahr,“ entgegnete Barbara. „Ich selbst habe ihn den ganzen Nachmittag im Wald gesucht. Erschossen ist er worden, wegen eines elenden Hasen oder Rehes. Ich selbst habe den Schuß fallen hören.“

Der Förster wußte nicht, sollte er gegenüber dem dummen Weibe seinen Zorn auslassen oder lachen. Er schaute Regina an, erschrak aber bei ihrem Anblick. Das Mädchen war kreideweiß geworden.

„Ich glaube gar, Du lässest Dich von dem Weib da beschwatzen,“ sagte er nicht ohne Bewegung. „Gehe hinein ins Haus, ich komme gleich nach.“

Nachdem sich das Mädchen entfernt hatte, wendete sich der Förster zu Barbara:

„Hört, Weib, redet keinen Unsinn! Ihr wart es also, die mir nachmittags begegnet und davongelaufen ist? Gut! Es scheint, Ihr habt es besser gewußt, wo Ihr Euren Mann zu suchen habt. Gehet heim – oder thut was Ihr wollt! Und wenn der Meßner morgen noch nicht wieder zu Hause ist, so wißt Ihr, wohin Ihr Euch zu wenden habt. Ich selbst werde heute den Tag über nachsuchen und an zwei Forstwarte Botschaft schicken. Heute ist helles Wetter. Wir alle zusammen müssen ihn finden, wenn er im Walde ist.“

Statt aller Antwort warf sich das Weib auf den Schneehaufen hin und schrie und stöhnte.

„Ihr habt ihn erschossen!“ Das waren die einzigen Worte, welche die Frau deutlich sprach.

Der Förster wußte nicht, was er für den Augenblick mit ihr anfangen sollte. Da sah er den Kuraten, der sich eben anschickte, von der Thür seiner Wohnung in die Kirche zu gehen. Er winkte ihn herbei und erzählte ihm, was vorgefallen war.

„Sie sind ja gestern im Walde gewesen,“ antwortete der geistliche Herr, indem er ihn mit einem eigenthümlichen Ausdrucke betrachtete. Auf die bejahende Antwort des Försters wandte er sich von ihm ab und suchte die Frau aufzurichten.

Der Förster wollte ihm beistehen, der Geistliche aber bedeutete ihm, einstweilen in das Forsthaus zu gehen, sie würden nach dem Gottesdienst über die Sache sprechen.

Kaum hatte der Förster seine Wohnstube betreten, als ihm Regina um den Hals fiel, ihm fest in die Augen schaute und mit bewegter Stimme sagte: „Nicht wahr, Vater, Du hast es nicht gethan?“

„Das hat gerade noch gefehlt!“ erwiderte er ärgerlich, indem er sich losmachte. „Mir scheint, die Barbara mit ihrer Albernheit hat Dich angesteckt.“

„Verzeih, Vater!“ sagte Regina, indem ihr Thränen über die Wangen liefen. „Ich bin ein thörichtes Geschöpf.“

„Aber, ums Himmels willen, wie kommst Du auf solche Gedanken?“

Regina antwortete nicht. Sie schämte sich offenbar, irgend welche Gründe für ihre Besorgniß anzuführen.

„Geh hinaus,“ fuhr der Förster fort. „Der Schafhirt soll in die Forsthäuser gehen und die zwei Forstwarte mit allen ihren Hunden herbestellen. Wir wollen keinen Augenblick verlieren.“

Darauf durchmaß er mit großen Schritten die Wohnstube.

Was war da geschehen?

Daß Luka durch einen verlängerten Aufenthalt in der Stadt sich selbst verdächtig hätte machen wollen, das glaubte er nicht. In diesem Falle hätte er wohl seinem Weibe Mittheilung gemacht und diese würde es unterlassen haben, durch ihr Geschrei die Aufmerksamkeit auf seine Abwesenheit zu lenken. Der Meßner mußte [163] also irgendwo im Wald stecken. Aber wo? Am Ende war er gar in Verfolgung seines Diebshandwerkes in einen der Trichter hineingestürzt, vor denen der Förster sich selbst gestern so in Acht genommen hatte. Vielleicht lag er dort irgendwo mit zerbrochenen Gliedern, vielleicht hatte er bei einem solchen Sturze sofort seinen Tod gefunden.

Das alles überlegte der Eisenhans, aber das, was bei der Sache für ihn selbst bedenklich war, kam ihm nicht in den Sinn. Erst der Eintritt des Kuraten gab seinen Gedanken die Wendung, auf welche ein Unbefangener schon von Anfang an leicht kommen konnte.

„Sonderbare Geschichte das, Herr Förster,“ sagte dieser, indem er es unterließ, ihm wie gewöhnlich seine Tabaksdose anzubieten. Dies fiel dem Förster auf und er faßte den geistlichen Herrn schärfer ins Auge. Es entging ihm nicht, daß sich im Wesen seines Besuches eine gewisse Veränderung zeigte.

„Das Weib sagt, es habe gestern gegen mittag, als es den Mann suchen ging, einen oder zwei Schüsse im Walde gehört. Sollte der Luka selber geschossen haben? So viel Verwegenheit hätte ich ihm nicht zugetraut,“ fuhr der Kurat fort.

„Das ist auch nicht nothwendig, Herr Kurat. Denn, der die Schüsse abgegeben hat, war ich und kein anderer.“

Der geistliche Herr schaute verdutzt darein. Wußte er doch, daß jetzt keine Jagdzeit war.

Der Förster begann nun, ihm seine Abenteuer seit vorgestern nachmittag zu erzählen. Dem Kuraten fiel es auf, daß der Eisenhans vorgestern des Luchses keine Erwähnung gethan hatte.

Der Eisenhans aber hatte damals von der Luchsfährte nichts erwähnt, weil das Gespräch vorher auf den Meßner gefallen war. Dann aber war er auch nicht gewöhnt, derlei Entdeckungen auszuplaudern, da er fast nur mit Jägern verkehrte, gegenüber denen er solche Sachen vor dem Erfolge geheim hielt.

„Lassen Sie sich einen guten Rath geben, Herr Förster, “ sagte der Geistliche nach längerem Stillschweigen. „Ihre Magd hat der Barbara erzählt, daß Sie gestern ganz verstört nach Hause gekommen seien. Bedenken Sie die Weiberzungen! Thun Sie jetzt alles, was in Ihren Kräften steht, den Meßner zur Stelle zu bringen!“

Der Eisenhans gab keine Antwort. Es ärgerte ihn, daß sich ein anderer unbefugt in etwas einmengte, was ihn allein anging und wofür er überdies schon Vorsorge getroffen hatte.

Nach einer Weile fragte der Kurat: „Was ist Ihre Meinung?“

„Der Mensch ist ein Lump!“ antwortete der Förster. „Ich habe ihn schon lange im Auge. Und der halb verhungerte Hase, den ich vorgestern aus der Schlinge gezogen habe, würde heute bei dem Sonnenschein ganz sicherlich irgendwo sein Frühstück verzehren ohne den Aasjäger. Aber erbarmen thut er mich doch.“

„Vorgestern haben Sie gesagt, Sie wollten ihn niederschießen,“ unterbrach ihn der Kurat.

Der Eisenhans machte mit den Schultern eine Bewegung der Ungeduld. Dann fuhr er fort:

„Ich fürchte, der Bursche ist gestern wieder hinausgegangen und hat sein gewöhnliches Handwerk getrieben. Ein Nebel war’s, daß man Knödel daraus hätte machen können. Ich selber habe auf jeden Schritt schauen müssen. Vielleicht liegt der Lump zu unterst drinnen in einem Taubenloch.“

„Um Gotteswillen,“ rief der Kurat, „da sollte man doch augenblicklich –!“

Seine Worte wurden durch Hundegebell und Stimmen von Männern unterbrochen.

„Da sind sie ja schon!“ sagte der Eisenhans, indem er dem Geistlichen einen Blick zuwarf, welcher demselben nochmals die Ueberflüssigkeit seiner Rathschläge deutlich machen sollte.

Draußen standen die Forstwarte, und der Eisenhans verabschiedete sich alsbald von dem Kuraten. Auf dem Platz vor dem Forsthause wollte das Weib des Meßners sich den Jägern beigesellen. Der Förster aber duldete das nicht. Er befürchtete einen peinlichen Auftritt für den Fall, daß die Auffindung des Schwerverwundeten oder des Leichnams gelänge.

Der Zug setzte sich nunmehr in Bewegung. Als man bei den großen Tannen angekommen war, wurde beschlossen, daß die drei Männer, denen sich auch noch der Schafhirt zugesellt hatte, mit je zwei Hunden den Wald in verschiedenen Richtungen absuchen sollten. Der Eisenhans selbst behielt sich diejenige vor, auf welcher die Stelle anzutreffen war, wo er die Schlinge gefunden hatte. Dort lag seiner Meinung nach die größte Wahrscheinlichkeit, Spuren des Vermißten aufzufinden.

Während er in dem schmal ausgetretenen Pfad, auf welchem noch die Spuren seines gestrigen Ganges zu sehen waren, sich mühsam fortbewegte, dachte er über das nach, was er eben vom Kuraten zu hören bekommen hatte. Er täuschte sich nicht darüber, daß ein Verdacht auf ihn fallen mußte. Dies machte ihm indessen keine Beschwer. Er war einer von den Leuten, die nichts anficht, solange ihr eigenes Gewissen sie in Ruhe läßt.

Etwas anderes aber war es in Bezug auf Luka, den Meßner, selbst. Es konnte kaum ein Zweifel mehr darüber sein, daß dieser auf irgend eine Weise im Walde verunglückt war. Bei dem Gedanken hieran verschwand der Zorn, den er gegen den Wilddieb hegte. Am Ende steckte derselbe noch lebendig mit zerschmetterten Gliedern in irgend einer Höhlung und wartete, von Schmerzen, Kälte oder Hunger gepeinigt, auf seine Rettung.

Je weiter der Eisenhans in den Wald kam, desto mehr verschwanden die Spuren. Der Sturm hatte an manchen Stellen den Boden rein gefegt, an anderen Berge von Schnee zusammengetragen. Indessen erreichte der Förster die Stelle, an welcher er die Schlinge gefunden hatte, von der noch ein Bruchstück am Baumstamme hing. Es war nichts davon zu sehen, daß die Stelle seither betreten worden war.

So schritt er weiter und weiter; manchmal blieb er stehen und lauschte, ob nicht aus der Ferne Rufe zu vernehmen wären, die einen Fund andeuteten.

Alles blieb still. Er machte sich nunmehr mit dem Gedanken vertraut, daß nichts aufgefunden werden würde. Etwas derartiges war ihm während seiner langen Dienstzeit noch nicht vorgekommen. Was mußte aus dem armen Weibe werden?

[176]
Der Eisenhans war schon längst über die Sehnsuchtstanne hinaus und erblickte bereits das Felsgehänge, bei welchem er dem Raubthier die beiden erfolglosen Schüsse nachgefeuert hatte. Was war mit Flott geschehen?

Auch hier keine Spur von einem Menschen, auch nicht von einem Thiere. Alles war zugedeckt und überweht. Der Förster überstieg diese weiße Schranke, welche ihn von einer moosgrünen Stelle des Waldbodens trennte. Nach dieser Richtung hin war gestern der Hund gelaufen. Hatte Luka sich vielleicht dorthin gewendet, weil dort viel mehr schneefreie Strecken waren als in den bis jetzt durchschrittenen Gegenden des Waldes?

Auch dort keine Spur. Wie hätte zu anderer Zeit der sonnige Morgen des dahinschwindenden Winters das Auge des Jägers erfreut! Hier und da sah er eine Maus, welche sich bei seiner Annäherung in die Ritzen des Gesteines flüchtete. Die kleinen Thiere hatten sich nach den langen Sturmtagen auf dem Moosboden gesonnt. Manchmal blickte er den Krähen nach, welche paarweise hoch über die Wipfel dahinzogen.

Auf einem von der Sonne beschienenen Felsblock rastete der Eisenhans eine Weile. Er rief, daß es weit in den Wald hineintönte: „Luka! Luka!“

Vielleicht hörte ihn der Verunglückte, wenn er sich in einer nicht allzu tiefen Einklüftung befand. Aber der Stimme des Jägers antwortete nichts als der Ruf der Nebelkrähe, die irgendwo im Dickicht hauste, oder der helle Ton der Meise, die in einem hohlen Baume nach Käferlarven suchte.

Er erhob sich wieder und schritt weiter in den Wald hinein. Hier und dort öffnete sich ein Schacht lothrecht in eine unbekannte Tiefe hinab. Der Eisenhans näherte sich stets, soweit es der von thauendem Eise oder glatten durchfeuchteten Moose bedeckte Rand zuließ, und rief auf den unsichtbaren Boden hinab. Kein Gegenruf kam aus der Tiefe herauf.

Längst war Mittag vorüber, der Förster befand sich in den entlegensten Theilen seines Gebietes, und noch immer hatte sich nicht eine Spur vorgefunden, die auf den Gesuchten hätte hindeuten können. Wäre der Zweck des Ganges ein anderer gewesen, so hätte es dem Eisenhans heute nicht an Zerstreuung gefehlt. War es doch sonst immer ein Fest für ihn gewesen, wenn er der ersten Singdrossel begegnete, und hatte er doch heute mehr als eine wahrgenommen und gehört, welche vom Aste irgend einer Fichte herab ihm ihren verfrühten Frühlingsgruß entgegensang. Er pflückte nicht wie er es gewohnt war, die ersten Schneeglöckchen, die ersten blauen Leberblumen an Hängen, welche schon seit längerer Zeit schneefrei waren.

So verrannen die Stunden. Als er, um einen freien Ausblick zu gewinnen, auf einen Bühel emporgestiegen war, von welchem aus man einen großen Theil der waldigen Hochfläche übersah, glitzerte bereits das Meer im Südwesten unter der schon niedrig stehenden Sonne wie ein schmaler Streifen von feuerflüssigem Metall.

Bald legte sich die Dämmerung in den Wald hinein.

Müde und traurig trat der Förster den Heimweg an. Es ging so still zu wie den ganzen Tag über. Nur von Zeit zu Zeit wurde die Ruhe unterbrochen durch das höchst seltsame Zwiegespräch, welches in der Ferne an einem Berghang irgendwo ein Kauz mit einer Käuzin hielt.

5.

Mochte der Tag für den Förster wenig angenehm gewesen sein, so war er für Regina geradezu ein kummervoller gewesen.

Sie wollte es sich selbst nicht gestehen, aber sie fühlte es, daß in ihr Zweifel sich erhoben über das Verhältniß ihres Vaters zu den Vorgängen, welche in den letzten Stunden soviel Unruhe über das waldeinsame Forsthaus und über alle Leute, welche in seiner Nähe lebten, gebracht hatten. Mit dem besten Willen wäre sie derartigen Gedanken nicht entkommen. Hatte ihr doch die Magd von allerlei Gerede berichtet, welches von dieser in den wenigen Häusern, die am Waldsaume in der Nähe der Kirche standen, aufgeschnappt worden war. Außerdem war Barbara den Tag über mehrmals händeringend auf der Straße herumgelaufen und hatte Verwünschungen gegen den Förster ausgestoßen.

Als der Abend zu dämmern begann und noch keinerlei Nachrichten eingetroffen waren, vermehrte sich Reginens Bangigkeit. Früher als sonst zündete sie das Lämpchen vor dem Gnadenbilde in der Ecke an. Alsbald ließ sie sich auf dem Schemel daneben zum Gebete nieder. Mit flehentlichen, halblaut gesprochenen Worten gedachte sie ihres Vaters und sendete Wünsche empor, daß durch ein Wunder seine Unschuld an den Tag kommen möge. Dann erhob sie sich beruhigt.

Als ihr Vater eintrat und sich stillschweigend auf den breiten Lehnstuhl niederließ, da wußte sie, daß der Gang in den Wald vergeblich gewesen war.

„Macht Euch keine Sorgen, Vater,“ sagte sie, indem sie ihm den ergrauenden Scheitel streichelte. „Der Luka wird schon wieder zum Vorschein kommen.“

„Es ist, als ob ihn der Erdboden verschlungen hätte,“ sagte der Förster mürrisch. „Hätte nicht geglaubt, daß mir der Mensch noch einmal so viel Verdruß machen würde.“

„Weiß Gott, wo er sich aufhält,“ fuhr Regina fort. „Fortbleiben kann er ja nicht wegen eines lumpigen Hasen oder Rehbocks, den er vielleicht gestohlen hat.“

Das Mädchen ging in die Küche hinaus, um das Abendessen aufzutragen. Mittlerweile öffnete sich die Hausthür und es erschienen die zwei Forstwarte, um zu melden, daß sie keine Spur von dem Vermißten entdeckt hätten. Der Eisenhans zeigte sich davon nicht überrascht, er rechnete schon mit der Gewißheit, daß der Wilddieb irgendwo tief in einem Schachte zerschmettert begraben läge, um aus der unerreichbaren Nacht herauf ein falsches Zeugniß gegen ihn abzulegen. Er bat die beiden Männer, noch ein Stündchen bei ihm zu verweilen, um sich durch Speise und einen guten Trunk nach den Anstrengungen des Tages zu erquicken. Sie nahmen die Einladung gern an. Bald gesellte sich auch der Kurat zu ihnen, welchen die Neugierde aus seiner Wohnung hergetrieben hatte.

Die Männer sprachen von nichts anderem als von Luka und seinem vermuthlichen Schicksale. Regina betheiligle sich nicht an der Unterhaltung, dafür aber ging ihr kein Wort verloren. Fortwährend spähte sie in den Mienen der Männer, um zu entdecken, ob ihre Gedanken mit ihren Worten übereinstimmten. Der Eisenhans trank heute weit mehr als gewöhnlich. Er that es offenbar in Aufregung und Unruhe, wie wenn er seine Hand beschäftigen wollte. Wäre ein zerreißbarer Gegenstand vor ihm auf dem Tische gelegen, er hätte ihn zerpflückt.

Der Kurat entfernte sich bald, nachdem er wahrgenommen hatte, daß für heute nichts mehr zu erfragen war.

Mehrmals hatten sich die Männer angeschickt, seinem Beispiel zu folgen, waren aber immer wieder vom Eisenhans zurückgehalten worden, der sie aufforderte, mit ihm zu trinken. Als sich Regina verabschiedete, waren sie noch beisammen.

Als das Mädchen auf ihrem Stübchen ankam, schien der Mond hell in die Fenster. In seinem Lichte standen draußen jenseit der Straße, seltsam vergrößert, einige dunkle, schweigsame Tannen und Fichten. Sie erschienen dem verschüchterten Mädchen wie unheimliche Wächter eines Geheimnisses, das sich irgendwo in ihrem Schatten barg.

Erregt schritt Regina in der engen Stube auf und ab. Sie wollte sich nicht zu Bette legen. Es bangte ihr vor den Träumen. Eine Viertelstunde nach der andern schlug es auf der Uhr des kleinen Thurmes und sie war noch immer wach. Ihre Gedanken waren bei ihrem Vater. Von Zeit zu Zeit rührte es sich immer wieder in ihr von schlimmen, unheimlichen Gedanken.

Sollte wirklich – –?

Dann machte sie eine abwehrende Bewegung, wie wenn sie einem herannahenden Gespenste wegwinken wollte. Von Zeit zu Zeit fuhr sie nach den Augen, als ob sie eine sich hervordrängende Thräne abwischte.

Mit einem Male fuhr sie zusammen. Die Hausthür öffnete sich und aus dem Schall der Stimmen erkannte sie, daß die Gäste [178] sich entfernten. Durch das Fenster, welches auf den Wald hinaus ging, erblickte sie die beiden Gestalten, die sich von einer kleinen Schneefläche abhoben.

Einer der Forstwarte machte mit dem rechten Arm eine Bewegung, wie wenn er vom Försterhaus weg eine Linie zöge in der Richtung gegen die Sehnsuchtstanne und noch weiter in den Wald hinein. Sein Genosse folgte der Bewegung mit den Augen. Dann wurden laute, heftige, leidenschaftliche Worte gewechselt.

Endlich wandten sich die Männer dem Walde zu. Regina sah noch, wie sie sich am Kreuzwege trennten, und noch immer scholl der Klang ihrer Stimmen, vom Wiederhall aus den geschlossenen Baumreihen verstärkt, zu ihr herauf.

In diesem Vorkommniß fand Regina etwas Räthselhaftes. Als solches erschien es ihr um so mehr, als jetzt mit einem Mal, wie aus einer Versenkung herauf, das Bild vor ihr stand, wie während des Abends der eine der beiden Männer, während ihr Vater sich mit der Wanduhr beschäftigte und der geistliche Herr ihnen eben den Rücken drehte, mit dem Daumen gegen den Eisenhans gewiesen und dabei eine ihr unverständliche Miene gemacht hatte. Es überkam sie ein beängstigendes Gefühl. Sie wußte sich keine klare Rechenschaft zu geben, aber es war ihr, als ob aus dem Walde die Finsterniß herandringe, von Unglücksrufen begleitet.

Die Nacht verging, ohne daß das Mädchen ein Auge geschlossen hätte. Glänzend kam der Tag herauf und Regina ging in das untere Stockwerk, um das Frühstück zu bereiten. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihren Vater bereits wach.

„Ich bin heute früher aufgestanden, liebes Kind,“ sagte er. „Ich muß einen schweren Gang thun. Es hat mir heute die ganze Nacht über keine Ruhe gelassen. Jetzt gehe ich in die Stadt hinab und zeige bei meinen Vorgesetzten und beim Gerichte alles an, was ich vom Luka weiß.“

Regina war es eine Beruhigung, dies zu hören. Sie suchte dem Vater die Kleider hervor, die er bei einem solchen wichtigen Gange anzulegen pflegte, ermahnte ihn, wohl auf sich achtzugeben, begleitete ihn eine Strecke weit bis dahin, wo die Straße steiler gegen das Thal abzufallen beginnt, und schaute ihm noch lange nach, bis er hinter der nächsten Windung verschwand. Sie ahnte nicht, daß bei seiner Rückkehr sie ihn nicht wieder mit den nämlichen Augen anblicken würde wie in dieser Stunde des Abschiedes.

Der Tag war sonnig und nach den heftigen Stürmen, welche das Ausgehen verwehrt hatten, regte sich in dem Mädchen die Lust, nach langer Zeit wieder einmal weiter in den Wald hinein zu gehen. Das gleichmäßige Ticken der Wanduhr, die Stille im Hause und draußen auf dem Wege, dann die Gedanken, mit welchen sie den Vater auf seinem Gange begleitete, hatten in ihr eine Stimmung erzeugt, unter deren Zwang sie die enge Stube verließ, in der Hoffnung, daß draußen im Wald, in welchem sich schon die ersten Regungen des Frühlings bemerkbar machen mußten, vielleicht eine bessere Laune über sie kommen würde.

Sie ging auf dem gewohnten Pfade in der Richtung gegen die Sehnsuchtstanne. Manchmal, wenn sie ihren Blick zur Seite wandte und in die große Bläue hinabsah, in das Flachland tief unten und auf das Meer, dann dachte sie sich: so muß es im Himmel sein, wenn man herabschaut. Auch neben ihr auf dem Pfade war es so still und sonnig, als ob der ganze Bereich einer anderen Welt angehörte. Die Tannen standen im ruhigen Glanze da, als wären es Weihnachtsbäume.

Während sie dahinschritt, ganz allein mitten durch den Wald, hatte sie keine Anwandlung von Furcht, war sie doch ein Försterskind. Aber seltsam, – in ihr Sinnen schlich sich ein Gedanke ein, der ihr völlig ungerufen und wie aus weiter Ferne zukam.

Sebaldus, der jüngere von den beiden Förstern, welche gestern im Hause gewesen waren, hatte ihr einmal vor Zeiten gesagt, sie sei eine „Rose unter Dornen“. Als sie ihm abwehrend erwidert hatte, gab er vor, auf die Unwirthlichkeit der Umgebung angespielt zu haben; sie wußte aber wohl, daß der freundliche junge Mensch es anders gemeint hatte. Jetzt kam ihr das, wie von der sonnigen Luft hergeweht, wieder in den Sinn. War sie nicht wie ein wanderndes Dornröschen da in dem unabsehbaren Walde?

Als sie aus ihren Träumereien wieder zu sich kam, erschrak sie fast. Sie war tiefer in den Wald hineingerathen, als sie es beabsichtigt hatte. Da sie Wege und Stege genau kannte, so war es ihr deutlich, daß sie sich in der unmittelbaren Nähe des sogenannten „Weißen Thores“ befinden müsse. Nach wenigen Schritten hatte sie dasselbe erreicht. Das Thor war aber nicht ein solches, welches vom Boden in die Höhe ragte, sondern eines unter der Erde. Man befand sich am Rande eines Schachtes, welcher in eine unabsehbare Tiefe hinabführte. Warf man einen Stein hinunter, so drang nur ein schwacher Hall aus der Tiefe, ein hinlänglicher Beweis für die mächtige Ausdehnung des Hohlraumes.

Der Rand war mit Gras bewachsen und hier und dort streckte eine Tanne ihre Wurzeln über den kreisrunden Abgrund vor. Auch dort noch, wo der sanftere Hang des Randes anfing, lothrecht abzustürzen, hatte an einzelnen Stellen irgend ein junger Baum oder Strauch an der Wand Wurzel gefaßt. Weiter hinab aber war nichts zu sehen als die glatte Felsenröhre, welche in Nacht endigte. Wenn man sich an gewissen Stellen des Randes aufstellte und in den Schacht hinabschaute, so gewahrte man einen gewaltigen Schwibbbogen, welcher dem ganzen Abgrund den Namen des „Weißen Thores“ verschafft hatte.

Niemals hatte es ein Mensch versucht, in diesen Abgrund hinabzusteigen. Niemand wußte auch, wie tief er war. Der Aberglaube versetzte hierher Bergmännlein mit rothen Kappen, welche dort unten ein wunderbares Leben führten und in Pracht und Herrlichkeit hausten, jeden Versuch aber, in ihr Reich einzudringen, mit dem Tode bestraften. Das Volk ging deshalb nicht gerne vorbei, und nur Knaben pflegten gelegentlich aus Neugierde heranzukommen, um Steine hinabzuwerfen. Deshalb war auch weit und breit um den Rand herum kein Stein zu finden. Solche Würfe hatten übrigens nicht die Rache der Bergmännlein zur Folge, sondern nur den Aufflug von Tauben und Krähen, welche dort in ihren Schlupfwinkeln gestört wurden.

Regina war seit langen Jahren nicht mehr an dem geheimnißvollen Schlunde gewesen und betrachtete jetzt neugierig die in die Tiefe abfallenden Felsen. Sie ging so weit vor, als es die Vorsicht gestattete. Zuletzt ergriff sie mit der rechten Hand noch den Zweig einer jungen Tanne und beugte sich weit hinaus.

Doch, wie von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen, entfernte sie sich alsbald um einige Schritte. Sie legte die Hände auf die Brust und seufzte tief auf. Es war gewiß keine Täuschung. Sie hatte einen Menschen gesehen, welcher sich dort unten in der Halbdämmerung an der Wand regte. Das mußte Luka sein. Der vermißte Unglücksmensch war gefunden! Aber – wie ums Himmels willen war er dort hinab gerathen und, noch seltsamer, wie vermochte er sich an der lothrechten Wand zu halten?

Doch alle diese Gedanken beschäftigten sie nur einen Augenblick. Im nächsten schrie sie hinab: „Luka! Luka!“

Ihr antwortete ein Ruf, der eigenthümlich klang, so etwa wie Ueberraschung oder Schrecken. Jetzt erst bemächtigte sich des Mädchens wirkliche Bangigkeit.

Alsbald begann es dort unten zu klirren und zu rasseln. Offenbar lösten sich Steine los und sprangen in Sätzen in die Theile des Abgrundes hinab, welche Nacht bedeckte.

Das Geräusch stieg immer höher und höher empor. Die Steine prasselten fort. Regina hatte nicht den Muth, wieder so nahe an den Rand vorzutreten, wie sie es vorhin gethan hatte.

Es verflossen peinvolle Augenblicke, endlich aber tauchte ihr gegenüber an dem jenseitigen Rand ein Kopf auf.

Jetzt löste sich für Reginas Augen das Räthsel. Der Mann hatte sich nicht auf übernatürliche Weise aus der Nacht emporgehoben, sondern war an einer Strickleiter heraufgeklettert. Das oberste Ende der Strickleiter aber war um den Tannenbaum drüben geschlungen und das Gras hatte sie verhindert, es zu sehen.

Auch war der Ankömmling nicht der aus dem Grabe emporsteigende Luka, sondern Sebaldus. Wer ihr wohl gesagt hätte, daß sie ihn auf solche Weise wiedersehen würde!

Nicht minder groß war das Erstaunen des Sebaldus, als er Regina erblickte. Doch fiel es ihr auf, daß er sie nicht begrüßte, sondern sie schweigsam betrachtete. Das war sonst niemals die Art des munteren jungen Mannes gewesen.

Er schaute das Mädchen fast ängstlich an und wollte etwas sagen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Mittlerweile hatte sich Regina gefaßt und sprang ihm über die Baumwurzeln und das Moos des Randes rasch entgegen.

„Ums Himmels willen, Herr Sebaldus, wie kann man sein Leben wagen wegen einiger Tauben! Wenn ich das dem Vater erzähle, so glaubt er es nicht.“

[179] „Bei allem, was Sie lieb haben, lassen Sie bei Ihrem Herrn Vater kein Wort darüber verlauten, daß Sie mich hier gesehen haben!“ sagte Sebaldus, indem er die Hände des Mädchens ergriff.

„Und warum denn nicht?“ entgegnete Regina. „Er wird staunen darüber, daß sein Sebaldus zum Weißen Thor hinabgestiegen ist. Solange ich denke, war von so etwas noch nicht die Rede.“

„Kein Wort davon!“ erwiderte der junge Förster, indem er dem Mädchen einen Blick des Entsetzens zuwarf.

Dieser Mangel an Selbstbeherrschung von seiten des Försters, welcher Regina durchaus nicht entging, hatte die entgegengesetzte Wirkung von derjenigen, welche der junge Mann beabsichtigte. Regina fühlte es, daß hier ein Geheimniß vorliege. Und sie war sofort entschlossen, demselben auf den Grund zu kommen. Daß dasselbe der außerordentlichsten Art sein mußte, ging aus dem eben bestandenen Abenteuer des Sebaldus hervor. Grauen mußte sich eines jeden Menschen bemächtigen, wenn er da hinab schaute und sich dabei dachte, daß jemand sein Leben diesem Abgrund anvertraut hatte.

Da fuhr es ihr wie ein Blitz durch den Kopf.

„Sie haben Luka dort unten gefunden?“ sagte sie hastig, indem sie den Saum seines Rockes ergriff.

„Nein!“

„Können Sie schwören, daß Sie ihn nicht gesehen haben?“

„Ich schwöre es.“

„Was ist das dann für ein Geheimniß?“ fuhr sie fort. „Wenn Sie mir es nicht sagen, so werde ich meinem Vater nicht verschweigen, was ich gesehen habe.“

„Ich beschwöre Sie, Regina, schweigen Sie!“

Statt aller Antwort wendete ihm das Mädchen den Rücken und stellte sich an, als ob sie nach dem Forsthaus gehen wollte.

„Regina,“ sagte Sebaldus, indem seine Stimme einen bittenden Ton annahm, „begehen Sie keine Thorheit! Sie werden mir glauben, wenn ich Ihnen schwöre, daß Sie selbst davor zurückschaudern würden, auch nur ein Wort fallen zu lassen, wenn Sie wüßten, um was es sich handelt.“

„Jetzt muß ich es wissen! Sie haben den Luka gefunden! Und das soll meinem Vater verschwiegen bleiben, der keine gute Stunde mehr hat, seit dieser Mensch verschwand?“

„Ich habe ihn nicht gefunden.“

„Was giebt es dann zu verschweigen? Wenn Sie einen goldenen Schatz entdeckt haben, so wird sich mein Vater mit Ihnen freuen.“

Regina schaute dem Förster scharf ins Gesicht, als ob sie das Geheimniß aus seinen Augen herauslesen wollte. Dieser gerieth dadurch so in Verwirrung, daß er sich bückte und sich damit zu schaffen machte, die Strickleiter aus dem Abgrund heraufzuziehen und auf dem Grasboden zusammenzurollen.

Mit Staunen sah Regina, wie eine Sprosse nach der anderen heraufkam. Das Flechtwerk wollte kein Ende nehmen.

„Wo haben Sie nur eine solche Leiter hergenommen, Herr Sebaldus?“ rief sie.

„Es ist nicht eine,“ entgegnete dieser. „Ich habe sechs zusammengebunden, die ich in allen Forsthäusern des Waldes aufgetrieben habe.“

„Dann sind Sie wohl bis auf den Boden des Weißen Thores gekommen?“

„O nein – es hätte dies alles zusammen nicht gereicht und wenn es noch dreimal länger gewesen wäre.“

„Warum sind Sie hinabgestiegen?“

„Um Tauben zu holen.“

„Wegen einiger Tauben steigt man nicht in eine solche grausige Hölle. Uebrigens wird sich mein Vater wundern über eine solche Waghalsigkeit.“

„Kein Wort zu Ihrem Vater!“ entgegnete Sebaldus, indem er sich von dem Haufen der zusammengerollten Stricke wieder aufrichtete.

„Warum nicht? Es wird mein erstes Wort sein, wenn er von der Stadt nach Hause kommt.“

Dann theilte sie ihm mit, daß der Eisenhans fortgegangen war, um die Anzeige von dem Verschwinden des Luka zu machen.

Alsbald begann abermals der Wortkampf. Regina wollte wissen, aus welchem Grunde der Jäger sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, und sagte, daß sie ihrem Vater Bericht erstatten werde – dieser aber wehrte ab und bat und flehte.

So ging es fort auf dem Heimwege. Der Jäger schleppte die furchtbare Last der Strickleitern auf dem Rücken. Bei der Sehnsuchtstanne trennten sich die Wege. Erschöpft warf Sebaldus seine Bürde auf die dort angebrachte Bank.

Regina machte einen letzten Versuch. Als sie nochmals sagte, daß sie ihren Vater von dem Abenteuer am Weißen Thor in Kenntniß setzen werde, war Sebaldus am Ende seiner Kräfte.

„Gut,“ sagte er fast flüsternd. „Wenn Sie es wollen, so machen Sie Ihren Vater unglücklich: in jenem Abgrund liegt Luka. Ihr Vater darf in seinem Leben nie erfahren, daß ein anderer um das Geheimniß weiß.“

Regina wollte ihm erwidern, daß diese Nachricht ihren Vater nur zu beruhigen vermöge, er aber verschloß ihr mit den ernsten Worten den Mund:

„Nun, so soll das Schicksal seinen Lauf nehmen! Warum – mußten Sie an jener Stelle sein? Hören Sie mich! Schon gestern fand ich eine Blutspur nahe am Rande des Abgrunds. Heute morgen sammelte ich die Leitern. Ich ließ mich hinab, um zu sehen, ob die Spur nicht verfolgt werden könnte. Tief unten liegt eine alte Tanne quer so fest eingekeilt, daß sie von der einen Wand des Abgrundes zu der anderen reicht. Weiß Gott, vor wie langer Zeit sie einmal ein Sturm oben am Rande entwurzelt und hinabgeworfen hat. Als ich dort ankam, zitterte ich schon vor Erschöpfung. Ich wollte ein wenig rasten und setzte mich auf den Stamm, indem ich mich mit der einen Hand noch an der Leiter festhielt. Dann brannte ich ein Streichhölzchen an und sah mitten auf dem Stamm abermals frische Blutspuren. Hier mußte also ein lebendiges Wesen herabgestürzt sein und aufgeschlagen haben. Als ich in die Höhe emporschaute, von der das Tageslicht nur mehr so groß wie ein Guldenstück herabschien, um zu sehen, wie das zugegangen sein könne, erkannte ich, daß dieses Geschöpf den Sprung niemals freiwillig gemacht haben konnte. Es mußte geworfen worden sein, sonst wäre es bei der Weite des Schachtes nicht auf die Mitte des Stammes aufgefallen. Unten lag alles in der Nacht und dahin wird auch nie ein Mensch kommen, es –“

Der Anblick Reginas verschloß Sebaldus den Mund.

Sie lehnte sich gegen die Tanne, ihr Angesicht war bleich und große Thränen liefen ihr über die Wangen.

Die beiden jungen Leute schwiegen. Nach einer geraumen Weile sagte Sebaldus:

„Soll ich Sie nach Hause begleiten, Regina?“

Sie wehrte ihm mit der Hand ab, ohne ein Wort zu sagen, und entfernte sich langsam. Sebaldus blickte ihr lange nach.

Dann schritt er auf einen großen weißen Felsblock zu, der die Lichtung unterbrach und auf der Nordseite noch bis zu seiner scharfen Schneide hinauf mit einem Schneedach belastet war. Er schritt auf eine Höhlung zu, in welche der Stein nach unten auseinander klaffte, bückte sich und zog einen Topf hervor, welcher mit rother Farbe gefüllt war, aus der ein breiter Pinsel hervorragte.

Sebaldus tauchte denselben in die Farbe, ging zu einer der größten Tannen hin und fing an, dieselbe zu bemalen.

Wer mit den Gebräuchen des Waldes vertraut gewesen wäre, der hätte wohl gewußt, um was es sich da handelte. Es ging der Winter auf die Neige und da mußten die Stellen des Waldes, auf welchen den Insassen gestattet war, nach dem Schwinden des Schnees ihr hungerndes Vieh zur Weide aufzutreiben, durch deutliche Zeichen kennbar gemacht werden.

Weiß der Himmel, warum ihm gerade die Gegenstände einfielen, mit deren Umrissen er die weißgraue Rinde bedeckte! Da kam ein Anker zum Vorschein und nebenan ein großes Herz.

Den Anker konnte man ihm noch hingehen lassen, weil er als ganz junger Bursche zur See gewesen war und gewiß öfter gesehen hatte, wie sich Matrosen einen Anker in das lebendige Fleisch hineintätowirten. Aber das Herz! Und warum gerade den Anker neben das Herz?

Nachdem er die nämlichen Zeichen noch bis zum sogenannten „Engen Durchschlupf“, einer schmalen Felsenrinne, über welcher windgeknickte Tannen ein Dach bildeten, angebracht hatte, barg er den Farbentopf wieder in der Höhlung.

Dann nahm er seine Strickleitern auf den Rücken und schlug den Pfad nach seiner Behausung ein. So schwer ihn aber seine Bürde drückte, so leicht war sie im Vergleich zu derjenigen, welche er nothgedrungen dem armen Mädchen aufgeladen hatte.

[195]
6.

Ein schlimmer Handel das!“ sagte der Forstmeister in der Stadt, nachdem er den Bericht des Eisenhans angehört hatte. „Um so schlimmer, als Ihr, wie Ihr selbst eingesteht, mehr als einmal gefährliche Drohungen gegen den Menschen ausgestoßen habt.“

„Ja, ja, das war mein Fehler,“ sagte zögernd der Eisenhans.

„Für den Ihr jetzt so lange gestraft werdet, als sich der Meßner nicht vorfindet.“

So ging es auf dem Forstamt zu. Es war aber doch viel besser als das, was dem Eisenhans bei Gericht widerfuhr. Denn der freundliche Forstmeister kannte seine Leute und wußte, daß der Eisenhans zu einer That, wie diejenige war, deren er verdächtigt wurde, ganz und gar unfähig sei.

Bei Gericht war es anders. Der Beamte, der die Anzeige aufnahm, machte eine eigenthümliche Miene. Aus seinen Fragen ging geradezu hervor, daß er sich seine besonderen Gedanken machte. Er entließ den Eisenhans mehr als kühl und diesem entging der Blick nicht, mit welchem ihn der Richter verabschiedete. Diese Erfahrungen verfehlten ihren Eindruck nicht. Sie erregten in dem alten Förster ein eigenthümliches Gefühl von Widerwillen und Trotz. „Verlasse sich einer auf die Menschen!“ brummte er vor sich hin, während er durch eine enge Gasse der Stadt schritt. „Wahres Vertrauen hegt zu uns doch nur Weib und Kind.“

Das sagte er in einem Augenblick, in welchem niemand der Zweifel über ihn so voll war wie Regina, sein Liebling.

Jedesmal, wenn der Eisenhans in die Stadt kam, litt es ihn nicht lange zwischen den Mauern. Er dachte an seinen Wald, an die freie, weite Welt, die er von ihm aus überschaute. Heute aber war ihm diese Empfindung zum Heimweh geworden – es verlangte ihn nach einem theilnehmenden Wesen.

Indessen konnte er seinem Drange nicht sofort folgen. Regina hatte ihm einige Kleinigkeiten zu besorgen aufgetragen, welche sich auf den Haushalt bezogen. Auch mußte er noch an ein kleines Geschenk, ein Buch oder dergleichen, denken, welches er niemals unterließ seinem Töchterlein aus der Stadt mitzubringen.

Heute wußte er nicht, wo ihm der Kopf stand, und das Aussuchen eines solchen Geschenkes machte ihn völlig verwirrt. Er rannte herum, ohne zu wissen, wohin. Plötzlich fand er sich statt in der Gasse, in welcher die Verkaufsgewölbe offen stehen, am felsigen Ufer des Flusses. Er blieb stehen und schaute in die blauen Wellen als ob er ihnen das Geheimniß, welches ihn plagte, abfragen wollte.

Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. „Der Eisenhans!“ sagte eine angenehm klingende Männerstimme.

Der Förster wendete sich um und stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Derjenige, welcher ihn so berührt hatte, war Franz, ein alter Forstwart, der seiner Zeit jahrelang bei ihm oben im Bergwalde gedient hatte. Jetzt lebte er von seinem kärglichen Ruhegehalt in der Stadt.

Dieser Franz war ein merkwürdiger Kauz. Unter den Jägern gab es keinen abergläubischeren als ihn. Wild bannen, das heißt, es so bezaubern, daß es vor dem Rohr des Jägers stehen blieb, war eine Kunst, auf deren Wirklichkeit er schwur. Unfehlbare Kugeln gießen, die glücklichen Tage von den unglücklichen von vornherein unterscheiden, wunderkräftige Salben und Mixturen herstellen, das war seine besondere Wissenschaft.

Das plötzliche Auftauchen des vertrauten Gesichtes war dem Eisenhans keine unliebe Ueberraschung. Jetzt hatte er jemand, dem er klagen konnte, wo es ihn drückte. Er schlug Franz deshalb vor, mit ihm vor der Thür einer nahen Schenke Platz zu nehmen, wo sie sich unter den Latten des Rebendaches in den Schein der Frühlingssonne hinsetzten, welche hier im Thale schon angenehme Wärme verbreitete. Die Magd, welche den Wein auftrug, kehrte mit ihrer Schürze die Mandelblüthen weg, welche auf den Tisch gefallen waren.

„Nun!“ sagte Franz. „Was giebt’s denn Neues?“

Der Eisenhans ließ sich nicht zweimal auffordern, sondern erzählte von Anfang an die ganze Geschichte, die ihm in den letzten Tagen begegnet war.

Während er sprach, schaute Franz unter seinen buschigen grauen Augenbrauen fortwährend nach dem weißen Berge hinauf, wie wenn er durch das lichte Gewölk, welches dort lagerte, hindurch zu erspähen suchte, was die Lösung des Räthsels wäre, das er da zu hören bekam.

„Nun, Franz,“ so schloß der Förster seine Erzählung, „Du warst alleweil ein halber Prophet, Wahrsager und Zauberer. Jetzt wende einmal Deine Kunst an!“

Franz blickte unverwandt nach der Höhe, that einen mächtigen Zug aus dem gefüllten Weinglase und sagte ruhig:

„Ich meine, die Sonne wird es schon an den Tag bringen.“

„Das war einmal gescheit geredet,“ erwiderte der Eisenhans, indem er trotz seines Kummers lächelte. „Gerade ungefähr so viel habe ich mir auch gedacht.“

Der Franz aber schien sich aus dem gutmüthigen Spott des Eisenhans gar nichts zu machen. Er schaute unverwandt noch immerfort hinauf, als ob er von dort oben seine Eingebungen bekäme. Nach einer Weile sagte er wieder:

„Ja ja die Sonne bringt’s schon an den Tag. Alles kommt ans liebe Himmelslicht.“

Der Eisenhans sah, daß aus dem Kauze bis auf weiteres nichts mehr herauszubringen sein werde. Er schwieg deshalb eine Weile, dann suchte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen, wurde aber von Franz unterbrochen:

„Höre, Eisenhans, heute mußt Du mich mit hinaufnehmen. Ich war schon lange nicht mehr droben. Da wollen wir dann unterwegs und bei Dir daheim weiter sprechen.“

Dem Eisenhans wäre kein Vorschlag gelegener gekommen als dieser.

„Das ist ein Wort,“ sagte er.

Zuerst aber wollte er noch in die Stadt gehen, um die Aufträge seiner Tochter zu besorgen und ihr ein kleines Geschenk zu kaufen. Franz ging indessen nach Hause, um sich für den Gang auszurüsten, nachdem er den Ort des Zusammentreffens am Nordende der Stadt mit dem Eisenhans verabredet hatte.

[196] Während dieser durch die finsteren Bogengänge vor den Kaufläden schritt, blieb er plötzlich wie versteinert stehen. Er hatte hinter sich flüstern gehört:

„Der ist es, der ihn umgebracht hat!“

Als er sich umdrehte, sah er einige Weiber, sie stutzten, als sie seinen Blick auf sich gerichtet sahen, und gingen in weitem Bogen an ihm vorüber.

So weit also war es schon gediehen! Er war Mörder in den Augen des Volks. Wer weiß, was er, nachdem er sich von der Ueberraschung erholt, gethan hätte, wenn es Männer gewesen wären!

Als er in das Gewölbe trat und ein kleines Korallenhalsband kaufte, frug ihn der Herr, welcher ihn als ständigen Kunden kannte, ob es wahr sei, daß oben im Walde ein armer Mensch von einem Bösewicht auf die grausamste Weise ermordet worden sei.

Nun riß ihm die Geduld, er brach in eine solche Fluth von Verwünschungen aus, daß der Besitzer des Ladens eiligst in das Hinterstübchen flüchtete und seiner Gattin zurief, sie solle Leute herbeiholen, der Herr Förster sei wahnsinnig geworden. Als aber auf das Geschrei der Frau einige Männer herbeieilten, war der Eisenhans schon zum Laden hinausgestürzt. Er rannte durch die Gassen gleich einem scheu gewordenen Pferde, so daß ihm alt und jung nachschaute.

Was ihm in diesem Augenblicke alles durch den Kopf ging! Ein Mensch thut sein ganzes Leben hindurch seine Schuldigkeit, weicht nicht einen Augenblick von seiner Pflicht ab, ist ein Ehrenmann, den seine Vorgesetzten schätzen und auszeichnen – auf einmal kommt ein dummes Gerede, und er ist ein Scheusal, dem die Menschen ausweichen, ein Geächteter. Was bedeutet die Ehre? Mußten die Menschen nicht, wenn sie einen Verdacht gegen ihn aussprechen hörten, demselben eher Unglauben als Glauben entgegenstellen? War die Unbescholtenheit seines vergangenen Lebens gar nichts? Ein Wort genügt – und alles geht in Rauch auf!

Unter solchen Gedanken stürmte er dahin. Da sah er Franz stehen, der seiner harrte. Bei diesem Anblick wich seine Entrüstung einem anderen Gefühle. War nicht diese treue Seele da, hatte er daheim nicht sein Kind?

Franz merkte wohl, daß wieder etwas vorgekommen sein müsse. Indessen sprach er nicht darüber, als er mit dem Eisenhans den dunkeln Cypressen zuschritt, welche den Beginn des Aufstieges zum Berge bezeichnen.

Während des Aufstieges redeten die beiden Männer nicht viel. Es war ein schwüler Südwind über das Land gekommen, welcher schier betäubend auf sie einwirkte und ihnen, von den Strahlen der Sonne unterstützt, vielen Schweiß auspreßte.

Seltsam – war es die Einwirkung des bleiernen Windes, die seit langer Zeit nicht mehr gewohnte Anstrengung, oder der Eindruck, den die Wortkargheit seines Gefährten hervorrief, auch in Franz begannen sich Zweifel an der Unschuld des Eisenhans zu regen. Er betrachtete ihn manchmal von der Seite und dachte sich: „Wer weiß, wer weiß, am Ende hat er ihn doch irgendwo niedergeknallt. Schön wär’s freilich nicht, einen solchen Schlingenleger, der nicht einmal ein Gewehr hat und der’s nur aus Noth thut.“

Als sie zur halben Höhe des Berges gekommen waren, rann das Wasser vom Schnee, welchen der Wind aufgeweicht hatte, in breiten Bächen über den Weg.

Noch niemals, so lange der Eisenhans auf dem Berge war, hatte er ein derartiges Schauspiel gesehen. Es rüttelte ihn aus seinen Gedanken empor. Es geschah dies um so schneller, als es sich darum handelte, über dieses und jenes Rinnsal hinüberzukommen. Es war wirklich gut, daß der Franz mitgegangen war, denn hier konnte einer, der nicht von einem Zweiten unterstützt wurde, kaum durchkommen. Sie brauchten die doppelte Zeit, als sie vorgesehen hatten, und es war fast abend, als sie das Forsthaus erblickten.

Wäre der Weg nicht durch den zerfließenden Schnee in einen Sumpf verwandelt gewesen, so hätten die Männer wohl schon eine geraume Strecke vor dem Hause Regina angetroffen, welche stets ihrem Vater, wenn er aus dem Land unten heraufkam, entgegen zu gehen pflegte. That sie es doch schon aus kindlicher Freude an den Kleinigkeiten, welche der Eisenhans niemals mitzubringen vergaß.

Heute aber war alles anders. Der Eisenhans schob seinen Gast in die Stube und ging selbst in einen andern Raum, um trockenes Schuhwerk zu holen für sich und den Franz.

Als der letztere in die Stube eintrat, schnellte Regina vom Boden in die Höhe; sie hatte offenbar vor dem Kruzifix in der Ecke gekniet. Als sie ein Kind war, hatte sie den Franz zum letztenmal gesehen, daher kannte sie ihn nicht.

Ihr erster Gedanke war, der Mann komme, ihren Vater abzuholen und fortzuführen.

Franz war nicht viel weniger überrascht über den Anblick, den ihm das aufgescheuchte Mädchen bot. Noch war er im Begriff, in etwas verworrener Rede auseinanderzusetzen, auf welche Weise er hierher gekommen wäre, als der Förster eintrat.

Regina begrüßte ihren Vater, wie wenn er von einer jahrelangen Reise zurückgekommen wäre. Auf einen Wink verließ sie jedoch für eine Weile die Stube, während Franz sich theilweise umkleidete, um die durchweichten Stücke vom Leibe loszuwerden.

„Mir scheint, ich habe das arme Kind in Angst versetzt,“ sagte Franz zum Förster.

„In Angst?“ frug dieser betroffen.

„Gewiß, sie hat mich angestarrt, wie wenn sie fürchtete, ich würde ihr etwas anthun.“

„Immer die nämliche verfluchte Geschichte!“ rief der Eisenhans, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich wollte doch schon gleich –“

Franz begriff, was sein Freund damit sagen wollte. Sein Verdacht, der sich ihm während des Weges in einigen Augenblicken aufgedrängt hatte, war wieder entschwunden.

„Höre, Eisenhans,“ sagte er, indem er ihm die Hand vertraulich auf die Schulter legte, „die Geschichte müssen wir herausbringen. Ich bin ein alter Fuchs – und es müßte doch der Teufel seine Hand im Spiele haben, wenn wir diese Fährte nicht aufspürten.“

„Ja ja, ich weiß,“ erwiderte der Eisenhans halb lächelnd und gerührt durch die Anhänglichkeit des alten Weidgenossen, „Dich haben sie ja immer für einen Zauberer gehalten. Wenn einer diese Geschichte aufspürt, so bist Du es. Ich sage nur so viel, daß ich nicht eher wieder schlafen kann, als bis der Luka zum Vorschein gekommen ist.“

Regina trug das Abendessen auf. Während desselben sprachen die Männer vom Wetter und von der absonderlichen Wärme. Das Mädchen verhielt sich schweigend. Es sah wohl, daß der Sinn keines der beiden bei dem Gegenstand ihres Gespräches war.

Es dauerte denn auch nicht lange, so wich diese künstliche Zurückhaltung. Franz, der lange Zeit wie geistesabwesend seinen Blick auf eine Ecke des Zimmers geheftet hatte, brach plötzlich in die Worte aus:

„Auf den Sebaldus hätte ich am meisten Zutrauen. Den kenne ich noch von der Stadt her als einen durchtriebenen Burschen. Wenn der es nicht ’rauskriegt, was mit dem Luka vorgegangen ist, so verschießen wir alle miteinander unser Pulver umsonst.“

„Wirklich ein findiger Kerl,“ entgegnete der Eisenhans. „Aber er ist neulich hinausgegangen und hat auch nicht mehr herausgebracht als die andern.“

„Ich meine es nicht gerade so,“ fuhr Franz nachdenklich fort. „Ich denke vielmehr, daß er sich besser auskennt, weil, so viel ich weiß, seine Leute verwandt sind mit der Familie des Luka.“

Es war ein Glück, daß keiner der beiden Männer, während dies gesprochen wurde, einen Blick aus Regina warf. Alle Lebensfarbe war aus ihrem Gesichte gewichen, sie saß da, als ob sie einen Schlag mit einer Keule erhalten hätte.

Würden die beiden Männer dies wahrgenommen haben, so hätte es ihnen unmöglich entgehen können, daß Regina ein Geheimniß verbarg, welches mit der räthselhaften Geschichte zusammenhing. Es wäre alsdann zu peinlichen Fragen gekommen und die drei hätten sich nicht in der scheinbar ruhigen Stimmung getrennt, in welcher sie einander „gute Nacht“ sagten, um ihr Lager aufzusuchen.

Dennoch war der Tag der Ueberraschungen noch lange nicht zu Ende.

7.

Regina leuchtete dem Jäger Franz in seine Schlafstube.

Das sonst so aufgeweckte und muntere Mädchen schritt lautlos vor ihm her, die Augen auf die Treppe und auf den Boden geheftet. Die unheimliche Gestalt des Vermißten ging durch das Haus und ließ niemand zur Ruhe kommen.

[197] Franz war über die auffallende Schweigsamkeit Reginens nicht gerade sonderlich verwundert. Eben, als das Mädchen im Begriffe war, sich von ihm zu verabschieden, schickte er sich an, ihm einige Trostworte zu sagen. Beim ersten Worte aber brach Regina in Thränen aus. Sie wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihr vor Schluchzen. Franz faßte sie bei den Händen und endlich gelang es ihm, durch gütliches Zureden es so weit zu bringen, daß sie Worte fand.

Es waren aber nur wenige Silben, die sie hervorstammelte.

„Nichts dem Sebaldus sagen! Nichts dem Sebaldus sagen!“

Das war das Einzige, was er verstand.

Plötzlich faßte Regina ihn bei den Schultern, schaute ihm mit ihrem thränenden Blick in die Augen und sagte nochmals: „Wenn Sie Mitleid mit mir und meinem Vater haben, nichts dem Sebaldus sagen!“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sie hinaus.

Franz hatte einige Mühe, nach diesem gänzlich unerwarteten Auftritt sich zu sammeln. Er stand mit verschränkten Armen am Fenster und schaute in den Wald hinaus. Da glaubte er die Lösung des Räthsels gefunden zu haben. Hatte er doch vorhin nicht nur deshalb vorgeschlagen, den Sebaldus besonders heranzuziehen, weil er wußte, daß dieser in der That mit den Leuten da oben verwandtschaftlich zusammenhänge und auch ein kluger, anstelliger junger Mensch war, sondern auch deshalb, weil er den Erzählungen, welche er heute vom Eisenhans in der Stadt gehört hatte und in denen so viel von seiner Tochter und den Leuten des Waldes die Rede war, zu entnehmen glaubte, daß Regina die Annäherung des Sebaldus seit geraumer Zeit gerne sah, daß die Rose für den jungen Jäger keine Dornen hatte.

Er hatte gedacht, ihr etwas Angenehmes mit seinem Vorschlage zu sagen. Wie sie es aber jetzt auffaßte, so hatte er, wie es ihm vorkam, das gerade Gegentheil erreicht. Sie fürchtete sich, so däuchte es ihm, in weiblicher Selbstsucht, daß der Mann ihrer Zuneigung in diese Unglücksgeschichte hineingezogen werde, in welcher man ihren Vater als Mörder nannte. Dadurch konnte die Verwirklichung ihrer Träume für immer vernichtet werden.

Regina aber ängstigte sich in Wirklichkeit deshalb, weil sie die Rücksicht, welche der Entdecker der blutigen That für sie und ihren Vater hegte, nicht noch weiteren Proben ausgesetzt wissen wollte.

Franz war nicht der Mann des Zögerns. Das Waldhaus, welches Sebaldus bewohnte, war kaum eine Stunde entfernt. Er kannte den nächsten Weg dahin. Es war kaum acht Uhr abends und er mußte unfehlbar Sebaldus noch wach finden.

Da er die Gewohnheiten des Hauses kannte, wußte er, daß er unbemerkt durch die in die Scheune führende Thür hinausgehen und wieder hereinkommen könne. Er mußte Klarheit haben, er mußte noch heute eine andere Stimme über die seltsame Geschichte des Luka hören.

Er wartete nur noch, bis er im ganzen Hause kein Lebenszeichen mehr hören würde. Dann wollte er leise über die Treppe hinabgehen und die hölzerne Klinke des Heuschuppens öffnen.

Es dauerte geraume Zeit, bis es ruhig wurde. Er hörte den Eisenhans, welcher ununterbrochen in seiner Stube auf und ab ging, trotzdem er einen beschwerlichen Tag gehabt hatte. Endlich schien es ihm, als hätte sich der Förster niedergelegt.

Nachdem er noch einige Zeit gehorcht hatte, machte er sich daran seinen Plan auszuführen. Es gelang ihm, das Freie zu erreichen, ohne daß er durch das geringste Geräusch seinen Weggang verrathen hätte. Kaum aber hatte er den Rand des Waldes erreicht, als er wie festgewurzelt stehen blieb.

Weiterhin gegen Norden stand urplötzlich eine Feuersäule am Himmel.

Wo sollte jetzt der Waldbrand herkommen? Die Erde war zum Theil noch mit Schnee bedeckt und die Bäume troffen vor Feuchtigkeit. Aber – der Augenschein war da – hoch loderte tief drinnen im Walde eine Flamme empor. Am liebsten wäre Franz augenblicklich wieder zurückgegangen, um den Förster zu wecken, doch zögerte er, weil er sich scheute, seine Abwesenheit aus dem Hause zu erklären.

Es bemächtigte sich seiner plötzlich der Gedanke, irgend jemand im Hause möchte das Feuer gleichfalls entdeckt haben und er alsbald vermißt werden.

Schon wollte er umkehren, um den Rückweg einzuschlagen, als ihm einfiel, daß weder der Förster noch die übrigen Angehörigen des Hauses den Brand bemerkt haben konnten, da deren Schlafgemächer, wie er wußte, auf der anderen Seite lagen. So setzte er denn seinen Weg fort. Bald knirschte eine aufgeweichte Eisplatte unter seinen Füßen, bald stieg er in einen Wassertümpel hinein. Wo die Bäume eine Lichtung ließen, da breitete sich röthlicher Schimmer auf den Schnee um die schwarzen Zacken der Fichten aus.

Mit einem Mal schnellte ein dunkler Körper wie ein Pfeil an ihm vorüber. Obwohl derselbe seine Bahn durch die Luft beschrieb, konnte es doch nicht ein aufgeschreckter Vogel, etwa eine Eule oder ein Auerhahn sein, denn dazu war die Bewegung viel zu rasch und der Körper zu groß.

Dann hörte er ein Aufklatschen im Dickicht.

Dorthin drang kein Schimmer der fernen Feuersäule, deren Wiederschein sich auf dem Schnee der Lichtungen wohl bemerklich machte. Nachforschen hätte zu nichts geführt. Auch blieb alles regungslos. Franz vernahm nicht das geringste Geräusch mehr.

„Das ist doch ein verteufelter Wald!“ brummte er vor sich hin. „Die Leute verschwinden, der Schnee fängt zu brennen an, durch die Luft fliegt, der Himmel weiß, was.“

Aber es kam noch seltsamer. Rehe, die sonst um diese Nachtstunde ruhig in ihren Dickichten verbleiben, rannten aufgescheucht durch den Wald, als ob sie rasend geworden wären. Das Feuer allein konnte es nicht sein, welches den Thieren eine solche Angst einjagte.

Indessen näherte Franz sich immer mehr und mehr der Brandstätte. Als er schon fast die Lichtung erreicht hatte, von welcher das Feuer ausging, sah er, daß vor einem Schneehügel lichterloh eine Flamme aufschlug. Durch die Hitze hatte die Zweige einiger Tannen Feuer gefangen und schwächliche Flammen tanzten auf dem feuchten Geäst hin und her, unfähig, dasselbe in Gluth zu verwandeln.

Franz unterschied schwarze Umrisse von Menschen und vernahm Stimmen. Zu seiner Ueberraschung unterschied er deutlich den kräftigen Brustton des Sebaldus. Es war offenbar, daß man sich stritt. Nun erkannte auch Sebaldus den Herannahenden und rief ihm zu: „Franz, Ihr seid ein alter Jäger! Sagt frisch und frei, ist Euch jemals eine ähnliche Narrethei vorgekommen?“

Franz, welcher verblüfft bald den Jäger Sebaldus, bald die anderen Männer anstarrte, vermochte kein Wort hervorzubringen. Die fünf oder sechs jungen Leute, welche er da vor sich sah, waren aufs zierlichste gekleidet. Sie trugen feine Jagdröcke, Handschuhe und Gamaschen und sahen aus wie als Jäger verkleidete Stutzer.

Sebaldus aber fuhr fort:

„Machen die Herren da einen Ausflug aufs Gebirge, verspäten sich und gerathen in die Nacht hinein. Da kommen sie zur alten Köhlerhütte, in der schon seit fünfzig Jahren niemand mehr hantiert hat, und die von Schnee überdeckt ist. Sie hören etwas wie Eulen schreien und glauben, es seien Wölfe, welche kommen, um sie aufzufressen. In ihrer Angst zünden sie die verstreuten Kohlen an, die sie finden, und machen mit dem Holz vom alten Meiler ein Feuer an und merken nicht, daß ihnen der Wald über dem Kopf zusammenbrennt. Glücklicherweise habe ich es von meinem Waldhause aus gesehen. Aber blechen sollen mir die Herren für den Schaden, daß ihnen die Lust vergeht, Kohlenhaufen oder Baumstämme anzuzünden.“

Zur Verwunderung des Sebaldus sagte Franz: „Es ist ganz richtig, es sind Raubthiere im Wald. Ich bin selbst vorhin mit einem solchen zusammengetroffen.“

Als die Stutzer diese Nachricht hörten, welche Franz in allem Ernste vorbrachte, schrieen sie alle, wie wenn ein einziger aus ihnen spräche, nach dem nächsten und sichersten Wege in die Stadt.

Sebaldus lächelte und versprach, sie bis zu einer Stelle zu begleiten, von welcher an alle Gefahr von reißenden Thieren aufhören sollte.

Alle hatten bereits ihre Namen abgegeben und jetzt versprachen sie noch überdies, den Schaden doppelt und dreifach zu ersetzen. Gefahr für den Wald war nicht mehr vorhanden, denn wenn die niedergehenden Flammen der Kohlen und des Geästes die von Schnee durchtränkten Zweige nicht mehr erhitzen konnten, so hörte das Brennen von selbst auf.

Trotzdem aber nahm Sebaldus eine barsche Miene an und herrschte die Stadtherren, während er neben ihnen auf dem Wege herging, an wie ein Gerichtsdiener seine Gefangenen.

[198] Kaum hatte er gesagt: „Jetzt können die Herren immer dem breiten Wege nachgehen, ohne zu fehlen, bald senkt sich die Straße und dann sehen Sie fern in der Tiefe die Lichter der Stadt,“ so fingen sie an zu rennen, als ob alle Raubthiere der Erde hinter ihnen her wären. Sebaldus und Franz schauten ihnen eine Weile lachend nach, dann schlugen sie einen Fußpfad ein, der am Weißen Thor vorüber zur Sehnsuchtstanne führte, wo sich ihre Wege trennen mußten. Franz wußte nicht, wovon er zuerst zu reden anfangen sollte, während er neben Sebaldus auf dem dunklen Pfade einherschritt. Zuerst drängte es ihn, die Angelegenheit des Eisenhans und des Luka zur Sprache zu bringen, welche jene Unruhe in ihm erregt hatte, von der er aus dem Hause getrieben worden war. Indessen war es ihm durch die Schweigsamkeit seines Begleiters immer schwerer geworden, eine Anknüpfung an diese Geschichte zu finden. Nach der Bitte Reginens um Stillschweigen nahm er an, daß dieser Gegenstand einen eigenthümlichen Eindruck auf Sebaldus hervorbringen müsse.

Was sollte er opfern: den Wunsch Reginens oder die eigene Neugierde, die ihn verzehrte?

Mittlerweile sahen sie durch die helle Nacht hindurch den Steilabsturz des Trichters vom Weißen Thor.

Das wußte Franz freilich nicht, daß er keine verhängnißvollere Oertlichkeit hätte wählen können, um mit seinen Fragen anzufangen. Er schrak verblüfft zurück, als Sebaldus auf die einfachen Worte: „Weiß man jetzt noch immer nichts vom Luka?“ augenblicklich stehen blieb und den Fragenden mit einem seltsamen Blick von oben bis unten maß.

Nach einer Weile sagte Sebaldus: „Was soll’s damit?“

Franz antwortete nicht. Er dachte an Reginens Warnung. Offenbar wollte Sebaldus gleich dem Mädchen nichts von einer Sache hören, mit welcher zusammen der Name des Eisenhans genannt worden war.

„Es ist mir eben so durch den Kopf gegangen,“ sagte er nach einer Weile.

Sebaldus schritt hinter ihm her, ohne ihm zu antworten. Endlich kamen sie über das Weiße Thor hinaus und das Stillschweigen wurde Franz lästig. Er suchte nach einem Gegenstand, mit welchem er die Frage, die so übel aufgenommen worden war, vergessen machen könnte.

Warum hatte er aber auch nicht früher daran gedacht!

Er erzählte nun dem Sebaldus, welch wunderliche Begegnung er vorhin im Walde gehabt hatte. Ein mächtiges Thier war pfeilschnell durch sein Gesichtsfeld geflogen, es konnte kein Vogel, es konnte kein Reh gewesen sein. Waren Wölfe in den Wald eingedrungen? Er hatte kein Wort davon gehört.

Mittlerweile hatte sich der Himmel wieder verfinstert, der Südwind schob schwere Wolken vom Meere herauf. Sie gingen eben durch ein Dickicht und Sebaldus steckte seine Laterne an.

„Zum Kuckuck, was ist das?“ rief er, indem er mit der Laterne auf einen rundlichen Fleck im Schnee hindeutete. Zugleich horchte er in den Wald hinein, als ob ihm von dort etwas Auffallendes in die Ohren gedrungen wäre.

„Es ist nichts,“ sagte er. „Es ist der Schnee, welcher feucht und schwer geworden ist und von den Bäumen herabfällt.“

Im nächsten Augenblicke wendete er um so größere Aufmerksamkeit wieder dem Fleck im Schnee zu. Er leuchtete weiter. Da war ein paar Spannen weiter ein gleicher Fleck, dann ein dritter und so weiter.

„Straf mich der Himmel, das ist ein Luchs!“ sagte Sebaldus fast athemlos.

Franz bückte sich gleichfalls gegen den Boden und erwiderte: „Nichts anderes, wenngleich man nach der Spur meinen könnte, es sei ein Elephant durch den Wald getrabt.“

„Durch den warmen Wind ist sie eben größer geworden,“ sagte Sebaldus. „Morgen wird sie ausschauen wie ein Teller. Es ist nichts anderes. Wäre es ein Wolf, so müßte man die Krallen sehen.“

„Der Luchs ist’s, der an mir vorübergeflogen ist,“ rief Franz.

„Das Feuer muß den Burschen ganz verrückt gemacht haben. Das giebt morgen eine Treibjagd,“ sagte Sebaldus, indem er mit der Hand auf den Schenkel klatschte. „Gehe jetzt nur heim und verrathe kein Wort! Ich werde morgen den Eisenhans überraschen.“

Und ehe Franz Zeit hatte, ihm Ja oder Nein zu sagen, winkte er ihm mit der Laterne gegen die Sehnsuchtstanne hin, welche sich in geringer Entfernung von ihnen erhob, und schlug, offenbar in höchster Aufregung, eiligst den Weg nach seiner Behausung ein.

8.

Am nächsten Morgen war an dem Forsthause des Eisenhans ein Leben, wie es Regina seit langer Zeit dort nicht mehr wahrgenommen hatte.

Sebaldus mußte noch während der Nacht Gelegenheit gefunden haben, den Forstmeister in der Stadt von seiner Entdeckung zu benachrichtigen, denn es fehlten nur noch zwei Stunden bis Mittag, als der Forstmeister schon in voller Jagdausrüstung ankam und nach den Vorbereitungen zur Treibjagd fragte.

Dem Forstmeister war die Geschichte mit dem Luchs aber auch noch in anderer Hinsicht eine angenehme Nachricht gewesen. Es war jetzt offenbar, daß die zwei Schüsse, welche der Eisenhans dem Luchs nachgeschickt haben wollte und von denen Barbara herumgeschrieen hatte, daß sie ihrem verschwundenen Manne gegolten hätten, keine Erfindung des Försters gewesen waren. Er sagte dies auch sofort dem Eisenhans, noch während er sein Gewehr ablegte.

Der Eisenhans freute sich über die freundliche Ansprache des Forstmeisters, doch vermochte er im Augenblick nicht weiter über diese Angelegenheit, die ihm so nahe ging, zu sprechen.

Fort und fort kamen Jäger und Bauern mit ihren Meldungen. Dieselben wurden besprochen, gegen einander abgewogen und endlich, nach allen Beschreibungen der Fährten, ward angenommen, daß der Luchs an einer Stelle des Waldes nahe an der verlassenen Köhlerhütte liegen müsse, die man den „Bruch“ nennt, weil dort seit langer Zeit Stämme, welche ein Sturm umgeworfen hatte, übereinander lagen. Gelang es, das Thier von dort herauszutreiben, so mußte es auf der weiten Lichtung, welche den Bruch umgab, unzweifelhaft unter den Kugeln seiner Verfolger fallen.

Das Fell des Luchses war längst verkauft, bevor man es hatte.

Regina hatte alle Hände voll zu thun, ein kleines Mahl zu bereiten, mit welchem sich die Jäger vor ihrem Aufbruch zu stärken gedachten. Alle waren guter Laune; das schlimme Raubthier hatte eine heitere Stimmung über die ganze Gesellschaft gebracht.

Der Forstmeister, welcher die verstohlenen Blicke bemerkte, welche Regina und Sebaldus sich zeitweilig zuwarfen, sagte beim Fortgehen neckisch zu dem Mädchen:

„Auf diese Weise aber werden wir nicht aus dieser Wildniß herauskommen. Die Rose wird unter den Dornen bleiben.“

Regina erröthete, als ob sie es darauf anlegte, dem Schmeichelbeiwort, welches ihr der Herr Forstmeister bei guter Laune zu geben pflegte, nach Kräften gerecht zu werden. Noch lange schaute sie den Männern nach, als ihre Gestalten zwischen den Stämmen der Buchen und Tannen verschwanden.

Seit gestern hatten Sonne und Südwind mächtig gearbeitet, den Schnee von unbewaldeten Kuppen zu entfernen. Die „Große Kuppe“, wie man einen Hügel in der Nähe des Forsthauses nannte, hatte ihre Farbe seit dem gestrigen Abend vollständig verändert. Sie zeigte jetzt grauen, nackten Fels, wo man vorher nur zerfließenden Schnee oder nasse Steinflächen gesehen hatte. Es ging ein seltsames Schwirren durch den Wald. Der Wind trieb von Mittag gegen Norden, dennoch aber jagten die Wolken hoch oben am Himmel von Nord gegen Süd. Zwei Strömungen kämpften mit einander.

Es mußten noch lange Stunden bis zur Rückkehr der Jäger verstreichen. Regina beschloß deshalb, diesen ersten Frühlingstag zu benützen, um die aussichtsreiche Kuppe zu besuchen. Es verging keine halbe Stunde und sie befand sich auf der Erhöhung. Mit Freuden erspähte sie einiges Heidekraut, dessen rothe Blüthe sich schon unter dem Schnee entwickelt haben mochte. Hier und dort war der grauliche Stengel eines Huflattichs in die Höhe geschossen, und aus der tieferen Waldgegend vernahm sie die Stimmen zahlreicher Amseln.

Nachdem sie sich eine geraume Weile an diesem Frühlingsbilde erfreut hatte, fuhr sie sich plötzlich mit der Hand über die Augen, als ob sie etwas Störendes von ihnen wegwischen wollte. Doch umsonst. Sie versuchte es noch einmal. Es half nichts, was sie verscheuchen wollte, wich nicht.

[199] Es war aber auch etwas Unerhörtes. Der ferne Gipfel des Mittagkogels, zu welchem man stundenweit zu gehen hatte, lag da vor ihr, als ob sie ihn mit den Händen zu greifen vermöchte. Und gerade unter ihm eine Menge schwarzer Gestalten, so deutlich, daß sie die Gesichtszüge eines jeden erkennen konnte.

Es waren die Treiber. Ihre Umrisse mit den Gegenständen, welche sie in der Hand trugen, wie Gabeln, alte Gewehre oder Stöcke, hoben sich scharf vom Schnee ab.

Wunderlich nahm es sich aus, daß Regina keinen Ton von all diesen Menschen zu hören bekam, welche, wie es schien, sich in ihrer nächsten Nähe bewegten. Doch war es ihren Bewegungen und Gebärden deutlich anzusehen, daß sie nicht nur sprechen, sondern auch schreien mußten.

Was konnte das alles zu bedeuten haben?

Regina erinnerte sich an manche Erzählung ihres Vaters, in welcher er ihr das wundersame Spiel geschildert hatte, welches mitunter an diesen Gebirgen der Küste die Zauberin des Mittags, die Fata Morgana, aufführt. Ferne Gegenden, Stücke der Meeresfläche mit ihren Segeln, entlegene Waldlandschaften tauchen mit einem Male empor und rücken in die nächste Nachbarschaft des Beschauers heran.

Heute war sie dieses Wunders gewürdigt worden. Die zwei Strömungen, von denen die eine kalt und trocken, die andere feucht und warm war, hatten die Spiegelung geschaffen. Mit verhaltenem Athem, als ob sie imstande wäre, durch ihren Hauch das zarte Gebilde zu verwehen, folgte sie den Bewegungen der Gestalten.

Plötzlich nahm sie wahr, daß alle Männer auf einen weißen Hügel zustürzten, um welchen an einer Stelle die Zweige der Tannen versengt waren; dort blieben sie stehen und es schien, als ob alle angestrengt lauschten.

Dies dauerte aber nicht lange. Dann sah Regina, wie sie mit ihren Gabeln, Schaufeln, Stangen und Stöcken im Schnee herumbohrten. Wie wüthend arbeiteten die Männer, der emporgehobene Schnee flog um sie herum wie Schaumflocken.

Mit einem Male stieg einer in die Grube, welche gegraben worden war, hinab. Dann sah Regina zwei, drei Bretter herauffliegen. Gleich darauf kam der Mann wieder zum Vorschein, hinter ihm aber stieg langsam eine Gestalt herauf, bei deren Anblick sämmtliche Männer die Arme in die Höhe hoben.

Diese Gestalt war Luka und kein anderer.

Plötzlich aber erhoben sich alle diese Männer mitsammt dem Luka in die Luft. Die einen derselben blieben aufrecht stehen, die anderen streckten die Füße gegen den Himmel. Dann zuckten sie noch ein paarmal hin und her und mit einem Mal war alles zerronnen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

Es war noch nicht abend, als Regina den erklärenden Text zu diesem Bilde bekam.

In der Försterstube schwirrte es von Stimmen, von Fragen, Rufen und Gelächter. Die Luchsjagd war heute erfolglos geblieben. Das störte aber nicht, wie sonst, die gute Laune der Jäger. War doch der Mensch wieder zum Vorschein gekommen, der nicht bloß dem Förster so böse Stunden bereitet hatte.

Es war einfach zugegangen. In jener Nacht hatte es sich der Fallensteller in der verlassenen Hütte bequem machen wollen, weil ihm die Bora draußen zu arg mitspielte. Dann hatte diese so viel Schnee über der Hütte in der Lichtung zusammengetragen, daß er nicht mehr heraus konnte, selbst wenn er in der Finsterniß die Thür gefunden hätte. Er hatte Branntwein und Speck bei sich, womit er sich die paar Tage und Nächte am Leben erhielt. Uebrigens hatte er die Stärkung auch nothwendig, denn er brüllte in einem fort, um die Aufmerksamkeit von irgend jemand zu erregen, der vorüber gehen konnte.

Am meisten hatte er gestern gebrüllt, als er undeutlich Menschenstimmen vernahm. Es war die Gesellschaft gewesen, die sich an einer Stelle, an welcher der Wind den Schnee von den Kohlen weggeweht hatte, das Feuer anzündete, um den vermeintlichen Wolf zu verscheuchen.

Und sein Brüllen hatte denn auch heute seine Rettung herbeigeführt, welche Regina in der Fata Morgana sich abspielen gesehen hatte.

Nur der geistliche Herr dachte daran, dem Luka, den sie mehr todt als lebendig heim schleppten, eine Strafpredigt zu halten. Die anderen alle meinten, er habe seine paar Schlingen genug abgebüßt.

Was den Luchs anbelangt, so mußte er irgendwo durch die Kette der Treiber hindurchgesprungen sein. Wahrscheinlich war er ihnen entwischt, während sie sich um den weißen Hügel, unter dem die Hütte lag und wo man den Nothschrei des Meßners dumpf herauftönen hörte, zu schaffen gemacht hatten.

Am vergnügtesten war ohne Zweifel Regina. Wer anders hatte die Unschuld ihres Vaters aufgehellt, als Sebaldus?

Der Abend verfloß unter heiteren Gesprächen und auch dem Forstmeister fiel es nicht ein, in die Stadt zurückzukehren.

Am nächsten Tage aber litt es den Sebaldus nicht länger, er erzählte dem Eisenhans und dem Forstmeister, was er seinerzeit beim Weißen Thore gesehen hatte.

Die beiden Männer trauten ihren Ohren nicht, als sie vernahmen, daß sich Sebaldus in diesen lothrechten Abgrund hinabgewagt habe. Sie konnten es nicht verstehen, was ihn veranlaßt haben mochte, in solcher Weise sein Leben einzusetzen. Sebaldus aber hütete sich wohl, ein Wörtlein verlauten zu lassen über die Beweggründe und Muthmaßungen, von welchen er geleitet worden war.

Der Forstmeister ließ sich wiederholt beschreiben, was Sebaldus am Rande des Abgrundes und auf dem Balken wahrgenommen hatte, dann forderte er ihn auf, mit ihm und dem Eisenhans in den Wald hinaus zu gehen.

Nach einer Stunde standen sie beim Weißen Thor. Der Forstmeister beugte sich so weit wie möglich vor, dann wendete er sich gegen seinen Begleiter und sagte mit einem eigenthümlichen Ausdruck: „Nun, weißt Du, Sebaldus, ein Mensch ist’s nicht, aber ein Hund. Es ist mir gerade, als ob ich dabei gewesen wäre. Da liegt der Hund begraben!“

„Flott?“ erwiderte Sebaldus.

„Es ist nicht anders,“ sagte der Eisenhans zum Forstmeister. „Läge er nicht da drunten, kein anderes Hinderniß hätte ihn aufgehalten, nach Hause zu kommen. Den armen Kerl hat der Luchs gejagt. Er ist in seinem Schrecken vor einer solchen Bestie, die er niemals gesehen hatte, weit hineingesprungen.“

Sebaldus erwiderte kein Wort. Das Unrecht, welches er in Gedanken dem Förster angethan hatte und das nach der vorliegenden, augenscheinlichen Wahrheit nunmehr fast lächerlich erschien, schnitt ihm die Rede ab.

Schweigend traten die Männer den Rückweg an. Sebaldus verabschiedete sich von ihnen beim Kreuzweg. Der Eisenhans aber trat aufgeräumter als je mit dem Forstmeister in die Stube.

Franz und Regina saßen im Gespräche bei einander. Der Eisenhans steckte sich seine Pfeife an, setzte sich im Lehnstuhl zurecht und begann zu erzählen, was ihm Sebaldus gezeigt hatte.

Regina unterdrückte die Bewegung, die sich ihrer bemächtigte, als sie von dem Vorgange hörte, welcher sie damals so sehr erschreckt hatte. Dagegen konnte sie einer Blutwelle nicht Einhalt gebieten, welche ihr frisches Gesicht tief röthete, als ihr Vater sagte:

„Der Sebaldus ist doch ein verflucht schneidiger Kerl – wenn ich einen Sohn hätte, so einen hätte ich mir gewünscht, – das echte Jägerblut!“

Ihre Bewegung entging weder Franz und dem Eisenhans, noch dem Forstmeister. Franz sagte lächelnd:

„Mir scheint, das Katzenthier hat doch auch sein Gutes gehabt. Erstlich wäre der arme Teufel da drüben verkommen, wenn es sich nicht im Wald gezeigt hätte, und dann –“

Er warf Regina einen Blick zu und stockte, offenbar in Verlegenheit über das, was er weiter sagen wollte.

Der Forstmeister aber kam ihm zu Hilfe, indem er sich zum Eisenhans wendete:

„Unsere alten Deutschen waren auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatten eine Hochzeitsgöttin, die hieß Freya. Ihren Wagen, in dem sie oft in voller Schönheit durch das Land fuhr, zogen Luchse. Mir scheint, sie muß sich irgendwo daher in unsere Nähe verirrt haben.“

Der Eisenhans ging auf den scherzhaften Ton ein und erwiderte: „Nun ja, es ist noch nicht aller Tage Abend.“

Regina stand rasch auf und verließ das Zimmer, indem sie ihr Gesicht von den Männern abwendete. Franz aber rief ihr nach: „Und der Frühling und die Sonne bringen es an den Tag!“




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sadt