Kaiser Wilhelm I., ein Freund des Turnens

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Autor: Carl Euler
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Titel: Kaiser Wilhelm I., ein Freund des Turnens
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 319–323
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[319]

Kaiser Wilhelm I., ein Freund des Turnens.

Persönliche Erinnerungen von Dr. C. Euler.

Als im März des Jahres 1878 Kaiser Wilhelm I. der ersten Schlußvorstellung der seit einem halben Jahre selbständig gewordenen königlichen Turnlehrer-Bildungsanstalt zu Berlin beiwohnte, äußerte er zu mir, der ich in seiner Nähe stand, um auf etwaige Fragen zur Antwort bereit zu sein:

„Wir kennen uns doch schon recht lange.“

„Im März 1861,“ erwiderte ich, „hatte ich zum ersten Male die hohe Ehre, Eurer Majestät unsere Civileleven in ihren Leistungen vorführen zu dürfen.“

„Also so lange ist es schon her!“ sagte der Kaiser und fügte nach kurzem Besinnen hinzu. „Ja, Sie haben Recht.“

Und so war es.

[320] Ende März 1861 erschien der König zum ersten Mal in der königlichen Centralturnanstalt, um die Uebungen der Militär- und Civileleven (Offiziere und Lehrer), welche damals noch in demselben Raume vereint waren, wenn sie auch getrennten Unterricht erhielten, zu besichtigen. Gemeinschaftlicher Unterrichtsdirigent war Major Hugo Rothstein, der mannhafte, aber hartköpfige Vertreter der schwedischen Gymnastik, die er gar gern an die Stelle des deutschen Turnens gesetzt hätte.

Ich als erster und damals einziger „Civillehrer“ hatte die Uebungen der Civileleven zu leiten. Trotz sorgfältiger Vorbereitung sah ich doch, wie ich offen gestehen will, mit einigem Bangen der Stunde der Vorstellung entgegen. Und sie kam; mit sprichwörtlich gewordener Pünktlichkeit fuhr der König vor, verließ den Wagen, trat in Begleitung des damaligen Kronprinzen, des Prinzen Friedrich Karl und des Fürsten von Hohenzollern in den ersten Saal, in dem die Offiziere, dann in den zweiten, in dem ich mit den Civileleven Aufstellung genommen hatte; ich kommandirte: „Still gestanden!“ Der König trat näher, ich wurde vorgestellt und – verschwunden war jegliche Beklemmung, nachdem ich in diese so mildblickenden Augen geschaut, nachdem ich die von freundlich wohlwollendem Lächeln begleiteten gütigen Worte des hohen Herrn vernommen.

Einen mächtigen Eindruck machte auf mich diese hoch aufgerichtete kraftvolle Männergestalt, zu der ich, der ich doch auch nicht zu den kleinsten gehöre, emporsehen mußte. Nur das ergraute Haar bekundete die 64 Lebensjahre. Das Turnen und Fechten begann; es wechselten die Offiziere mit den Civileleven ab; der König wandte allen Uebungen seine volle ernste Aufmerksamkeit zu und manches fragende Wort zeugte von dem Interesse, mit dem dieselben verfolgt wurden; auch manche beifällige Aeußerung kam aus hohem Munde und die Anerkennung für die Gesammtvorstellung blieb am Schluß ebenfalls nicht aus.

Seit dem Jahre 1861 erschien der König regelmäßig in jedem Frühjahr bis zum Jahre 1867. Und seine Theilnahme blieb sich immer gleich: nichts entging seinem scharfen Auge; jede neue Uebungsgruppe, ja einzelne bis dahin noch nicht gezeigte Uebungen wurden bemerkt und besprochen. Einmal äußerte er wieder, daß er eine vorgeführte Uebung noch nicht gesehen, und fragte, wie das komme.

„Majestät,“ erwiderte ich, „wir suchen in unserem Unterricht von Jahr zu Jahr fortzuschreiten und wollen dann die neugewonnenen Formen auch gern zur Anschauung bringen.“

Die von Professor Dr. O. H. Jäger in Stuttgart in den Turnbetrieb eingeführten Uebungen mit dem Eisenstab erregten des Monarchen volles Interesse. Er nahm bei der ersten Vorführung derselben einen Stab in die Hand, wog dessen Schwere und äußerte sich dann anerkennend über diese kräftigenden Uebungen. Am meisten gefielen ihm ruhige Bewegungen, bei denen große Kraft und vollendete Sicherheit mit guter Körperhaltung vereint waren; aber auch solche, deren Ausführung raschen Entschluß und kühnen Muth, doch gepaart mit Besonnenheit, verlangte, wußte er sehr wohl zu schätzen. Als einmal ein Eleve am Barren mit besonderer Tüchtigkeit turnte und der Kaiser – es war nach dem Jahre 1871 – sich lobend äußerte, entschlüpfte mir die Bemerkung: „Diesen Eleven haben wir zur Herzhaftigkeit erzogen.“

„Wie verstehen Sie das?“ fragte der Kaiser, sich lebhaft zu mir wendend.

„Majestät,“ erwiderte ich; „in jedem Winter giebt es unter den einberufenen Lehrern einzelne, welche bei guter körperlicher Beanlagung ihre eigene Leistungsfähigkeit noch so wenig kennen, daß sie sich anfangs an schwierigere, nur scheinbar gefährliche Uebungen, die sie sehr wohl ausführen könnten, nicht heranwagen, da sie ein Mißlingen und infolge dessen eine Verletzung fürchten. Diese bringen wir durch methodisches Vorgehen im Unterricht allmählich zum Bewußtsein ihres körperlichen Vermögens; wir erwecken ihren Muth und ihre Entschlossenheit und haben dann die Genugthuung, daß sie zuletzt selbst solche Uebungen, deren Mißlingen wirklich Gefahr bringen könnte, frisch, muthig und mit vollkommener Sicherheit ausführen.“

„Wenn Sie es so meinen, bin ich ganz mit Ihnen einverstanden.“

Im Jahre 1862 ließ ich bei der Vorstellung den ersten Reigen schreiten. Ich hatte einen solchen versuchsweise mit meinen Eleven eingeübt; der Unterrichtsdirigent, Major Rothstein, veranlaßte mich, ihn dem Könige vorzuführen. Nicht allein dieser, auch die anwesenden Gäste, der Kronprinz, der Kriegsminister v. Roon und andere Generale interessirten sich aufs lebhafteste für diese Verbindung kräftigen Männergesanges mit turnerischen Schreitungen; seitdem durfte ein Reigen bei keiner Vorstellung mehr fehlen. Es sind Marschlieder patriotischen, beziehungsweise kriegerischen Inhaltes, welche, ein- oder mehrstimmig gesungen, die Schreitungen turnerischer Ordnungsübungen, die zum Theil den militärisch taktischen Uebungen verwandt sind, begleiten. Diese Reigen, von A. Spieß, dem Begründer des neueren Schulturnens, wieder eingeführt oder richtiger neu geschaffen, haben nicht allein im Schulturnen, sondern auch in den Turnvereinen wohlverdienten Anklang gefunden.[1] Dieselben trugen, wie mir von einem berühmten General, der in des Kaisers Gefolge wiederholt bei den Vorstellungen zugegen gewesen, einmal versichert wurde, nicht unwesentlich dazu bei, die scharfe Grenze zwischen dem Militär- und Schulturnen zu bezeichnen; denn beides ging auch in der Centralturnanstalt durchaus seinen eigenen Weg. Gemeinschaftlich waren nur gewisse einfache Bewegungsformen wie auch jetzt noch; aber vor allem war es die, ich möchte sagen, militärische Korrektheit und Bestimmtheit in der Ausführung aller Uebungen, die beiderseitig angestrebt wurde und die das militärische Auge des Kaisers auch bei unserem Turnen erfreute.

Es fehlte bei diesen Vorstellungen auch nicht an komischen Vorkommnissen. Wir hatten in einem Kursus einen Eleven von auffallend geringem Körpergewicht, der übrigens ein tüchtiger Turner war. Als derselbe zu einer Uebung ans Reck trat, äußerte ich zum König, daß dieser Eleve nur 88 Pfund wiege. Demselben mißglückte zufällig die Uebung; er fiel, wurde aber glücklicherweise aufgefangen und so vor Beschädigung geschützt. Der König winkte ihn zu sich und fragte, ob er sich verletzt habe.

„Nee, Majestät,“ erwiderte dieser, ein echtes Berliner Kind.

„Ich höre, Sie wiegen nur 88 Pfund.“

„Nee, Majestät, ich wiege jetzt 89.“

Der Kaiser lachte und gab ihm die Hand.

Ein häufiger Gast bei diesen Vorstellungen war General Wrangel, dem besonders auch unsere Uebungen gefielen. Einmal – bei der Vorstellung im Frühjahr 1874, bei welcher der damalige Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, den von schwerer Krankheit genesenden Kaiser Wilhelm vertrat – war auch der „alte Marggraff“, der Freund Jahns und Friesens, erschienen. Nachdem der Kronprinz in seiner liebenswürdigen Weise den alten Herrn begrüßt, der sich angelegentlich nach dem Befinden des „Herrn Vaters“ und der „Frau Gemahlin“ des Kronprinzen erkundigte, ging auch Wrangel auf ihn zu – die beiden Alten bei einander stehen zu sehen, war ein unvergeßlicher Anblick – und fragte ihn.

„Wie alt sind Sie?“

„So alt wie Sie, Excellenz, bin ich noch lange nicht.“

„Nun, ich werde neunzig.“

„Und ich erst siebenundachtzig!“

Aber in zäher Ausdauer war der Marschall dem Doktor Marggraff doch „über“. Während ersterer die ganze Vorstellung hindurch stehen blieb, mußte sich dieser setzen und wartete auch den Schluß der Vorstellung nicht ab.

Im Jahre 1877 trat die längst als nothwendig erkannte und lange geplante Trennung ein: es wurde eine besondere Turnlehrer-Bildungsanstalt gegründet, deren Uebungsstätte vorläufig die Turnhalle des königlichen Wilhelmsgymnasiums war. Direktor derselben blieb der bisherige Civildirektor der Centralturnanstalt, Geheimer Oberregierungsrath Waetzoldt; ich wurde [322] zum Unterrichtsdirigenten ernannt; erster Lehrer wurde der jetzige Oberlehrer G. Eckler, zugleich Bibliothekar der neu gegründeten Turnbibliothek, die sich unter seiner Verwaltung rasch zu einer der bedeutendsten auf dem Turngebiet entwickelt hat. Man glaubte in Berliner turnerischen Kreisen, der Kaiser werde der neuen Anstalt kein besonderes Interesse mehr zuwenden; ich widersprach dem von vornherein und ich hatte mich nicht geirrt. Um 1 Uhr am 18. März 1878 war die Vorstellung angesetzt; kurz vorher erschien der Kronprinz Friedrich Wilhelm und bald verkündete brausendes Hochrufen der auf dem Schulhof aufgestellten neunhundert Schüler des Gymnasiums und ihrer Lehrer des Kaisers Ankunft. Raschen Schrittes trat der greise Monarch in die Halle ein, begrüßte die anwesenden Gäste und ging dann, begleitet von dem Minister Dr. Falk und dem Direktor Geh. Rath Waetzoldt, die Reihen der Eleven entlang, ließ sich Namen, Stellung und Heimath der einzelnen angeben und wechselte fast mit jedem an leutseliges Wort, besonders aber mit denen, deren Brust militärische Ehrenzeichen schmückten. Dann begannen die Uebungen, sie dauerten über dreiviertel Stunden. Wiederholt äußerte der Kaiser seine hohe Zufriedenheit; auch der kräftige Männergesang, mit welchem man den Reigen („Auf, Ihr Brüder, laßt uns wallen“) begleitete, wurde belobt. Dem Minister dankte der Kaiser, daß er ihm Gelegenheit gegeben habe, der Vorstellung beizuwohnen. An die Eleven, die ich einen Halbkreis hatte bilden lassen, richtete er dann etwa folgende Worte.

„Ich habe mich sehr gefreut über die Frische und Straffheit, die Sie bei den Uebungen gezeigt haben. Suchen Sie nun das, was Sie hier gelernt und geleistet haben, auch in den Schulen zu verwerthen. Zwar gilt das Turnen in der Schule nur als ein Nebenfach; aber es macht frisch und lebendig, es ist wichtig und notwendig. Ich habe mich sehr gefreut und spreche Ihnen meinen Dank aus.“

Im nächsten Jahre konnte der Kaiser nicht zur Vorstellung kommen; 1879 war die neue Turnlehrer-Bildungsanstalt fertiggestellt; wir zogen ein, es war an feierlicher Festakt; aber die eigentliche Weihe erhielt die Anstalt erst am 18. März 1880 durch den Kaiser und den Kronprinzen. Es war dabei zum ersten Mal ermöglicht, Uebungen zu zeigen, welche innerhalb des Bereiches des Schulturnens lagen, aber bisher wegen mangelnden Raumes nicht hatten vorgenommen werden können: Gerwerfen, Stabspringen, Ringen. Der Kaiser nahm einen Ger in die Hand, die Uebungen gefielen ihm sehr. Auch fand es seinen Beifall, daß die Ringer, bevor sie sich umfaßten, sich die Hände gaben und dies wiederholten, nachdem der Kampf durch die Niederlage des einen Kämpfers beendet war.

Im folgenden Jahre 1881 hatte ich zwar nicht in der Turnlehrer-Bildungsanstalt, aber an einem andern Ort die Ehre, dem Kaiser Schüler in ihren turnerischen Leistungen vorführen zu dürfen.

Das königliche Joachimsthalsche Gymnasium, die Stiftung eines Vorfahren des Kaisers, des Kurfürsten Joachim Friedrich (1607), hatte sein zu eng gewordenes Haus in der Burgstraße verlassen und war nach dem neugegründeten großartigen Heim vor der Stadt übergesiedelt. Am 22. Oktober fand die feierliche Einweihung statt. Der Kaiser, der sich für den Bau lebhaft interessirt hatte, welchem die Pläne vor der Ausführung vorgelegt worden waren, erschien bei derselben. Es wird allen Anwesenden unvergeßlich bleiben, wie der greise Monarch, nachdem Minister von Puttkamer und der Direktor Dr. Schaper gesprochen, sich erhob, mit kräftiger, die ganze gewaltige Aula beherrschender Stimme eine Ansprache an die Versammlung richtete und dann sich noch besonders an die Schüler wandte: „Es sei zu Ihnen gesprochen, die Sie hier die erste Erziehung erhalten. Vergessen Sie nicht, was der Staat und die Lehrer für Sie gethan, so werden Sie tüchtige, treue Unterthanen werden; dann wird es in Preußen immer wohl stehen, wie die Stifter es bei der Gründung und Erhaltung dieser Anstalt beabsichtigt haben. Das walte Gott!“

Der Kaiser machte alsdann einen Rundgang durch die Räume der Anstalt; er besuchte das Alumnat, trat in einige Stuben ein, unterhielt sich mit den Schülern, besichtigte den Schlafsaal, besuchte auch die Küche und kam dann in die für die Schule eigens erbaute, auch im Winter zu benutzende Schwimmanstalt. Bei seinem Eintritte stürzte sich eine Anzahl Schüler in Schwimmkleidung von allen Seiten ins Wasser zum sichtlichen Ergötzen des Kaisers. Dann erschien derselbe in der mit Geräthen reich ausgestatteten Turnhalle. Daselbst hatte ich, der ich damals den Turnunterricht an der Anstalt leitete, 96 Primaner und Sekundaner, die während des Rundganges des Kaisers rasch nach der Halle geeilt waren, in zwei langen Reihen aufgestellt. Ich trat an den Kaiser heran und fragte, ob Majestät befehle, daß die Schüler einige Turnübungen ausführten. „Gewiß!“ sagte der Kaiser. Ich ließ etwa eine Viertelstunde alle Schüler gleichzeitig zuerst unter meinem Befehl, dann in Riegen unter Vorturnern turnen. Es war dies ein anderes Bild, als das in der Turnlehrer-Bildungsanstalt gewöhnlich gebotene. Der Kaiser sah mit sichtlichem Gefallen zu und sprach seine Anerkennung aus. Beim Verlassen des Saales ging er an den Turnern vorbei und äußerte bei einer Riege: „Die haben’s am besten gemacht“; es waren Oberprimaner und in der That die besten Turner. Und dann ging der Kaiser, nachdem er auch in eine Lehrerwohnung eingetreten war, wieder zum Wagen, ohne jede Spur von Ermüdung!

Das war das letzte Mal, daß es mir persönlich vergönnt war, dem Kaiser die eigenen Schüler vorzuführen. Aber noch dreimal konnte ich Turnvorstellungen als Gast beiwohnen, welche vor dem Kaiser abgehalten wurden. Es geschah dies zunächst am 25. Februar 1882 in der königlichen Militärturnanstalt, welche unter der Leitung des Oberstlieutenants von Dresky steht.

Diejenigen Leser der „Gartenlaube“, welche in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Armee gedient und auch geturnt haben, erinnern sich eines von allen Ungeschickten gefürchteten Turngeräthes, des sogenannten Sprungkastens. Die vielen Klagen über die Verletzungen, welche die Turnenden infolge des Mißlingens der Uebungen davontrugen, hatten veranlaßt, daß das Geräth vorläufig außer Gebrauch gesetzt wurde. Während des Turnens der Offiziere wandte sich der Kaiser zu mir und sagte:

„Sie vermissen wohl den Sprungkasten; welche Erfahrungen haben Sie denn an demselben gemacht?“

„Majestät,“ erwiderte ich, „unsere Erfahrungen kann ich nur als günstig bezeichnen; in den mehr als zwanzig Jahren, in denen ich Schüler an demselben turnen lasse, ist niemals ein irgend bemerkenswerter Unfall passirt.“

Zur Aufklärung dieser scheinbar befremdenden Thatsache sei bemerkt, daß, wie bei allen Uebungen, so auch bei denen am Sprungkasten im Schulturnen langsam und methodisch von Klasse zu Klasse aufsteigend vorgegangen wird, während bei dem Militärturnen in verhältnißmäßig kurzer Zeit von zum Theil unbeholfenen Soldaten die nicht leichten Uebungen bewältigt werden sollten.

Auch im Jahre 1883 erschien der Kaiser in der Anstalt; dann kam das Jahr 1884. Außer dem Kronprinzen und Prinzen Friedrich Karl war auch Prinz Wilhelm zugegen, und welche Fülle von hohen Offizieren! Der Kaiser fuhr vor; jede Unterstützung zurückweisend, stieg er aus dem Wagen, trat raschen Schrittes ein, begrüßte die Anwesenden, ging an der Reihe der hundert aufgestellten Offiziere entlang, unterhielt sich dann, während jene sich umkleideten, mit den anwesenden Gästen, kam auch grüßend auf unsere Gruppe zu und sprach mit Geheimrath Waetzoldt über die kurz vorher beendeten und diesmal ganz besonders lebhaft und lang andauernd gewesenen Verhandlungen im Abgeordnetenhaus über den Kultusetat, eine bis ins Einzelne gehende Kenntniß des Ganges der Debatten bekundend! Und die Uebungen verfolgte der Kaiser mit einer Lebhaftigkeit und Frische, die seine Jahre durchaus vergessen ließen. Alles interessirte ihn. Er ließ sich ein Bajonettfechtgewehr geben und versuchte selbst die Elasticität des mit einer Feder zur Abschwächung des Stoßes versehenen Bajonetts; jede Uebung beobachtete er und machte darüber dem Direktor, Oberstlieutenant von Dresky, seine Bemerkungen. Den Anstaltsarzt, Oberstabsarzt Dr. Burchardt, fragte er nach dem Gesundheitszustand während des Kursus; es freute ihn, daß die Frage, ob während des Kursus schwerere Verletzungen vorgekommen seien, verneint werden konnte. Und so blieb der greise siebenundachtzigjährige Monarch wieder volle dreiviertel Stunden in der Anstalt, ohne sich auch nur irgendwo anzulehnen, frei stehend und frei sich bewegend.

Den Vorstellungen in den folgenden Jahren hat der Kaiser nicht mehr beigewohnt.

Ich darf hier etwas einschieben. Ich hatte den Turnunterricht in dem Kaiserin-Augusta-Stift zu Charlottenburg eingerichtet [323] und beaufsichtigte in der ersten Zeit den Unterricht der jungen Lehrerin, meiner Schülerin.

Einmal war ich zugegen, als auch die Kaiserin, welche das Stift oft besucht, eintrat, Platz nahm und den Uebungen zusah. Die Lehrerin ließ Stabübungen vornehmen. Da winkte mich die Kaiserin zu sich und sagte, diese Uebungen mit den Stäben halte sie für ganz besonders geeignet für Mädchen, sie beförderten sehr die gerade Haltung. Sie hieß hierauf ihre Begleiterin, irre ich nicht eine weimarische Prinzessin, sich erheben, ließ sich einen Stab geben, und die Prinzessin mußte den Stab so nehmen, daß er zwischen dem Rücken und den gewinkelten und zurückgezogenen Armen lag. Diese Stabhaltung, bemerkte daraus die Kaiserin, erscheine ihr vortrefflich, und fügte hinzu, ihr Gemahl, der Kaiser, habe die Gewohnheit, seinen Gehstock so auf den Rücken gehalten auf und ab zu wandern, und davon, meinte sie weiter, habe er wohl seine schöne gerade Haltung. –

So war der Kaiser ein wirklicher und warmer Freund und Förderer des deutschen Turnens. Wenn er auch, wie er mir einmal mittheilte, in seiner Jugend nicht in jetzigem Sinne geturnt habe, so habe er doch körperliche Uebungen getrieben und sei namentlich ein tüchtiger Springer gewesen. Für das Turnen in den Schulen hat der Kaiser sich stets lebhaft interessirt; in seine Regierung fällt die Entwickelung unseres jetzigen Turnens in Preußen. In Schloß Babelsberg erblickte ich auf seinem Arbeitstisch den amtlichen Leitfaden für den Turnunterricht in den preußischen Volksschulen kurz nach dessen Erscheinen. Kaiser Friedrich hat als Knabe und Jüngling wacker geturnt.

Unter Kaiser Wilhelms I. Regierung ist dem Begründer der deutschen Turnkunst, Friedrich Ludwig Jahn, in der Hasenhaide bei Berlin das stattliche Denkmal errichtet worden; durch Kabinettsordre ist eine Straße „Jahn-Straße“, eine andere „Friesen-Straße“ nach Jahns und Körners Freund Friedrich Friesen genannt worden. Die von mir verfaßte, bei Karl Krabbe in Stuttgart erschienene Biographie Jahns durfte ich dem Kaiser überreichen und ebenso die von mir herausgegebenen Schriften Jahns[2]. Beides ist huldvoll mit freundlichem Dank entgegengenommen worden. In dem letzten Dankschreiben vom 4. November 1887 läßt der Kaiser seiner Freude darüber Ausdruck geben „nunmehr im Besitz des ganzen, von so echt patriotischem Geist zeugenden Werkes (der Schriften Jahns) zu sein.“

Auch den deutschen Turnvereinen, die als echte Jünger Jahns treu zu Kaiser und Reich stehen, war der heimgegangene Kaiser freundlich gesinnt. Und sie verehrten in ihm nicht allein den Freund aller kräftigen und gesunden Leibesübungen, sondern auch den Mann, der Jahns Lebenstraum: ein geeintes Deutschland unter einem deutschen Kaiser aus dem Hohenzollerngeschlecht, so herrlich zur Erfüllung gebracht hat.



  1. Bei der Turnvorstellung im März 1887, welcher als Vertreter des Kaisers Wilhelm der Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, beiwohnte, wurde ein Reigen geschritten, der sich an die „Deutsche Hymne“ („Glorreich auf dem Erdenrunde Steht das deutsche Vaterland“), gedichtet von F. W. Plath, komponirt von Sabbath, anschloß. Der Kronprinz lobte Lied und Weise und sprach dem mit anwesenden Dichter mit freundlichem Händedruck seinen Dank aus.
    Bei der diesjährigen Schlußvorstellung am 20. März, der leider weder Kaiser noch Kronprinz beiwohnen konnten, wurde ein von Geheimrath Waetzoldt gedichtetes, von P. Eicke komponirtes Lied („Hoch ragt empor auf felsenfesten Grund die Zollernburg in altersgrauen Tagen“) für die Reigenschreitung gewählt. Das Lied war bereits 1883 einigen Reigen zu Grunde gelegt worden. Der Kronprinz war damals darüber so erfreut, daß er sich noch ein zweites Exemplar des das Lied enthaltenden Programmes geben ließ, „um es dem Kaiser mitzubringen“.
  2. Erschienen in drei Bänden bei Rudolf Lion in Hof.