Johann Sebastian Bach (Gartenlaube 1885)

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Autor: H. Kretzschmar
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Titel: Johann Sebastian Bach
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 189, 192–196
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Johann Sebastian Bach.
Nach dem Gemälde von Haußmann, gestochen von Bollinger 1802.

[192]

Johann Sebastian Bach.

Von H. Kretzschmar.

Das Jahr 1885 ist für die deutsche Musik ein Ehrenjahr. Wir feiern in ihm die Jubiläen von drei Männern, welche von der ganzen Welt zu den größten Tonmeistern aller Zeiten gezählt werden. Und diese Drei waren Deutsche. Der dritte, der heutigen Generation Fremde, ist Heinrich Schütz, (geb. 5. Okt. 1585 zu Köstritz im Voigtlande), der langjährige Dresdener Oberkapellmeister, welcher die deutsche Musik in den schweren Zeiten des Dreißigjährigen Krieges aufrecht erhielt und ihr ein zweiter Vater wurde. Die beiden Anderen aber kennt Jedermann. Noch klingt es durch die Lande von den Jubeltönen des „Messias“, des „Israel in Aegypten“, des „Samson“, „Judas Maccabäus“, mit welchem der zweihundertjährige Geburtstag G. F. Händel’s gefeiert wurde, und schon rüsten sich allenthalben die fähigen Musikinstitute zu neuen Ovationen für den Schöpfer der „Matthäuspassion“, für den großen Johann Sebastian Bach.

Es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, daß die Nation weit über die musikalisch aktiven Kreise hinaus an diesen Gedenkfeierlichkeiten Antheil nimmt. Unter den geistigen Gütern unseres Volkes nehmen die Tonschöpfungen unserer Jubilare nicht den letzten Platz ein, und nimmer wollen wir es vergessen, daß es eine Zeit [194] gab, in welcher Poesie, bildende Kunst und Wissenschaft bei uns schlummerten und die Musik allein dafür zeugte, daß in dem deutschen Volke noch gesundes inneres Leben wohnte.

Mehr als Händel dürfen wir Sebastian Bach den Unsrigen nennen. Er blieb im Lande als Schüler wie als Meister und sein ganzes Wesen war reicher mit specifisch deutschen Elementen durchflochten, als das seines großen Landsmannes und Zeitgenossen. Seine Werke sind in Folge dessen auch den fremden Völkern schwerer eingänglich als die Händel’s.

Geboren wurde Johann Sebastian Bach am 21. März 1685 zu Eisenach, der Lutherstadt. Sein Vater, Ambrosius Bach, war Stadtmusikus, und der Onkel Sebastian’s, Johann Christoph Bach, spielte die Orgel in derselben Georgskirche, vor deren Portal jetzt Donndorf’s schönes Monument steht. Die Familie, in Thüringen altheimisch und weitverzweigt, machte ihrem musikalischen Namen (b-a-c-h) von jeher alle Ehre. Sie lieferte dem Ländchen eine große Zahl von Kapelldirektoren, Kantoren, Organisten, Hof-und Rathsmusikanten. In Erfurt nannte man die Stadtmusici schlechtweg „die Bache“, und noch lange Zeit nachdem längst Niemand mehr von der Familie dabei war. Einige der Vorfahren und Verwandten Sebastian’s sind auch als Komponisten beachtenswerth. Bei allen Gliedern des Geschlechtes aber ging die musikalische Tüchtigkeit mit den bürgerlichen Tugenden Hand in Hand. Man hielt zusammen, hielt auf Ehre: die Bachs waren geachtete und angesehene Leute und erfreuten sich Alle geordneter Verhältnisse; einzelne, wie Sebastian’s Vater, auch ziemlicher Wohlhabenheit.

Es ist anzunehmen, daß der junge Sebastian Bach frühzeitig mit dem Musiciren begann. Den Grund im Geigenspiel hat er wahrscheinlich beim Vater gelegt, und vielleicht gehörte er auch der seit den Zeiten des Reformators berühmten Eisenacher Kurrende mit an. Die Kindheit unseres Künstlers verlief nicht ungetrübt. Im neunten Jahre verlor er die Mutter, schon ein Jahr darauf auch den Vater. Sebastian kam nach Ohrdruf ins Haus eines älteren Bruders und trat ins Lyceum ein. Wie alle lateinischen Schulen jener Zeit hatte auch das Ohrdrufer Lyceum einen Chor, in welchem zur musikalischen Ausbildung, im Gesang sowohl wie auch namentlich auf den Instrumenten, reichliche Gelegenheit geboten war. Lehrerseminare, Institute für Kirchenmusik und ähnliche Anstalten kannte man damals nicht – die nöthigen Kantoren und Organisten gingen aus den Chorschülern der Gymnasien und Lyceen hervor, und außer Bach haben auch die meisten anderen großen Musiker des 18. Jahrhunderts ihren Lehrkursus an dieser Stelle begonnen: Telemann, Graun, Naumann u. A. In litteris wird Bach kein schlechter Schüler gewesen sein, denn er zeigte sich noch in seinen späteren Jahren als ein firmer Lateiner. In der Musik aber müssen seine Fortschritte rapid gewesen sein, denn er hatte sehr bald seinen Lehrmeister, eben jenen älteren Bruder, der ihn im Klaviere besonders unterwies, überholt. Eine wohl verbürgte Anekdote berichtet uns, daß Letzterer dem Knaben, um vor ihm etwas voraus zu haben, ein Büchlein mit Orgelkompositionen berühmter Meister vorenthielt. Der junge Sebastian aber holte sich Nachts das Orgelbüchlein aus dem Gitter hervor und schrieb es beim Mondenscheine ab. Das ist die Energie des Genies, wie sie aus der Jugendgeschichte aller großen Männer spricht.

In seinem fünfzehnten Lebensjahre vertauschte Bach das Lyceum zu Ohrdruf mit der Michaelisschule zu Lüneburg und blieb hier bis zur Absolvirung der Prima. Die gewöhnliche höhere Karriere des Musikstudiums einzuschlagen, das heißt eine Universität zu beziehen oder nach Italien zu gehen, mußte sich Bach versagen. Eigentlich war schon seine Lüneburger Schulzeit eine Art Anstellung gewesen, denn er wurde dorthin als „Mettenschüler“ berufen und bezog als solcher ansehnliche Präbenden. Wie aus der Ohrdrufer Zeit besitzen wir auch aus der Lüneburger einige Kompositionen Sebastian Bach’s. Letztere sind schon reifer als die ersteren. Was sie charakterisirt, ist der Einfluß von Georg Böhm, einem der bedeutendsten Orgelmeister jener Zeit, der in Lüneburg wirkte und mit seinem jungen Landsmanne – auch Böhm war ein Thüringer – wahrscheinlich in persönlichem Verkehre gestanden hat. In der Chorbibliothek des Michaeliklosters fand Bach für seine Studien und Versuche einen ungewöhnlich reichen Schatz vorzüglicher Muster- und Meisterwerke, die er nach seiner Art fleißig benutzt haben wird. Einen förmlichen und richtigen Lehrmeister hat Bach nie gehabt: er besaß eine eigenthümliche Gabe, sich selbst zu bilden, wie sie gleich stark, und glücklich Autodidakten nur selten zu Theil wird. Alles Kennenswerthe, von dem er erfuhr, suchte er auf, sah es ab und machte es sich zu eigen. Aus der Menge der Vorbilder, welche er in dieser Weise durchnahm und überwand, ist ohne Zweifel die künstlerische Kühnheit und Freiheit, welche Bach auszeichnet, mit erwachsen.

Dieser immer wachsame und unbefangene Bildungstrieb begleitete Bach durch sein ganzes Leben, und noch in der Zeit, wo er längst ein Meister von abgeschlossener Individualität war, hat er es nicht verschmäht, sich um die Art von Hurlebusch und andrer Fachgenossen zu mühen, welche tief unter ihm standen. Aeußere Hindernisse für seinen künstlerischen Fortschritt wurden bewältigt, soweit dies menschenmöglich war: von Lüneburg aus ging er zu Fuß nach Hamburg, um die Meister Reinken und Lübeck zu hören, nach Celle, um in der herzoglichen Kapelle die französische Musik kennen zu lernen. In Arnstadt, wo er im Sommer 1703 als Organist an der „neuen Kirche“ angestellt wurde, sparte er sich von seinen 70 Thalern Gehalt eine genügende Summe ab, um ein Vierteljahr in Lübeck leben zu können und den berühmten Dieterich Buxtehude, sein Orgelspiel und seine weitbekannten Abendmusiken zu studiren. Eine dreifache Urlaubsüberschreitung, welche bei dieser Reise vorkam, ist einer der wenigen Fälle, durch welche der sonst streng gesetzliche Künstler seinen Behörden einen begründeten Anlaß zum Tadel bot. In Arnstadt verlebte er vier stille, fleißige Jahre. Er scheint sich hier infolge seiner Stellung zum Sängerchor zuerst auf dem Gebiete der Kirchenkantate versucht zu haben, und zwar in Anlehnung an den Führer der nordischen Komposition, den genannten Dieterich Buxtehude. Unter den Kompositionen, welche nachweislich in Arnstadt entstanden sind, sei das Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo (Capriccio zur Abreise seines geliebten Bruders) genannt, ein Klavierstück an treuherzigen und launigen Zügen reich und als ein vereinzelter Beitrag Bach’s zu der damals von Kuhnau in Leipzig vertretenen Programmmusik von besonderem Interesse. Zu den in Arnstadt am gräflich Schwarzburg’schen Hofe eingerichteten Opernaufführungen, welche von Schülern, Handwerkern und Beamten des Orts bestellt wurden, ist Bach in keine produktiven Beziehungen getreten.

Im Sommer 1707 siedelte Bach nach Mühlhausen über als Organist der Blasius-Kirche daselbst. Nach der Weise der Bachs dachte auch Sebastian frühzeitig an die Ehe, und kurz nachdem er den neuen Dienst angetreten, führte er seine Base Maria Barbara Bach als Gattin heim. Die „Kaiserliche freie Reichsstadt“ mit ihrer wohlgepflegten musikalischen Tradition bot unsrem Künstler einen vollen Wirkungskreis. Trotzdem blieb er nicht lange hier. Differenzen mit der pietistischen und kunstfeindlichen Geistlichkeit verleideten ihm das Amt und schon im Jahre 1708 finden wir ihn als Hoforganist und Kammermusikus in Weimar, wo er bereits im Jahre 1703 auf einige Monate als Violinist des Prinzen Ernst in Dienst gewesen war. Der Rath von Mühlhausen war und blieb dem Scheidenden sehr freundlich gesinnt. Auf seine Kosten wurde die einzige von den 400 Vokalkompositionen Bach’s gedruckt, welche während Lebzeiten ihres Verfassers im Druck erschien. Es ist die sogenannte Rathswahlkantate vom Jahre 1708: „Gott ist mein König“, eine merkwürdig zerrissene und ungleiche Komposition, aus welcher die Anfängerschaft, die Bach auf dem Gebiete der Orgelkomposition bereits eine Strecke hinter sich hatte, offen heraus sieht. Ihren fertigsten Theil bildet eine Fuge auf den Kaiser Joseph. Es war wieder ein Joseph, Joseph II., dessen Tod etliche achtzig Jahre später auch den jugendlichen Beethoven zur ersten vollen Entfaltung seines Genius trieb.

Der neunjährige Aufenthalt Bach’s in Weimar ist der für seine künstlerische Entwickelung entscheidende Abschnitt seines Lebens. Wenn man sehen will, wie rasch er hier der Meisterschaft entgegenging, so genügt es, mit der eben genannten Rathswahlkantate die Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, die unter dem Titel „Actus tragicus“ allgemein bekannt ist, zu vergleichen. Kaum mag man glauben, daß sie nur drei Jahre nach dem Mühlhäuser Werk entstanden ist! In Weimar war es, wo Bach die Kirchenkantate zuerst aus einem Stein des Anstoßes in ein Kleinod umbildete, dessen sich fortan auch die früheren Gegner freuten. Er verband sie fest mit den volksthümlichen Formen des Choralgesanges und durchtränkte diese mit der ganzen Fülle [195] seiner religiös-poetischen Empfindung.[1] Am ergiebigsten war die Weimarsche Periode auf dem Gebiete der Orgelkomposition. Nicht nur eine große Zahl seiner einzig schönen Choralvorspiele entstand in diesem Abschnitt, sondern auch die Mehrzahl der berühmten Koncertstücke. So in den ersten Jahren die durch Liszt’s Uebertragung allgemein bekannte D-mo11-Toccata, in der letzten Zeit seines Aufenthalts der kolossale „Passacaglio“ in C-moll.

Eine chronologische Durchsicht dieser Arbeiten läßt uns deutlich erkennen, wie Bach sich mehr und mehr von den niederländischen und norddeutschen Vorbildern frei macht. Das phantastische, zügellose und keck virtuose Element tritt zurück zu Gunsten einer konsequenten und erschöpfenden Gedankenentwickelung, bei welcher der Reichthum der Phantasie und die Frische und Eigenthümlichkeit des Temperamentes gleichwohl nicht verkürzt erscheinen. Einen großen Antheil an dieser Umwandlung dürfen wir der italienischen Musik zuschreiben, deren nähere Bekanntschaft Bach zuerst in Weimar machte. In den Klavierübertragungen Vivaldi’scher Violinkoncerte, in der oft genannten Fuge über ein Thema von Legrenzi, in der Canzone D-moll (Frescobaldi nachgebildet) und in ähnlichen Arbeiten hat Bach die direkten Früchte dieser italienischen Studien niedergelegt. Bisweilen stehen diese Uebertragungen und Bearbeitungen zu den Originalvorlagen in einem Verhältniß wie die aufgegangene Ernte zu den Saatkörnern. Der besondere Liebling Bach’s war Albinoni, ein angenehmer, herzhafter venetianischer Dilettant.

Von Weimar aus verbreitete sich auch zuerst Bach’s Ruf als Orgelspieler. Häufige Kunstreisen, die er in der Regel im Herbst unternahm, trugen dazu das Ihrige bei. Einmal, in Kassel, riß er durch ein bloßes Pedalsolo den Prinzen Friedrich, den nachmaligen König von Schweden, zu solchem Enthusiasmus hin, daß dieser seinen Brillantring vom Finger zog und ihn an die Hand Bach’s steckte. Besonderes Aufsehen erregte er im Jahre 1717 in Dresden durch seinen Sieg über den französischen Klavier- und Orgelspieler Marchand. Dieses bewunderte und verhätschelte Schoßkind aller damaligen Virtuosenanbeter hatte unsern Sebastian Bach zu einem Wettspiel aufgefordert. Marchand verließ aber am Abend vor dem Gefecht in heimlicher Flucht das Feld, nachdem er Bach privatim gehört. Der Ruf von Bach’s Spielkunst stieg seitdem ins Mythische und lebt noch heute bis in die abgelegenen Punkte des sächsischen Landes hinein in Anekdoten fort, deren Abenteuerlichkeit die bekannten Paganini-Fabeln beinahe erreicht. Im Gefolge des Virtuosen wurde auch der Komponist Bach bekannt. Hier und da brachte er außer seinen Orgelkompositionen eine Kantate zur Aufführung, so 1716 in Leipzig bei Gelegenheit seines ersten Besuchs in der Stadt seines späteren Wirkens.

Die wachsende Berühmtheit vergrößerte in Weimar den Kreis seiner Schüler. Bach ist der einzige unter unseren großen deutschen Komponisten, welcher sich dauernd und systematisch der Ausbildung junger Talente unterzog. Aus der Weimarschen Zeit ist keiner dieser Schüler zu einer größeren Bedeutung gelangt, aber unter seinen zahlreichen Leipziger Schülern haben sich mehrere eine bleibende Stelle in der Musikgeschichte errungen; so S. F. Agricola, der Berliner Hofkapellmeister und Opernkomponist, Bach’s Schwiegersohn Altnikol, J. F. Doles, sein Nachfolger im Amt, G. A. Homilius, der Kantor an der Dresdner Kreuzschule, der Theoretiker J. P. Kirnberger und die Orgelkomponisten J. C. Kittel und J. L. Krebs.

Im Jahre 1714 war Bach in Weimar zum Koncertmeister ernannt worden. Als aber im Jahre 1716 der Posten des Kapellmeisters frei wurde, überging man ihn. Dies veranlaßte Bach, im Jahre 1717 einem Rufe des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen als dessen Kapellmeister zu folgen. Die fünf Jahre, welche Bach in Köthen verlebte, wurden ihm durch sein persönliches Verhältniß zu dem jugendlichen Fürsten angenehm, welcher den großen Künstler als einen Freund behandelte. Musikalisch bildeten sie, wie Spitta sagt, ein Stillleben. Wenn Bach, wie es häufig geschah, den Fürsten auf dessen Reisen begleitete, kam er oft ganz von aller Musik ab und sehnte sich nach einem Instrument. In einer solchen Lage soll er den ersten Theil des „Wohltemperirten Klaviers“ komponirt haben. Als er im Sommer 1720 mit dem Fürsten von Karlsbad zurückkehrte, fand er die treue Gattin nicht mehr. Sie war in seiner Abwesenheit erkrankt und gestorben, ohne daß er das Geringste davon erfahren.

Der eigentliche Dienst Bach’s beschränkte sich in Köthen auf Kammermusik. Demgemäß entstanden hier die sechs Sonaten für Violine und Klavier, die Sonaten und Suiten für Sologeige (unter ihnen die berühmte Ciaconna), die Suiten für Cello, die Flötensonaten, die Violinkoncerte und die berühmten sechs Brandenburgischen Koncerte für Orchester; vielleicht auch die Orchestersuiten in C-dur und H-moll. Außerdem für Klavier die zwei- und die dreistimmigen Inventionen und die „französischen“ Suiten, so genannt, weil sie in ihren knappen Formen dem französischen Stile folgten.

Im Jahre 1723 verließ Bach Köthen, um das Kantorat an der Thomasschule in Leipzig anzutreten. Der Entschluß, „aus einem Kapellmeister ein Kantor zu werden“, scheint ihm nicht leicht geworden zu sein. Schließlich gaben aber die Rücksicht auf die Ausbildung seiner Söhne und die Sehnsucht nach einer vielseitigeren musikalischen Thätigkeit den Ausschlag. In seiner Leipziger Stellung verblieb Bach bis ans Lebensende; im Ganzen wenig befriedigt und oft schwer verstimmt. Chor und Orchester, mit denen er zu arbeiten hatte, waren in mangelhaftem Zustande; seine nächsten Vorgesetzten waren dem mit Schmiegsamkeit wenig begabten, stolzen Künstler nicht hold; wiederholt kam es zu offenen Differenzen.

Nur der Rektor Geßner, welcher leider nicht lange an der Schule blieb, wußte die Bedeutung Bach’s zu würdigen. In einer Anmerkung seiner Quinctilianausgabe macht er die für einen Philologen jener Zeit fast ketzerische Glosse, daß Amphion und Orpheus zusammen immer noch keinen Bach geben. Einigermaßen mögen ihn die Beweise von Anerkennung entschädigt haben, welche von außen kamen, Bach erhielt den Titel eines sächsisch-weißenfelsischen Kapellmeisters, sein eigener Kurfürst war ihm wohlgewogen. Auch die gewohnten Kunstreisen setzte Bach von Leipzig aus fort. Häufig besuchte er Dresden, seitdem sein Sohn Friedemann dort lebte, hörte die italienische Oper an und verkehrte mit dem Ehepaar Hasse und anderen Künstlern der Residenz.

Einen seiner letzten Triumphe bildete der Ausflug nach Potsdam im Jahre 1747. Friedrich der Große, in dessen Diensten Bach’s zweiter Sohn, Philipp Emanuel, stand, empfing ihn mit wahrer Herzlichkeit, sodaß der alte Meister hochbeglückt heimkehrte. Ein schönes Fugenthema, welches der König selbst zum Phantasiren gegeben, arbeitete Bach zu Hause kunstvoll aus und dedicirte die Arbeit dem hohen Gönner unter dem Titel „Das musikalische Opfer“.

Was aber Bach mehr als Alles vor der Verbitterung schützen mußte, mit welcher ihn die Widerwärtigkeiten der amtlichen Stellung bedrohten, war sein glückliches Familienleben und sein fruchtbarer Genius. Seine zweite Frau, die er noch in Köthen geheirathet, war eine tüchtige Sängerin und nahm an den Arbeiten des Mannes ein inniges, verständnißvolles Interesse; so weit das möglich, half sie ihm zuweilen. In demselben Briefe, in welchem er seinem Freunde Erdmann in Danzig die Leipziger „Fatalitäten“ schildert und die Absicht fortzugehen ausspricht, erzählt er auch von seiner glücklichen Häuslichkeit: „Insgesammt aber sind sie – sc. die Kinder – gebohrne Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formiren kann, zumahle da meine itzige Frau gar einen saubren Soprano singet und auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschlägt.“ Für die Kinder und die Schüler hat Bach viele Klavier- und Orgelwerke geschrieben, deren hoher Kunstwerth uns ihren nächsten pädagogischen Zweck ganz vergessen läßt. Auch die beiden Koncerte für 3 Klaviere in D-moll und G-Dur verdanken dem Familienverhältniß ihren Ursprung; Bach spielte sie mit den beiden ältesten Söhnen.

Ganz erstaunlich, ja unbegreiflich ist die Fruchtbarkeit, welche Bach als Komponist in seiner Leipziger Zeit entwickelte: gegen 300 große Kirchenkantaten! Das ist eine Fülle von Noten, die schon als bloße Schreiberarbeit imponiren kann. Der zehnte Theil davon würde genügen, um Bach das Lob eines fleißigen Komponisten zu sichern. Aber wie hoch stehen sie über dem Begriff der nur fleißigen Arbeiten mit ihren tiefsinnigen und großartigen Kombinationen, mit der Gewalt, Innigkeit und Feinheit der Empfindung, mit dem Reichthum und der Originalität der Ideen, welche diese Formen erfüllen! Und das Meiste davon muß aus freier Hand hingestellt sein, fertig aus dem Kopf aufs Papier gebracht. Denn zu Vorarbeiten, zum Tüfteln und Herumtragen hätte die Zeit nicht gelangt. Der Zustand der Autographe bestätigt diese Annahme: [196] fließend und fest sind sie geschrieben und wo Korrekturen erscheinen, sollen sie weniger Versehen und Fehler bessern, als neue Pläne aufstellen. Die Zeit, in welcher Bach lebte, war der polyphonen Formen des musikalischen Ausdrucks weit mehr Meister als die unserige. Aber auch in dieser Zeit hat Keiner die schwierigsten Bildungen der Tonsprache in der Weise beherrscht wie Bach, der spielend alle bekannten Probleme löste und immer neue aufstellte. Und in diesem vollendeten Kunstkörper – welch eine außerordentliche Menschennatur, welch’ eine Dichterseele von wunderbarster Fülle und Vielseitigkeit, von einer Eigenart und Größe, die man nur schwer vergleichen kann! Goethe oder Beethoven hat diesen Bach ein Meer genannt. Es liegt mehr als ein bloßes Spiel in diesem Wort. Denn es bleibt immer etwas Unergründliches an diesem Meister und Niemand, der nicht Alles von ihm kennt, glaube ihn zu kennen. Er überrascht immer wieder mit Bildern, die wir in seiner Phantasie nicht vermuthet hatten. Es ist nöthig dies gerade mit Bezug auf seine Kantaten auszusprechen, denn von ihnen ist zur Zeit nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil praktisch bekannt, das heißt wirklich ins musikalische Leben eingedrungen.

Diese Kantaten hat Bach zum sonntäglichen Gebrauche für die Leipziger Kirchen geschrieben. Zu ihnen kommt noch eine Anzahl Motetten, die für die Sonnabendsvesper bestimmt waren. Sie sind nie ganz vergessen worden; die Schülerchöre in Sachsen hatten sie auch zu einer Zeit auf dem Repertoire, wo von den andern Gesangwerken Bach’s keine Note mehr bekannt war. An diesen Motetten machte Mozart während seines Besuchs in Leipzig im Jahre 1789 die Bekanntschaft Bach’s.

Für die Karwoche schrieb Bach die Matthäuspassion: am Karfreitag 1729 kam sie in der Thomaskirche zur ersten Aufführung. Die Lukaspassion ist noch in Weimar komponirt, die Johannespassion in den letzten Monaten der Köthner Zeit. Zwei andere Passionen sind verloren gegangen. Das Weihnachtsoratorium entstand 1734. Von den übrigen Werken, welche in Leipzig durch die amtliche Thätigkeit hervorgerufen wurden, seien noch die sogenannten Kleinen Messen und das Magnificat genannt. Auch die große H-moll-Messe, welche Bach für den Dresdner Hof begann, fand, wenn auch nur stückweise, Verwendung beim Leipziger Gottesdienst.

Ueber den kirchlichen Arbeiten schlummerte die Instrumentalkomposition nicht völlig. Von Orgelwerken nennen wir nur die wuchtige F-dur-Tocata, von Klavierkompositionen den zweitens Theil des „Wohltemperirten Klaviers“ und die „englischen Suiten“, so nach Bach’s Tode genannt, als sie in London gedruckt erschienen. Seine Beziehungen zu fürstlichen Personen, seine geselligen Verhältnisse veranlaßten Bach in der Leipziger Zeit auch zu mancher weltlichen Kantate: die sogenannte Bauernkantate und die Kaffeekantate sind davon die bekanntesten. Aus einem ähnlichen Gelegenheitsstück, das schon in Weimar entstand, der „Jagdkantate“, ist neuerdings die Arie „Mein gläubiges Herze“ (der Text ist verändert) sehr populär geworden. Bach’s letzte Arbeit war ein Orgelchoral „Wenn wir in höchsten Nöthen sein“. Er diktirte ihn seinem Schwiegersohne in die Feder, denn er selbst war bereits erblindet. Am Abend des 28. Juli 1750 schloß er die Augen für immer. Er wurde auf dem Johanniskirchhofe feierlich begraben. Die Stelle seines Grabes ist nicht mehr zu bestimmen.

Das erhaltene Hinterlassenschaftsverzeichniß überzeugt uns von der wohlhäbigen Einrichtung des Bach’schen Hausstandes. Namentlich an Instrumenten war er reich, fast eine vollständige Orchesterbesetzung ist vorhanden; eine Zeit lang muß Bach zugleich gegen 10 Klaviere besessen haben. Nichts destoweniger starb die Wittwe des großen Mannes als Almosenfrau in Leipzig und für die letztüberlebende seiner unverheiratheten Töchter wurde im Jahre 1800 bei den deutschen Musikern gesammelt.

Das äußere Geschick war Bach nicht so freundlich, wie man es einem so großen und einem so guten Mann gern wünscht. Es hat auch seinen Werken mitgespielt. Ziemlich der vierte Theil ist verloren gegangen und über die vorhandenen lagerte sich jahrzehntelang dichtes Vergessen. In den ersten Decennien unseres Jahrhunderts waren die Söhne Sebastian’s, namentlich der Hamburger Philipp Emanuel und der Londoner Johann Christian, viel berühmter als ihr Vater. Wer weiß, ob es heute vor 50 Jahren möglich gewesen wäre, ein Jubiläum Johann Sebastian Bach’s zu feiern! Der Umschwung knüpft an den Namen Felix Mendelssohn’s an, der im Jahre 1829 die Matthäuspassion aus dem Staub des Archivs hervorzog und sie mit der Berliner Singakademie zu einer Aufführung brachte, welche durch ganz Deutschland hin eine mächtige Bach-Begeisterung entzündete.

Diese Begeisterung ist seitdem nicht wieder erkaltet, und hundert Jahre nach seinem irdischen Tode erstand Bach zu neuem geistigen Leben. Im Jahre 1850 gründete sich in Leipzig eine Bach-Gesellschaft, die sich die monumentale und kritisch genaue Herausgabe der Werke Johann Sebastian Bach’s, soweit sie noch aufzufinden, zum Ziele stellte. Sie hat heute ihre Aufgabe fast vollendet. Die Hauptmitarbeiter waren Julius Rietz, Wilhelm Rust und in neuerer Zeit Alfred Dörffel. Einen äußerst wichtigen Beitrag zur richtigen Erkenntniß des Meisters und der Natur seiner Werke hat Philipp Spitta in seiner umfassenden Bach-Biographie geliefert.

Staunend stehen wir vor den reichen Schätzen, die mit dem Siegel J. S. Bach heute vor uns ausgebreitet liegen. Nur der Oper blieb der große Meister fern. Wie wir meinen: mehr aus äußeren Gründen, als durch innere Principien zurückgehalten. Auf allen anderen Feldern, in welchen seine Zeit musikalische Kunst pflegte, schuf er Werke von bleibendem Werthe, Meisterstücke, die in ihrer Art nicht zu übertreffen sind und die Umgebung auf weite Entfernung hin sichtbar überragen. Der größte Theil seiner Kompositionen fällt dem kirchlichen Gebiete zu, und daher kommt es, daß Viele in Bach immer und immer nur den kirchlichen Komponisten sehen wollen. Bach schließt die Reihe großer kirchlicher Tonsetzer ab, die im 16. Jahrhundert begann, und die protestantische Kirche hat keinen größeren Meister gehabt. Er hat ihre Tonkunst erst vollendet. Und nochmals sei es wiederholt: wir sind noch weit davon ab, die große Masse seiner kirchlichen Werke ausgenützt zu haben, sie überhaupt nur zu kennen.

Nicht so mißverstanden wie die Kantaten, aber in gleichem Grade unbenutzt und unbekannt sind Bach’s Choralvorspiele, die wir an dieser Stelle als einen Anhang zu seiner rein geistlichen Musik erwähnen wollen. Sie sind die sinnigsten Paraphrasen unserer herrlichsten Kernlieder, die man sich musikalisch vorstellen kann. Daß noch kein Verleger die gute Idee gehabt hat, diese einzigen Kabinetstücke poetischer Tonkunst aus dem originalen Orgelgewande in ein passendes Klavierarrangement übertragen zu lassen! Es wäre damit das schönste Brevier für die geistliche Hausmusik gefunden.

In diesen Choralvorspielen hat Bach unstreitig für seinen Protestantismus ein schönes und gemüthvolles Zeugniß abgelegt. Es ist aber nichts Anderes als ein geistreicher Unsinn, wenn man den Protestanten Bach auch aus allen seinen übrigen Instrumentalkompositionen heraussuchen will. Wer wird bestreiten, daß in dem Cis-moll-Präludium des ersten Theils vom „Wohltemperirten Klavier“ und in anderen langsamen Stücken seiner Klavierkomposition ein Geist lebt, den man in die Form eines religiösen Gedichtes fassen kann? Aber wie man aus der ganzen Menge dieser fein belebten Genre- und Charakterstücke, die Bach in diesen Bänden niedergelegt hat, aus dem wilden Sturm seiner Orgelphantasien etwas specifisch Protestantisches heraushören will, das begreife wer kann! Einer unserer gelesensten Kulturhistoriker spricht Bach auch den Humor ab. Den Humor, eine der stärksten Seiten in Bach’s Natur! Die Lustigkeit war ein Familienzug der Bachs, und wenn sie ihren jährlichen Geschlechtstag hielten, kam dieser immer zu drastischem musikalischen Ausdrucke. In seinem Humor zeigt sich Bach, ähnlich wie Luther, oft als Mann des Volks. Da greift er zu den einfachen Tanz- und Liedweisen, die Jedermann bekannt und lieblich erscheinen. Der obengenannte Biograph Bach’s hat eine Zahl von wirklichen schnurrigen Volksmelodien nachgewiesen, welche Bach in größere Werke eingeschmuggelt hat. Besonders frei läßt Bach der guten Laune die Zügel in seinen Suiten und Koncerten für Orchester schießen. Die kräftigen Spielarten der Fröhlichkeit wiegen vor, doch fehlen die zierlichen nicht ganz. Die Polonaise der H-moll-Suite ist ein solches vollendetes Bild der Vergnüglichkeit unter der Rokokogesellschaft.

Was das erneute Aufleben der Bach’schen Kunst unserem gegenwärtigen Musikleben bereits genützt hat, müßte besonders ausgeführt werden. Die Wiederaufnahme seiner Werke gab den Anstoß zu einer allgemeinen musikalischen Renaissance, deren nächste Folgen wir bereits wohlthätig verspüren. Ihr Ende vermag aber noch Niemand abzusehen.


  1. Die verbreitete Annahme, daß Bach die bekannte Kantate „Ein’ feste Burg“ zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Reformation 1717 in Weimar komponirt habe, beruht auf einem Irrthum.