In der Silvesternacht

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: In der Silvesternacht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 872
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[872]

In der Silvesternacht.

Wie eine einsame Warte steht mitten im blanken Felde mein Wohnhaus. Dort in dem hohen Erker des oberen Geschosses liegt mein trauliches Arbeitszimmer, von dessen Eckfenstern ich in zwei Welten blicke. Vor dem einen breitet sich die endlose Ebene aus, die nur von Chaussée-Alleen in schnurgeraden Linien durchschnitten wird und aus der einige Dörfer wie einsame Jnseln auftauchen. Von dem andern Fenster schaue ich zurück zu dem steinernen Häusermeer der Großstadt. Wie auf ein ehernes Kommando festgebannte Bataillone behaupten die wettergrauen Häuser der Altstadt mit ihren Kirchthürmen die Mitte; wie aufmarschirende Flügelkolonnen scheinen der südliche und nördliche Theil immer weiter das Terrain zu gewinnen, und wie muthige Schützenlinien schwärmen vor der langen Front die bunten Villen und Vororte aus. Seit mehr als einem Menscheualter beobachtete ich den Krieg, den die Stadt mit dem Blachfelde führte, und war ein theilnehmender Zeuge ihrer Siege.

Heute stieg die Sonne zum letzten Male in diesem Jahre spät und müde über meinem Panorama auf.

Die Stadt war längst aus ihrem Schlummer erwacht und ging an ihr Tagwerk, gehüllt in den breiten Rauchmantel, den die ersten Sonnenstrahlen mit Violett und Purpur färbten – die Ebene schlief, in die glänzend weiße Schneedecke gebettet. Ich kenne längst diese Gegensätze – welche mir alljährlich die Bilder des Lebens und des Todes – der starren Vergangenheit und der dahinrauschenden Gegenwart vor die Seele rufen.

Aus dem Schneegefilde ragen heute auffälliger als sonst einige dunkle Tannen in die Höhe und schützen mit ihren wie Arme ausgestreckten Aesten ein einfaches Denkmal aus Stein. Auf diesem Platze stand einst der Despot, der das wilde Pferd der Revolution zu zügeln wußte und wie eine Gottesgeißel die Länder Europas mit den Schrecken des Krieges überzog. Von jenem Hügel aus blickte er auf das Hin- und Herwogen der dreitägigen Völkerschlacht und sah, wie in diesem Ringen die Sonne seiner Macht langsam dahinsank.

Als vor Jahren in einer Silvesternacht der Mond über dieses Blachfeld aufgegangen war und über den Schneewehen Wolkenschatten heimlich wie Gespenster dahinhuschten, erschien mir jener Hügel wie von Geistergestalten belebt. Ich sah den Kaiser im grauen Mantel, sah den glänzenden Stab der Generäle, sah das bleiche Antlitz zu Tod getroffener Krieger und einen stolzen Fahnenwald, über dessen Kronen goldene Kaiseradler schwebten. War das die große Wachtparade, die er, wie die Dichter singen, von Zeit zu Zeit abhalten soll? Horch, da dröhnte ein Böllerschuß, donnernd folgte ihm ein zweiter, und wie der dritte durch die stille Nacht langsam dahin rollte, verschwand mein Phantasiegebild. Glockengeläute und gedämpfter Jubel jauchzender Menschenstimmen drangen an mein Ohr. Dort in der Ferne in der lichterbesäeten Stadt jubelte und frohlockte das Volk, denn ein großes Jahr ward glücklich vollendet und ein glorreiches ward geboren!

Es waren die Jahre 1870 und 1871, die mit leuchtenden Lettern am Himmel der Weltgeschichte wie neue Sternbilder aufflammten – es war die große Wende im Leben der Völker, das Doppeljahr der Geburt der deutschen Einheit...

Jahre sind seit jener Silvesternacht ins Land gegangen; der laute Jubel ist verklungen, und was damals im Sturm erobert wurde, muß jetzt in zäher Ausdauer erhalten werden. Auf die Zeiten des Krieges folgte die Zeit der Arbeit – und die Arbeit ist auch ein Kampf mit Siegen und Niederlagen. In ihrem stehenden Heere muß jeder Einzelne, der Schwache wie der Starke, dienen, und wehe Dem, der an ihr fahnenflüchtig wird!

*  *  *

Und wieder breitet die Nacht ihre Schatten über meine Landschaft; der märchenhaft gläuzende Winterhimmel schaut mit Millionen flimmernder Augensterne zur Erde hernieder … zum letzten Male in diesem Jahre beschreiben sie ihre Bahnen in dem Weltenraume ...

Welch ein verwegener Gedanke, mit Erdenmaß das Weltall zu messen, von Jahren im Angesicht der Ewigkeit zu reden! Die Aeonen spotten der kurzen Spanne Zeit, die zwischen dem ersten und letzten Athemzuge des Sterblichen liegt, die im Vergleich zu ihnen leicht und winzig erscheint wie ein Tropfen gegenüber dem Weltmeer. Und doch wagt der Mensch den Kampf mit der Ewigkeit, aus der unendlichen Zeit reißt er Stücke heraus, nennt sie Jahrtausende, Jahrhunderte und Jahre und läßt sein Wirken in diesen engen Grenzen dahinfluthen. Diese engen Grenzen sind sein Werk, er rundet die Zeit der Sonnenbahnen ab, nicht länger und nicht kürzer, als er will, darf ein Jahr dauern, und doch sieht er dem Ende des ablaufenden mit innerer Feier entgegen und erwartet mit banger Furcht das kommende! Seltsames Räthsel der letzten Jahresstunde, in welcher die Vergänglichkeit und Ewigkeit in der menschlichen Brust um die Siegespalme ringen!

Man muß auf meiner stillen Warte, fern vom Getümmel der Welt zum gestirnten Himmel emporschauen, um auf solche Gedanken zu kommen. Ein tiefes Sehnen erfaßt mich plötzlich und lockt mich, nach der Stadt, nach Menschen auszuschauen.

Durch das offene Fenster dringen die gedämpften Laute ihres Lebens, ihres Wirkens und Schaffens an mein Ohr. Dort unten auf der Straße zieht beflügelten Schrittes ein Mädchentrupp; halb Kinder noch, halb Jungfrauen, eilen sie nach dem Heimathsdorfe. Aus ihrem fröhlichen Geplauder sind mir nur einzelne abgerissene Worte verständlich – sie sprechen vom Schuhwerfen und Bleigießen. Wie das besorgt ist um den künftigen Schatz! Glückliche Jugend, die nach den Freuden des Lebens dürstet: Wartet nur, wenn der wahre Lebensfrühling kommt und die Herzen wie Blüthenknospen springen, dann wird auch euch die Liebe mit all ihrem Zauber erscheinen und in der nächsten Silvesternacht der Schuh vor der Thür stets richtig fallen und zu lauter brennenden Herzen das flüssige Blei erstarren. Aber was darauf folgt – Glück? Unglück? – daran denkt ihr nicht, und ich mag euch darum nicht schelten.

Träumt nur weiter, ihr kindlichen Seelen, die ihr mit feucht glänzenden Augen halbverklungenen Märchen lauscht und die Welt mit Zaubermächten so gern bevölkert sehen möchtet. Nimmer kehren für euch im reifen Alter die Zeiten des Schwärmens und Dichtens wieder, wie die alten Bräuche nimmermehr aufleben, die an des Jahres Neige vor Jahrhunderten in diesem Lande unverbrüchlich eingehalten wurden.

Nichts, was rund war, durfte sich einst in den heiligen zwölf Nächten bewegen, kein Rad durfte gehen, kein Spinnrad schnurrte in der Kammer. Und heute! Seht ihr die schwachen Lichter, die dort am Horizont auftauchen – eins im Süden und im Norden ein zweites? Sie eilen mit Sturmesschnelle der Stadt zu – zwei donnernde Kourierzüge, die noch in diesem Jahre ihr Ziel erreichen, vielleicht noch auf ein neues losstürmen müssen. Keine Macht, weder geheiligte Sitte, noch Sehnsucht nach Ruhe, wird sie aufhalten. Seht ihr die langen Schienenstränge? Das sind die eisernen Adern, welche die Erde durchkreuzen und Säfte und Kräfte zwischen Völkern und Ländern austauschen. Jetzt saust der Zug in meiner Nähe vorüber; in seinem Tosen glaube ich den donnernden Pulsschlag meines Jahrhunderts zu hören. Stürme vorwärts, du geflügelter Bote der Neuzeit, bringe Glück, streue aus ihren Segen! Mögen die tausend Neujahrswünsche, die du aus fernen Landen der Stadt zuführst, in frohe Erfüllung gehen!

*  *  *

Als ob sich der Sternenhimmel in einem trüben Gewässer wiederspiegelte, scheinen mir die Lichter der erleuchteten Stadt entgegen, aber aus ihrem fahlen Glanze strömt Wärme und Leben. Sie reden mit mir wie alte Bekannte.

In jenem Bürgerhause ist die ganze Familie um die dampfende Punschbowle versammelt, selbst die älteste Tochter, die in diesem Jahre dem Manne ihrer Wahl die Hand gereicht und das Haus verlassen, ist mit dem jungen Gatten gekommen, um die Neujahrsnacht im Vaterhause zu verbringen. In den hell erleuchteten Räumen des daneben stehenden Palastes wogt eine elegante Gesellschaft und dreht sich im Tanze. Jeder sucht nach seiner Art das Neue Jahr zu begrüßen, selbst der Komiker in dem kleinen Vaudeville-Theater wird nicht müde die Possen zu singen, und findet gut aufgelegte Zuhörer.

Dunkel ist dagegen das Stockwerk, in dem einst mein Freund wohnte, der mir vor Monaten die Hand gedrückt hatte, als er, dem Wanderzuge folgend, über den fernen Ocean nach den tropischen Inseln eilte, auf welchen die deutsche Flagge weht. Längst vor ihm hat sein Bruder den Wanderstab ergriffen, um unter dem Sternenbanner „jenseit des großen Teiches“ sein Glück zu suchen.

Unter den mächtigen Douglastannen des „fernen Westens“ und unter den Palmen der Tropen leben und wirken die Söhne Deutschlands und denken heute an die Silvesternacht daheim, und die Verwandten und Freunde im Lande senden ihnen im Geiste Herzensgrüße und Herzenswünsche. Wie viel geistige Boten schwirren heute durch die stille Nacht von Land zu Land, von Welttheil zu Welttheil!

In der Dachkammer eines alten fast baufälligen Hauses brennt trübe die Lampe und erhellt mit mattem Glänze das einsame Mansardenfenster. Ich kenne das bleiche Mädchenantlitz, das jetzt die müden Augen über den Nähtisch schweifen läßt. Pflichten und Noth zwingen es zur Arbeit. Der Jahresschluß und der Miethzins … und dazu das schwache Mütterlein … O wie gut, daß das Schnurren der Nähmaschine sie nicht stört, daß es der Alten längst zu einem Wiegenlied geworden! In der weiten Ferne tauchen aus dem Häusermeer hier und dort mehrere solcher mattglänzenden Mansardenfenster hervor. Wer kümmert sich heute um die, welche hinter ihnen ums dürftige Dasein kämpfen! Die sentimentale Mansardengeschichte ist in der Litteratur längst aus der Mode gekommen, nur die Noth will in der Welt nicht schwinden und wird nicht älter und nicht schwächer mit den Jahren.

Aber auch die Hoffnung will nicht schwinden aus der Welt. Auch sie läßt sich nicht aus dem Felde schlagen, und wie oft hat sie es schon behauptet! So hoffet denn auch ihr, die ihr in harter Arbeit das alte Jahr beschließet und mit Pflichterfüllung das neue beginnt, ihr verdient den Glückwunsch der Engel und den Segen eurer Thaten.

Behaltet Muth, und ihr werdet siegen!

Ein Thor, der da wähnt, daß Unglück mächtiger ist als Glück auf Erden! Einst sah ich noch die Stadt vor mir, wie sie klein und schwach war, niedergebeugt von den Schlägen der Kriegsjahre, und wie blühte sie auf in Arbeit und Fleiß, wie reckte sie ihren Riesenleib und streckte weit hinaus ihre nervigen Arme, wie schmückte sie ihre breite Stirn mit einem blühenden Kranz von Gärten! Die Jahre des Unglücks sind für sie Lehrjahre geworden und nicht anders sollte der Einzelne handeln.

So fahr denn wohl, du altes Jahr! Die Erinnerung an deine Freuden möge noch lange in unsrer Brust nachzittern, aber an deinen Dornen soll kein Herz verbluten!

Und du sei gegrüßt, Neues Jahr, so reich für Jeden an Hoffnungen! Gieb uns die Kraft der Jugend und die Weisheit des Alters, damit wir siegreich den Stürmen des Schicksals trotzen können. Werde das für uns Alle, was Millionen Menschen hoffend jetzt in die weite Welt hinausrufen:

Ein glückliches Neues Jahr!“