Klein wild Waltraut
Klein wild Waltraut
Das Mondlicht ist versunken kaum,
Herr Odin[1] sitzt am Galgenbaum,
Die Todten reden leise.
„Ihr drei Gesellen über mir,
Die Todten reden leise.
„„Wir harren auf klein wild Waltraut,
Die Zeit wird lang, es säumt die Braut.““
Die Todten reden leise.
Was hat wild Waltraut dir gethan?“
Die Todten reden leise.
„„Klein Waltraut ist ein Grafenkind,
Ihr Sinn so wild und leicht wie Wind.
Nach ihrem Leib in Lieb’ entbrannt.
Sie war in einer Nacht mir hold,
Mein goldner Hüftdolch war ihr Sold.
Doch bei des Morgens früh’stem Grau’n,
Und als die Sonn’ vom Berge schien,
Da gab sie mich dem Henker hin,
Und lachte: Der lebt nicht am Tag,
Der Nachts bei klein wild Waltraut lag!““
„Und du mit Haaren braun und schlicht,
Was brachte dich auf’s Hochgericht?“
Die Todten reden leise.
„„Ich kam, ein Kaufherr, über Rhein,
Und für ein güldnes Halsgeschmeid
Ließ sie mich ein zu nächt’ger Zeit;
Doch bei dem ersten Morgenroth,
Da hieß sie führen mich zum Tod,
Ich schenk’ die beste Weide dir!““
Die Todten reden leise.
„Und du, mein goldgelocktes Kind,
Wie war wild Waltraut dir gesinnt!“
„„Ich war ein junger Fiedelmann,
Klein Waltraut sah mich lachend an.
Sie sprach: Was gibst du Kleiner mir?
So spiel’ ich heute nacht mit dir.
Das gab ich in klein Waltraut’s Hand.
O weh! Wie glühend war ihr Mund,
Sie küßt’ mir beide Augen wund.
Und als der Tag durch’s Fenster sah,
Laß binden die kranken Aeügelein zu!
Man soll dich bringen jetzt zur Ruh’, –
In frischer Luft, mein süßer Knab’,
Du bist zu hold für’s dumpfe Grab.
Hinaus zum lichten Galgenbaum.““
Die Todten reden leise.
Herr Odin spricht kein einz’ges Wort,
Die Winde sausen fort und fort.
Klein Waltraut sitzt beim Fackelschein
Und trinkt vom blutig roten Wein.
Da schallt ein Hufschlag dumpf und schwer,
Ein schwarzer Reiter saust daher.
Wohin in dieser finstern Nacht?“
Da hält er an sein Roß zumal,
Sein Antlitz glänzt im Fackelstrahl.
„Halt an, du schöner Ritter mein!
„„O Maid! Verhülle deinen Leib!
Ich küsse nie ein menschlich Weib.““
„O komm, du schöner Ritter mein!
Dir schenk’ ich Gold und Edelstein.“
Als Dolch und Kett’ und Purpurband.““
Da reicht sie’s ihm durch’s Fenster schnell:
„Das Thor ist offen, der Gang ist hell.“
Doch er schwingt sie auf’s Roß geschwind
Schon färbt ein Grau des Himmels Raum,
In’s Dunkel ragt der Galgenbaum.
Die Todten reden leise.
Was nahet dort wie Wettergeschoß?
Die Todten reden leise.
„Hör’ auf, klein Waltraut, sag’ mir fein:
Kennst du die Drei am Rabenstein?“
Die Todten reden leise.
Wie raunen sie so dumpf und hohl?““
Die Todten reden leise.
„Komm näher doch, klein wild Waltraut!
Sie harren lang schon auf die Braut.“
Herr Odin schnüret unverwandt
Um’s Auge ihr das Purpurband;
Er legt ihr an die Kette noch,
Und stößt den Dolch in’s Galgenjoch,
Hängt klein wild Waltraut hoch im Wind.
Die Todten reden leise.
Wie flüstert’s doch am düstern Ort
Wie Gruß und Kuß und Liebeswort?
Herr Odin kehrt sich schweigend um;
Der Morgen dämmert bleich und stumm,
Und von dem fernsten Himmelssaum
Trifft falbes Licht den Galgenbaum.
- ↑ Odin, auch Hangagod, Gott der Erhängten, Galga gramr, Galgenherr, und Galga valldr, Galgenwalter, in den Edden genannt, sitzt nach alter Volkssage Nachts unter den Galgen und spricht mit den Gehängten.
Anmerkungen (Wikisource)
Abdruck auch in: Mahr, Johannes (Hrsg.): Die Krokodile. Ein Münchener Dichterkreis. Texte und Dokumente. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1987, S. 303-306