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Jugendleben und Wanderbilder/Band 2 Reiseerinnerungen aus früherer Zeit

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von: Johanna Schopenhauer
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Reiseerinnerungen aus früherer Zeit.


Der Windsbraut ähnlich rauscht die Gegenwart, Altes und Neues durch einanderwerfend, an uns vorüber, und ergreift uns selbst oft gewaltsam, daß wir Sinn, Athem und Gleichgewicht darüber verlieren möchten, wenn wir nicht, nach Art des auf steilem Bergpfad gegen den Sturm ankämpfenden Wanderers, zuweilen still stehen und den Blick rückwärts wenden, um nur wieder zur Besinnung zu kommen.

Nie war es vielleicht nothwendiger als in unsern Tagen, selbst die nächste Vergangenheit so fest als möglich im Gedächtnisse zu halten, damit sie nicht ganz und spurlos uns entschwinde; denn die Zeit zeigte sich nie gewaltiger und vernichtender in ihren Wirkungen. Zehn Jahre sind jetzt mehr als ehemals hundert, es ereignet sich täglich so viel Neues in der Welt, daß man Eines über dem Andern vergessen muß, wenn man nicht mit der Feder in der Hand leben will. Der zwanzigjährige Jüngling ist jetzt reicher an Erfahrungen, hat zehnfach mehr Wichtiges [150] und Folgereiches erlebt, als sein Großvater, der vor vierzig Jahren als ein achtzigjähriger Greis sanft im Herrn entschlief; aber der Drang der Zeiten, die rasch auf einander folgenden Begebenheiten, werden ihm schwerlich erlauben, seine zu sehr zusammengedrängten Erfahrungen auch in demselben Maaße zu benutzen.

Meine Tagebücher von früheren Reisen, deren Inhalt größtentheils schon bekannt ist, und mit sehr milder Nachsicht aufgenommen wurde, liegen in diesem Augenblicke vor mir. Ich durchblättere sie, aber wie veraltet erscheinen sie mir jetzt, wie ist seitdem Alles so ganz anders in der Welt geworden! Die Zeit, in der ich sie niederschrieb, sieht aus ihnen gar wundersam, beinahe gespensterartig mich an; sie selbst kommen fast legendenartig mir vor; aber vielleicht gewährt dieses den einzelnen skizzenartigen Darstellungen, die ich aus ihnen wähle, einen Theil des Interesses, das den früher bekannt gewordenen der frische Reiz der Neuheit lieh.




Wir brachten den Winter von 1803 in Paris zu, ich sah dort den ersten Tag des merkwürdigen Jahres aufgehen, in welchem Napoleon den höchsten Gipfel menschlicher Größe erreichte, sich auf den von [151] ihm selbst errichteten Kaiserthron schwang, und nun da stand, fest und stolz und sicher wie ein Gott, ohne nur die Möglichkeit seines nahenden Unterganges sich zu denken. Aber ich will mich hier weder in politische Bemerkungen noch in Reflexionen über die Wandelbarkeit des Glückes verlieren, die bei solchen Anlässen sich Jedem ohnehin entgegendrängen, auch durch eine Beschreibung jener kolossalen Stadt, wie sie damals war und längst nicht mehr ist, will ich weder mir noch Andern Langeweile machen. Einzelne Gegenstände und Gestalten, wie Glück und Zufall sie mir entgegen führten, will ich mit leichten Strichen zu skizziren suchen, und da tritt mir gleich das freundliche Bild des guten, einst hoch gerühmten Mercier[WS 1] entgegen, dieser lebendigen Chronik von Paris, der damals mein fast beständiger Führer und Begleiter zu allem Merkwürdigen und Interessanten seiner Stadt war.

Mich dünkt, ich sehe ihn noch vor mir, den stattlichen Mann, von mittlerer Größe, den unerachtet seiner vier und sechzig Jahre eine gewisse graziöse Gewandtheit in Gang, Haltung und Bewegung noch nicht ganz verlassen hatte; in seinem altmodischen aber sehr sauber gehaltenen braunen Rock mit großen Perlmutterknöpfen, mit der ziemlich langen, mit einer gestickten bunten Blumenguirlande geschmückten [152] Weste von weißer Seide, in weißseidenen Strümpfen und Schuhen mit goldenen Schnallen. Bei alledem war Mercier weit davon entfernt, eine Karrikatur zu sein, wie man nach einer solchen Beschreibung ihn sich vielleicht denken möchte; Alles, was er trug, stand ihm gut und natürlich. In Frankreich herrschte damals noch unter vielen Leuten von einem gewissen Alter, sowohl Männern als Frauen, die Sitte, nach dem funfzigsten oder fünf und funfzigsten Jahre keine neue Mode mehr mitzumachen, und so hatte seine Figur durchaus nichts Lächerliches noch Auffallendes, man begegnete, auf Straßen und Promenaden, überall ihr ganz Aehnlichen.

Die regelmäßigen edlen Züge seines einnehmenden Gesichts, wie sein ganzes Wesen, der milde Ton seiner Stimme, jede seiner Aeußerungen und Bewegungen trugen das Gepräge hoher Rechtlichkeit, kindlicher Einfachheit und Arglosigkeit, und dabei unbeschreiblichen Wohlwollens gegen Alles, was athmet und lebt. Sein schneeweißes aber noch immer reiches Haar schien von selbst der alten Form der ailes de pigeon noch immer zuzustreben, die es, als es noch braun war, hatte annehmen müssen, was den alten Mann, als zu seinem übrigen Anzuge passend, ungemein wohl kleidete, Locken und Zopf aber waren [153] längst als Opfer der damaligen Zeit, der Scheere verfallen. In meiner Jugend behauptete man, und nicht mit Unrecht, ein Franzose sei erst nach dem vierzigsten Jahre wahrhaft liebenswürdig; Mercier war ganz das Urbild eines solchen, und vielleicht der Letzte dieser Art, die nur noch in der Tradition existirt und nie wiederkehren wird noch kann.

Kaum erinnert man sich noch, daß Mercier während der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis gegen Ende desselben einer der berühmtesten Schriftsteller seines Vaterlandes war. Seine, bei ihrem ersten Erscheinen mit allgemeinem Enthusiasmus aufgenommenen Werke gingen späterhin in dem Alles ergreifenden Strudel der Begebenheiten unter, die das unglückliche Frankreich damals zur Mördergrube machten; aber es werden Zeiten kommen, in denen man sie wieder hervorsuchen und für die Sittengeschichte der der Revolution zunächst vorangehenden Jahre als klassisch anerkennen wird. Sein tableau de Paris, welches er in den achtziger Jahren in zwölf Bänden herausgab, ist noch immer in Hinsicht auf Treue, Kraft, Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung ein Meisterwerk zu nennen. L’an 2240, das einige Jahre früher erschien, erregte damals nicht weniger Aufmerksamkeit und Bewunderung. Mercier läßt in [154] diesem Buche einen jungen Pariser nach siebenhundert verschlafenen Jahren in Paris wieder erwachen. Er gestand späterhin selbst, daß seine Phantasie unendlich weit hinter den Veränderungen zurückgeblieben sei, die er in den letzten zwanzig Jahren habe erleben müssen. Freilich waren diese Veränderungen aber auch ganz anderer Art, denn seine heitere, verständige und reine Natur konnte unmöglich solche Greuelthaten ersinnen.

In früheren Tagen hatte er sich viel mit Dramaturgie beschäftigt, er hatte mehrere Dramen und Komödien geschrieben, die damals mit Beifall aufgenommen wurden, und von denen noch einige bis zur neuesten Zeit sich auf dem Repertorium des großen National-Theaters in Paris erhalten haben. Ein Freiplatz in demselben und ein bestimmter Antheil an der Einnahme jeder Vorstellung seiner theatralischen[WS 2] Dichtungen sind, nach sehr löblichem französischen Gebrauch, ihm lebenslänglich dafür geblieben.

Mit wahrem Vergnügen erinnere ich mich noch eines Abends, an welchem sein Lustspiel, la maison de Molière, bei ziemlich gefülltem Hause gespielt wurde. Schon mehrere Tage vorher hatte er dieses ihm wichtige und erfreuliche Ereigniß mir verkündet, [155] und ohne ihm wehe zu thun konnte ich dem guten Alten es unmöglich abschlagen, mich von ihm, an diesem seinem Ehrentage auf den sehr anständigen und bequemen Platz in der großen Gallerie vor den ersten Ranglogen führen zu lassen, der nahe am Theater Dichtern und andern um die Bühne sich verdient gemachten Personen eingeräumt war. Ich bereuete es wahrlich nicht, seinem Wunsche nachgegeben zu haben, der Eintritt in diesem Raum versetzte mich auf ein paar Stunden in eine mir völlig neue Welt, die mich lebhaft an jene längst versunkene erinnerte, die ich nur noch aus Traditionen kennen konnte, in welcher die Damen Du Deffant[WS 3], Lespinasse[WS 4], Geoffrin[WS 5] noch regierten, in der man weder an Revolution noch politische Händel dachte und nur für die neuen Erscheinungen der Literatur, der Kunst und Poesie sich lebhaft in der Gesellschaft interessirte.

Mehrere Männer und Frauen, viele derselben von mittlerem Alter, waren bei unserem Eintritt in die Loge schon versammelt. Als sie ihn erblickten, standen sie auf und umringten ihren ehrwürdigen Veteranen, um ihre freudige Theilnahme ihm auszudrücken. Der beste und bequemste Platz wurde uns Beiden eingeräumt, Alle beeiferten sich, dem Dichter etwas Angenehmes zu sagen, zu erweisen. [156] Bei jedem vorzüglich gut gelungenen Zuge, bei jedem Händeklatschen des Publikums wurde von allen Seiten ihm Beifall zugewinkt und zugeflüstert: mein guter Mercier war überselig, das Stück schien nach langem Schlummer wieder aufgenommen zu sein, es war beinahe, als würde es zum Erstenmale gegeben. Die ersten Schauspieler in Paris boten ihre Kunst auf, um es zu heben, die sonst mit vornehmem Sinn dergleichen Antikaglien zu verschmähen und sie ihren Doubleuren zu übergeben pflegen, und Alle beeiferten sich, dem liebenswürdigen und geehrten Greise Ehre und Freude zu machen.

La maison de Molière ist ein in Deutschland vielleicht kaum bekannt gewordenes, und gewiß längst vergessenes Lustspiel, das aber für die Pariser den großen Reiz der Lokalität hat. –

Es zeigt uns Molièren[WS 6] in seinem Hause, von Freunden und Feinden umgeben, an dem Tage, an welchem die große Frage entschieden werden soll, ob Tartüffe, das anerkannteste und angefochtendste seiner Meisterwerke, das unlängst wieder neues Aufsehen erregt hat, öffentlich gespielt werden soll oder nicht; ob der König und die Aufgeklärten und Bessergesinnten des Hofes, oder die Heuchler und Schwachköpfe diesmal den Sieg davon tragen sollen. Molière [157] selbst, die damals berühmte Schauspielerin, Mademoiselle Béjèrt[WS 7], die Plage und Freude seines Lebens, seine Freunde und seine Verfolger traten darin auf, sogar seine alte kunstrichtende Köchin. Die Schauspieler hatten sich mit vielem Gelingen bemüht, eine Art Portrait-Aehnlichkeit der merkwürdigsten Personen sich anzueignen, von denen noch Bilder vorhanden sind; auch das Costüm jener Zeit war möglichst treu beibehalten.

Mehr als dreißig Jahre lang war der Schriftsteller Mercier die Ehre und Freude seines Volks gewesen, seine Verdienste um die Literatur waren allgemein anerkannt; er selbst war unendlich fleißig und arbeitete gern und leicht. Dennoch aber durfte er, in seinem höheren Alter, sich nicht eines gewissen Wohlstandes erfreuen; er war eher arm zu nennen. Außer der gewiß nicht brillanten Einnahme, welche seine theatralischen Arbeiten ihm noch zuweilen gewährten, und der Pension, die er als Mitglied des Instituts für Wissenschaft und Kunst genoß, schien er wenig zu besitzen. Aber er wußte mit einer Art ihn sehr wohl kleidenden Stolzes diese Armuth auf eine solche Weise zu tragen, daß sie weder ihm selbst, noch denen, welche mit ihm Umgang hatten, drückend wurde. Freilich ist diese, Andern so schwer werdende [158] Kunst ein eigenthümlicher Vorzug seiner Nation, wie Jeder wissen wird, der sich noch der Zeit erinnern kann, in welcher Deutschland von Emigranten wimmelte, die ihre Jugend in Luxus und Pracht verlebt hatten, und jetzt, in tiefer Dürftigkeit, durch Talent, Fleiß und Industrie ihr armes Leben von einem Tage zum andern zu fristen suchten, ohne sich dadurch niederdrücken zu lassen, oder sich erniedrigt zu fühlen.

Oft hatte Mercier die schöne, weit ausgebreitete Aussicht mir gerühmt, die er aus seiner, im fünften Stock eines sehr großen hohen Hauses gelegenen Wohnung genoß, und ich legte es eigentlich darauf an, diese einmal zu sehen, nicht sowohl der Aussicht als der Insicht wegen; ich hätte gar zu gern, aus vielleicht verzeihlicher Neugier, die häusliche Einrichtung eines französischen Gelehrten seiner Art kennen gelernt. Aber er wußte immer diesen Besuch so höflich als gewandt abzuweisen, obgleich ich mehrere Male mit ihm seinem Hause ganz nahe war. Ich wunderte mich darüber, denn seine Wohnung mochte noch so einfach meublirt sein, er war gewiß nicht der Mann, der seiner ehrenvollen Armuth sich schämen konnte. Späterhin erfuhr ich die ihn allerdings ganz entschuldigende Ursache seiner Weigerung, mich bei sich [159] zu sehen. Einer seiner und meiner deutschen Freunde, gegen den er nicht so zurückhaltend sein zu müssen glaubte als gegen eine Frau, hatte in seiner wirklich sehr heitern und geräumigen, wenn gleich nur mit dem nothwendigsten Hausrath versehenen Wohnung ihn besuchen dürfen; und ihn, den nicht verheiratheten Mann von einer zahlreichen Familie umgeben gefunden, für die er väterlich sorgte; ihre Mutter, eine kräftige, noch immer angenehme Frau mittleren Alters, waltete heiteren Sinnes und fröhlichen Muthes mitten unter ihren Kindern; seit vielen Jahren war sie die treue Pflegerin und Gefährtin seines Lebens gewesen, und hatte seinem kleinen Haushalte vorgestanden. Er theilte Alles was er besaß, alle seine Leiden und Freuden mit ihr und seinen Kindern, und sie war damit zufrieden, ohne ihm durch höhere Ansprüche lästig werden zu wollen. Die Kinder wurden für den arbeitenden Mittelstand erzogen, weil die Lage ihres Vaters ihm nicht erlaubte, sie höher heben zu wollen. Mercier war überzeugt, daß er nur auf diese Weise ihr künftiges Fortkommen dauernd begründen könne, er hütete sie sorgsam vor Allem, was sie bewegen konnte, höher hinauf streben zu wollen, und war glücklich in ihrer Mitte, weil er seine Kinder heiter und freudig um sich erblühen sah.

[160] Mercier sprach gern und viel; zuviel für Viele seiner Landsleute, die am liebsten sich selbst reden hören und ihn mitunter einen alten Radoteur nannten; auch mag es wahr sein, daß er in den letzten Jahren seines Lebens mit einer Art Eigensinn einige seltsame Ideen, besonders in Hinsicht auf die Kunst aufgefaßt hatte, die er standhaft vertheidigte. Aber es war doch ein hoher Genuß ihn zu hören, wenn man im Gespräch diese Punkte zu berühren vermied, was eben nicht schwer war; denn er war an Stoff zu belehrender und geistreicher Unterhaltung unerschöpflich. Wie Vieles hatte dieser Mann auf dem großen Theater der Revolution erlebt und gesehen, auf welchem er selbst eine wahrhaft ehrenvolle Rolle gespielt hatte. Daß er, als Mitglied des Nationalconvents fast allein es gewagt, das Leben seines unglücklichen Königs gegen die blutdürstigen Richter desselben zu vertheidigen, daß er dafür aus dem Convent gestoßen wurde, und unter steter Todesgefahr ein Jahr lang im Gefängniß schmachten mußte, war ein Punkt in seinem Leben, auf den er im Gespräch immer gern wieder zurückkam; und wer möchte deshalb ihn tadeln?

Einer meiner Hauptwünsche in Paris war, von dieser merkwürdigen kolossalen Stadt mir eine deutliche [161] Ansicht anzueignen; so oft dieses nur thunlich war, wendete ich zu diesem Zwecke ein Paar Stunden daran, in den Straßen derselben umher zu schweifen; Mercier war bei diesen kleinen Excursionen gewöhnlich mein Führer und Begleiter. Doch zur Winterszeit konnten sie nicht anders als fahrend stattfinden, und wie viel ich dadurch verlor, wie wenig ich eigentlich auf diese Weise sehen konnte, wird Jeder leicht begreifen. Im Winter zu Fuße gehen ist in Paris für eine Frau, die nicht dort geboren und erzogen ist, rein unmöglich, davon wurde ich durch Erfahrung überzeugt, indem ich einst, durch einen Unfall mit meinem Wagen dazu veranlaßt, es unternahm, von der rue de la fesonerie bis in die rue de la lois, ehemals rue Richelieu, wo wir wohnten, zu gehen. Nur einer Pariserin kann es gelingen, den Alles übertreffenden Koth dieser schönen Stadt zu überwinden.

Eines Tages fuhr ich mit Mercier durch die Vorstadt St. Antoine nach Charenton, einem nahe am Strom auf einer Anhöhe liegenden Dorfe, in dessen Nähe die Marne mit der Seine sich vereint, und die über den Strom führende Brücke eine ungemein reizende Aussicht gewährt. Wir hielten auf dem Heimwege einige Augenblicke an dem Platze, wo [162] einst die furchtbare Bastille stand. Einige Thore, Louvois[WS 8] Wohnung, und das Wachtgebäude der Invaliden, welche ehemals hier Wache hielten, sind noch erhalten, alles Uebrige ist der Erde gleich gemacht und die Stätte der alten düstern Burg nicht mehr zu erkennen. Ein Holzplatz, nicht ein Tanzplatz, wie sonst von Vielen behauptet wurde, nimmt jetzt die Stelle des Schauplatzes der namenlosen Greuel ein, die hier verübt wurden. Wer möchte hier auch tanzen, wo einst so viele bange Seufzer unschuldiger Schlachtopfer ungehört verhallten!

Auf unserm fernern Wege nach Charenton machte Mercier, nahe an der Barriere, auf ein großes ansehnliches Haus mich aufmerksam. Was er von diesem Gebäude mir erzählte, dünkte mir merkwürdig genug, um es zu Hause sogleich in meinem Tagebuche aufzuzeichnen, und doch klang es so seltsam und abenteuerlich als möglich, obgleich nicht ganz unglaublich, wenn man die durch Greuelthaten aller Art ausgezeichnete Zeit in Betracht zieht, in welcher jene Begebenheit sich ereignet haben sollte. Mercier war von der Wahrheit derselben überzeugt, denn eine wissentliche Lüge lag nicht in seinem Charakter, und was hätte ihn bewegen sollen, mich auf diese Weise zu täuschen? Ob er nicht Wahrscheinlichkeit für [163] Thatsache nahm? Ob er nicht vielleicht von Andern zum Gegenstande eine der damals besonders beliebten Mystifikationen gemißbraucht wurde? Das sind Fragen, die ich nicht zu beantworten weiß, und die jetzt wohl immer unbeantwortet bleiben werden.

Im Bezirk jenes Hauses, das einst dem eben so berüchtigten als berühmten Beaumarchais gehörte, versicherte Mercier, befand sich der Ausgang eines uralten, tief in das Innere der Bastille führenden unterirdischen Ganges, wie deren fast in jedem festen Kastell aus jener frühen Zeit des Mittelalters anzutreffen sind, in welcher auch die Bastille zu Vertheidigung der Stadt gegen von außen andringende Feinde erbauet worden ist. Außer dem Besitzer jenes Hauses wußte Niemand um das Geheimniß, aber er war auch ganz der Mann dazu, es zu seinem Vortheile zu benutzen und es geltend zu machen. Im Anfange der achtziger Jahre, kurz vor der Revolution, als Unzufriedenheit und Empörung schon heimlich im Lande gährten, wurde dieses Haus plötzlich verschönert und vergrößert. Was Luxus und Prachtliebe nur jemals ersonnen, wurde in dem Innern desselben verschwendet, um es mit der raffinirtesten Eleganz auszustatten. Ganz Paris sprach davon, alle Welt wunderte sich, auf welche Weise Beaumarchais [164] die ungeheuren Summen aufzubringen vermöge, welche das Alles kostete. Aber Graf Artois und der damalige Herzog von Orleans trugen heimlich die Kosten davon. Sie und noch einige Verschworene hatten den Plan gemacht, zuerst durch die große, in demselben herrschende Eleganz des Königs Aufmerksamkeit auf dieses Haus zu richten und ihn dann bei seiner Rückkehr von einer Jagdpartie in dasselbe durch Neubegier zu verlocken. Ihn von hier aus durch jenen unterirdischen Gang in die Bastille zu bringen, deren dunkele Geheimnisse damals kein menschliches Auge durchdrang noch durchdringen konnte, ihn dort, nach Art der eisernen Maske, lebenslänglich gefangen zu halten, und ihn vor der Welt für plötzlich gestorben auszugeben, schien ihnen nichts weniger als ausführbar. Die nächsten Blutsverwandten des unglücklichen Königs wollten dann des Reichs sich bemächtigen. Sie waren Willens, das alte Feudalsystem wieder einzuführen, das schöne Frankreich sollte zerstückelt in mehrere kleine Königreiche zerfallen, jeder der Prinzen sollte über eines derselben als unumschränkter Herr und König regieren. So war der abenteuerliche Plan schwarz genug erdacht, aber in einer Zeit, wo des unglücklichen Ludwigs XVI.[WS 9] Herzen am nächsten ein Egalité entstehen konnte, vielleicht [165] für unausführbar, aber doch nicht für moralisch unmöglich zu erklären.

Merciers literarischer Ruhm hatte damals den höchsten Gipfel erreicht. Er galt für einen der beliebtesten Schriftsteller seines Volks, sein Name allein war genug, um die Mehrzahl für seine Meinung zu gewinnen, und die Verschworenen glaubten keine bessere Wahl treffen zu können, als ihn, um im Voraus die Gemüther für ihre Ansichten zu stimmen und sich dadurch den Weg zu ihrem gewagten Unternehmen zu bahnen. Zwar wurde er in ihre dunkeln Geheimnisse nicht eingeweiht, aber von unbekannter, und wie man ihm merken ließ, hoher Hand, gelangte der Auftrag an ihn, über das Feudalsystem eine Abhandlung zu schreiben, in welcher zu dessen Lobe Alles gesagt würde, was sich nur irgend dafür aufbringen ließe.

Mercier ging darauf ein. Jedes in der Welt hat seine dunkele wie seine glänzende Seite; Mercier fand ein eignes Interesse dabei, auch hier die letztere aufzusuchen und es gelang. Die Abhandlung wurde zur bestimmten Zeit fertig, abgeholt, und die dafür verheißene sehr bedeutende Summe gezahlt. Was man mit diesem Auftrage beabsichtigte, wurde ihm nie erklärt; die Schrift selbst aber ist nie vollständig im Druck erschienen, nur in Journalen und einzelnen [166] Broschüren, deren damals täglich eine Unzahl erschien, hat Mercier einzelne Stellen daraus angetroffen und wieder erkannt. Er wußte nicht, was er davon denken sollte, und bemühete sich, dem Schicksale seiner wie von der Erde weggeschwundenen Arbeit auf alle Weise nachzuforschen.

Die geheimnißvolle Intrigue ging indessen ihren stillen dunkeln Gang; die Anzahl derer, die darum wußten, vergrößerte sich allmälig, bis sie endlich, wie oft schon in ähnlichen Fällen geschah, an der Gewissenhaftigkeit, vielleicht auch an der Muthlosigkeit eines der Mitverschworenen scheiterte, der zuerst den König dahin brachte, ihm Verschwiegenheit und Verzeihung zu geloben, und dann das Ganze Geheimniß ihm warnend entdeckte.

Ludwigs Schrecken über die seinem Haupte und seinem Reiche drohende Gefahr, von der er damals noch keine Ahnung hatte, ist leicht zu ermessen. Die überzeugende Gewißheit, an seinem Busen, in seinem Hause, unter seinen nächsten Blutsverwandten seine ergrimmtesten, gefährlichsten Feinde suchen zu müssen, beugte ihn schmerzlich und tief. In seinem Jammer, in der großen Angst seines Herzens, sah er keine andere Rettung für sich und Alle, als in die Arme seines Volks sich zu werfen. Er berief die Notablen [167] zusammen und legte durch diesen Entschluß den Keim zu seinem und der Seinigen Untergang und allen diesem folgenden Greueln und Unthaten, die sein schönes Land zerstörten.

So erzählte mir mein alter Mercier, und ich erzähle weder gläubig noch ungläubig ihm nach. Mag Wahrheit und Dichtung hier vermischt sein, ich unternehme es nicht darüber zu entscheiden; nur allein dem, was er von der bei dieser Gelegenheit ihm aufgedrungenen Rolle mir sagte, schenke ich unbedingten Glauben im festen Vertrauen auf seinen offnen, jeder absichtlichen Verfälschung der Wahrheit unfähigen Sinn.




Eines der dreihundert Mitglieder des an die Stelle der ehemaligen Akademie getretenen Instituts für Kunst und Wissenschaft zu werden, ist bekanntlich der wärmste Wunsch, es zu sein, der Stolz aller Gelehrten und Künstler in Frankreich. Letzteres war Merciers Fall, und das anerkannt Ehrenvolle dieser Stellung, die neben einer nicht ganz unbedeutenden lebenslänglichen Pension damit verknüpften Vortheile, mögen dieser kleinen Schwachheit, wenn es eine ist, gar wohl zur Entschuldigung dienen.

[168] An einem Tage, an welchem eben keine akademische Sitzung war, führte Mercier mich in den Louvre, um mir wenigstens den Schauplatz der höchsten literarischen Ehre, zu der er gelangt war, zu zeigen; denn die Einlaßkarten zu der nächsten öffentlichen Versammlung des Instituts, deren fast alle Monate Eine gehalten wird, hatte ich unter einem glücklich gefundenen Vorwande auszuschlagen gewußt. Die Anzahl der Damen, die bei solchen Gelegenheiten sich hier einfinden, ist freilich eben so groß als brillant; sie hören dann endlose Vorlesungen und Reden an, von denen sie meistens wenig verstehen, was sie aber nicht abhält, davon entzückt zu sein; mir aber dünkte ein solcher Hochgenuß etwas langweilig, und so war ich froh, mich dessen überhoben zu sehen.

Der große Versammlungssaal kam mir etwas düster vor, was aber von der ziemlich veralteten innern Einrichtung desselben herrühren mogte, die noch aus dem Zeitalter Ludwigs XV.[WS 10] zu stammen schien. Uebrigens fehlt es hier den Herren weder an gut gepolsterten und bequemen Armsesseln, noch an Schreibepulten nebst allem Zubehör, und Alles rings umher sah recht gemächlich gelehrt aus. Die nicht sehr große Bibliothek des Instituts stößt [169] an den Versammlungssaal und an diesen einige Zimmer, in welchen Modelle aufgestellt sind, welche wahrscheinlich in denselben zur Prüfung vorgelegt wurden. Eins derselben war mit architektonischen Modellen angefüllt; die von der unsrigen nicht ganz abweichende Bauart der Alten, die ohne Mörtel und Kitt felsenfeste Mauern aufführten, wurde mir hier recht anschaulich demonstrirt. Keiner der Bausteine hatte eine regelmäßige Form, alle waren voll Zacken und Spitzen und Vertiefungen, die genau in einander gefügt wurden, so daß eins das andere halten und tragen mußte, wodurch das Ganze eine unverwüstliche Dauer erhielt, zu der es keines andern Bindemittels bedurfte. Hier wurde mir auch, als eine Frauen besonders interessirende Seltenheit, eine viertausendjährige Tunika gezeigt, die in Aegypten in einer fest verschlossenen Höhle gefunden worden war. Das Gewand war von sehr feinem geköperten wollenen Zeuge mit recht zierlichen Stickereien nach einem geschmackvollen Muster geschmückt; der Schnitt desselben war sehr einfach, fast wie ein gewöhnliches Frauenhemd.

In einem andern Zimmer waren eine Menge Modelle hydraulischer Werke aufgestellt, Schleusen, Wasserleitungen, Brücken, Mühlen und dergleichen. Interessanter [170] als diese, von denen ich wenig verstand, waren für mich die Modelle aller Fahrzeuge, welche der verwegne menschliche Sinn jemals erfand, um, gegen Sturm und Wogen ankämpfend, von Küste zu Küste, von Land zu Land sich tragen zu lassen. Jede einzelne Art derselben, aus allen Ländern, Zonen und Zeiten sah ich hier bis in die kleinsten Einzelheiten auf das pünktlichste nachgeahmt, vom einfachsten Kanot des Wilden bis hinauf zu dem ungeheuren Kriegsschiff, das eine kleine Welt im Innern birgt. Sogar der Bucentauer[WS 11] des ehemaligen Dogen von Venedig war nicht vergessen. Seeleute, welche oft diese Sammlung mit großer Aufmerksamkeit betrachteten, haben an allen diesen zahlreichen Fahrzeugen aller Art nie den kleinsten Mangel entdeckt und konnten die Pünktlichkeit nicht genug bewundern, mit der auch das unbedeutendste Stückchen Holz, das kleinste Seil nicht übersehen worden ist.

Mercier war in dem ältern Theile des Louvre, wohin nur selten der Fuß eines Fremden sich verirrt, so bekannt, als wäre er Jahre lang der Kastellan desselben gewesen. Er führte mich über Treppen und Treppchen, durch weite Korridore und enge Gänge, wußte überall auf den Schauplatz irgend eines merkwürdigen Ereignisses mich aufmerksam zu machen, [171] und so geriethen wir endlich auch in das Schlafzimmer Heinrichs IV.[WS 12], ein hohes düsteres Gemach, das wohl schwerlich ein regierender Herr unserer Zeit sich dazu wählen würde. Es hat nur ein einziges Fenster, welches durchaus keine nur einigermaßen angenehme Aussicht gewährt. Die dunkeln gewebten Tapeten, die mit schwerfälligem Schnitzwerk überladene Balustrade, hinter welcher das Bett auf einer Estrade stand, sind noch dieselben, wie sie zu des guten Königs Zeiten waren; auch die verborgene Thür, welche über eine kleine steile Treppe ihn in die Zimmer der schönen Gabriele[WS 13] führte.

Unter der großen Haupttreppe zeigte mir Mercier ein kleines dunkeles Behältniß, das zum Aufbewahren des Brennholzes diente. Hierher wurde, gleich nach Ravaillac’s[WS 14] Unthat, Heinrichs IV. blutige Leiche im eigentlichsten Sinne des Wortes hingeworfen, sagte Mercier; vier und zwanzig Stunden vergingen, ehe die Königin Maria von Medicis[WS 15] sich entschloß, dem ermordeten Gemahl einen anständigeren Platz anweisen zu lassen, der unter solchen Umständen der Leiche des erschlagenen Bettlers nicht versagt wird.

Wie wunderbar wechselt das Geschick der Herrscher hier auf Erden! dachte ich still und blickte nach der nahen Stätte, wo Ludwig XVI. blutiges Haupt [172] unter dem Henkersbeile fiel, und sah dann wieder schaudernd hinauf nach dem Fenster, aus welchem Karl IX.[WS 16] in wilder, wahnsinniger Lust auf seine Unterthanen schoß!




Auch zu den Gobbelins führte mich Mercier eines Morgens. Diese in ihrer Art einzige Fabrik war damals in voller Thätigkeit, um den vielen Bestellungen Bonaparte’s[WS 17] zu genügen, und arbeitete schöner als je. Zwar nicht in Hinsicht auf den Kunstwerth der Gemälde, die hier auf wirklich unbegreifliche Weise täuschend nachgebildet werden; unsere Zeit hat keinen Raphael[WS 18] mehr, der die Kartons liefern könnte, aber das Kolorit hat an Natürlichkeit und sanfter Verschmelzung der Farben in der neuesten Zeit unendlich gewonnen, und die halbfertigen Arbeiten, die ich hier im Entstehen sah, sind bei weitem nicht so buntscheckig aus so schreiend kontrastirenden Farben zusammengesetzt, wie es bei der Mehrzahl der Farben der Fall ist. Ich sah unter andern das sehr ähnliche Portrait des Grafen Rumfort[WS 19] hier im Werden, und staunte über die Kunst, mit welcher der Weber hervorbringt, was sonst nur die kunstfertige [173] Hand eines ausgezeichneten Malers vermöchte, ohne das Nachdunkeln der Farben, oder ähnliche Nachtheile fürchten zu lassen, die mit der Zeit jedem Oelgemälde den Untergang drohen.

Wie dauerhaft diese Farben sind, wenn nur für ihre Erhaltung einigermaßen Sorge getragen wird, bewies mir eine ungeheuer große Darstellung einer Scene aus Racine’s[WS 20] Trauerspiel, Athalia, welche im oberen Stocke des Gebäudes uns vorgezeigt ward. Siebenzig Jahre waren seit Vollendung dieses Gewebes vergangen, und noch leuchteten die Farben so frisch, als wäre es erst gestern vom Webestuhl heruntergenommen. Ueberhaupt kann ich die Lebhaftigkeit und Pracht derselben und die unbegreifliche Art, wie sie in fast unsichtbaren Uebergängen in einander verschmelzen, nur mit den Meisterwerken der alten Maler aus den niederrheinischen Schulen vergleichen. Im nämlichen Saale sah ich mehrere der neuern vollendeten Erzeugnisse dieser Anstalt; eine wirklich sehr schöne Landschaft, ein unbeschreiblich liebliches, aus Blumen und Früchten zusammen gesetztes Stück, frisch und blühend, daß man den Duft der Blumen einzuathmen glaubte; mehrere Darstellungen aus der früheren Geschichte Frankreichs, französischen Meistern nachgebildet; z. B. der Tod des Admirals Coligny[WS 21], [174] Alles auf das Vollkommenste ausgeführt, mit so täuschender Wahrheit dem Pinsel nachgebildet, daß es auch dem schärfsten Auge ganz in der Nähe fast unmöglich wird, diese Bilder, denn Gemälde darf ich sie doch nicht nennen, für das zu erkennen, was sie eigentlich sind.

Die pünktliche Treue, mit welcher hier auf ganz mechanischem Wege kopirt wird, sollte man bei der großen Kostspieligkeit der Erzeugnisse dieser Fabrik eigentlich nur auf die höchsten Meisterwerke der bildenden Kunst anwenden, die von ihnen an Dauerhaftigkeit unendlich übertroffen werden, damit wenigstens eine Idee von dem, was Jene gewesen, kommenden Jahrhunderten aufbewahrt werde.

Lange stand ich noch unten neben den Arbeitern und sah ihrem Verfahren beim Weben zu; aber was ich sah, blieb mir so unbegreiflich, als wäre Zauberei damit im Spiele. Der Webestuhl steht aufrecht, senkrecht steil aufgestellt vor dem Arbeiter, denn eine Art Webestuhl ist es doch, obgleich die Einrichtung desselben von der gewöhnlichen sehr verschieden ist. Die Fäden des Einschlags, von feiner weißer Wolle, vielleicht auch von Kameelgarn, sind wie gewöhnlich eingespannt, und die vorher durch Oelpapier sorgfältig nachgezeichneten Umrisse des zu kopirenden Gemäldes [175] sind mit fester, aber wie es sich von selbst versteht, sehr leichter Hand auf diesen Fäden angegeben. Die zahllosen Nüançen der farbigen Wolle sind nicht auf Weberschiffchen, sondern auf leichte Klöppel gewunden, denen ähnlich, deren die Spitzenklöpplerinnen sich bedienen, auch werden die Fäden des Einschlags nicht durch den gewöhnlichen Mechanismus beim Weben aus einandergebracht, um die Navette, oder hier die Klöppel, durchzulassen. Jeder Faden ist mit einer daran befestigten Schlinge oder Oese von gröberer Wolle versehen, vermittelst welcher der Arbeiter den einzelnen Faden, welchen er eben braucht mit der linken Hand an sich zieht, während er mit der Rechten den farbigen Faden hindurch schlingt. Daß das Gemälde, welches kopirt wird, hinter dem Arbeiter steht, und daß er selbst nur die sehr verworren durch einander laufende Rückseite seiner Schöpfung erblicken kann, ist allbekannt, vermehrte aber doch mein Erstaunen über diese unbegreifliche Erfindung, als ich es mit eigenen Augen sah.

Wie fangen diese Leute es an, immer den Klöppel mit der erforderlichen Farbe zu ergreifen, da sie doch augenblicklich nichts vor sich haben, das ihnen dabei zur Richtschnur dienen könnte? Dieses muß [176] Jedem unbegreiflich bleiben, der nicht in die Geheimnisse dieser Kunst eingeweiht, um die wahrscheinlich nur diejenigen wissen, welchen die Leitung dieser merkwürdigen Manufaktur anvertraut ist. Gewiß wird Alles nach künstlich berechneten mechanischen Regeln und Vorrichtungen hier betrieben, die aber kein fremdes Auge durchschauen kann. Sogar die gewöhnlichen Weber in der Fabrik kennen sie nicht, sie arbeiten, wie ihnen vorgeschrieben ist, und wissen eben so wenig, was sie thun, als sie während der Arbeit das Resultat ihrer Bemühung erblicken können.

Ein alter Mann, der mir als der Geschickteste unter ihnen bezeichnet wurde, und an den ich mit meinen Fragen mich wandte, wollte sich freilich gegen mich das Ansehen geben, als kopire er mit seinen wollenen Fäden, wie der Maler mit seinen Farben; doch die Unmöglichkeit davon ist augenscheinlich. Nicht nur, weil diese Leute ihre eigene Arbeit nicht sehen und auch nicht das Original, das sie nachahmen sollen; es ist ihnen auch einerlei, ob sie es der Länge oder der Breite nach kopiren, die schmälste Seite des Gewebes macht immer die Breite des Gewebes aus, und Köpfe und Gestalten auf historischen aus mehreren Figuren zusammengesetzten Gemälden, die mehr breit als hoch sind, werden immer, ohne auf ihre Stellung [177] Rücksicht zu nehmen, kopirt: welcher Maler könnte auf diese Weise arbeiten?

Oft weben an einem großen Bilde drei bis vier Personen zu gleicher Zeit, aber die Arbeit geht doch, bei der unendlichen Feinheit der Fäden, nur sehr langsam vorwärts. Daß ein Arbeiter hier, wie bei jeder andern Fabrik, zu einem höhern Grade von Geschicklichkeit und Vollendung gelangt, wird Niemand ableugnen wollen, aber ich bin fest überzeugt, daß auch der Beste unter ihnen nicht im Stande wäre, im Auslande eine ähnliche Fabrik einzurichten.




Die öffentlichen Uebungen in dem Taubstummen-Institute des Abbé Sikard[WS 22], welche fast alle Monate Statt haben, gewährten mir einen sehr interessanten Morgen. Mit den dazu unentbehrlichen Einlaßkarten versehen, fuhren wir, um uns gute Plätze zu sichern, schon um zehn Uhr hin; denn der Zudrang der Schaulustigen ist bei solchen Gelegenheiten in Paris sehr groß, und das weder sehr geräumige noch brillante Lokal des guten Sikard wird sehr leicht überfüllt.

Diesesmal aber waren wir doch zu früh gekommen; der Versammlungssaal war noch verschlossen, [178] wir mußten ziemlich lange in den Korridors und im Vorhause herumspazieren, um das Oeffnen desselben zu erwarten; aber es reuete uns nicht; wir gewannen dadurch die uns sonst wohl nicht gewordene Gelegenheit, die Zöglinge des Instituts ganz zwanglos sich bewegen zu sehen; sie in ihrem gewohnten Thun und Treiben zu beobachten, und uns duch den Augenschein zu überzeugen, daß sie nicht bloß für die äußere Repräsentation abgerichtet, sondern für das wirkliche Leben, soviel ihr Unglück dieses erlaubt, hier gebildet werden.

Unhörbar leise, wie kleine Elfen, frisch, in blühender Gesundheit, munter wie der Vogel auf den Zweigen, kamen aus allen Ecken eine bedeutende Anzahl jener unglücklichen Kinder herbei, deren trübes Loos hier, so viel dieses möglich ist, gemildert wird, sie sahen aber nichts weniger als unglücklich aus.

Es war ein sonderbarer, halb wehmüthiger, halb tröstender Anblick. Die kleinen Mädchen sonderten von den Knaben sich von selbst ab, viele unter ihnen zeichneten durch ein sehr angenehmes Aeußere sich aus. Arm in Arm gingen sie, recht zierlich nach Mädchenart in kleine Gruppen getheilt, auf und ab und hatten einander wunderviel zu sagen und zu erzählen, wie es schien; denn Köpfchen, Augen und [179] Fingerchen waren in unaufhörlicher lebhafter Bewegung.

Unter den Knaben ging es schon etwas lustiger zu. Diese trieben nach Knabenart unter sich ihr Wesen, jagten herum, neckten, stritten sich und versöhnten sich wieder, und das Alles ohne auch nur einen Laut von sich zu geben; da sie nicht hören, so fühlten sie wahrscheinlich nicht wie andere Kinder das Bedürfniß zu jauchzen und sich auszuschreien. Der Diskurs unter ihnen wurde indessen nicht minder lebhaft und ununterbrochen geführt, als von den Mädchen, und auf die nämliche Weise. Oft sprachen drei und vier zugleich und verstanden sich dennoch recht gut; sie schienen den ihnen mangelnden Sinn und das Vermögen, reden zu können, gar nicht zu vermissen. Der Eindruck aber, den diese lautlose Stille bei so viel äußerer lebendiger Bewegung auf uns machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Man meinte fast selbst taub geworden zu sein, indem man in dieses bewegte Treiben hineinblickte, ohne nur einen Ton des sonst nicht zu trennenden Lärmens so vieler Kinderstimmen zu hören.

Der Saal wurde geöffnet; kaum daß wir in der vorderen Reihe unsere Plätze eingenommen hatten, [180] so war er auch dermaßen mit Zuschauern überfüllt, daß im eigentlichsten Sinne des Sprichworts kein Apfel mehr hätte zur Erde fallen können. Eine sehr wohlgekleidete Frau, welche ein auffallend schönes, ungefähr neun Jahre altes Mädchen an der Hand hielt, wurde auf den Platz neben mir geführt; sie schob das Kind zwischen uns Beide ein und bald entdeckte ich, daß auch dieses kleine, unbeschreiblich anmuthige Wesen zu der Zahl jener Unglücklichen gehöre, die hier unter der Leitung ihres edlen Lehrers erst zum wirklichen menschlichen Dasein erwachen.

Das Kind sowohl als seine Begleiterin schienen den höher gebildeten Ständen anzugehören. Noch hatte die Kleine in ihrem traurigen Zustande keinen andern Unterricht erhalten, als den die Liebe der Ihrigen für sie zu erfinden und ihr zu gewähren vermochte. Man hatte wahrscheinlich mit der Idee, sie Sikards Leitung anzuvertrauen, an diesem Morgen sie zum erstenmal hierhergeführt, um den Eindruck zu beobachten, den der Anblick und das Benehmen so vieler jungen Unglücksgefährten auf sie machen würde. Aber aus ihren großen dunkeln Augen blitzte so viel geistige Anlage, sie schien schon auf einer solchen Stufe von Bildung zu stehen, zeigte [181] so viel Intelligenz und Empfänglichkeit für alle äußeren Eindrücke, daß sie gewiß jetzt, wenn sie noch lebt, unter Sikards Leitung dahin gediehen ist, ihren Platz in der Welt zu ihrer und der Ihrigen Zufriedenheit auszufüllen, und nicht in Dumpfheit und Trübsinn ihr Leben verschmachten zu müssen.

Durch den vieljährigen Umgang mit einer sehr geistreichen, aber in ihrem zwanzigsten Jahre stocktaub gewordenen Verwandtin, hatte ich und meine Geschwister von Kindheit auf eine Art von Zeichensprache erlernt, zum Theil auch erfunden, durch die wir auf eine für Fremde unbegreifliche Weise uns mit dieser Frau verständigten. Jetzt erinnerte ich mich der alten Künste wieder, ich versuchte mit meiner kleinen taubstummen Nachbarin auf die nämliche Weise, wie ich vor Zeiten mit meiner Tante mich verständigt, ein Gespräch anzuknüpfen; zu meiner großen Freude verstand auch sie mich; sie antwortete auf ihre Art durch Zeichen und Geberden, deren Sinn ich errieth. Mit rührender Zutraulichkeit und vor Freude strahlenden Augen wendete die arme Kleine nun bei Allem, was sie von den Vorgängen um uns her wissen wollte, sich an mich, und eine Art stummer Conversation kam zwischen uns zu Stande, die uns Beide gleich lebhaft interessirte.

[182] Nach elf Uhr erschien der Abbé Sikard, eine große Anzahl taubstummer Kinder beiderlei Geschlechts folgte ihm; Massieu[WS 23], sein Zögling, Freund und Gehülfe, war ihm zur Seite. Das Aeußere des guten alten Abbé machte auf den ersten Anblick einen nichts weniger als angenehmen Eindruck, der nur allmälig sich verlor. Die Natur war von jeher bei der Bildung seiner Gestalt und seiner Züge etwas stiefmütterlich mit ihm verfahren, die Zeit hatte ihn nicht verschönern können, und nun hatte er noch obendrein bei den vieljährigen ununterbrochenen Umgang mit seinen Taubstummen sich gewöhnt, jedes Wort, das er sprach, mit gewissen, ausdrucksvoll sein sollenden Mienen zu begleiten, die allmälig zur Grimasse wurden, seine Züge bleibend verzerrten und ihn wirklich zur Karrikatur umbildeten.

Im auffallendsten Kontrast mit ihm stand sein schöner junger Freund Massieu neben ihm; groß und edel von Gestalt, bescheiden, doch würdevoll, gleich einer Erscheinung aus einer andern Welt. Ein beredteres Auge, ausdrucksvollere Züge, in denen der reinste Seelenadel sich ausspricht, als die dieses Taubstummen, kann es nicht geben; nie habe ich an einem lebenden Menschen ein so rein griechisches Profil gesehen, wo die hohe edle Stirn den Uebergang zu der [183] feingeformten Nase über den Augen nur durch eine unmerklich sanfte Biegung andeutet, wie bei diesem durchaus schönen Kopf. Und wie herrlich entspricht die reine edle Seele dieses Mannes der schönen Hülle, die sie bewohnt und belebt.

Liebe, die heißeste, innigste Liebe zu seinem Lehrer Sikard, dessen Stütze er geworden, ist der Grundton seines Wesens; dieses Gefühl spricht in jedem seiner Blicke, jeder seiner Bewegungen sich aus. Ihm widmet er sein ganzes Leben, und Sikard gesteht selbst, daß er seiner Hülfe unendlich viel verdanke. Nächst diesem hängt Massieu’s Herz mit unendlichem Mitleid an seinen Unglücksgefährten. Was er für diese mit gewiß großer Aufopferung seiner Selbst Alles thut, läßt kaum in Worte sich fassen, wie er weder Mühe noch Geduld scheut, um den armen gefesselten Geist dieser Bedauernswerthen dem Dunkel zu entreißen, das ihn umhüllt. Alle Zöglinge Sikards werden bei ihrem Eintritt in das Institut zuerst Massieu übergeben, und immer findet dieser, freilich mit unendlicher Mühe und Geduld, Mittel und Wege, sich mit ihnen zu verständigen, sich Einfluß auf sie zu erwerben. Auch die wildesten weiß er am Ende menschlicher zu stimmen und sie gewissermaßen zu der großen geistigen Umwandlung vorzubereiten, [184] die mit ihnen vorgehen soll. Nur Liebe allein, keineswegs seine äußern Verhältnisse, zwingen diesen edlen Menschen zu so beispielloser Aufopferung. Massieu ist nicht nur von sehr gutem Herkommen, er ist auch wohlhabend genug, um nach eigner Wahl ein so genußreiches Leben zu führen, als er bei der unglücklichen Mangelhaftigkeit seiner Sinne es nur könnte; er besitzt ein jährliches Einkommen von zwölf- bis vierzehntausend Franken. Aber Dankbarkeit, das Gedächtniß des Herzens, wie er dieses Gefühl einst so wahr als schön definirte, fesselt ihn unaufhörlich an seinen Lehrer und Wohlthäter; sich von diesem und seinen Schützlingen zu trennen ist ein Gedanke, den er gar nicht zu fassen vermag.

Daß Massieu, als sechzehn- oder achtzehnjähriger Jüngling, in jener furchtbaren Schreckenszeit, an welche die Welt noch mit Schaudern denkt, seinen geliebten Sikard aus dem Gefängnisse rettete, wo das damals nichts verschonende Eisen der Guillotine schon über ihm hing, war einst allbekannt; ist jetzt wahrscheinlich schon vergessen, und so darf ich mir wohl erlauben, hier wieder daran zu erinnern. Jedes Zeichen der Theilnahme an dem Geschick eines als verdächtig Eingezogenen galt damals als Hochverrath an der Majestät des Volkes und zog unvermeidlichen [185] Tod nach sich; aber der arme taubstumme Knabe hatte dennoch den Muth, mit einer von ihm selbst verfaßten Bittschrift um das Leben seines Wohlthäters sich an jene Furchtbaren zu wenden, die damals als unbeschränkte Richter über Leben und Tod zu entscheiden hatten. Die ungekünstelte Beredsamkeit eines dem gewohnten Gange der Welt völlig fremden Gemüths rührte jene Tiger, deren Ohr sich noch nie der sanften Bitte geöffnet hatte. Sikard ward frei und seinem wohlthätigen Berufe wieder gegeben.

Massieu’s Bittschrift wurde damals in mehreren öffentlichen Blättern mitgetheilt; jedes Wort derselben, wie überhaupt jede seiner Aeußerungen, jede seiner Antworten auf die an ihn gerichteten Fragen, trägt unverkennbar den Stempel der Wahrheit und des reinsten tiefsten Gefühls für Gut und Böse, Recht und Unrecht; aber seine Art, dies Gefühl auszusprechen, ist höchst sonderbar und ganz so, wie nur ein so ganz einfaches Wesen sie erfinden kann, dessen Ideengang äußerst beschränkt sein muß, weil es nie eine andere Sprache hört, als die seines eigenen reinen Herzens.

Ich habe nie Massieu im geselligen Leben gesehen, aber von Personen, die Umgang mit ihm hatten, [186] viel Interessantes von ihm vernommen. Alle waren seines Lobes voll und fanden nicht Worte genug, um ihre Bewunderung seiner unbeschreiblichen Herzensgüte und seiner ausgezeichneten Geisteseigenschaften auszudrücken. Er ist von Natur sehr gesellig, und dabei fröhlichen heiteren Muthes, ohne eine Spur von Mißtrauen, das doch sonst den meisten Tauben das Leben verkümmert. Er ist in einigen Familien eingeführt, in deren Mitte er zuweilen die Abende zubringt als ein immer gern gesehener Gast, den Alle lieben und ehren. In einem dieser Häuser, das er vorzugsweise oft besuchte, kamen einige junge Leute einst auf den Einfall, ihn absichtlich zu erzürnen, um zu sehen, wie diese sanfte, heitere Natur sich dann zeigen würde. Die Conversation mit Massieu wurde in der Gesellschaft gewöhnlich vermittelst einer Schreibtafel geführt; seine übermüthigen jungen Freunde schrieben einige, das Andenken des Abbé L’Epée[WS 24] beleidigende Worte auf, seines ersten Lehrers und Wohlthäters, der seiner frühesten hülflosen Kindheit sich angenommen; aber sie mußten gar bald die Ausführung dieses Einfalls bereuen.

Sobald Massieu die frevelnden Worte gelesen, ging eine furchtbare Verwandlung mit ihm vor. Sein Haar sträubte sich sichtlich empor, sein dunkles [187] Auge schien Flammen zu sprühen, sein Gesicht, seine ganze Gestalt nahm den Ausdruck unbezwinglicher Wuth an; er brach in ein entsetzliches, fast thierartiges Geschrei aus, und ward in diesem Augenblicke ganz der Wilde, der er, ohne die Fürsorge und Pflege seiner Lehrer, vielleicht auf immer geworden wäre. Aber er faßte sich wieder, mit zitternder Hand warf er einige kräftige Worte auf die Tafel hin, wie eben der gerechte Zorn seinem schwer beleidigten Gefühl sie eingab, und eilte zum Zimmer hinaus. Alle eilten ihm nach, Bitten, Betheuerungen, daß man sich nur einen, freilich gewagten Scherz mit ihm erlaubt habe, daß man weit entfernt sei, es so übel zu meinen, als er es glaube, besänftigten ihn allmälig wieder; er ließ sich in das Zimmer zurückführen und ward wieder sanft, freundlich und heiter, wie zuvor. Aber Niemand verlangte jemals wieder danach, ihn zürnend zu sehen.

In der Rede, die Sikard gleich zu Anfange an die Versammlung richtete, bemühte er sich zuerst, uns begreiflich zu machen, wie er mit den taubstummen Kindern bei ihrem Eintritt in sein Haus sich zu verständigen suche, wie er und Massieu zu diesem Zwecke ihre Mienen, ihre stummen Zeichen, ihr ganzes Benehmen mit der größten Aufmerksamkeit [188] oft viele Monate beobachten, ehe es ihnen gelingt, in der allmäligen Ausbildung der geistigen Anlagen dieser Bedauernswerthen allmälig fortzuschreiten, indem er in ihre Art von Pantomime eingeht, diese nachahmt, und so auf ihre eigene Weise ihnen deutlich zu werden sucht. Ist ihm dies einigermaßen gelungen, so geht er zum Unterricht mit Hülfe des Zeichenstifts über. Um uns die Art, wie dieses geschieht, recht anschaulich vorzustellen, zeigte Massieu den Kindern ein Messer, dann zeichnete er mit Kreide auf einer großen schwarzen Tafel die Kontour dieses Messers hin; die Kinder gaben zu verstehen, daß sie in dieser Zeichnung den Gegenstand, den sie vorstellte, recht wohl erkannten. Jetzt schrieb Massieu in die Mitte der Zeichnung das Wort couteau hin, ließ die Kinder es genau ansehen, löschte dann die Kontour aus, das geschriebene Wort blieb allein stehen, und diese Uebung wird so oft wiederholt, bis die Kinder gelernt haben, im geschriebenen Wort die Sache, die damit benannt wird, sogleich wieder zu erkennen. Auf diese Weise lernen sie die Benennung aller sichtbaren Gegenstände, die in ihren Bereich kommen, auf diese Weise lernen sie schreiben, lesen und denken; welch ein mühseliger Weg!

[189] Doch dieses ist noch nicht genug; Gefühle lassen nicht mit dem Zeichenstift sich ausdrücken, wenigstens diesen in ihrem Ideenkreise so sehr beschränkten Wesen nicht. Hier mußte Sikard wieder zur Mimik seine Zuflucht nehmen, und suchte durch ein anschauliches Beispiel uns deutlich zu machen, wie diese schwere Aufgabe von ihm gelöst werde.

Zwei Körbchen mit Obst und Blumen wurden vor ihn hingestellt. Sikard suchte durch Mienen und Bewegung den Wunsch auszudrücken, das eine derselben, welches ihm zur Rechten stand, zu besitzen, und Massieu schrieb mit großen deutlichen Buchstaben auf die Tafel: »vouloir.« Sikard wiederholte die vorige Pantomime mit größerer Lebhaftigkeit, und Massieu schrieb: »vouloir vouloir.« Sikard suchte den vorigen Ausdruck noch zu verstärken, Massieu schrieb dreimal vouloir. Der gute Sikard strengte sich nun auf das gewaltsamste an, um den heftigsten und leidenschaftlichsten Wunsch nach dem Besitz jenes Körbchens auszudrücken. Es war ein wirklich widerwärtiger Anblick, den nur der Gedanke an die ihm zu Grunde liegende gute Absicht erträglich machen konnte; die ohnehin nicht angenehmen Züge seines Gesichts verzogen sich dabei zur gräßlichen Karrikatur; Massieu ließ sich dadurch nicht irre [190] machen, und schrieb sein »vouloir« viermal nach einander auf die Tafel.

Das war nun die Taubstummensprache, wie Sikard es nannte; Massieu mußte den Sinn aller dieser vouloirs ins Französische übersetzen, und nun stand das Ganze folgendermaßen auf der Tafel.

Taubstummen-Sprache Französisch.
vouloir
vouloir vouloir
vouloir vouloir vouloir
vouloir vouloir vouloir vouloir
vouloir.
aimer.
désirer.
s’impatienter.

So lehren Sikard und Massieu die Kinder die vorgeschriebene Form und Bedeutung aller das Sichtbare andeutenden Worte kennen, auf diese nämliche Weise gehen sie, so viel dieses möglich ist, alle Gefühle mit ihnen durch, lehren sie nicht nur lesen, schreiben und denken, sondern auch Recht vom Unrecht unterscheiden. Daß der Ideenkreis dieser Kinder dabei sehr einfach bleiben muß, daß der Gang ihrer Gedanken von dem unsrigen sich himmelweit unterscheidet, ist wohl natürlich. Eigentlich lernen sie nicht vielerlei, aber was sie gelernt haben, wissen sie auch recht gründlich; weil sie nichts lernen können, was sie nicht auch begreifen, und vom bloßen Nachbeten bei ihnen nicht die Rede sein kann.

[191] Dieser Theil von Sikards Unterricht schien mir bei weitem der interessanteste. Er erklärte uns noch unter Anderm, wie er es anfängt, die Kinder das Alphabet zu lehren; dann führte er ein außerordentlich hübsches, recht freundlich lächelndes Mädchen von etwa zwölf Jahren vor, die er gelehrt hatte, die Buchstaben auszusprechen. Er faßte beide Hände der Kleinen, die ihm unbefangen starr ins Gesicht sah. Nun machte er mit dem Munde die Bewegung, als ob er B sage, das Kind ahmte ihm nach und sagte deutlich B. Nun drückte er ihre Hand, und die Kleine sagte P. So ging es mit D und T und mehreren Buchstaben, die er sie aussprechen ließ. Der sonderbare Ton ihrer Stimme war eigentlich unangenehm, und glich mehr dem eines Papageien oder einer zum Sprechen abgerichteten Elster, als der eines Kindes. Das Ganze kam mir wie eine zwecklose Spielerei vor, fand aber überlauten Beifall.

Auch die Uebungen, die er mit mehreren seiner Zöglinge späterhin vornahm, schienen mir mehr auf die Unterhaltung seiner Zuschauer, als auf wirkliche Belehrung berechnet. Sie gingen offenbar nur darauf aus, sein Institut im glänzendsten Lichte zu zeigen. Aber in Paris ist dergleichen nicht zu umgehen, [192] und die kleinen Charlatanerien, zu denen Sikard von Zeit zu Zeit sich herablassen mußte, um das Interesse des Publikums warm zu erhalten, waren gewiß nicht das kleinste Opfer, das er dem wohlthätigen Zwecke brachte, dem er sein ganzes Leben geweiht hatte.

Niemand aber bezeugte bei allen diesen Verhandlungen sich aufmerksamer und theilnehmender, als meine kleine Taubstumme neben mir. Ihre ganze Seele war in ihren Augen; keine Bewegung ihrer jungen Unglücksgefährten entging ihr, manche ahmte sie, sich selbst unbewußt, nach; auch schien es mir, als ob sie, zwar nicht die jenen gelehrte Fingersprache, aber doch Manches von dem recht gut begreife und verstünde, was sie unter sich durch Mienen und Zeichen verhandelten. Die Mädchen ihres Alters, die Sikard zuweilen hervorzog, um ihre kleinen Künste zu zeigen, interessirten sie vor Allem. Oft zupfte sie mich am Arm und fragte mich mit Blicken und Zeichen, indem sie auf Einzelne unter denselben hindeutete, ob diese auch taubstumm wären, und auf meine bejahende Antwort glänzte die höchste Verwunderung aus ihren beredeten Augen, und ein wirklich seliges Lächeln verklärte das liebliche Gesichtchen.

[193] Massieu war wenig von ihr beachtet worden, sie hielt ihn vermuthlich nicht für das, was er war, bis irgend etwas, ich weiß nicht wie, sie auf den Gedanken brachte, es könne vielleicht ein Taubstummer sein. Lange haftete jetzt ihr Auge auf ihm allein, dann faßte sie mit beiden Händchen meinen Arm und fragte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, ob auch Dieser weder hören noch sprechen könnte. Ich antwortete bejahend, aber sie mochte wohl glauben, ich habe ihre Frage nicht verstanden; sie wiederholte sie mit auffallender Heftigkeit in Mienen und Geberden; ich antwortete ihr wie zuvor.

Eine Ahnung von Unwahrheit oder Verspottung schien in ihrem umdüsterten Gemüth sich zu regen, Thränen stiegen ihr ins Auge, sie beugte sich weit vor, faßte heftig meine beiden Hände, und sah halb bittend, halb zürnend mir festen Blicks ins Gesicht. Ich suchte durch Zeichen ihr begreiflich zu machen, daß ich sie recht wohl verstanden habe, legte wie betheuernd die Hand auf die Brust und versicherte sie in der unter uns schon ziemlich in Gang gebrachten Zeichensprache, daß Massieu eben so wenig hören und sprechen könne, als sie und die Uebrigen alle.

Der Eindruck, den dieses auf sie machte, war [194] eben so auffallend als groß. Mit der Geberde des höchsten Erstaunens schlug sie ihre beiden kleinen Händchen zusammen, sprang von ihrem Sitze auf und machte Miene, von der Estrade, auf welcher wir saßen, herunter zu springen und zu dem Abbé hinüberlaufen zu wollen. Ich und ihre Begleiterin vermochten kaum sie wieder zur Ruhe zu bringen. Doch von nun an saß sie wie zur Bildsäule erstarrt da, verwandte keinen Blick mehr von Massieu, und nur ihr sprechendes Auge und die sehr beweglichen ausdrucksvollen Züge ihres Gesichts deuteten die rege Theilnahme an, die sie ganz in Anspruch nahm, so daß sie auch mich darüber zu vergessen schien. Ein Strahl des Lichts war in ihre junge, noch mit Dunkel und Dumpfheit kämpfende Seele blendend gefallen; wortlose Hoffnungen, Ahnungen und Wünsche waren in ihr erwacht und lasteten in diesem ersten Augenblick wie ein schwerer Traum auf einem Halberwachten betäubend auf ihr.

Leider konnte ich das Ende der Versammlung nicht abwarten. Die Hitze, die durch die im engen Raum zusammengepreßte Menge von Menschen im hohen Grade verdorbene Luft zwangen mich wider meinen Willen, das Freie zu suchen. Auch vernahm ich, daß diese Versammlungen oft vier bis fünf [195] Stunden währen, viel zu lange, um nicht, selbst beim besten Willen, die Aufmerksamkeit, welche diese wohlthätige Anstalt verdient, zu ermüden.

Seit fünf oder sechs Jahren war auch der Wilde von Arveicon Sikards und Massieu’s Pflege und Fürsorge übergeben. So nannte man einen Knaben, der in jener Zeit, anscheinend in einem Alter von neun Jahren, in den dortigen Wäldern gefunden worden war. Ein fürchterliches Schicksal muß in frühester Kindheit ihn von seinen Eltern getrennt, vielleicht diese getödtet haben, und ein unbegreifliches Wunder hat ihn lebend erhalten. Allein in der öden Wildniß, ohne Pflege, ohne Bedeckung, ohne ein schützendes Obdach, der Wuth der Elemente und dem Wechsel der Jahreszeiten preisgegeben, wuchs er auf, wie die Thiere des Waldes. So fand man den Armen, aber keine Spur, die nur ganz von fern andeuten könnte, wem er angehört. Vielleicht mußten seine Eltern in den schrecklichen Tagen der Revolution die Flucht ergreifen, vielleicht hat seine unglückliche Mutter ihn in jenen Wäldern geboren und darüber das Leben verloren. Die Nachricht von seinem Auffinden wurde in Frankreich allgemein bekannt, aber Niemand, dem er angehören könnte, meldete sich. Die Seinigen sind wahrscheinlich alle [196] zu Grunde gegangen, denn wie viele Familien in Frankreich sind in jener fürchterlichen Zeit spurlos verschwunden, von denen man nie wieder etwas gehört hat!

Sikard und Massieu haben sich unendliche Mühe mit dem unglücklichen Knaben gegeben, doch leider ohne allen Erfolg. Seine körperliche Kraft ist übermenschlich, aber kein Funke eines geistigen Daseins läßt sich in ihm erwecken; er ist und bleibt in einem thierähnlichen Zustande, der auf keine Weise sich vermenschlichen läßt. Der Zutritt zu ihm wurde uns, wie allen Anderen, versagt, auch muß sein Anblick beides, schrecklich und demüthigend zugleich, sein. Was ist der Mensch, wenn er fern von menschlicher Gesellschaft sich selbst überlassen bleibt! Wie tief steht der Neugeborne in seinem natürlichen Zustande unter dem Thiere, zu dessen Gebieter er sich hinaufschwingt!

Ich konnte mich von der Ueberzeugung nicht losmachen, daß Beide, Sikard und Massieu, zu dem Bedauernswürdigsten gezählt werden dürfen, was Paris damals umschloß. Welche Ausdauer, welche Geduld, welche Anstrengung ihrer moralischen und physischen Kraft gehörte nicht dazu, um auf dem [197] mühevollen Wege, den sie sich gewählt hatten, ohne Wanken fortzuschreiten!

Jeden Genuß ihres Lebens, dieses Leben selbst, opfern sie im Dienste des Unglücks willig auf, ohne damit groß zu thun oder auch nur Dank dafür zu fordern.

Lange, nachdem ich Sikard und sein Institut nicht mehr sah, hat das Bestreben, zu ergründen, auf welche Weise diese Taubstummen ihre Gedanken bilden mögen, mich fast quälend beschäftigt. Worte haben sie eigentlich nicht, selbst der allen Anderen weit vorangeschrittene Massieu hat keine, ihm und ihnen Allen sind nur die conventionellen Zeichen der Worte, welche dieselben dem Auge andeuten, bekannt. Sie können ihre Gedanken innerlich nicht in Worte bilden, denn sie haben keine Idee von der Art, wie man sie ausspricht, was Ton und Klang ist, wissen sie nicht, sie haben nicht einmal eine deutliche Vorstellung davon, was hören und sprechen eigentlich sei, so wie der Blindgeborene nicht weiß, was Sehen eigentlich ist. An Andern werden sie zwar die Wirkung des Sprechens und Hörens gewahr, aber auf welche Weise diese entsteht, können sie unmöglich sich vorstellen. Aber mitten in der Verwirrung, in welche die mir unmöglich [198] scheinende Lösung dieses Räthsels mich versetzt, fühle ich den Begriff von unserem innern geistigen Wesen unendlich erhoben, das dieser Vervollkommnung fähig ist, ohne nur Sprache und Worte zu haben, die uns Anderen bei Allem, was wir erlernen, so mächtig forthelfen und unentbehrlich uns dünken.

Im Ganzen hatte der Anblick dieser Kinder mich sehr wehmüthig ergriffen, und doch auch wieder erfreulich, denn er bestärkte mich in meiner Ueberzeugung, daß wir von Natur Alle gut sind. Alle diese Kinder trugen den reinsten Ausdruck innerer Ruhe und treuherziger Gutmüthigkeit im Gesicht. Da war kein Zug zu erblicken, der Bosheit oder Tücke verrathen hätte. Und welch ein edles Wesen ist Massieu! Ach die Welt, das geschäftige Leben in ihr, in welchem Jeder nur dahin trachten muß, dem Andern den Rang abzulaufen, und was wir von Jugend auf sehen und hören, verderben uns; sonst wären wir Alle dankbar, mild und arglos wie diese Armen! –




Mehrere Monate später, bei einem Besuche des Erziehungsinstitutes des würdigen Pestalozzi[WS 25] in [199] Burgdorf, wenige Meilen hinter Bern, fühlte ich unvermuthet sehr lebhaft an den Abbé Sikard und seine Erziehungsmethode mich erinnert.

Es war eben Jahrmarkt in Burgdorf; in dem Gasthofe, in welchem wir abstiegen, fanden wir auf Treppen und Vorplätzen ein fast undurchdringliches Gewimmel lustiger halbbetrunkener Bauern und ihrer schreienden, schnatternden Liebchen; vom Saale her schallten die ohrzerreißenden Töne einer Tanzmusik, welche Todte hätte auferwecken können, und das Jauchzen und Stampfen der Tänzer uns entgegen. Das waren traurige Aussichten für uns, die wir hier die Nacht zuzubringen und mit dem Frühesten weiter zu fahren gedachten! Unsere Wirthin wußte uns indessen ein ziemlich ruhiges, abgelegenes Zimmer zu verschaffen, gab uns obendrein die tröstliche Versicherung, daß der Ball um zehn Uhr beendet sein werde, und wir, froh, dem Lärmen und Tosen zu entgehen, machten uns sogleich auf den Weg nach dem auf einer ziemlich steilen Anhöhe liegenden Schlosse, welches dem Pestalozzi, an den wir von Lausanne aus Empfehlungsbriefe mitbrachten, jetzt für sein Institut eingeräumt, und das ehemals die Wohnung des Amtmanns gewesen war.

Pestalozzi war eben spazieren gegangen, aber [200] seine recht liebenswürdigen Töchter nahmen mit treuherziger Freundlichkeit wie gute alte Bekannte uns auf; auch die Lehrer zeigten sich sehr zuvorkommend und gaben sich viel Mühe, uns die Art des Unterrichts, wie er dort ertheilt ward, deutlich zu machen.

Neunzig in drei Klassen vertheilte Zöglinge befanden sich damals in dem Pestalozzischen Institut, aber uns wurde gerathen, nur die erste derselben, als die interessanteste, zu besuchen, weil in dieser der Grund zu dem Unterricht gelegt werde, der in den beiden anderen mehr auf die gewöhnliche Weise fortgesetzt wird.

In einem hohen großen Zimmer, dessen Fenster eine wirklich entzückend schöne Aussicht über Berg und Thal gewährten, fanden wir zwanzig bis dreißig Kinder zwischen sechs und zehn Jahre alt, meistens sehr hübsche Knaben, frisch und blühend wie die Gesundheit selbst; so froh und frei, als wäre von Spiel und Zeitvertreib, keinesweges von Lehrstunden die Rede. Auch gegen uns Fremde bezeigten sie sich weder unbeholfen noch ängstlich scheu, wie das in ihrem Alter oft der Fall ist, sondern so zutraulich und unbefangen, wie recht glückliche Kinder im Kreise der Ihrigen es immer sind. Auch [201] gefiel mir die Art, wie die Lehrer sie behandelten, ungemein, die liebreiche Weise, mit der sie die, welche zu vorlaut und unruhig sich bezeigten, zu beschwichtigen und zur Ruhe zu bringen wußten. Alles, was ich hier sah, trug das Gepräge ruhigen, häuslichen Glücks im Kreise einer großen, aus vielen Mitgliedern bestehenden Familie.

Nach Pestalozzi’s Ueberzeugung lernt der Mensch wirklich nur das recht üben und fassen, was ihm so anschaulich deutlich gemacht wird, daß er es gleichsam mit Händen greifen kann.

Auf diesem Grundsatz beruht seine ganze Lehrmethode; daß dabei an bloß mechanisches Auswendiglernen nicht gedacht wurde, liegt in der Natur der Sache. Der erste, allem folgenden zu Grunde liegende Unterricht zerfiel bei ihm in drei Theile. Die Zöglinge lernten Rechnen, um das Nachdenken, das Begreifungsvermögen und die Urtheilskraft beim Vergleichen einer gegebenen Anzahl gegen einander zu üben und zu entwickeln. Sie lernten reden, um das, was sie wußten, auch Anderen klar und deutlich mittheilen zu können, und endlich Zeichnen, um das Auge an Vergleichung der Größen und Auffassen der Linien, und die Hand in der Darstellung dessen, was sie sehen, zu üben.

[202] Lesen und Schreiben lernen sie auch, aber dieser Unterricht wurde mehr wie der Uebergang vom Reden zum Zeichnen betrachtet und machte keine besondere Abtheilung ihres Unterrichts aus, er wurde gleichsam nur nebenher, als Zugabe zu jenem, ihnen ertheilt. Um einen langen mit Bänken umgebenen Tisch fanden wir eine Menge Kinder versammelt. Sie saßen nicht steif da, wie in einer gewöhnlichen Schule, sondern knieeten auf der Bank, oder standen, wie es ihnen eben gefiel. Alle bewegten sich nach Belieben, betrugen sich munter und frei, als wären sie nicht zum Unterricht, sondern zu einem gesellschaftlichen Spiele versammelt, betrieben aber doch das, was sie vorhatten, mit auffallendem Eifer und Ernst. Mitten unter ihnen saß ein freundlicher junger Mann, ihr Lehrer; die Kleinsten ritten auf seinen Knieen oder kletterten an ihm hinauf; vor ihm lagen eine Menge länglicher Stückchen steifer Pappe auf dem Tische; er legte nach und nach einzeln sie vor den Knaben hin. »Das ist Eins!« riefen sie, »das zweimal Eins, das dreimal Eins,« und so weiter. Nun legte er zwei Reihen, in der einen mehr Pappstreifen als in der andern; die Kinder mußten sagen, in welcher Reihe mehr davon wären, und wie viele mehr; der Lehrer legte [203] die Stückchen paarweise vor sich hin, »das sind zwei, das sind zweimal zwei,« riefen die Kinder; er legte neben zweien noch zwei, »das ist vier,« riefen die Kinder; er legte noch eins hinzu, »das ist vier, und der vierte Theil von vier,« sprachen sie; er legte noch zwei hinzu, »das ist vier, und drei mal der vierte Theil von vier, wie viel macht das?« »sieben,« was ist dieses? fragte er, und nahm ein Stückchen davon, »der siebente Theil von sieben. So ging das fort, durch alle Zahlen durch; die Kinder theilten die ihnen gegebene Anzahl ein, berechneten die Hälften, die Viertel, machten aus, wie viel noch dazu gehöre oder abzunehmen sei, um irgend eine ihnen genannte Zahl hervorzubringen; und Alles dieses geschah ohne Anstrengung, so leicht und fröhlich, als wäre es ein Spiel.

Es ist fast unglaublich, wie weit diese Kinder in sehr kurzer Zeit auf diese einfache anschauliche Weise es im Kopfrechnen brachten. Ein kleiner siebenjähriger Knabe aus Lausanne, der erst seit anderthalb Jahren in diesem Institute war, berechnete Aufgaben, die einer aus unserer Gesellschaft ihm vorlegte und die selbst einem sehr geübten Rechner auf diese Weise, ohne Tafel und Stift, nicht ganz leicht geworden wären; und that dies mit einer Leichtigkeit, die wir nicht genug bewundern konnten.

[204] Nun ging es an die Redeübungen, mit welchen zugleich der Unterricht in der französischen Sprache verbunden war; der einzigen, die damals dort gelehrt wurde. An die lateinische sollten mit Nächsten die Reihe kommen. An Grammatik wurde bei diesem ersten Unterrichte noch nicht gedacht, diese wird später in den beiden andern Klassen, und zwar ziemlich auf die gewöhnliche Weise gelehrt; findet dann aber auch schon den Weg gebahnt und das Fortschreiten auf demselben sehr erleichtert.

Mein kleiner hübscher Lausanner spielte auch bei den Redeübungen eine bedeutende Rolle, wahrscheinlich weil er im Französischen, als seine Muttersprache, sich besser ausdrücken konnte als seine Mitschüler. Der Zweck dieses Theiles des Unterrichts geht dahin, den Kindern zu einer deutlichen Anschauung Alles dessen, was sie umgiebt, zu verhelfen, und fängt natürlicher Weise mit dem an, was ihnen am nächsten ist, mit dem Menschen. Thiere, Pflanzen, Geräthe, und alles Uebrige kommen später an die Reihe.

Mehrere Knaben stellten sich in Reihe und Glied, mein kleiner Lausanner trat vor sie hin. »Der Kopf!« rief er ganz keck und legte die Hand auf sein blondes Lockenköpfchen, die andern Knaben ahmten und sprachen ihm nach; »la tête,« rief er jetzt, und die [205] Andern riefen ihm nach. »Le front, die Stirn,« folgte jetzt, und so wurden in beiden Sprachen alle Theile des Kopfes genannt, und immer legten die Kinder die Hand auf den eben bezeichneten Theil. Dann gingen sie ebenfalls in beiden Sprachen zu der nähern Beschreibung jedes einzelnen Theils des Kopfes über; zum Beispiel: »die Nase befindet sich in der Mitte des Gesichts zwischen den Augen und der Stirn.« Der Lehrer stand schweigend dabei, um auf Ordnung zu halten.

Die ganze Sache wollte mir anfangs in einem etwas komischen Lichte erscheinen, aber ich wurde doch bald gewahr, wie sie das Nachdenken, die Urtheilskraft der Kinder frühzeitig schärft und sie gewöhnt, auf Alles, was sie umgiebt, gehörig zu achten. Ich bat zum Scherz einen neben mir stehenden kleinen Knaben, mir einen ganz gewöhnlichen hölzernen Stuhl, der eben in der Nähe war, auf diese Weise zu beschreiben, und hörte mit Erstaunen an, was das Kind mir Alles von diesem zu sagen wußte, von den Handwerkern, die dazu gehörten, ihn hervorzubringen, von der Holzart, aus der er bestand, von dem Baume, der diese Holzart lieferte. Eine Menge nützlicher Kenntnisse wurden an die Beschreibung dieses unscheinbaren Stuhls geknüpft.

[206] Das Lesen wird vermittelst langer Stäbe gelehrt, auf deren jedem ein Buchstabe steht, und die dann neben einander gestellt, zu einzelnen Silben, endlich zu Wörtern vereinigt werden.

Aber das Bewundernswürdigste von Allem, was ich sah, waren und blieben mir die mathematischen Figuren, welche die Knaben aus freier Hand hinzeichneten, ohne Lineal, ohne Zirkel, ohne Winkelmaß, ohne Alles, was man sonst für unentbehrlich hält, nichts außer dem Bleistift in der Hand und Nähe. In diesem Hause würde Giotto[WS 26] sich gewiß nicht durch das Hinzeichnen eines durchaus fehlerlosen regelmäßigen Kreises aus freier Hand, als den größten Maler seiner Zeit, der er war, zu erkennen gegeben haben, wie Vasari[WS 27] von ihm erzählt; ein halb Dutzend noch nicht zehnjähriger Knaben wären ohne Mühe zu finden gewesen, die es ihm hierin gleich zu thun vermochten. Auch beim Zeichnen wird hier mit dem Uranfange jeder Figur, mit der geraden Linie, der Unterricht begonnen; erst wenn sie eine solche mit fester freier Hand hervorzubringen im Stande sind, gehen die Kinder zu andern komplicirten über. Indem sie weiter schreiten, lernen sie die technische Benennung der verschiedenen mathematischen Figuren, aus denen sie dann andere zusammensetzen, [207] so bunt und kraus sie immer wollen, bis sie zur Nachbildung der Gegenstände, die sie um sich her sehen, gelangen; mit sicherm Scharfblick und fester Hand bringen sie endlich auf diese Weise Zeichnungen hervor, die in Hinsicht auf Perspektive, Treue und Deutlichkeit durchaus tadellos sind.

Die sinkende Sonne und einige Anstalten zum Abendessen, die wir gewahrten, bewogen uns endlich, uns wieder in unsern noch immer ziemlich geräuschvollen Gasthof zu begeben; doch kaum waren wir in unserm Zimmer angelangt, als Pestalozzi selbst kam, uns zu besuchen. Diesen merkwürdigen Mann von Angesicht kennen zu lernen war mir eine große, nicht mehr gehoffte Freude. Er war damals schon ziemlich bejahrt, klein von Gestalt, und sein schlichtes, einfaches Aeußere hatte durchaus nichts Ausgezeichnetes. Aber eine Lebhaftigkeit wie die seine war mir bis dahin noch nie vorgekommen. Sie äußerte sich nicht nur in seinen Bewegungen, sondern sogar in seiner Sprache; er stotterte wirklich, weil ein Wort das andere jagte und er sich zu keinem Zeit ließ.

Es schien, als ob es ihm schwer würde, sich in französischer Sprache mit Leichtigkeit auszudrücken, wir gingen also zur deutschen Sprache über, aber [208] nun wurde es meinerseits sehr schwer sein Schweizerdeutsch zu verstehen. Er sowohl als alle Lehrer seines Instituts konnten nur in dieser, einem wirklich deutschen Ohr fast unverständlichen Sprache sich ausdrücken; die Kinder aus der französischen Schweiz, deren Viele auch zur Erlernung der deutschen Sprache ihm zugesandt wurden, lernten keine andere, und mögen, wenn sie späterhin nach Deutschland kamen, die übelen Folgen davon empfindlich genug gefühlt haben.

Mit der liebenswürdigsten Offenheit erzählte er mir, wie er sich Jahre lang mit seinem Erziehungsplan herumgetragen habe; und wie er anfangs große Opfer habe bringen müssen, um nur Eltern zu finden, die geneigt waren, ihm ihre Kinder zur Realisirung desselben anzuvertrauen. Sein Hauptgrundsatz dabei war von jeher, daß die Kinder nicht vielerlei lernen sollen, aber das Wenige recht und gründlich; bei der jetzigen Erziehungsmethode, wie sie allgemein üblich ist, behauptete er, lernen sie von Allem etwas, aber nur oberflächlich, so daß all ihr Wissen ihnen im Grunde wenig hilft, eine Behauptung, gegen die sich viel einwenden ließe, was ich aber nicht thun mochte; denn bei ihm wie bei allen interessanten Männern, die ich so glücklich war kennen [209] zu lernen, lag mir weit mehr daran, sie zu hören, als mich von ihnen hören zu lassen, es sei denn, daß längere und nähere Bekanntschaft mit ihnen mir erlaubte, auch mich gegen sie auszusprechen, und in Rede und Gegenrede Genuß und Belehrung zu suchen und zu finden.

Auf meine Frage, wie er es angefangen habe, Gehülfen zu finden, die so ganz in den Gang seiner Ansichten eingingen, erwiederte er mir, er habe hierin viel Glück gehabt. Ueberdem wähle er keine Gelehrten dazu, sondern einfache, gut unterrichtete junge Männer aus dem Volke, von gutem Naturell und hellem Geiste; diese folgten seinem Rathe und seinem Willen mit guter Art und pünktlicher Treue, jene aber, meinte er, würden lieber ihren eigenen Weg gehen, und ihm eher im Stillen entgegen gearbeitet haben.

Ich wagte es nun, ihm zu gestehen, daß ich diesen Abend in seinem Hause unaufhörlich an den Abbé Sikard gedacht habe, und daß ich die größte Aehnlichkeit zwischen seiner Erziehungsmethode und der jenes trefflichen Mannes gefunden habe. Er hörte freundlich mich an und gestand mir nun, daß bei seinem Besuche beim Abbé Sikard ihm diese [210] Aehnlichkeit ebenfalls sehr aufgefallen wäre, daß er es aber dem Abbé nicht habe sagen mögen.

Aus jedem seiner Worte wie aus seinem ganzen Betragen leuchtete ein heller Geist und die reinste Herzensgüte hervor. Mir that es sehr leid, sobald von ihm scheiden zu müssen; hat er geirrt, so geschah es gewiß ohne Arg. Eigennutz, Arroganz und jede unlöbliche Absicht blieben gewiß ewig fern von ihm.




Bald nach ihrer Rückkehr von dieser Reise, die ein halbjähriger Aufenthalt meiner Mutter in Danzig beschloß, verlor sie meinen Vater. Sein ganz unerwarteter Tod gab ihrem Leben eine völlig neue Wendung. Daß der plötzliche Hintritt eines bedeutenden Kaufmanns, besonders nach mehrjähriger Abwesenheit, den schlimmsten Einfluß auf sein Handlungshaus ausüben muß, ist begreiflich. Außer dem Schmerz, ihn selbst verloren zu haben, traf sie und uns Kinder noch mancher äußere Verlust.

Quälend gewordene Erinnerungen und die Nothwendigkeit einer weniger kostbaren Lebensweise veranlaßten meine Mutter, mit dem immer noch bedeutenden Rest ihres Vermögens Hamburg zu verlassen

[211] Sie wählte Weimar, das sie auf einer früheren Reise kennen gelernt hatte zum Aufenthalt.

Von den ersten stürmischen Tagen, die sie dort verlebte und deren Herannahen sie leider bei ihrem Hinzuge übersehen hatte, geben folgende Blätter das lebendigste Zeugniß.




Weimar, den 18. October 1806.

Daß ich noch lebe, siehst Du wohl; zugleich will ich Dir nur versichern, daß wir Alle wohl sind, und Keinem in unserm Hause etwas zu Leide geschehen ist. Ich habe ehegestern, da ich kaum mich ein wenig gesammelt hatte, Dir ein paar Zeilen geschrieben, um Dich zu beruhigen; denn ich fürchte, Du wirst meinetwegen sehr besorgt sein; aber ich weiß nicht, ob Du sie erhalten wirst. Die Posten gehen noch nicht; morgen heißt es, geht die erste, und ich schreibe dies in Vorrath. Jene Zeilen hat ein französischer Officier durch einen preußischen gefangenen Officier unversiegelt befördert; der Preuße wurde weiter transportirt und hat versprochen, meinen Brief mit der ersten Gelegenheit auf die Post zu geben. Ich hoffe, er hat es gethan; aber es ist doch möglich, daß dieser [212] Brife eher ankommt. Nun will ich Dir in der Kürze die Geschichte – –


Den 19. October.

Hier wurde ich gestern unterbrochen; wir leben noch in sehr unruhigen Tagen; ich werde auch diesen Brief nicht eher abschicken, bis ich gewiß weiß, daß er ankommt, denn ich möchte diese Geschichte nicht gern wieder zu erzählen haben. Ich schreibe Dir indeß mit jeder Gelegenheit ein paar unbedeutende Zeilen, in der Hoffnung, daß doch etwas davon ankommt; denn wirklich, Du mußt unsertwegen in Aengsten sein. Nun laß Dir erzählen; ich hole aber weit aus; auch ist mein Kopf noch gar nicht wieder recht beisammen; ich hoffe, das soll sich im Schreiben finden, Schreiben war von jeher ein calmant für mich. Wann ich Dir zuletzt schrieb, weiß ich nicht mehr; auch kann ich jetzt nicht zu meinem Schreibekasten kommen um nachzusehen; ich weiß, daß damals Alles hier voll Preußen und Sachsen war und Niemand die Nähe dieser schrecklichen Katastrophe ahnte. Guter Gott! hätte ich gewußt, was uns bevorstand, zu Fuße wäre ich fortgelaufen und hätte sehr übel daran gethan, denn jetzt ist’s überstanden und ich und die Meinigen sind gerettet. [213] Mein Logis im Erbprinzen wurde durch die Menge Fürsten und Generäle, die dort logirten, sehr unbequem, ich eilte, meinen eigenen Heerd zu haben, und bezog den 8. October meine Zimmer, die ganz nach meinem Geschmacke eingerichtet waren, und in welchen ich nur noch für die Gardinen und dergl. zu sorgen hatte.

Den 28. September war ich angekommen, damals war die preußische Armee in der Nähe, aber noch nicht in der Stadt. Den 1. October zog sie hier durch nach Erfurt zu, wo man die Franzosen in der Nähe vermuthete, das dauerte bis zum 3ten oder 4ten etwa. Ich beschrieb Dir damals all den militairischen Pomp; Alles hoffte, Niemand konnte vermuthen, daß Thüringen der Schauplatz des Krieges bleiben würde. Den 3. October war eine eigene Bewegung in der Armee, Truppen, die unlängst durchgezogen waren, kamen zurück. In den folgenden Tagen kam Alles wieder von Erfurt; in und um unsere kleine Stadt war ein Heer von über 100,000 Mann Preußen und Sachsen. Die Soldaten waren mißmuthig über die unnützen, ermüdenden Märsche, die Landeseinwohner über die starke Einquartierung und daraus entspringende Theurung; man hoffte noch, aber ein düsterer Geist ging durch [214] alle Gemüther; man hoffte und zitterte. Ich wollte fort, aber wo sollte ich hin? Alle riethen mir zu bleiben. Ich mußte wohl bleiben, denn es waren keine Pferde mehr zu haben, nicht einmal zu kaufen; auch machte Niemand Anstalt zu entfliehen. Den 9. oder 10. October traf der König mit der Königin, der Herzog von Braunschweig und viele Generäle hier ein; die Herzogin reiste ab. Ein Lager wurde von Erfurt bis zum Ettersberge, eine Meile von hier jenseit Weimar aufgeschlagen, welches sich bis dicht an unsern Park erstreckte. Man erfuhr mit Gewißheit, daß die Franzosen auf der Seite, wo man sie nicht vermuthete, hereingebrochen wären, daß sie Coburg und Saalfeld im Besitze hatten, man hörte von fern kanoniren, man wußte nicht, was man denken sollte; man glaubte, sie zögen auf Dresden und Leipzig, und der König, die Königin und der Herzog von Braunschweig waren ruhig hier, die Armee im Lager. Jedes Herz klopfte vor Ungeduld über alles dieses. Den 11ten erfuhr ich, daß der General von Kalkreuth hier wäre. Ich schickte ihm meine Adresse. Er sprach selbst mit Duguet[1] und sagte ihm, er würde den Abend zu mir kommen. Wir [215] sahen nun flüchtige, verwundete Sachsen und Preußen zurückkommen, das entfernte Kanoniren hatte fast alle die Tage nicht aufgehört. Wir erfuhren, daß eine zu kleine Armee, angeführt vom Prinzen Louis[WS 28], nach einem achtstündigen Gefechte gänzlich bei Rudolstadt geschlagen worden wäre; der Prinz, dessen schöne Gestalt wir noch vor wenigen Tagen bewundert hatten, war geblieben, er wollte sich nicht ergeben, er wollte dies nicht überleben. Der Anblick der Flüchtigen, noch mehr der Verwundeten, war gräßlich, es fielen herzzerreißende Scenen vor. Auf der Straße sah ich einen Officier geritten kommen, dieser fragte einen verwundeten Cürassier: »Wißt Ihr etwas vom Rittmeister Bär?« – »Der ist todt,« war die Antwort, »ich sah ihn fallen;« und der Officier war sein Bruder. Ich war noch immer entschlossen fortzugehen, allein ich hatte keine Pferde; auch sagte mir Jedermann, persönlich würde mir nichts geschehen, wenn ich in der Stadt bliebe, aber die Wege wären unsicher. Ich blieb, suchte immer im voraus nach Pferden, ließ einpacken und wollte erst Kalkreuth sprechen; er schrieb mir diesen Abend, er könne nicht kommen, er würde den folgenden Tag, den 12ten kommen. – Man beruhigte sich. Den 12ten besuchte mich erst Bertuch, der mich sehr beruhigte; man [216] glaubte bestimmt, die Franzosen zögen nach Leipzig, Alles könne gut werden, wir wären nicht in Gefahr. Kurz darauf meldete man mir einen Unbekannten. Ich trat ins Vorzimmer und sah einen hübschen ernsthaften Mann im schwarzen Kleide, der sich tief mit vielem Anstande bückte und mir sagte: »Erlauben Sie mir, Ihnen den Geheimen Rath Goethe vorzustellen.« Ich sah im Zimmer umher, wo der Goethe im Bildnisse wäre; denn nach der steifen Beschreibung, die man mir von ihm gemacht hatte, konnte ich in diesem Manne ihn nicht erkennen. Meine Freude und meine Bestürzung waren gleich groß und ich glaube, ich habe mich deshalb besser benommen, als wenn ich mich darauf vorbereitet hätte. Als ich mich wieder besann, waren meine beiden Hände in den seinigen, und wir auf dem Wege nach meinem Wohnzimmer. Er sagte mir, er hätte schon gestern kommen wollen; beruhigte mich über die Zukunft und versprach wieder zu kommen. Der Tag ging ruhig hin, Lager und Alles blieb wie es war. Den Abend kam der General von Kalkreuth; er hatte sich’s ausgebeten, mich allein zu finden und ich war allein. Er war gegen mich wie sonst, übrigens rieth er mir auch zu bleiben bis zum Nothfall, schien sehr unzufrieden mit dem Gange der Dinge, sagte mir, die [217] Feinde seien in Naumburg und hätten dort das Magazin abgebrannt. »Bleiben wir morgen noch hier,« sagte er, »so sind wir verloren. Ich glaube, Sie riskiren nichts, wenn Sie bleiben, wollen Sie aber fort, so gehen Sie nach Erfurt, von dort nach Magdeburg und wohin Sie weiter wollen.« Er wollte mir viel von der Lage der Dinge sagen, indeß trat sein Adjutant herein und meldete ihm, daß man wieder eine starke Kanonade höre. Er konnte kaum Abschied nehmen und eilte zum König. Es war schon spät; aber ich bat noch Conta, der seit einigen Tagen bei mir und im Hause war, meinen Paß zum Herzoge von Braunschweig zu tragen, um ihn unterzeichnen zu lassen, was auch geschah. Pferde hoffte ich noch immer zu bekommen, obgleich auf der Post keine waren und die Bürger keine geben durften. Ich war noch nicht entschlossen zu gehen, aber ich wollte auf den Nothfall bereit sein. Riedel und mein Landsmann Falk[2][WS 29] kamen noch, Letzteren hatte ich versprochen mitzunehmen, um ihm vor dem Schicksale des Buchhändlers P.[WS 30] zu bewahren. Ich trug ihm auf, sich auch einen Paß zu verschaffen, nach Pferden zu suchen und jede Stunde bereit zu sein, er sowohl [218] als Riedel[3] hielten die Gefahr noch nicht für dringend. Wir lasen das Manifest, das ich erhalten hatte, und trennten uns recht ruhig. Montag den 13ten Morgens, ging ich mit Conta[4] und Adelen ins Lager; das Wetter war alle diese Tage himmlisch schön; das Leben und Treiben im Lager, der schöne Park, der Sonnenschein erheiterten mich. Beim Nachhausegehen sahen wir alle Officiere vor des Königs Hause und den König am offenen Fenster. Mit Mühe drängten wir uns durch. Zu Hause hörte ich, Kalkreuth wäre dort gewesen; er hatte Sophien gesagt, er würde um zwei Uhr abreisen, er würde mich nicht mehr sehen können, er bäte, ich möchte ihm einige Zeilen zum Abschiede schreiben. Das that ich, ich bat ihn mir zu sagen, ob ich fliehen sollte und wohin, und mir Pferde zu verschaffen, und vor zwölf Uhr. Ich ging also zur Hofdame der verwittweten Herzogin, Fräulein von Göchhausen, die in der Zeit meine Freundin geworden war, ins Schloß, um etwas Neues und Bestimmtes zu hören; ich traf sie gerade [219] mit der Herzogin auf der Treppe. Ich ward sogleich der Herzogin auf der Treppe vorgestellt, die schon von mir gehört hatte, und beängstigt wie sie war, mich doch sehr freundlich aufnahm und mich mit in ihr Zimmer nahm. Hier kamen verschiedene Officiere, alle mit beunruhigenden Nachrichten. Man hörte wieder stark kanoniren. Das Lager, von welchem ich eben kam, wurde abgebrochen; Alles machte sich marschfertig. Wie sie fort waren, mußte ich mich zur Herzogin setzen; ich blieb eine gute halbe Stunde bei ihr; wir suchten auf der Charte den Weg, den Kalkreuth mir vorgeschlagen hatte. Die Königin war eben nach der andern Seite hin aufgebrochen. Die Herzogin sagte mir, sie ließe Alles einpacken zur Reise, und rieth mir ein Gleiches zu thun. Pferde konnte sie mir nicht geben, sie hatte kaum selbst welche, auch war sie nur reisefertig, nicht zur Reise entschlossen. Sie wollte mir wissen lassen, wann und wohin sie ginge, so schied ich von ihr. Zu Hause fand ich Kalkreuths Antwort. Er schrieb mir, wenn es ihm möglich wäre, würde er noch einen Augenblick zu mir kommen, übrigens hätte ich, wenn beide Herzoginnen hier blieben, als Privatperson nichts zu fürchten. Pferde hätte er nicht, übermorgen würden Postpferde zu haben sein, dann möchte ich über Erfurt, [220] Langensalza nach Magdeburg oder Göttingen, diese Route wäre sicher. Ich beruhigte mich also weil ich mußte. Das Gewühl der abziehenden Truppen in der Stadt, die Abreise des Königs, alles das benahm mir allen Sinn für eigene Gefahr, die in der That Niemand so nahe glaubte. Gegen vier Uhr, da die Trommel seines Regiments schon zweimal gegangen war, kam Kalkreuth selbst. Er war sehr bewegt und zugleich voll der großen Ereignisse, die ihm bevorstanden. Er konnte mir nichts sagen, unser Abschied war wirklich erschütternd, da ging die Trommel zum dritten Male und er riß sich los. Mir that das Herz weh, den schönen alten Mann so hingehen zu sehen. Ich weiß noch nicht, was aus ihm geworden ist.

Dieser Abschied und der ganze Wirrwarr des Tages hatten meine Kräfte erschöpft, ich schickte Sophien[5] mit Adelen in die Komödie, wo eben Fanchon gegeben wurde, um allein zu sein. Ich lag ganz still auf meinem Sopha, die Todtenstille nach dem Lärmen aller dieser Tage war entsetzlich.

Um 7 Uhr hörte ich wieder Fahren und Lärmen in den Straßen. Nun wurde es mir im Hause zu enge; ich ließ mich von Duguet zu Riedel’s bringen, [221] nur durch große Umwege konnte ich bis zu ihnen kommen; alle Straßen waren voll Pferde und Wagen; es war die Bagage, die der Armee folgte. Bei Riedel’s sprachen wir uns wechselseitig Muth ein; die allgemeine Meinung war noch immer, die Franzosen wären bei Leipzig, unsere Armee ginge ihnen dorthin entgegen, wo wahrscheinlich eine Schlacht erfolgen würde. Ich ging zu Hause, Riedel begleitete mich; das Gewühl war geringer geworden, die meisten Wagen schon fort. Ich fand Sophien und Adelen ganz lustig aus der Komödie zu Hause. Wir gingen ohne Sorgen zu Bette. Ich wachte des Nachts oft auf, Alles war still wie das Grab, und mir schauderte bei dieser Ruhe nach all dem Lärmen, den wir bisher Tag und Nacht gehabt hatten. Ich stand erst halb 8 Uhr auf, die Schlacht hatte schon vor 6 Uhr bei Jena angefangen. Du kennst den Weg von Weimar nach Jena; Du weißt die Felsen, die mit Mauern versehen sind, damit die Wagen nicht in den steilen Abgrund fallen[6], unten im Abgrunde liegt das Mühlthal, dort waren die Franzosen, der Kaiser unter ihnen. Der Nebel war so dick, daß man im Anfange nichts sah; der Kaiser – [222] ich weiß es von Augenzeugen – stand vor einem Wachtfeuer und wärmte sich und fragte immer, ob man die Preußen nicht sähe. Da sah man sie auf der Höhe blinken. Die wüthenden Franzosen klimmten die steilen Felsen hinan. Der Sieg blieb eine Weile unentschieden, aber alle Augenblicke stießen frische Truppen zur französischen Armee. Die Preußen kämpften wie Löwen, aber die Uebermacht war zu groß, sie wurden aus ihrer vortheilhaften Position, die auch wohl nicht genug benutzt wurde, vertrieben und den Erfolg weißt Du. Ich erfuhr erst gegen 9 Uhr von Demoiselle Conta, die bei uns im Hause ist, daß man kanoniren höre und eine nahe Schlacht vermuthe. Nun rief ich Sophien, mein Schmuck ward in mein Corsett genähet, das ich anzog; ich hatte mir Tags vorher von einem hiesigen Kaufmanne 50 Louisd’or in Silber gegen eine Wechsel geben lassen, um mein Gold zu schonen, denn es war keins mehr in der Stadt zu haben. Ich hatte noch über 100 Louisd’or in Gold, die in eine Art Gürtel genäht waren, den Sophie auf den bloßen Leib band. Mein Silberzeug hatte ich schon gepackt; dies, die Wäsche und was ich sonst der Mühe werth hielt und fortnehmen durfte, ohne das Haus ganz zu entblößen und Verdacht zu erregen, wurde in eine [223] kleine Kammer neben meinem Boden gebracht und eine Menge Holz und Reisig darüber geworfen, so daß es wie eine Holzkammer aussehen mußte. Andere Dinge wurden im Keller vergraben und eine Menge Kartoffeln darüber geworfen; in weniger als anderthalb Stunden war Alles in Ordnung; Conta, sein jüngerer Bruder und ein Liebhaber einer unserer Mädchen, der zum Glück da war, halfen meinen Leuten redlich. Meine Wirthin, die Hofräthin Ludekus[7], war zu mir gekommen, wir gaben einander die Hand darauf, Alles zusammen zu tragen und den Muth nicht zu verlieren, komme was da wolle. Diese wirklich brave Frau hat uns Alle mit ihrer Entschlossenheit beseelt. Um 10 Uhr ließ mir die alte Herzogin sagen, sie reise in einer Stunde nach Erfurt, ich möchte mich an sie anschließen, wenn ich Pferde hätte. Ich hatte keine, und ergab mich mit Muth in mein Schicksal. Die gute Ludekus wollte mich mit Adelen zur Gräfin Bernstorf bringen, die als Dänin sicher zu sein glaubte, aber Sophien und Duguet konnte ich nicht mitnehmen. Wie konnte ich die treuen Menschen verlassen? Ich blieb, und wohl mir, daß ich [224] es that! Wir setzten uns, Madame Ludekus, Mademoiselle Conta, ich, Adele und Conta, gelassen in mein Zimmer im ersten Stocke und machten Charpie, warum uns die Regierung hatte bitten lassen. Das waren schwüle Stunden, mein Freund; die Kanonen donnerten von fern, Alles war in der Stadt wie ausgestorben. Die Sonne schien auf die grünen Bäume vor meinem Fenster. Alles war Ruhe von Außen, und welcher Sturm, welche Angst des Erwartens in unseren Herzen! Doch sprachen wir gelassen und munterten einander auf. Die gelassene Ergebung der Ludekus war unbeschreiblich tröstend. Ich folgte ihr so gut ich konnte, nur durfte ich nicht auf meine Adele sehen, dann war’s mit meinem Muthe aus. Adele selbst war ruhig, unbefangen, ein wahres Kind, und mir ein tröstender Engel. Nun kam eine gute Nachricht über die andere. Bertuch und viele Freunde versicherten uns, die Preußen siegten. Wir Armen hofften mit Angst, es war sehr quälend. Conta ging ins Schloß und brachte von dort die Nachricht, die Herzogin hätte einen Jäger auf’s Schlachtfeld geschickt, der dieselbe Nachricht brächte. Es schlug 12 Uhr, wir hörten nicht mehr die Kanonade. Welche bange Stille! In der Zeit war Sophie nicht müßig. Wir ließen Brot [225] und Fleisch aufkaufen, so viel wir bekommen konnten, Sophie ließ kochen und braten, Duguet mußte 50 Bouteillen Wein aus dem Keller holen. Man hatte uns diese Vorsicht gerathen, weil dies das Erste sei, wonach die Franzosen fragen, und man mich warnte, sie in den Keller zu lassen. Madame Ludekus that dasselbe. Um ein Uhr klopfte ein Freund ans Fenster und rief uns zu: »Sieg, vollkommener Sieg!« O, mein Gott! wir fielen einander in die Arme, wir wußten nicht wie uns war, aber auf mein Herz fiel eine unsägliche Angst, eine Ahnung von Unglück, wie ich sie einmal auch schon gehabt habe. Jetzt erst zitterte ich und schalt mich selbst darum. Wenig Minuten darauf entstand ein entsetzliches Geschrei auf den Straßen: »Die Franzosen kommen!« Hunderte von Menschen strömten nach dem nicht weit entfernten Markte. Wir machten erschrocken die Fenster auf, eine preußische Schildwache rief uns zu: »Es ist nichts, sie bringen Kriegsgefangene!« Wirklich sahen wir einige Kriegsgefangene verwundet vorbeibringen. Ich sah einen über und über mit Blut bedeckten Chasseur, den ein braver sächsischer Kürassier gegen die Insulten des Pöbels vertheidigte. Der Anblick jagte mich vom Fenster. Ich mußte aber doch wieder hin. Nun kamen Reiter, Sachsen und [226] Preußen, eine unzählige Menge Bagagewagen in wilder Unordnung, in voller Carriere gejagt. Nun war’s mit dem Hoffen vorbei; wir gaben einander stumm die Hände, und gingen hinauf in die Zimmer der Hofräthin, die eine Treppe hoch und folglich etwas sicherer uns dünkte. Noch kamen Freunde, die uns sagten, die Bagage der 20,000 Mann, die noch frisch im Lager ständen, hätte nur retiriren müssen, weil jene vorgerückt wären, und diese nicht ohne Schutz zurücklassen könnten. Andere sagten, es stände freilich nicht so gut als vorhin, aber noch wäre nichts verloren. Ach! aber es waren leidige Tröster, nicht mehr die frohen Gesichter von vorhin. Nun donnerten die Kanonen wieder, und näher und näher, fürchterlich nah. Conta war nach dem Schlosse gegangen und brachte die Nachricht, es wäre vorüber, die Wachen wären vor dem Schlosse und an den Thoren schon abgelöst. Wir sahen die Sachsen wieder traurig vorbeireiten. O, mein Arthur! die Erinnerung allein macht mich jetzt beben. Jetzt ras’ten die Kanonen, der Fußboden bebte, die Fenster klirrten. O, Gott, wie nahe war uns der Tod! Wir hörten keinen einzelnen Knall mehr, aber das durchdringende Pfeifen und Zischen und Knattern der Kugeln und Haubitzen, die über unser Haus und funfzig [227] Schritte davon in Häuser und in die Erde flogen, ohne Schaden zu thun, Gottes Engel schwebte über uns. In mein Herz kam plötzlich Ruhe und Freudigkeit, ich nahm meine Adele auf den Schooß und setzte mich mit ihr auf das Sopha, ich hoffte, eine Kugel sollte uns Beide tödten, wenigstens sollte Keine der Andern nachweinen. Nie war mir der Gedanke an den Tod gegenwärtiger, nie war er mir so wenig fürchterlich. Adele hatte sich den ganzen Tag, selbst in diesem schrecklichen Momente nicht aus der Fassung bringen lassen. Keine Thräne sah man, noch hörte man Angstgeschrei von ihr; immer ging sie neben mir, und wenn’s ihr zu viel ward, küßte sie mich und drückte mich an sich und bat mich, nicht in Angst zu sein. Auch jetzt war sie ganz still; aber ich fühlte die zarten Glieder wie von Fieberfrost beben, und hörte wie ihre Zähne an einander schlugen. Ich küßte sie, bat sie ruhig zu sein, wenn wir stürben, so stürben wir ja mit einander, und ihr Zittern legte sich und sie sah mir freundlich in die Augen. Ich war in der That damals weit ruhiger als ich es jetzt bin, da ich Dir die Schreckensscene erzähle. Gott gab mir großen Muth, wie mir es Noth darum war; die Ludekus war ganz gelassen, die arme Conta folgte unserm Beispiele und verbarg wenigstens [228] ihre Angst. So saßen wir; da schwiegen die Kanonen, aber nun hörten wir in den Straßen ein fürchterliches Musketenfeuer, einen dumpfen Lärm vom Markte her, und das Trappeln der fliehenden Preußen durch die Straßen. Jetzt wieder einige Minuten die fürchterliche Stille des Erwartens, da trat Conta’s jüngerer Bruder mit der Nachricht herein, sie wären da, er hätte die Generäle vor dem Schlosse absteigen sehen, sie sähen gar prächtig aus, voll Gold und Silber. Auf dem Markte lägen viele todte Preußen und Franzosen, übrigens verkauften sie schon erbeutete Pferde auf dem Markte etc. Da kam Sophie mit der Nachricht, wir hätten fünf Husaren im Quartier; sie schienen ganz artig, einer darunter war Sophiens Landsmann. Ihre Forderungen waren Essen, Wein, Fourage. Sie waren freilich etwas ungestüm; doch Conta und Sophie beschwichtigten sie, und wir gaben her was wir konnten. Die Einquartierung geht freilich nur den Hauswirth an, aber es wäre mir in dem Augenblicke unmöglich gewesen, das, was ich an Wein, Braten etc. hatte, nicht gern zu geben, um meiner mir sehr lieb gewordenen Ludekus zu helfen. Die Noth vertilgt jedes kleinliche Interesse und lehrt uns erst, wie nahe wir Alle einander verwandt sind. Jetzt athmeten wir wieder; wir glaubten [229] das Gräßlichste überstanden, ach! es sollte erst kommen. Es war beinahe acht Uhr; ich bestand darauf, daß wir uns ordentlich zu Tische setzten; einige Tassen Bouillon und einige Gläser Wein ausgenommen, hatte Keines von uns den ganzen Tag etwas genossen, und die verzehrende Angst dabei. Eben setzten wir uns zu Tische, da entstand ein Feuergeschrei, und hoch, wie der Montblanc, thürmte sich eine Feuersäule empor. Wir sahen wohl, daß es nicht ganz in unserer Nähe war, aber man rief: »Das Schloß brennt!« man rief: »Die Stadt wird an vier Ecken angezündet!« Lieber Arthur, thut Dir nicht das Herz um uns weh? O, mein Sohn, zu was für Schrecken bin ich geboren! Endlich erfuhren wir, es brenne weit von uns in der Vorstadt, wo viele kleine Häuser stehen, das Schloß wäre nicht in Gefahr. Es war stille, kein Wind wehte, wir vertrauten auf Gott und wurden ruhiger. Umsonst, neues Schrecken war uns nahe. Heulend und zitternd stürzten zwei Frauenzimmer, begleitet vom jüngern Conta, zu uns herein, sie waren aus ihrem Hause den Soldaten entflohen, man hatte ihnen Bajonette auf die Brust gesetzt, man drang in die Häuser, man plünderte. Erst konnten wir es nicht glauben, doch fühlten wir, daß wir uns nicht aus der [230] Fassung bringen lassen mußten. Ich und Madame Ludekus bedeuteten den Damen sehr ernstlich, daß sie, wenn wir sie da behalten sollten, ganz still in einer Ecke sitzen müßten, ohne auch nur durch Klagen und Schreien zu stören. Ich setzte die Tochter in einen Winkel, die Ludekus die Mutter in den andern, und die armen Seelen thaten, was wir wollten.

Unsere Husaren waren indeß von Sophien ganz gewonnen; die Gegenwart des Geistes, der Muth dieser Sophie ist unbeschreiblich; sie und Conta haben uns in dieser Schreckensnacht vor Uebeln gerettet, denen fast kein Anderer entgangen ist. Die Husaren ließen uns sagen, wir möchten kein Licht sehen lassen und die Thüren fest verschließen; eine Thür zu erbrechen, wäre bei Lebensstrafe verboten, obgleich die Soldaten, da sie keine Bagage mit sich führen durften, die Freiheit hatten, Essen und Trinken zu fordern. Aber in unserm armen Weimar war das Verbot aufgehoben, das wußten wir nicht. Kurz darauf drohte man, die Hausthür zu erbrechen. Sophie und Conta liefen hinunter und beredeten die wilden Menschen, Gott weiß wie, ans Fenster zu kommen. Sie forderten schnell Brot und Wein. Beides wurde ihnen zum Fenster hinausgereicht. [231] Sie wurden lustig, sangen und tranken Sophiens Gesundheit, die ihnen Bescheid thun mußte, und gingen weiter. So ging es verschiedene Male hinter einander. Wir hofften wieder, Alles wäre vorüber; mit einem Male rief einer unserer Leute, die Thür wäre erbrochen, sie wären im Hause. So war’s nicht, bloß die äußere Gartenthür war erbrochen, sie donnerten an die Hausthür und verlangten Einlaß, wenn sie die Thür nicht einschlagen sollten, ein Herr aus dem Hause hätte ihnen Einlaß versprochen. So war’s auch; der jüngere Conta hatte, da er die Frauenzimmer herbrachte, auf der Straße den kopflosen Einfall gehabt, um sie sich abzuwehren. Sophie und der ältere Conta gingen also hin; wir bereiteten uns darauf, sie ins Zimmer dringen zu sehen. Wir waren Alle in ein kleines Hinterstübchen zusammengedrängt, um kein Licht sehen zu lassen; Adelen hatte ich auf ein Bett gelegt, ich setzte mich darauf, meinen Beutel mit etlichen Thalern in der Hand. Nun hörten wir die wilden Stimmen unten: »Du pain, du vin, vîte, nous montons!« und Sophie und Conta hießen sie freundlich willkommen. Sophie sagte, sie hätte längst auf sie gewartet und für sie zugekocht, sie möchten nur still sein, damit der Officier, den wir [232] im Hause hätten, sie nicht höre; dann fragte sie, ob sie im Zimmer essen wollten; sie hätte jedoch den Schlüssel nicht zur Hand, aber hier auf der Diele wäre ja die schönste Gelegenheit, Tisch und Alles, und damit tischte sie ihnen Brot, Wein und Braten auf. Conta, der für ihren Mann passirte, that das Seine; die Wilden wurden wieder zahm, aßen, tranken und waren ganz fidel. Denk’ Dir dabei die gräßlichen Gesichter, die blutigen Säbel blank, die weißlichen mit Blut bespritzten Kittel, die sie bei solchen Gelegenheiten tragen, ihr wildes Gelächter und Gespräch, ihre Hände mit Blut gefärbt. Ich sah sie nur eine Augenblick von der Treppe, es waren zehn bis zwölf. Sophie, mitten drunter, scherzte und lachte. Einer faßte sie um den Leib; sie drehte sich schnell um und schüttelte ihm die blutige Hand, damit er ihren Gürtel nicht fühlen sollte. Duguet hatte sie fast mit Gewalt eingeschlossen; als Franzose riskirte er nichts, aber sie fürchtete seinen Rausch, der, wie Du weißt, von der schlimmsten Art ist, und den er bei der Abspannung aller Kräfte, da er den ganzen Tag nicht gegessen und viel gearbeitet hatte, leicht beim Zutrinken hätte bekommen können. Die Herren gefielen sich so wohl, daß sie gar nicht Miene machten, zu gehen; da holte Sophie [233] Adelen, die ganz niedlich mit ihnen sprach und sie bat, zu gehen, weil sie sehr schläfrig wäre, und die Unholde ließen sich von dem Kinde bereden und gingen; unsere beiden treuen Husaren waren mit dabei, die drei anderen schliefen im Vorderhause. Nun waren aber meine Kräfte so erschöpft, daß ich schlafen mußte, und wenn der Tod neben meinem Bette gestanden hätte. Zufällig war ich schon den Tag und den Tag vorher matt und nicht wohl gewesen. Unsere Thüren wurden wieder verrammelt; ich legte mich mit Adelen in den Kleidern aufs Bette; Sophie that ein Gleiches unten in ihrem Zimmer, dicht an meinem Zimmer schläft Conta. Dieser und alle die Uebrigen blieben wach; aber ich schlief sanft und ruhig vier Stunden lang. Das Feuer wüthete noch immer, kein Mensch durfte löschen. Wenige wagten aus ihren Häusern zu gehen; diejenigen, die es thaten, wurden von den Franzosen zurückgehalten. Die Herzogin hatte ihre Bedienten zum Feuer geschickt, man ließ sie nicht durch. Menschen wollten das arme Weimar verderben, Gott war barmherzig. Eine kleine Straße, dem herzoglichen Stallgebäude gegenüber, brannte unaufhaltsam; die Flamme schlug hoch in die Lüfte; nur etwas Wind, und das Schloß wäre in Brand [234] gerathen, und mit ihm wahrscheinlich die ganze Stadt. Aber kein Lüftchen regte sich, das Feuer brannte still fort bis an ein Eckhaus, dann sank es von selbst zusammen. Es hat bis an den folgenden Mittag gebrannt, und doch sind nur fünf Häuser zu Grunde gerichtet. Alles war von dem Feuer erleuchtet; ich sah die helle Flamme und mußte doch schlafen. Eine ähnliche Müdigkeit habe ich nie gefühlt. Die Nacht ging uns ziemlich ruhig hin. Es wurde verschiedentlich gepocht; da man aber nicht aufmachte und kein Licht zu sehen war, so ging man wieder. In der Stadt war entsetzliches Elend und in den Vorstädten. Die Esplanade liegt zwar nahe, aber doch nicht im Mittelpunkte der Stadt; dies und Sophiens und Conta’s Gegenwart des Geistes haben uns gerettet. Die Stadt ist förmlich der Plünderung preisgegeben; die Officiere und die Cavallerie blieben frei von den Gräueln, und thaten, was sie konnten, um zu schützen und zu helfen. Aber was konnten sie gegen 50,000 wüthende Menschen, die diese Nacht hier frei schalten und walten durften, da die ersten Anführer es, wenigstens negativ, erlaubten! Viele Häuser sind rein ausgeplündert; zuerst natürlich alle Laden; Wäsche, Silberzeug, Geld ward fortgebracht, die Möbeln, [235] und was sich nicht transportiren ließ, verdorben; dazu der gräßliche Witz dieser Nation, ihre wilden Lieder: Mangeons, buvons, jouons, brûlons tous les maisons! hörte man an allen Ecken. Ueberall liefen sie mit brennenden Lichtern umher, die sie dann in den erstes besten Winkel schleuderten. Es ist unbegreiflich, daß nicht Feuer an allen Ecken ausgekommen ist. Auf dem Markte hatten sie große Wachtfeuer angebrannt, um welche sie schwärmten, und Hühner, Gänse, Ochsen brateten und kochten. Im obern Theile des Parks bis an Ober-Weimar und das Webicht hin war ihr Lager, das heißt, die nicht einquartiert waren, bivouaquirten ohne Zelte bei großen Feuern. Der Park ist sehr verwüstet, die schönsten Bäume zum Feuer umgehauen, alle Gebäude darin, bis auf die kleinen Verhältnisse, wo das Gartengeräthe aufbewahrt wurde, sogar erbrochen und beschädigt worden. Die Wenigsten im Lager wußten, daß unten eine Stadt wäre; denn kamen die aus der Stadt mit Beute beladen ins Lager und erzählten, daß es unten eine ansehnliche Stadt gäbe, die ihnen preisgegeben wäre, so liefen fast Alle hinunter. Die Officiere waren außer sich darüber; aber sie durften sie nicht halten. Prinz Murat[WS 31] und viele Generale waren in der Stadt, [236] der Kaiser kam erst den folgenden Morgen. Viele Einwohner flüchteten aus den Häusern in Wald und Feld und sind zum Theil noch nicht wieder da. Hunderte hatten sich ins Schloß gerettet; auch in diesem ist man in die Silber- und Wäschkammer gedrungen und hat Manches daraus geraubt. Auch des Herzogs Gewehrkammer ist geplündert worden. Die Herzogin hat unbegreiflich vielen Muth gezeigt und uns Alle gerettet. Auch hat der Kaiser fast zwei Stunden mit ihr gesprochen, was noch keiner Fürstin widerfahren sein soll. Sie allein ist geblieben, während alle die Ihrigen entflohen. Wäre sie auch fortgegangen, so stände Weimar nicht mehr. Alles, was ins Schloß geflüchtet war, nahm sie auf und theilte mit ihnen, dadurch kam es denn, daß sie und Alle einen ganzen Tag nur Kartoffeln zu essen hatten. Alle, die um sie waren, versichern mich, daß die großherzige Frau sich immer ganz gleich blieb, und in ihrem ganzen Wesen fast kein Unterschied gegen sonst zu bemerken war. Alle, die ihre Häuser verließen, haben fast Alles verloren. Einige sind so glücklich gewesen, gleich Officiere ins Quartier zu bekommen, die ihnen etwas Schutz, oft mit eigener Lebensgefahr, gewährten. Am besten kamen diejenigen weg, die, wie wir, Muth genug hatten, [237] keine Angst zu zeigen, der Sprache und der französischen Sitte mächtig waren, darunter gehört Goethe, der die ganze Nacht in seinem Hause die Rolle spielen mußte, die bei mir Sophie und Conta spielten. Falk hat sich auch gut durchgeholfen, obgleich er schlecht französisch spricht, und so noch einige Andere. Dem Bergrath Kirsten, der bei uns im Vorderhause wohnt, haben wir durchgeholfen, denn bei ihm kann Niemand Französisch. Wieland hat, als Mitglied des National-Instituts, gleich vom General Denon eine Sauvegarde bekommen. Die Wittwe Herder[8], deren Logis ich jetzt bewohne, mußte ins Schloß flüchten; bei ihr ist Alles zerstört, und, was unersetzlich ist, alle nachgelassenen Manuscripte des großen Herder[WS 32], die sie mitzunehmen vergaß, sind zerrissen und zerstreut. Riedel’s haben nichts als die Möbeln behalten; Silberzeug, Gold, Wäsche, Kleider sind fort. Sie hatten auf meinen Rath die Sachen auf dem Boden versteckt. Wie das Feuer ausbrach, glaubten sie es sich sehr nahe, was es nicht war, und trugen sie in den Keller, der gleich zuerst erbrochen wurde. Die silberne Theemaschiene haben sie behalten, weil man sie nicht [238] für Silber hielt, und einen Leuchter, den ein Soldat aus Dankbarkeit für ein geschenktes Hemde dem Andern wieder abnahm. Kühn’s ist es fürchterlich ergangen. Ihr Haus liegt, wie Du weißt, in der Vorstadt, – wohl mir, daß ich es nicht kaufte! – Dort haben die Barbaren am tollsten gewirthschaftet. Kühn reiste Montag nach Hamburg, mußte aber wieder umkehren. Dienstag machte er sich doch, trotz der ganz nahen Gefahr, davon, und was aus ihm ward, weiß ich nicht. Frau und Kinder versteckten sich, noch ehe die Feinde hereindrangen, im Garten, in einem Loche unter der Erde, der Hauslehrer, ein Franzose, Perrin, blieb im Hause, machte sich aber, wie die Plünderung anging, und ihm blanke Säbel und Bajonette drohten, davon, nun ward Alles geraubt und die Möbeln in Stücke zerschlagen. Gegen Morgen wurden die Unglücklichen in ihrem Zufluchtsorte entdeckt, man wollte hineinschießen; sie kauften sich mit Allem, was sie an Geld und Kostbarkeiten bei sich hatten, los. Gegen Mittag kamen wieder Andere, die ihnen den Tod drohten. Endlich gegen Abend, nachdem sie 24 Stunden Todesangst ausgestanden hatten, sind sie herausgegangen, und jetzt im Hause des Kaufmanns Desport am Markte. So höre ich noch alle Tage [239] neue Gräuel erzählen. Professor Meyer[9] wollte in seinem Hause bleiben, aber die fliehenden Preußen ließen drei Pulverwagen dicht vor seinem Hause stehen, wovon einer ganz zerbrochen war, daß das Pulver umher lag. Meyer konnte also nicht bleiben; er eilte zu seinen Schwiegereltern, die nicht weit von Kühn’s wohnen. Auch hierher drangen die Unholde, raubten Alles, trieben zuletzt mit Gewalt die unglückliche Familie zum Hause hinaus, welche zusehen mußte, wie man ihre Habseligkeiten ordentlich auf Wagen lud und fortfuhr. Meyer’s Schwiegervater ist ein alter kränklicher, hypochondrischer Mann, der eine Casse zu verwalten hat und ängstlich Ordnung liebt. Goethe sagte mir nachher, er hätte nie ein größeres Bild des Jammers gesehen, als diesen Mann im leeren Zimmer, rund um ihn alle Papiere zerrissen und zerstreut. Er selbst saß auf der Erde, kalt und wie versteinert. Goethe sagte, er sah aus, wie König Lear, nur daß Lear toll war, und hier war die Welt toll. Ich habe Meyern und einigen Anderen mit den Hemden und anderer Wäsche Deines Vaters ausgeholfen, bis sie sich wieder welche anschaffen können; auch mit unserm [240] Weine habe ich schon manches traurige Herz erquickt. Den Verwundeten habe ich Erquickung ins Lazareth geschickt, die anderen Einwohner der Stadt können noch nicht daran denken, weil sie zu viel verloren haben; aber ich kann es, denn mir ist Alles geblieben. Sterbende haben mich gesegnet, das giebt mir wieder Freudigkeit, und der Segen wird auf uns ruhen. Des Abends versammeln sich meine Bekannten um mich her; ich gebe ihnen nur Thee, aber mein heiterer Sinn ist mir geblieben, und Mancher, der traurig kam, geht erheitert fort; die gute Ludekus steht mir immer bei.

Alles dies geschah, während ich schlief. Gegen 6 Uhr wurde ich geweckt, weil die Feuersgefahr sich zu nähern schien; doch diese Besorgniß legte sich bald; ich sah auf der Straße einzelne mit Beute beladene Soldaten; ich glaubte, die Unordnung wäre vorüber, man sagte, die Truppen sollten weiter marschiren: da erhob sich das wüste Geschrei von neuem. Unser ehrlicher Husar brachte eine gestern bei all dem Unglück entbundene junge Wöchnerin, ihren Mann, den Säugling und noch zwei Kinder und eine Magd, er bat um Gotteswillen, wir möchten die armen Leute aufnehmen; die Barbaren hatten sie ausgeplündert und auf die Straße geworfen. [241] Die junge Frau hatte die Gelassenheit und das Gesicht eines Engels; still setzte sie sich hin und säugte ihr Kind; ohne Klagen sprach sie von ihrem Schicksale und voll Vertrauen auf Gott mit einer so anspruchslosen Art, es ging mir durchs Herz. Ich fiel ihr um den Hals und küßte sie so herzlich, wie ich nie eine Frau geküßt habe; ich hätte ihr die Hand küssen mögen, sie flößte mir so viel Ehrfurcht ein. »Sehen Sie,« sagte sie, »ist das denn nicht schön, daß eine so gute Frau Theil an meinem Schicksale nimmt, und muß mich das nicht trösten?« Ich habe mich nachher nach den Leuten erkundigt, sie haben doch nicht Alles verloren; Gold und Silber hat man nicht gefunden; Mutter und Kind sind gesund geblieben; der Mann heißt Facius[10], ist ein sehr geschickter Steinschneider, und hat für die ganze Gegend weit und breit zu thun, er wird sich also bald wieder aufhelfen. Nun war unser Zimmer ganz voll; diese Leute, die alte Madame Jagemann mit ihrer Tochter von gestern Abend, dazu die Forstmeisterin Wilhelmi, die aus der Gegend von Erfurt sich hierher geflüchtet und bei Riedel’s logirt hatte. [242] Riedel’s waren eben des Feuers wegen, das noch immer ruhig brannte, ins Schloß geflüchtet, und sie erzählten uns, welche Gräuel dort geschehen wären, und wie diese noch immer fort währten. Nun hörten wir am Thorwege vom Vorderhause stark klopfen. Ich sah aus dem Fenster, sah das Thor in tausend Stücken brechen und zehn bis zwölf wüthende Menschen mit gefälltem Bajonette in den Hof stürzen. Guter Gott, welch ein Anblick! Doch faßte ich mich; wir rangirten uns im Zimmer, die Heulenden wurden zur Ruhe verwiesen; ich stellte mich vor Adelen, wieder den Geldbeutel in der Hand; Sophie und Conta eilten hinunter. Krach! fiel die Thür unten, die den Gang nach meinem Zimmer verschließt. Die Bajonette haben auf Conta’s Brust gestanden, und doch gelang es ihm und Sophien, die Menschen mit Wein, Brot und freundlichen Worten hinauszubringen. Jetzt verlangte der Husar mich zu sprechen, er hatte mich noch nicht gesehen. Ich flog zu ihm, gab ihm die Hand. Er sagte, er wäre der Ehre nicht werth, er wäre nur ein Bauer; aber doch hätten seine Hände nie solche Gräuel besudelt, und so gab er mir die Hand. Ich bot ihm Geld an, er wollte es durchaus nicht nehmen; doch nahm er einen Speciesthaler am Ende. [243] In der Hitze des Gesprächs zog ich meine goldene Dose heraus, er sah sie bedeutend an. »Si vous la demandez, il faut que je vous la donne,« sagte ich. Das erschütterte den großen schnurrbärtigen Menschen fast bis zu Thränen; aber um eine Prise aus der schönen Dose bat er mich. Nun rieth er mir, bei einem General um eine Sauvegarde anzuhalten, und sagte mir dabei, die Plünderung hätte nun ein Ende, die Infanterie, die einzige, die sich deren schuldig gemacht hätte, müßte nun fort; einen der Plünderer hätte eben ein Officier vor seinen Augen auf der Straße zusammengehauen, zwei würden eben im Lager füsilirt. Niemand von uns konnte zum General gehen; Conta mußte im Hause bleiben, also faßte ich meinen Husaren unter den Arm, Adelen an der Hand, und so hin aufs Schloß zum Prinzen Murat. Welch ein Gang! überall die Spuren der gestrigen Nacht; Todte, Verwundete auf der Straße; gefangene Preußen im Park vor dem Schloßplatze, wo sie noch vorgestern stolzirten; wilde, blutige Menschen, die ich nicht Soldaten nennen kann, in weißen, zerrissenen Kitteln; Mord und Tod im Gesicht, die alle Augenblicke meinen Husaren als Camarade anredeten, dazwischen die Musik, Pferde, Reiter; ein unendliches Gewühl! Beim [244] Prinzen wurde ich nicht vorgelassen; er hatte sich eingeschlossen und ließ Niemanden vor. Ich ging zu Hause, schrieb ihm, wer ich wäre, forderte seine Menschlichkeit auf, schickte ihm meinen von Bourienne[WS 33] unterzeichneten Paß, bat, diesen zu unterzeichnen, mir zu sagen, wohin ich gehen könnte, und bat um eine Sauvegarde. Dies schickte ich gleich durch meinen Husaren hin; der Prinz sprach ihn selbst, unterzeichnete meinen Paß, pour se rendre en France, schrieb dabei einen Befehl an alle Militär- und Civilbehörden, mich zu schützen, und ließ mir sagen, ich sollte ruhig sein, als Fremde brauche ich keine Sauvegarde, überdies hätten die Unordnungen ein Ende. Aber es war nicht so, es drangen aufs neue Soldaten bei uns ein. Zum Glück kam im nämlichen Momente ein Dragoner-Officier, der zu Essen verlangte; dieser vertrieb sie mit leichter Mühe. So wie ich davon hörte, ließ ich ihn in eines meiner Zimmer führen, und eilte zu ihm und bat ihn um Schutz. Es war ein freundlicher, nicht mehr junger Mann, meine Lage ging ihm zu Herzen. Er versicherte mich, daß alle Officiere über die Art, mit der Weimar behandelt worden wäre, empört wären; aber die Armee reiste ohne alles Gepäck, und wenn die Leute müde und hungrig, vollends nach einer [245] Schlacht, ankämen, müßte man ihnen erlauben, Brot und Wein zu fordern. Was aber übrigens hier geschehen wäre, wäre freilich entsetzlich; jetzt hätte dies aber ein Ende. Indessen, indem wir so sprachen, mußte er doch noch uns und unsern Nachbar, dem eben die Fenster eingeworfen wurden, vertheidigen. Nach zwei Stunden wollte er fort, seine Ehre hing daran; er hatte bis morgen einen bestimmten Weg zu machen; aber ich strengte alle meine Beredsamkeit an, und so gelang es mir, ihn zu bewegen, daß er mir versprach, bis 2 Uhr des Morgens zu bleiben, wenn er keinen Officier fände, der seine Stelle ersetzte. Er ging ins Vorderhaus, danach auszusehen, und brachte mir glücklich einen Commissaire des Guerres des Generals Berthier[WS 34]. Nun waren wir aus der Noth. Oben war kein Platz, ich räumte ihm also gleich mein bestes Zimmer, das ich zum Staatszimmer bestimmt hatte, ein und übernahm es, die Officiere an meinen Tisch zu nehmen, was meine gute Ludekus, umringt von Allen, die zu ihr geflüchtet waren, nicht konnte. Der Dragoner ritt gleich nach Tische fort, Mr. Denier blieb. Einen artigeren, gebildeteren und dabei hübscheren Franzosen habe ich nicht leicht gesehen. Mein Tisch war alle diese Tage sehr schlecht bestellt; es war eben [246] keine Theuerung, aber eine so große Seltenheit an Lebensmitteln, besonders Brot, entstanden, daß man allgemein Hungersnoth befürchtete. Der gute Denier nahm an unserm Unglück Theil, als ob es ihn selbst betroffen hätte. Mit feiner Schonung machte er es so, daß sein Freund beim General Berthier aß, er selbst aber blieb zu Hause; und wenn er ausging, bat er mich um Erlaubniß und sagte mir, wohin er ginge und wann er wiederkommen würde, seine Leute mußten dann Schildwache halten. Den ganzen Tag mußte er uns noch oft die Plünderer abwehren, dafür mußte ich mir gefallen lassen, daß mir den Abend wenigstens zehn Officiere vorgestellt wurden, die bei mir Thee tranken und himmlisch vergnügt waren, wieder einmal ein hübsches Zimmer, reine Tassen und ein französisches Haus zu sehen, denn dafür hielten sie mich wegen meiner Bedienung und Adelen, die wirklich jetzt nach all dem Schrecken ganz allerliebst war. Ich that indessen doch etwas Gutes, ich schrieb allen Officieren, die mir vorkamen, die Namen von Loder, Schütz, Froriep und Reichard in Halle auf und bat sie, diese Häuser, wenn sie hinkämen, zu schützen. Alle gaben mir ihr Ehrenwort darauf und versprachen freiwillig, auch ihren Freunden diese Namen zu geben. Halle ist [247] seitdem mit Sturm genommen; man hatte die Thore geschlossen, um den Preußen die Flucht zu erleichtern; vielleicht hat meine Fürbitte etwas geholfen, diese Leute zu schützen, die mir so freundlich entgegengekommen sind. Man hat in Halle gehaust wie hier; auch Jena ist fürchterlich behandelt worden. Funfzehn Häuser sind abgebrannt; Frommann’s und Farrenkrüger sind indessen ziemlich gut davon gekommen. Dr. Stark wird gezwungen, da zu bleiben, um die Lazarethe zu besorgen. Die schönen Weiden in dem herrlichen Thale sind umgehauen, und sie wollten hernach nicht brennen, also umsonst. In welchen Zeiten leben wir! Ja wohl the times are out of flight. – Der folgende Tag, der 16. October, verging eben so. Wir wurden ruhiger, wenn das Ruhe heißen kann, wenn man es nicht wagt, sich des Abends auszukleiden; wenn man bei jedem Geräusch, jedem Pferde oder Wagen, der vorbeifährt, jeder lauten Stimme auf der Straße ängstlich zusammenschreckt, in dieser Stimmung sind wir auch lange geblieben, noch viele, viele Tage. Meine Gesundheit hat nicht merklich gelitten; ich bin aber so mager geworden, daß alle meine Kleider, die mir früher zu enge wurden, jetzt viel zu weit sind. Doch das Unglück ist nicht groß; Ruhe wird das Verlorene [248] bald wieder ersetzen. – Den 17. October, des Morgens, verließ mich mein Beschützer Denier, nachdem er Vorkehrungen getroffen hatte, zu verhindern, daß wir wieder mit Einquartierung belästigt würden. Wenige Zeit darauf marschirte das Regiment des Marschalls Augereau[WS 35] hier ein; gerade diese waren den 14ten und 15ten nebst Anderen unsere Peiniger gewesen. Dies bewog uns doch wieder, um einen Officier zu bitten. Wir bekamen zwei, einen aus der Picardie, den andern aus der Normandie. Sie mögen brave Leute gewesen sein; allein man sah ihnen ihr schreckliches Handwerk zu deutlich an. Diesen Tag mußte ich schon mit ihnen zubringen. Mir kam es bisweilen vor, als ob ich holländische Schiffer bei mir hätte; der Abstand zwischen der Cavallerie und Infanterie in der französischen Armee ist ungeheuer. Die ersteren tragen alle das Gepräge der Cultur bis auf den gemeinen Husaren herab, die letzteren sind ein wildes Volk, abgehärtet für Alles. Glücklicherweise ward ich diesen Abend ganz heiser, so daß ich zuletzt keinen hörbaren Laut hervorbringen konnte, dies entschuldigte mich den folgenden Tag, nicht zu erscheinen. Die Herren ließen sich’s auch ohne mich wohl sein. Ich habe dieses Uebel schon vor sieben Jahren [249] in Danzig gehabt, obgleich weniger heftig. Mein Schwager warnte mich damals, es zu vernachlässigen. Den 18ten war ich fast stumm, und nahm, da Hausmittel nicht halfen, meine Zuflucht zum Arzt, es war kein anderer da, als Dr. Huschke[11]; er hat mich aber innerhalb zwei Tagen ganz wieder hergestellt. Ich litt unbeschreiblich dabei, daß das Regiment alle Tage drei Mal vor unserm Hause versammelt, und jeder Soldat mit Namen einzeln aufgerufen wurde. Der Ordnung wegen war das recht gut; allein ich sah wieder die fürchterlichen Gesichter, die weiten, schmutzigweißen Mäntel, die sie über die Uniform werfen, und die die Spuren der Schlacht und aller verübten Gräuel an sich trugen; so waren sie auch in jener Schreckenszeit. – Den 18. October wurde der preußische General v. Schmettau[WS 36] hier feierlich mit allem militairischen Prunk begraben. Nach dem Begräbniß versammelte sich das Regiment wieder auf der Esplanade, die Musik spielte Opern-Arien, und die wilden Menschen tanzten und tobten lustig umher, bis sie ins Quartier mußten.

Endlich zogen sie den 19ten fort; wir behielten [250] den General Denzel mit einem kleinen Corps zum Schutze. Er ist ein Deutscher, und hat sich seitdem sehr menschlich und brav gegen uns benommen. Seine genaue Kenntniß aller Wege, da er früher in Jena studirte, ist der Armee sehr zu Statten gekommen. Wie konnte er aber dazu helfen, das Paradies[12] zu verwüsten, er, der doch gewiß seine schönsten Tage darin verlebte? – Der General von Schmettau, der hier begraben wurde, war schwer verwundet hier eingebracht. Man kündigte ihm an, daß er in vier Tagen nach Paris transportirt würde. In einem einsamen Augenblicke stürzte er sich aus dem Fenster, und starb wenige Stunden darauf. Seitdem wurden wir wegen der Menge Verwundeter, die in Lazarethen, Gasthöfen, im Komödienhause auf einander gehäuft lagen, ohne Pflege, Ordnung und Reinlichkeit, und wegen der großen Anzahl unbegrabener Todten, die bis vor’s Schloß herum lagen, aufs Neue in Angst gesetzt, man fürchtete ansteckende Krankheiten. Allmälig wird auch hierein Ordnung gebracht, die Todten werden in große, mit Kalk ausgefüllte Gruben, die von der Stadt entfernt liegen, begraben. Diejenigen, [251] welche in der Schlacht fielen, sind Alle schon begraben. Die Todten aus den Lazarethen werden nun auch gleich fortgeschafft, und liegen nicht mehr, wie anfangs, hoch auf einander gethürmt, Tage lang auf der offenen Straße. Von diesen Gräueln des Kriegs hat man nur einen Begriff, wenn man sie, wie ich, in der Nähe sieht. Ich könnte Dir Dinge erzählen, wovor Dir das Haar emporsträuben würde; allein ich will es nicht thun, denn ich weiß ohnehin, wie gern Du über das Elend der Menschen brütest. Du kennst es noch nicht, mein Sohn; Alles, was wir zusammen sahen, ist nichts gegen diesen Abgrund des Jammers. – Was mich bei dem Anblick alles Entsetzlichen, was man sich denken kann, noch hier hielt, ist, daß ich half, wo ich konnte, um den Jammer zu lindern. Mein Landsmann Falk gab mir die Wege an, und so habe ich mich einer Stube im Alexanderhofe, in der an dreißig Verwundete, meistens Preußen, lagen, angenommen. Ich schickte ihnen Leinwand zum Verbinden, Wein, Thee, welcher letztere erst bei mir in einem großen Kessel gekocht wurde, Suppe, einige Bouteillen Madera, wovon jeder nur ein kleines Glas bekam, und doch über dieses Labsal in lauten Jubel ausbrach und mich segnete, Brot und was [252] ich konnte; Sophie und Duguet vertheilten es selbst, denn dem harten Inspector konnte man nichts vertrauen. Es war im Ganzen wenig, und half doch viel, besonders da ich die Erste war; ich rettete die Armen vor dem Unglück, an Gott und Menschen zu verzweifeln. Goethe und Andere haben davon gehört, und sind meinem Beispiele gefolgt. Was mich am meisten freut, ist eine Quantität Aepfel, die ich wohlfeil kaufte, und dann unter eine Menge Verwundeter austheilte, welche ohne alle Erquickung vor dem Komödienhause lagen und nach etwas Kühlendem seufzten. Auch zu dieser guten Idee verhalf mir Falk. Unendlich freuten sich die Verwundeten über diese Erquickung. Die meisten meiner Pfleglinge sind jetzt todt; ihre Stellen werden schnell ersetzt; alle Abende kommen wenigstens 300 Verwundete aus Naumburg und anderen Orten hier an, jeden Morgen schafft man eine noch größere Anzahl weiter nach Erfurt. Wie hartherzig macht das Unglück! Ich freue mich jetzt, wenn ich höre, daß vier, fünf bis sechs mit ihren ganz zerschmetterten Gebeinen weiter gefahren werden, ich, die noch vor wenig Wochen den Jungen, der vor unserm Hause den Arm brach, um keinen Preis ohne Hülfe fortgelassen hätte! Wir hoffen, daß in wenig Wochen das [253] ganze Lazareth fortgeschafft werden soll. Der Tod hilft uns fürchterlich. Falk ist als Dolmetscher beim jetzigen Commandanten angestellt; Denzel ist fort; der jetzige kann nicht Deutsch, zeigt aber fast noch mehr Eifer, der Stadt zu helfen. Er hat alle Soldaten, die noch hier im Quartier liegen, entwaffnet, und hält die strengste Mannszucht. Wie wunderbar spielt das Schicksal mit uns! Dieser Falk lebt jetzt mitten unter den Menschen, vor denen ich ihn vor vierzehn Tagen retten sollte und wollte, und dient ihnen. Für die Sicherheit der Stadt ist aufs Beste gesorgt. Der französische Commandant thut das Seine, und alle Nächte patrouilliren sechzig unserer Bürger, ohne Ansehen des Ranges und der Person, um für die Sicherheit der Stadt zu sorgen. Wir fürchten die Franzosen wenig mehr, aber wir fürchten die Einwohner der benachbarten Gegend, welche an den Bettelstab und zur Verzweiflung gebracht sind. Wir erwarten den Herzog, der, wie es heißt, bald zurückkommen wird, dann sind wir sicher, und die wohlthätige Zeit wird unsere Wunden heilen. Ohne die Herzogin, die standhaft dablieb, wären wir Alle verloren gewesen; das Schloß wäre verbrannt und die Stadt an allen Ecken angezündet worden, glühende Kugeln waren bereit; nur auf die [254] Nachricht, daß sie noch da wäre, blieben wir verschont, das weiß man jetzt mit Gewißheit. Es ist unbegreiflich, wie man dem größten Unglück entgangen ist; Gottes Engel wachte über uns. Noch heute sagte mir Goethe, daß man in seinem Hause überall zerstreutes Pulver und gefüllte Patronen gefunden hat. In einem Hause ihm gegenüber ist förmlich Feuer angelegt und nur durch Zufall entdeckt und ausgelöscht worden. Ueberall lag Pulver und Patronen, überall standen Pulverwagen, überall lief man mit brennenden Lichtern umher, und Gott erhielt uns doch. Meine Existenz wird hier angenehm werden; man hat mich in zehn Tagen besser, als sonst vielleicht in zehn Jahren kennen gelernt. Goethe sagte heute, ich wäre durch die Feuertaufe zur Weimaranerin geworden. Wohl hat er recht. Er sagte mir, jetzt, da der Winter trüber als sonst heranrücke, müssen wir auch zusammenrücken, um einander die trüben Tage wechselseitig zu erheitern. Was ich thun kann, um mich froh und muthig zu erhalten, thue ich. Alle Abende, so lange diese Tage des Trübsals währen, versammeln sich meine Bekannten um mich her, ich gebe ihnen Thee und Butterbrot im strengsten Verstande des Wortes. Es wird kein Licht mehr als gewöhnlich angezündet, [255] und doch kommen sie immer wieder, und ihnen ist wohl bei mir; Meyer’s, Fernow, Goethe bisweilen, sind darunter. Viele, die ich noch nicht kenne, wünschen bei mir eingeführt zu werden. Wieland hat mich heute um die Erlaubniß bitten lassen, mich dieser Tage auch besuchen zu dürfen. Alles, was ich sonst wünschte, findet sich so von selbst; und ich verdanke es bloß dem Glücke, daß meine Zimmer unversehrt blieben, und daß ich Gelegenheit fand, mich zu zeigen, wie ich bin, daß meine Heiterkeit ungetrübt blieb, weil ich von Tausenden die Einzige bin, die keinen herben Verlust zu beweinen hat, und nur das allgemeine Leiden, kein eigenes, mein Herz preßt. Ich fühle es wohl, wie egoistisch alles dieses klingt, und dies ist eben die entsetzlichste Seite des allgemeinen Unglücks, daß es auch die Besseren unter uns zu diesem Egoismus herunterstimmen kann. – Lebe wohl, Bester, ich wünsche Dir Geduld, diesen unendlich langen Brief zu lesen; aber ich konnte mich nicht kürzer fassen, wenn ich Alles erzählen wollte, und das mußte ich doch. Theile ihn meinen Freundinnen, Madame Bregard und Madame Pistorius, mit, ich weiß, mein Schicksal interessirt sie, und es ist mir unmöglich, alles dies mehr als einmal zu schreiben. Sage Beiden, daß ich [256] schreiben werde, sobald ich kann; ich habe aber noch viele höchst nöthige Briefe nach Danzig zu schreiben, und bin noch immer nicht in der rechten Fassung zu einer anhaltenden Beschäftigung. Auch dieses habe ich nur in abgerissenen Viertelstunden zusammengeschrieben, wie Du leicht sehen wirst. Erzähle Herrn Böhl, was ich Dir geschrieben habe, oder laß es ihm lesen, wenn er die Geduld dazu hat, woran ich zweifle, da meine Handschrift so klein und unleserlich ist, sage ihm, daß ich oft seiner und der Madame Böhl gedacht habe, und ihrer Freundschaft für mich; sie sind Beide meine ältesten Freunde in Hamburg; ich werde auch ihnen nächstens schreiben. Wenn Du mit dem Briefe fertig bist, so schicke ihn Julchen nach Danzig, denn auch dorthin kann ich dies Alles nicht noch einmal schreiben, und ich muß ohnehin über Hamburg nach Danzig schreiben. Adieu! Sei meinetwegen umbesorgt, der Horizont wird täglich heller. Ich wünschte, Du könntest Tischbein meinen Gruß bringen und ihm sagen, daß ich noch lebe und für seine Empfehlung herzlich dankbar bin. – Goethe hat nichts verloren, Prof. Meyer Alles, auch seine Zeichnungen, nur nicht seine Schriften und seine gute Laune. Herder’s nachgelassene Manuscripte sind unwiederbringlich verloren.




[257] Diesen äußern Stürmen folgte eine schöne Zeit! Ich möchte sie fast einen zweiten Geistesfrühling meiner Mutter nennen, denn der Himmel gewährte ihr während derselben, was er sonst nur der Frische der Jugend zu geben pflegt. Mit dem wärmsten, sorglosesten Gefühle blickte sie in eine ihr bis dahin unbekannt gebliebene und doch längst geahnete neue Welt; überrascht von der plötzlich sich entfaltenden Kraft ihrer Fähigkeiten, von ihrem bis dahin schlummernden Talent mit einem Male gehoben, genoß sie mit sich täglich erneuender Freude den Umgang der ausgezeichnetsten Männer, die damals Weimar theils als ihm angehörig in sich schloß, theils durch dieselben aus entfernteren Gegenden Deutschlands an sich zog. Sie gefiel und that gemüthlich wohl. Sie war wohlhabend genug geblieben um bequem leben und den reichen Kreis dieser Freunde fast täglich um sich herziehen zu können. Ihr anspruchloser und doch erregender Umgang machte ihr Haus zum Mittelpunkt des geistig geselligen Treibens, in dem Jeder sich selbst heimisch und behaglich empfand, und unbefangen das Beste darbot, was er zu geben vermochte. Sie selbst nennt in dem Schema zu ihren Memoiren einen Theil der interessantesten Menschen, die sie damals um sich sah, zahllose Andere führte [258] die Zeit vorüber, und lange, lange Jahre hindurch blieb, trotz allen äußern Veränderungen, ein Nachschimmer jener Tage, wie ein später Sonnenstrahl, auf unserm Hause ruhen.

Unter Allen trat ihr Fernow am nächsten. Er ward ihr Freund und ihr Lehrer, ordnete ihre ungeregelten, oft mangelhaften Kenntnisse, lehrte sie die Antike verstehen, die ihr früher ganz fern lag, und gab besonders ihrem, durch den Maler Augustin technisch längst entwickelten Talent zur Malerei, die Basis der Kunstkenntnisse, welche ihr später die Herausgabe einiger in dies Fach schlagender Schriften möglich machten. Fernow war ein edler, ein völlig ausgebildeter, am Leben selbst zu großer Tüchtigkeit gereifter Mann, und wandte ihr eine sehr ernste Neigung zu. Er ist durch seine, von ihr geschriebene Biographie bekannt, was sie für ihn zu thun durch sein Leiden veranlaßt ward, aber nicht mit welcher Zartheit er Alles, was in seiner Macht stand, für sie that, ich möchte sagen, es sei von ihm aus jeder Halt und jeder Schmuck ihres spätern Lebens ausgegangen, und sein Geist habe in jeder bedeutenden Stunde desselben auf sie rückgewirkt, wie in ihrer früheren Jugend Jamesons Andenken.

Nach seinem Tode machten pecuniaire Schwierigkeiten [259] den Verkauf seiner sehr bedeutenden Bibliothek nothwendig. Der Durchlauchtigste Großherzog Carl August[WS 37] gewährte für die Einverleibung derselben in die Weimarische Bibliothek den hinterlassenen Söhnen Fernows ein Erziehungsgeld bis zum zwanzigsten Jahre; ehe aber dieses Geschäft zu schließen möglich ward, mußte eine beträchtliche Forderung Heinrich Cotta’s[WS 38] auf dieselbe befriedigt werden. Es ist mir noch unerklärlich wie es möglich war, daß Cotta meiner Mutter den Vorschlag machte, aus den vorgefundenen Materialien die Biographie Fernows zu entwerfen, denn bis zu jenem Augenblick hatte sie nie eine Zeile für den Druck geschrieben – für dies Buch erbot er sich den Erben seine große Forderung gänzlich zu erlassen. Meiner Mutter Herz konnte keinen Augenblick anstehen zu gewähren, was man auf so edele Weise von ihr forderte; doch geschah es nicht ohne Schüchternheit, denn sie selbst ahnete kaum ihr Talent.

Das Werk fand großen Beifall – und so hatte der Freund ihres Lebens, unbewußt nach seinem Tode, eine Bahn des regsten Strebens ihr eröffnet – meine Mutter war mit einem Male Schriftstellerin, und nach wenig Jahren eine der beliebtesten Schriftstellerinnen Deutschlands geworden.

[260] Gerhard von Kügelgens Neigung war das zweite bedeutende Erbtheil, das Fernow seiner Freundin hinterließ. Beide so gänzlich verschiedene Männer waren seit langen Jahren durch die innigste Freundschaft verbunden, Beide ergänzten einander so sehr, waren sich so geistig nothwendig, daß man behaupten könnte, Gerhard von Kügelgens Kunst habe nach Fernows Tode eine neue Richtung genommen. – Die Nachricht des hoffnungslosen Zustandes seines Freundes trieb Kügelgen nach Weimar, er erreichte es am Begräbnißtage. – Von da an übertrug er seine Neigung auf meine Mutter, von deren inniger Anhänglichkeit die folgenden Blätter und die Recension über Hassens Lebensbeschreibung Gerhard von Kügelgens zeugen mögen.

Meines Wissens ist diese Recension die einzige, die meine Mutter je geschrieben. Dem Herausgeber derselben giebt sie das unumstößliche Zeugniß der großen Wahrheit seiner Darstellung; zu gleicher Zeit aber spricht sich meine Mutter in derselben indirect über Selbstbiographien auf eine Weise aus, die ich für Alles, was sie und ich von ihr Selbst in diesem Buche gesagt, geltend machen möchte. Denn ihrer bestimmten Ansicht bin ich streng gefolgt, indem ich von ihren Lebenserfahrungen nur die berührte, die [261] auf ihr öffentliches Auftreten in der Welt Bezug hatten. Ihre übrigen Verhältnisse standen von dem Allen gesondert und haben eigentlich um so weniger Einfluß auf ihre literarische Laufbahn gehabt, als sie dieselbe in schon ziemlich vorgerücktem Alter betrat. Nach Fernows Verlust hat zwar noch mancher freundschaftliche Umgang erfreulich oder betrübend, doch nie mehr entwickelnd auf sie eingewirkt, auch hat von allen späteren Erlebnissen keines so bedeutenden Einfluß gewonnen, daß es ihre gereifte Kraft zu überbieten vermocht hätte.

Wir verließen Weimar im Jahre neun und zwanzig, ruhig besonnen uns den äußern Umständen fügend, wir kehrten, des schönen Rheinlandes dankbar gedenkend, dahin zurück, als diese Umstände und das hohe Alter meiner Mutter, das ihr große Geselligkeit beschwerlich, und Altgewohntes behaglicher machte, uns dazu veranlaßten.

Der Stempel der Wahrheit und Lebendigkeit der Auffassung, den das Publikum mit so großer Güte all ihren Schriften der Art aufgedrückt gefunden, schien mir auch den im Jahre funfzehn geschriebenen Scenen aus Karlsbad nicht zu fehlen. Der ihnen folgende Brief deutet das rasche Fortschreiten der äußern Lebensbedingungen hinlänglich an, um jetzt [262] abermals neue Veränderungen voraussetzen zu lassen. Indessen bleiben sich Gegend und Badeleben im Allgemeinen noch immer so gleich, daß ich hoffen durfte, man werde diese Schilderung mit gewohnter Theilnahme aufnehmen. Mögte sie dem Leser und den noch lebenden Freunden das heitere Bild der Reisenden zurückrufen, die jetzt von ihrer langen schönen Wanderung ausruht!

Fußnoten der Vorlage

  1. Ein französischer Bedienter der Verfasserin.
  2. Der bekannte Satyriker.
  3. Nachheriger Kammerdirector, Erzieher des jetzigen Großherzogs.
  4. Ein vieljähriger Freund der Verfasserin, jetzt Vicepräsident zu Weimar.
  5. Duguet’s Frau.
  6. An der ehemaligen Landstraße, die Schnecke genannt.
  7. Als Schriftstellerin unter dem Namen »Amalie Berg« bekannt.
  8. Wittwe des verstorbenen Leibarztes, Herder’s Sohn.
  9. Der bekannte Kunstkenner, Goethe’s Freund.
  10. Das damals geborne Kind ist die jetzt als Künstlerin rühmlich bekannte Angelica Bellona Facius.
  11. Leibarzt des Großherzogs.
  12. Eine sehr schöne Wiese mit Alleen bei Jena.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Louis-Sébastien Mercier (* 6. Juni 1740; † 25. April 1814)
  2. Vorlage: theathralischen
  3. Marie de Vichy Chamrond (* 1697; † 23. September 1780), bekannt als Marquise du Deffand
  4. Julie de Lespinasse (* 10. November 1732; † 22. Mai 1776)
  5. Marie Thérèse Rodet Geoffrin (* 2. Juni 1699; 6. Oktober 1777)
  6. Molière (eigentlich Jean-Baptiste Poquelin; * vermutlich am 14. Januar 1622; † 17. Februar 1673)
  7. Armande Béjart (* 1642; † 1700)
  8. François-Michel Le Tellier, marquis de Louvois (* 18. Januar 1641; † 16. Juli 1691)
  9. Ludwig XVI. (* 23. August 1754; † 21. Januar 1793)
  10. Ludwig XV. (* 15. Februar 1710; † 10. Mai 1774)
  11. venezianische Prachtgaleere
  12. Heinrich IV. (* 13. Dezember 1553; † 14. Mai 1610)
  13. Gabrielle d’Estrées (* 1570; † 10. April 1599)
  14. François Ravaillac (* 1578; † 27. Mai 1610) – Mörder Heinrichs IV.
  15. Maria von Medici (* 26. April 1573; † 3. Juli 1642)
  16. Karl IX. (* 27. Juni 1550; † 30. Mai 1574)
  17. Napoléon Bonaparte (* 15. August 1769; † 5. Mai 1821)
  18. Raffael (* vermutlich am 6. April 1483; † 6. April 1520)
  19. Benjamin Thompson Reichsgraf von Rumford (* 26. März 1753; † 21. August 1814)
  20. Jean Racine (* 21. (?) oder 22. Dezember 1639; † 21. April 1699)
  21. Gaspard II. de Coligny, seigneur de Châtillon (* 16. Februar 1519; † 24. August 1572)
  22. Roch-Ambroise Cucurron Sicard (* 19. September oder 20. September 1742; † 10. Mai 1822)
  23. Jean Massieu
  24. Charles-Michel de l'Epée (* 25. November 1712; † 23. Dezember 1789)
  25. Johann Heinrich Pestalozzi (* 12. Januar 1746; † 17. Februar 1827)
  26. Giotto di Bondone (* 1267 (?); † 8. Januar 1337)
  27. Giorgio Vasari (* 30. Juli 1511; † 27. Juni 1574)
  28. Louis Ferdinand von Preußen (* 18. November 1772; † 10. Oktober 1806 in Wöhlsdorf bei Saalfeld)
  29. Johannes Daniel Falk (* 28. Oktober 1768; † 14. Februar 1826)
  30. Johann Philipp Palm (* 18. November 1766; † 26. August 1806) wurde wegen der Veröffentlichung des gegen Napoleon gerichteten Pamphlets „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ hingerichtet
  31. Joachim Murat (* 25. März 1767; † 13. Oktober 1815)
  32. Johann Gottfried Herder (* 25. August 1744; † 18. Dezember 1803)
  33. Louis Antoine Fauvelet de Bourrienne (* 19. Juli 1769; † 7. Februar 1834)
  34. Louis-Alexandre Berthier (* 20. November 1753; † 1. Juni 1815)
  35. Charles Pierre François Augereau (* 11. November 1757; † 11. Juni 1816)
  36. Friedrich Wilhelm Carl von Schmettau (* 1743; † 18. Oktober 1806 in Weimar)
  37. Carl August (* 3. September 1757; † 14. Juni 1828)
  38. Johann Friedrich Cotta (* 27. April 1764; † 29. Dezember 1832)