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Kostroma

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCLXXXI. Cassel; das Palais der Stände Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCLXXXII. Kostroma
CCCLXXXIII. Das Wunder von Saragossa, in Spanien
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KOSTROMA
in Russland.

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CCCLXXXII. Kostroma.




Es ist eine rührige Zeit wie keine. Alle Völker haben Werkeltage, – alle bauen, sey es an ihrer Größe, sey es an ihrem Untergange. Ueberall sieht man die Dinge dem Aeußersten zustreben, und die Wendepunkte suchen, von wo ein Weitergehen zu den Gegensätzen führt. Und wem Mühlsteine an die Füße gebunden sind, daß er nicht weiter kann, der strampft sich wenigstens ab und sucht fortzukommen, wie das Pferd im Tretrade. Was ist’s, was alle Völker in Geschwindschritt gesetzt hat? – Nicht blos die neuen Elemente sind’s, welche Wissenschaft und Erfindung in das Daseyn geworfen; nicht blos die Nothwendigkeit ist’s, welche, wie in einer Maschine, wo ein in Gang gekommenes Rad das Gehen anderer Räder und Getriebe nach sich zieht, Stillestand verbietet, wenn andere Nationen in Bewegung sind; sondern auch die Furcht. Mißtrauen und Furcht sind jetzt mehr als jemals im europäischen Staatsleben Hauptagenten, und sie tragen ihre Gesichter ohne Larve zur Schau. Früher war’s Frankreich, was den übrigen europäischen Staaten die meiste Furcht einflößte; jetzt ist die Furcht vor Rußland noch viel größer, und noch viel direkter und wirksamer greift sie in die Getriebe. Schon seit Jahren hat, zumal in Deutschland, der Instinkt des Volks, welcher das drohende Verderben viel sicherer erkennt als die flache Unnatur jener Bildung, welche so oft auf Fürstenstühlen und an Steuerrudern sitzt, gegen jene Seite sich gewendet. Des Kaisers Nicolaus letzte Reise in Deutschland hat die dunkeln Gefühle zuerst zur Klarheit gebracht und es ist da wieder einmal wahr geworden, daß Gottes Hand die Absichten der Menschen oft zu entgegengesetzten Zielen führt. Was aber im Volke klar geworden war, das konnte den Regierungen nicht länger verboten bleiben, und – Congresse, wie wir sie vor einigen Jahren in Deutschland unter Rußland’s leitender Theilnahme sahen, – sehen wir nicht wieder. Jeder Deutsche nicht nur, jeder Freund der Civilisation auch, darf sich aufrichtig freuen über diese Wendung der Dinge, und wenn Preußen, der Reichsthorwart in Ost und West, wie es jetzt thut, seine Marken gegen den Bedroher befestigt, so erkennt darin die öffentliche Meinung eine ächt-deutsche Maßregel, die ihm den Dank und die Sympathie der gesammten Nation erwirbt.

Peter der Große schrieb Rußlands Bestimmung mit Riesenbuchstaben auf das Erdrund ein, als er an der westlichsten Grenzmarke seines Reichs die Fundamente der neuen Hauptstadt grub. Damit war dem gesammten Russenvolke der Schwerpunkt verrückt. Binnen den seitdem vergangenen hundert Jahren ist es weit vorgeschritten, [27] schon hat es seine Marken tief in Deutschland eingekerbt, und ein russisches Grenzheer kann in einem Tagemarsch in Breslau seyn, im Mittelpunkte deutschen Lebens. Kein Strom, kein Gebirge, nicht einmal eine Schanze schirmt bis zur Stunde Deutschland nach dieser Seite – wehrlos liegen dort die herrlichen Städte voller Intelligenz und Industrie, wie eine Taube zwischen den Klauen des Adlers. Der Adler aber, Rußlands Monarch, ist unstreitig der that- und willenskräftigste Fürst in Europa. Er ist ganz Russe – und ganz Russe wird er bleiben bis zum letzten Hauch seines Lebens. Ich begreife nicht, wie man über seine Absichten nur einen Augenblick in Zweifel seyn konnte. Am Tage seiner Thronbesteigung hat er das Programm seiner Regierung geschrieben, und die Kanonen, mit denen er die Empörer vor seinem Pallaste niederschmetterte, verkündigten es der Welt laut genug. Alle Kräfte des Reichs in der russischen Nationalität zu vereinigen, Rußlands Kultur auf eigne Füße zu stellen, Rußland von den Ideen Englands, Frankreichs, Deutschlands zu trennen, die schlummernden Keime der materiellen Wohlfahrt im ganzen Reich zu wecken, ihm eine Industrie zu schaffen, die es von fremder Industrie ganz unabhängig mache, kurz Rußland von dem Auslande vollständig zu emancipiren – (und in welcher Schreckengestalt wird dann der Coloß der übrigen Welt erscheinen!) – ist der leitende Gedanke seines Strebens. Dabei erkannte seine Klugheit, daß er seinen Zweck, Rußland von der Hülfe der westeuropäischen Intelligenz, Industrie und Wissenschaft zu befreien, nur dadurch erlangen könne, daß er den Verkehr mit Europa vervielfältigte, um sich dessen Verfahrungsweisen anzueignen. Während er durch einen Ukas dem russischen Adel bei Strafe der Confiskation seiner Güter verbietet, sich über fünf Jahre aus dem Lande zu entfernen; während er ihm Pässe nach England und Frankreich verweigert; während er ihm untersagt, seine Kinder im Auslande erziehen zu lassen; während er befiehlt, daß, wenn die Aeltern reisen wollen, die erwachsenen Söhne gleichsam als Geiseln zu Hause bleiben müssen; überschwemmt er Westeuropa, besonders England, mit den Zöglingen der Akademien und polytechnischen Institute, mit Offizieren des Geniewesens und Handelsagenten, um die Vervollkommnungen in dem Fabrik- und Industriewesen an Ort und Stelle einzusehen und der russischen Industrie zu gewinnen. Jede neue nützliche Erfindung, jede verbesserte Maschine, die sich Rußland aneignet, betrachtet es wie eine Eroberung. Seine Agenten im Auslande, in Deutschland, Frankreich, England, sind unablässig gespornt, die gewerblichen Fortschritte zu beobachten, die Auswanderung geschickter Arbeiter für die russischen Fabriken als Contremaitres und Chefs d’Ateliers zu begünstigen, und wo immer eine industrielle Erscheinung sich über das Gewöhnliche erhebt, da ist sie auch schon ein Gegenstand seiner Forschung. Daher die reißenden Fortschritte des russischen Industriewesens seit dem Regierungsantritt dieses Monarchen, Fortschritte, die man außerdem gar nicht würde begreifen können.

Das Gouvernement Moskau ist das Centrum dieser industriellen Entwickelung. Die alte Czarenstadt ist Fabrikstadt geworden und die Fürsten sind Fabrikherren. Von Moskau hat sich dieser Geist in die benachbarten [28] Gouvernements verbreitet, und die Hauptstädte derselben, Tula, Kaluga, Wladimir, Wologda und Kostroma machen wieder eben so viele Centralpunkte für kleinere Kreise aus.

Kostroma, an der Wolga, war im vorigen Jahrhundert ein elender Ort, mit 6-700 hölzernen Häusern und 5000 Einwohnern; Fabrikthätigkeit hat ihn jetzt zu einer der hübschesten Städte des nördlichen Rußlands gemacht. In die Stelle der Armuth ist der Wohlstand getreten, und Schulen und andere Anstalten fördern die Bildung. In Kostroma hat jetzt die Leinwandmanufaktur und Juchtenfabrikation einen ihrer bedeutendsten Sitze, und von den 13,000 Einwohnern gehört die größere Hälfte den Gewerben an.