In der Sylvesternacht

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Titel: In der Sylvesternacht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 908, 910
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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In der Sylvesternacht.

Nichts wissen die Gestirne droben von dem irdischen Jahre, von den Merkzeichen, welche der Mensch ihnen abgelernt hat ... wir richten den Blick empor zu den Milchstraßen, zu den fernen Sonnen, für deren langsame Fortbewegung in unbekannte Regionen des Himmels Jahrhunderte und Jahrtausende ein allzu kleines Zeitmaß sind. Und doch kehrt der Blick, vom Schwindel der Unendlichkeit befangen, wieder zur Erde zurück; denn dort oben mag das Fernrohr des Astronomen lange Nächte hindurch verweilen, um die Wunder des Himmels zu ergründen: das unbewaffnete Auge muß, vom Glanze des Himmels geblendet, bald wieder auf den Gestalten der Erde ausruhen, die unser heimathlicher Boden ist und uns festhält, mit unserem ganzen Sein, Denken und Fühlen! Und da ist die Jahreswende ein wichtiger Zeitabschnitt. Mit jeder Sekunde zwar schließt eine Vergangenheit, beginnt eine Zukunft; aber das geschieht unmerklich im Fluß der alltäglichen Dinge; nur einmal wird die Grenze zwischen dem einen und andern Tag, welche zugleich die Grenze zwischen dem scheidenden und dem kommenden Jahr ist, von Allen erwartet, von Allen gefeiert, und ein banger freudiger Herzschlag harrt dem Schlag der Mitternachtsglocke entgegen.

Dort durch den Schneenebel schimmern die Laternen … nicht bloß an diese und jene feste Stelle ist der helle Schein gebannt; hin und her wie Irrlichtertanz bewegen sich die schimmernden Punkte; es sind die Laternen der Equipagen, welche zu den festlich erleuchteten Villen und Prunkgebäuden fahren, um die geladenen Gäste zur Heimfahrt abzuholen. Da rauscht die Ballmusik, da wird in das Neue Jahr hineingetanzt und gejubelt; und über dem wilden Galopp, über den Touren des Kontretanzes, über den Knixen der Quadrille à la cour vergißt man, daß diese Nacht von anderen Ballnächten sich unterscheidet. Da … ein Wink, ein plötzlicher Halt … der Minutenzeiger der Stadtuhr nähert sich der mitternächtigen Ziffer; die Bowlen leeren sich … die Gläser füllen sich! Athemlose Stille … die schadenfrohen Geisterchen der Sylvesternacht kichern in allen Winkeln: denn die Schönen, welche dem Neuen Jahr ihre Huldigung darbringen wollen, haben wenig von dem feierlichen Ernst, den der Augenblick verlangt! Sie sind vom Tanz erschöpft, athemlos … hier und dort ist ein Löckchen aufgegangen, eine Schleife zerknittert, ein Sträußchen zerdrückt! Da tönt der Glockenschlag … die Gläser klingen zusammen! Man wünscht sich Glück … wandelt es hier nicht leibhaft umher in luftigen Gewändern? Vielsagende Blicke werden getauscht – und im Spiegel glaubt jedes schöne Kind, wenn es sich selber erblickt, eine Braut zu sehen. Und nicht Unrecht hat der ahnungsvolle Engel, wenn ihn ein goldner Fittich von Millionen trägt. Es werben um sie die Freier des vergangenen Jahres; das künftige lockt neue herbei, die schon jetzt mit sehnsüchtigen Augen ihre Beute verschlingen. Die arme Magd draußen in der Küche sucht aus dem Bleiguß die Gestalt des künftigen Bräutigams herbeizuzaubern: hier steht der Bräutigam von Fleisch und Blut … nicht einer, sondern einer neben dem andern! Dort aber, der junge Kavalier, der an die Säule lehnt … er harrt so stolz und selbstgewiß, bis die thörichten Jungfrauen ihr Lämpchen angesteckt haben, um ihn zu schauen … denn er ist ein junger Krösus, und bald raschelt’s um ihn von knitternden Gewändern, von Grazien, welche ein süßes Lächeln auf ihre Lippen heften, um ihm ein glückliches neues Jahr zu wünschen, und nicht wie Faust braucht er hinabzusteigen ins ewige Dunkel, um die Mütter aufzusuchen; denn die Mütter kommen hinter den Töchtern, um mit ihm anzustoßen, und sie haben dabei etwas Ahnungsvolles und Geheimnißvolles, als wollten sie mit dem Zauber des klingenden Glases den jungen Millionär in einen Schwiegersohn verwandeln. Dort aber im Schatten der Epheulaube stößt ein junges Paar an mit heimlichem Einverständniß, in seliger Liebe, von der noch „Niemand nichts weiß“. Hier wird angestoßen aufs Steigen der Papiere, dort auf den Ordensstern, der bereits am Horizont aufleuchtet. Und nun wieder rauschende Mnsik, welche alle diese Wünsche in ihrem Schoße begräbt. Das Alte Jahr hat seine Arbeit gethan, das Alte Jahr kann gehen; aber das Neue beginnt mit demselben Taumel, mit welchem das Alte schied!

So geht’s bei den Glücklichen zu … die Unglücklichen aber hören im entlegenen Häuschen, an wegloser, schneeverschütteter Stätte, den dumpfen Klang, der durch die Lüfte zittert. Zwölf Uhr … sie falten die Hände! In der Wiege liegt ein krankes Kind … das Neue Jahr soll ihm die segnende Hand aufs Haupt legen. Sie falten die Hände ... sie haben noch mehr auf dem Herzen. Arbeitslos ist der Mann; o, geb’s ihm ein freundlich Geschick, daß er sich wieder rühren darf, um den Seinen Brot zu schaffen. Sie haben das Fenster geöffnet, um den fernen Schlag zu vernehmen: doch draußen ist’s kalt und unheimlich; ein Schneewind weht und mit seinen Eisnadeln stickt er Blumen an die Fensterscheiben. Sie schließen wieder das Fenster; sie betten sich zur Ruh, ohne einen Schimmer des Trostes, der Hoffnung … und wenn sie aufwachen, da ist das Zimmer düsterer als sonst … von den Eisblumen, den einzigen, die ihrem lenzlosen Leben blühen.

Ein anderes, aber freundliches Bild gewährt uns die glückliche Mitte zwischen den Reichen und Armen! Da sitzt der schlichte Bürger, sicher seiner Arbeit und seines Erwerbes, am Familientisch mitten unter den Seinen. Der älteste Sohn, die Stütze seiner gewerblichen Thätigkeit, auf dem das Auge der Mutter mit stiller Freude ruht, das Töchterchen, dem eine schüchterne Liebeshoffnung die Poesie im Herzen geweckt hat und das ein herziges Liedlein zum Neuen Jahr mit etwas lahmen Versen aufs Papier wirft, der jüngste Sprößling, der, mit dem Köpfchen auf den Armen, eingeschlummert ist, da das Neue Jahr zu lange [910] auf sich warten läßt: sie bilden die um den Tisch versammelte Gruppe, während zwei Knaben am Fenster lauschen und in höchster Spannung den ersten Glockenschlag und den ausbrechenden Jubel in den Straßen erwarten. Und der Glockenschlag ertönt: und mit Thränen der Rührung umarmen sich Alle und heiße Wünsche des Glückes gehen von Mund zu Munde, von Herz zu Herzen.

Was aber sinnt der einsame Mann, der gegenüber bei der Studirlampe sitzt und den nicht der mahnende Glockenton oben, nicht der Lärm der Menge unten rührt? Es ist ein Denker, der über das Schicksal der Menschheit brütet. Von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert rastloses Streben und Ringen: doch wird das ersehnte Ziel näher gerückt und giebt es ein solches Ziel, welches das Streben und Ringen verlohnt? Die Zeiten ändern sich; aber in ihrem Wandel und Wechsel geht so viel verloren, was bleiben sollte, und bleibt so viel, was zu verlieren ein Glück wäre. Ist’s nicht ein Traum, daß die Menschheit sich fortbewegt in fortschreitender Entwickelung? Ist die Geschichte nicht ein bloßer Kreislauf und ihr einziges Symbol die sich in den Schwanz beißende Schlange? Verbirgt sie nicht unter dem wechselnden Kostüm nur die Eintönigkeit ihrer Wiederholungen? Und hat dies erfinderische Jahrhundert, das der Schnelligkeit und Bequemlichkeit des Verkehrs neue Wege gebahnt, auch das Telephon entdeckt, das von Herzen zu Herzen spricht, oder den unterseeischen Kabel, der nicht bloß die Börsen, sondern auch die Geister diesseit und jenseit des Oceans im Dienste edler Menschlichkeit, der Wahrheit, Freiheit und Schönheit verbindet? Und während draußen ein bunter Farbenschein an den Häusern heraufleuchtet und eine freudige Helle sich über die Straßen verbreitet, verdüstert sich das Gemüth des zweifelnden Denkers und immer tiefere Schleier verhüllen ihm die Zukunft.

Nicht über das Ferne, über das Nächste sinnt der Staatsmann, der sich in sein Kabinet zurückgezogen und die neuesten Depeschen mustert. Was wird das kommende Jahr uns bringen, Krieg oder Frieden? Es ist dieselbe Frage, die viele tausend Herzen bewegt: steht des deutschen Reiches Macht und Ehre auf dem Spiele? Werden sich die Besiegten von Sedan mit den Siegern von Plewna verbinden? Werden uns von Westen die Volksheere bedrohen mit dem dreifarbigen Banner, das sie vielleicht im letzten Augenblicke mit der rothen Fahne vertauschen, und im Osten die Völkerschaften Asiens und Halbasiens, die vielnamigen Reiterscharen aus den unbegrenzten Landen des Moskowiterreichs? Ist der Haß gegen uns größer im Westen, wo bald offen, bald verhüllt die Revanche ihre Orgien feiert, oder im Osten, wo das alte Rußland die Führerschaft der stammverwandten Völker übernehmen will, nach den offenen Meeren, nach der Kuppel der heiligen Sophia begehrliche Blicke richtet und Europas Staaten an seinen Siegeswagen spannen möchte, wie die Tatarenreiche der Steppen und die alten Märchenstädte des innern Asiens?

Alle Herzen ersehnen den Frieden; ihn zu wahren ist das eifrige Streben der deutschen Staatslenker … und doch leuchtet etwas wie Kriegsfackel hinter den Gewölken der Sylvesternacht. Immer schwerer und mächtiger wird die Kriegsrüstung auch bei uns; denn das Reich der Mitte darf nicht zurückbleiben hinter den feindlichen Staaten jenseit des Rheins und des Niemens. Ein Staat belastet den andern, ein Krieg erzeugt den andern, und ein unheimliches Gesetz der Folgerung läßt die Menschheit nicht zu Athem kommen. Und der Hineinblick in die Flammen und Schrecken des Weltbrandes erfüllt die Herzen mit Zagen und Bangen: nicht die Furcht vor dem Kampfe ist’s, sondern der Gedanke an den Verlust der Lieben, die uns jetzt in der Blüthe der Jahre und der Hoffnungen zur Seite stehen und die vielleicht die schwarze Todesnummer ziehen, wenn der Gott des Krieges seine Urne schüttelt.

Frieden … Frieden! Auf den Straßen drunten ist’s still geworden, die Wolken droben haben sich ganz verzogen, tausend Sterne blitzen am Firmament. Wie trostreich der Blick auf diese Zeichenschrift der Ewigkeit, die uns lehrt, daß auch unsere Erde nichts ist als ein kleiner Punkt unter jenen Millionen, welche Funken in der Ferne sind und Welten in der Nähe … wie klein erscheint da auch das große Leid der Sterblichen!

Doch fest, wie die Wölbung des Himmels über uns, stehen Kraft und Muth in unserer Brust, Kraft, das Schicksal selber zu schaffen, und Ergebenheit in das über uns verhängte. Das sei der Segen, den die fliehenden Schatten der Mitternacht uns zurücklassen, und so wollen wir dem neuen Tag und dem neuen Jahre vertrauensvoll ins helle Auge sehen!†