Journalistische Bravourstücke

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Autor: P. v. Schönthan
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Titel: Journalistische Bravourstücke
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 723–724
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[723] Journalistische Bravourstücke. Die Amerikaner und Engländer stehen in dem Rufe, die schnellsten, erfindungsreichsten und tüchtigsten Journalisten zu sein, die vor keiner Schwierigkeit zurückscheuen, um ihren Lesern etwas Neues und Originelles zu bieten. So hat ein Mitarbeiter der in London in sehr großer Auflage erscheinenden Zeitung „Tit-Bits“ (Leckerbissen), um seinen Lesern einmal den Zustand, in welchen Morphiumeinspritzungen versetzen, wahrheitsgetreu zu schildern, sich ohne persönlichen Hang dieser verderblichen Leidenschaft ergeben. Was vorauszusehen war, traf ein: der junge Mann konnte sich von dieser Gewohnheit nicht mehr befreien; er verfiel der Morphiumsucht. Umsonst bemühten sich seine Angehörigen, ihn zum Eintritt in eine Heilanstalt zu bewegen, in welcher die Unglücklichen Von ihrem Laster entwöhnt werden; erst als der Chefredakteur dem jungen Mitarbeiter nahelegte, eine wahrheitsgetreue Schilderung der „Sehnsuchtsqualen eines in der Anstalt befindlichen Morphiumsüchtigen“ zu schreiben, begab sich der pflichtgetreue Journalist ohne Zaudern in die Pflege; er war gerettet.

Der Chef dieser Zeitung, die unter Anderem durch ihre Preisausschreibungen: „Das Interessanteste aus dem Leben eines Londoner Schutzmann“ u. dergl., Aufsehen erregte, ist überhaupt ein schlauer Kopf. Er ist auch der Erfinder der Einrichtung, daß jede Person, welche auf der Reise oder auf der Straße verunglückt, angefallen oder beraubt wird, eine ziemlich beträchtliche Geldentschädigung erhält, wenn sie nachweisen kann, daß sie zur Zeit des Unfalls die neueste Nummer der „Tit-Bits“ in der Tasche hatte. Die Zeitung enthält das Verzeichniß derjenigen, denen diese einfache Lebens- und Unfallversicherung bereits zu Gute gekommen ist.

Von einem großen amerikanischen Blatt erzählt man, es habe einen Specialreporter angestellt, der den Präsidenten Lincoln überallhin zu begleiten und niemals zu verlassen hatte, um dessen „letzte Worte“ im „Interesse des Leserkreises“ wahrheitsgetreu berichten zu können: eine Absicht, die, wenn sie wirklich bestanden hätte und nicht bloß als originelle Reklame, dennoch vereitelt worden wäre, da der große amerikanische Staatsmann bekanntlich im Theater erschossen wurde und nicht Zeit hatte, eine „letzte Aeußerung“ zu thun.

Ein anderer amerikanischer Journalist ließ sich sogar mit einem zur Hinrichtung vorbereiteten Delinquenten während der letzten Nacht [724] einschließen, um eine interessante Schilderung liefern zu können, und wahrscheinlich würde der starknervige Reporter auch am nächsten, entscheidenden Morgen sich eine Verwechselung, wenn eine solche möglich gewesen wäre, bis zu einem gewissen Augenblicke haben gefallen lassen, um den Lesern auch mittheilen zu können, welche Gedanken Einen auf dem Wege zum Galgen überkommen.

Eine jenseit des Oceans erscheinende Zeitung enthielt vor einiger Zeit die schauerliche Beschreibung einer nächtlichen Eisenbahnfahrt durch den Schneesturm mit amerikanischer Eilzuggeschwindigkeit. Der Erzähler stand auf der Plattform der Maschine, an der Seite eines Lokomotivführers, bei dem eben ein Anfall des Säuferwahnsinns zum Ausbruche gekommen war. Und wie kam der Erzähler zu dieser haarsträubenden Fahrt? Das Weib des wahnsinnigen Maschinisten war in ihrer rathlosen Verzweiflung auf die Redaktion geeilt, in der er journalistischen Nachtdienst verrichtete, und beschwor ihn, das drohende Unheil abzuwenden – nachdem sie die Anzeichen des Wahnsinns bei ihrem unglücklichen Manne bemerkt hatte. Er aber benutzte die Gelegenheit und suchte das Abenteuer auf.

Auch von französischen Journalisten wird Aehnliches erzählt. In Paris ist neulich im Elend ein Journalist gestorben, der wiederholt die Höhlen des Lasters, der Noth und Armuth aufgesucht hat, auch im Asyl der Obdachlosen ein paar Mal übernachtete, um diesen trübseligen Ort zu studiren. Als er wenige Wochen vor seinem Tode wieder an die Pforte klopfte – diesmal, weil er wirklich kein Nachtlager mehr besaß – wies man ihn respektvoll und höflich ab: für einen „Neugierigen“ war an diesem Abend kein Platz.

Daß Journalisten zu Verkleidungen ihre Zuflucht nehmen, ist nichts Neues. Erst vor wenigen Jahren hat ein bekannter Pariser Feuilletonist sich während der Vorbereitungen zu einer großen Bilderausstellung mit der Mütze und in dem Kittel eines Arbeiters in den Industriepalast Eintritt verschafft und beim Bildertransport Hand angelegt, nur um der Erste zu sein, der über die Ausstellung schreiben konnte. – Um einen pikanten Artikel „Die Schönheiten zu Hause“ liefern zu können, gerieth endlich ein Franzose auf den Einfall, in der Verkleidung eines Schlächtergesellen am Morgen die Runde zu machen und die schönsten Pariserinnen im Negligé zu – studiren. P. v. Schönthan.