Literaturbriefe an eine Dame/I

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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 745–747
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Einleitung und
über Friedrich Spielhagen
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Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf Gottschall.
I.

Wie beneide ich Sie, Madame, um Ihre naturfrische Einsamkeit am Strande der Ostsee, um den weiten Blick in die dämmernde Meeresferne, um die wechselnden Bilder, welche bald die endlos gedehnte, ruhige Spiegelfläche der See, bald ihr stürmischer Wogenschlag, in der mannigfachen Beleuchtung der Morgen- und Abendröthen, der sternenhellen Nächte und des flammenden Wettergewölks dem Auge darbieten! Und dabei liegt Ihr Schloß, wenn auch gebaut auf dem Strandhügel, der das Meer beherrscht, doch so traulich gebettet im Schatten der Eichen des alten heidnischen Donnergottes, ist so freundlich umrankt von Epheu und wilden Weinreben, wendet rückwärts den Blick mit so heimlichem Genügen auf die gepflegten Baum- und Blumengruppen des weiten Parkes, daß sich für ein dichterisches Gemüth kein schöneres Asyl denken läßt und daß es keinem Poeten zu verargen ist, der sich hier Hütten bauen wollte!

Ruhe – Einsamkeit! Es sind ja unersetzliche Güter für den Dichter in dieser Zeit des Schnellpressendrucks, der auf der ganzen Menschheit lastet! Wo soll die eigene Seele Genüge finden unter diesen Bergen von Maculatur, welche die rastlose Production um uns anhäuft?

Sie sind glücklich; Sie haben Ihre Blumen und Ihre Classiker und kümmern sich nicht um den schaumspritzenden Wogenschlag der Tagesliteratur. Nicht gestört von der Unruhe des Werdenden, erfreuen Sie sich des sichern Besitzes, den die anerkannten großen Dichter unserer Nation hinterlassen haben. In jenem reizenden Cabinet, welches Blumen, Bilder und Bücher mit seelenvoller Harmonie erfüllen, während der Blick durch das Bogenfenster auf die weitrauschende See das geistige Stillleben vor engherziger Beschränktheit sichert, schlagen Sie Ihren Schiller und Goethe auf, wenn Sie der Sprache der Dichtkunst lauschen, wenn Sie Sinn und Herz emporranken wollen an jenen unsterblichen Meisterwerken, welche noch vielen Geschlechtern zum Segen gereichen werden. Was Sie sinnen und träumen über das Menschenleben und das Weltgeheimniß, finden Sie hier in mustergültiger Weise ein für allemal ausgesprochen. Was bleibt da den Spätergebornen übrig, als nachzustammeln, was jene bereits in begeisterten Orakelsprüchen der Welt verkündet haben? Sie können es sich nicht vorstellen, daß die Literatur der Gegenwart eine andere Aufgabe hat als die Aehrenlese auf den Feldern, die unsere Classiker abgeerntet haben.

Und doch dringt, wie fernes Wogenrauschen, ein Echo der neuen literarischen Bewegung auch in Ihre Einsamkeit; doch hören Sie bei zufälliger gesellschaftlicher Berührung diesen oder jenen Namen mit einer Pietät und Begeisterung nennen, die Sie befremden, ja erzürnen muß, denn solche Huldigungen, dargebracht einem jüngeren Geschlecht, erscheinen Ihnen wie ein an unseren Classikern verübter Raub.

So wenden Sie sich an mich mit der Frage, was es mit dieser neuern Literatur für eine Bewandtniß habe? Es ist kaum Wißbegierde, die Sie diese Frage thun läßt; es ist der kleine weibliche Dämon der Neugierde, der Sie aus Ihrem ruhigen Behagen aufstört. Sie werden meine Antwort auf Ihre Frage mit ungläubigem Kopfschütteln vernehmen, denn Sie sind von vornherein gewaffnet gegen jede Anerkennung neuer Dichtwerke. Doch erfahren möchten Sie gern, welche Zwerge in den Harnisch unserer geistigen Riesen zu schlüpfen wagen!

Und doch hat Niemand mehr Grund, sich über den endlosen Faden, den unsere Literatur fortspinnt, zu ärgern, als der unglückliche Kritiker, der sich vor der Sündfluth der alljährlich erscheinenden Romane kaum zu retten weiß, der unter den Rosen der Lyrik verschüttet wird wie die Opfer des römischen Tyrannen Heliogabalus, welchem der Schattentanz der unaufgeführten Buchdramen, dieser nach Leben dürstenden Gespenster, alle Sinne verwirrt. Dann stürmen noch die Denker auf ihn ein mit ihren neuen Systemen, die Geschichtschreiber, welche ihm den Staub aus allen Archiven in’s Gesicht fegen, und vor Allem die Literarhistoriker, welche aus den Papierkörben unserer Classiker einen großen Papierdrachen zusammenstückeln und in die Luft steigen lassen, welche aber für die Dichter der Gegenwart nur ein verächtliches Achselzucken übrig haben, ganz wie Sie, Madame!

Sie haben lebhafte Phantasie und warmes Gefühl! Sie können sich hineinversetzen in die Stimmung eines Kritikers, dem diese dicken Bände, diese gespenstigen Lettern, diese durch die Magie der Druckerschwärze in’s Leben gezauberten Geister den freien Blick in die Welt versperren, so daß er mit Faust ausrufen möchte:

Statt der lebendigen Natur,
Wo Gott die Menschen schuf hinein,
Umgiebt in Staub und Moder nur
Dich Thiergeripp und Todtenbein.

Gern möchte er diesen Geisterspuk vergessen – ein Blick auf Ihre Blumen, in Ihre Augen, ein Blick auf das weite Meer – und er würde genesen; er würde glauben lernen an ein frisches Leben, das nichts mit Tinte und Druckerschwärze, nichts mit der Druck- und Buchbinderpresse zu thun hat, während ihm jetzt, bei der unheimlichen Verdüsterung durch die aufgestapelten Büchermassen, die ganze Welt oft wie Maculatur erscheint, die man einzustampfen vergessen hat.

Gleichwohl, Madame, theile ich nicht Ihre Geringschätzung der neuen Talente unserer Literatur, eine Geringschätzung, die bei Ihnen nur aus Vorurtheil oder Unkenntniß hervorgeht; ich habe unter den Erzeugnissen der letzten Jahrzehnte des Guten und Trefflichen so viel gefunden, so viele lichte Intervalle in dem Wahnsinne einer unberufenen Production, daß ich selbst mein Unbehagen, meinen Unwillen über die rastlose kritische Arbeit, den Augiasstall zu räumen, vergaß über der Hingabe an das Gelungene, an das Schöne, das unserer Zeit nicht fremd ist; daß ich erkannte, es sei thöricht, der Entwickelung eines Volkes Grenzen setzen zu wollen, gegen die Talente, die Genien der Zukunft, die aus unerschöpflichem Füllhorn neue Blüthen und Früchte in den Schooß der Nationen streuen, von vornherein eine Quarantaine zu errichten. Auch in unserer classischen Blüthenzeit hat nicht jedes Jahr ein unsterbliches Gedankenwerk gezeitigt – wie sollten wir von jedem Jahrgang der Gegenwart ein geistiges Erzeugniß verlangen, das sie zu überleben vermöchte? Erfreuen wir uns des Gelungenen und überlassen wir der Zukunft die vergleichende Werthschätzung der modernen und der classischen Dichter. Das Schaffen der ersteren ist noch nicht abgeschlossen, und auch den letzteren stehen wir noch zu nah, um ihre Größe messen zu können.

Von diesem Standpunkte aus bin ich gern bereit, Ihnen über die neuen Erscheinungen unserer Literatur hin und wieder Bericht zu erstatten, Sie hinzuweisen auf das Bedeutende, das auch in diesem verketzerten Zeitalter der materiellen Interessen eine geistige Blüthe ankündigt, aber auch auf das Verfehlte, auf die mannigfachen Verirrungen unserer Dichtung, welche zum Theil sich des Beifalls der Zeitgenossen erfreuen. Denn wenn ich auch unsere Literatur nicht in Bezug auf die ursprüngliche, überwuchernde Schöpfungskraft mit einem Urwald vergleichen will, so hat sie doch manche bedenkliche Aehnlichkeit mit der genialen Pflanzendichtung der tropischen Natur, namentlich was die in allen Farben spielende Buntheit der Blüthen und die zahllosen Schlinggewächse betrifft, welche sich um die festen Stämme ranken.

Vielleicht, Madame, gelingt es mir, Sie zu bekehren und Ihnen Theilnahme einzuflößen für das Geschlecht nachstrebender Dichter, während Sie jetzt blos Mitleid mit den Poetlein hegen, die sich auf die Zehen stellen, um unsern großen Dichtern über die Achsel sehen zu können. Besser noch würde es mir gelingen bei mündlichem Gespräch, Aug’ in Auge; ich würde den Trotz beschwören, der Ihre Lippen kräuselt, denn dazu genügt oft ein „geflügeltes Wort“. Die geflügelten Worte aber lassen sich nicht commandiren, sie sind Funken der Begeisterung und des Witzes, welche nur in der Atmosphäre des frischen Lebens, des Geistes, der Schönheit entstehen. Freilich, es giebt erkältende Schönheiten, gefrorene Gesichter, denen gegenüber auch der Geist gefriert. Doch in Ihrer Nähe, Madame, ist Alles Licht und Leben und selbst der beschränkteste, der aschgraueste geistige Horizont würde versuchen zu [746] wetterleuchten. Ich würde Ihnen vorlesen aus den Werken unserer neuen Schriftsteller und Dichter, und ich bin überzeugt, bei jenem feinen Sinn für das Schöne, der Ihnen eigen ist und der sich, wie die verkehrten Urtheile unserer Literarhistoriker beweisen, durch keine Gelehrsamkeit ersetzen läßt, würden Sie, wie die mit der Wünschelruthe bewaffnete Hellseherin die Erzadern und Wasserquellen, das Talent herausfühlen und mit jenem plötzlichen Aufleuchten Ihres schönen Auges, das Ihnen so reizend steht, ausrufen: „Fürwahr, das ist ein Dichter!“

Doch auch aus der Ferne hoff’ ich noch, Ihnen hier und dort für mein Lob eine freundliche Zustimmung abzuschmeicheln; ich hoffe dies, weil wir Beide auf dem gemeinsamen Boden derselben ästhetischen Bildung stehen, auf jenem Boden, in welchem unsere großen Dichter wurzeln. Und so verwerfe ich alle Poesie, die nichts ist als Formenspielerei, in der kein großes Herz pulsirt, die keinen großen Geist verräth. Und eingedenk eines Schiller, Goethe, Shakespeare und Jean Paul verlange ich, daß die Dichter Tiefe der Weltanschauung und weltumfassende Bildung besitzen, und schätze die Poeten gering, die, über ihren Stickrahmen gebeugt, nach den schönsten Modellen die sauberste Arbeit liefern, daß alle Farben harmonisch geordnet sind und kein grobes Fädchen und Fäserchen den Eindruck des musterhaften Vollbildes stört. Dergleichen Gaben für die Weihnachtsausstellungen des Buchhandels sind keine Geschenke von dauerndem Werth für die Nation. Auch wissen Sie zu gut, Madame, wie es mit diesen Stickereien aussieht. Man bekommt sie zur Hälfte fertig in den Modeläden und braucht sich nicht allzusehr mit der feinen Nadelarbeit zu ermüden.

Ebenso wie ich diese Miniaturpoeten verwerfe, welche da glauben, man könne dichten ohne Geist, und Vernunft und Wissenschaft nach Kräften verachten, welche da meinen, die Poesie müsse auf dem Feenwägelchen der Shakespeare’schen „Königin Mab“ einherfahren, mit einem Geschirr aus feinem Spinngewebe und mit Zügeln aus des Mondes feuchtem Strahl und es gereiche ihr zum Verderben, wie jenem Phaëthon, den Sonnenwagen des Geistes lenken zu wollen: ebenso verwerfe ich jene nüchternen Photographen des alltäglichen Lebens, die ihren literarischen Schaukasten mit wenig retouchirten Bildern aus ihrer unmittelbarsten Umgebung füllen und sich für große Menschendarsteller halten, weil sie ihren Vettern und Muhmen abgesehen haben, wie sie sich räuspern und spucken, und so Bescheid wissen in jedem Handwerk und Gewerbe, daß die Dachdecker und Maschinenbauer sie aus Versehen für Ihresgleichen halten könnten.

Nein, Madame, Begeisterung gehört zum Dichten, wie zu jedem Schaffen. Wenn unsere Dichter aufhören, große Geister zu sein, so bilden eben zwölf von ihnen ein Dutzend und man kauft sie dutzendweise, wie die Leipziger Lerchen, bei denen man auch nicht nach ihrem Gesang fragt und wie hoch sie in den Himmel steigen.

Darin sind wir einig, Madame! Unsere Classiker, die Sie verehren wie ich, waren große Dichter und nur diejenigen der Neuzeit, die auf ihren Wegen wandeln, verdienen unsere Theilnahme.

So mögen meine Briefe Sie aufsuchen in der duftigen Laube, die auf einem Felsvorsprung aufgebaut ist in’s Meer, dort an jenem heimlichen Plätzchen, das die untergehende Sonne mit besonderer Liebe begrüßt und von dem aus Sie, durch die Ranken des Laubgitters, die Aussicht genießen auf die unendliche See, die seit den Zeiten des Altvaters Homer so viel Poeten begeistert hat.

Und ist nicht auch die Ostsee, welche unsere großen Dichter nie gesehn haben, voll Poesie, das Meer der Vikinger, aus dessen Tiefen die Glocken versunkener Städte läuten, dies Meer mit seinen Bernsteinnixen, die statt der grünen Schilfkränze die versteinerten Thränen der überflutheten Wälder der Vorzeit im Haar tragen und mit dem gelbleuchtenden Geschmeide Hals und Arme schmücken?

Unsere neueren Dichter sind minder undankbar gegen die Reize des bernsteinreichen baltischen Meeres. Zwar Heinrich Heine besang nur die Nordsee und ihre kecken Nomaden in seinen großartigen Seebildern; zwischen Hamburg und Helgoland hört er den Wundervogel Phönix singen und die Okeaniden und kaut verdrießlich den alten Hering, während die hochgehende Fluth das Schiff schaukelt. Doch unsere neuen Novellisten und Romandichter lassen sich oft an den Gestaden der Ostsee nieder und haben auf ihrer Palette alle Farben für die Seebilder, die das baltische Meer verlangt, mag es an Rügens Kreideküsten branden oder an die sturmverwehten Sandhügel der ostpreußischen Nehrungen. Da ist vor Allen ein begabter Novellist Edmund Hoefer, ein Sohn der alten Universitätsstadt Greifswald, der an den Ostseestrand seine geheimnißvollen Schlösser hinbaut, der uns oft auf der Barke oder im Meeresschiff über die baltischen Fluthen führt, der uns die hanseatischen Städte am Strand mit ihren Thürmen und Giebeln so traulich aufbaut, daß wir uns bald heimisch fühlen in ihren Patricierhäusern, in ihrem Handel und Wandel, in ihrer Gegenwart und Vergangenheit. Und dabei liebt er es, jene Charaktere zu schildern, deren Gediegenheit zur Starrheit wird, Charaktere vom knorrigen Wuchs der Strandeichen.

Doch wenn Sie Ihr heimathliches Meer, die Ostsee, in Frieden und Sturm, in allem Wechsel der Beleuchtung, und im engen Zusammenhang mit dem Geschick der Menschen geschildert sehen wollen, so müssen Sie Friedrich Spielhagen’s neuesten Roman „Hammer und Amboß“ (fünf Bände) aufschlagen; es wird Ihnen aus demselben ein frischer Hauch vom Meere entgegenwehn! Wie belebt ist die See von Dampfern und Schiffen jeder Art! Hier macht der junge Held als Primaner eine Vergnügungsfahrt auf dem Meere, dort hemmt der gereiftere Mann mit festem Entschluß den Zusammenstoß zweier Dampfer, dort segeln die Schmuggelschiffe zur Nachtzeit an den Strand der Insel, wo das Schloß eines Edelmanns ihren Waaren eine geheime Freistatt bietet. Ja, es ist ein alter Vikinger, dieser wilde Zehren, der nur sein Jahrhundert verfehlt hat; er treibt die Schmuggelei nach dem alten Rechte der Herren von Zehren, das für ihn noch fortbesteht; denn alle Schiffe, die durch den Sund fuhren, zwischen der Insel und dem Festland, mußten vor alten Zeiten dem Schlosse Tribut zahlen. Sie werden die Schilderung dieses alten, verfallenen Schlosses, wo man den besten Wein trinkt und die besten Cigarren raucht, mit Interesse lesen; denn das wilde Treiben der schmuggelnden Gutsbesitzer auf der Insel bei Jagd und Spiel ist mit lebendigen Farben geschildert, die Tochter des wilden Zehren, die zigeunerhafte Constanze, das tiefbrünette Mädchen mit dem wundervollsten Ebenmaß der Glieder, verstrickt in den geheimen Liebeshandel mit einem benachbarten Fürsten, paßt in die romantische Wirthschaft der vornehmen Strandpiraten, und die Katastrophe selbst, das Einschreiten der gesetzlichen Macht gegen die Schmuggler, der gewaltsame Tod des wilden Zehren, ist spannend erzählt und farbenreich ausgemalt.

Freilich werden Sie nicht ohne Grund fragen, ob irgend eine Lebenswirklichkeit diesen hochromantischen Ereignissen entspricht und wo man heutigen Tags die Pascher mit ehrwürdigen Wappen und Stammbaum zu suchen hat? Doch man muß der Erfindung der Romandichter etwas zu gute balten und nicht nach den Hausnummern und Reisepässen ihrer Helden fragen. Das freizügige Abenteuer, das sich polizeilich nicht einfangen läßt, braucht im Roman keine andere Legitimation, als den Reiz der Phantasie und die logische Möglichkeit.

Eins der großartigsten Seebilder finden Sie im weiteren Verlauf des Romans; die sturmempörte Ostsee, deren Donner die Mauern eines Zuchthauses erschüttert, droht einen schmalen Wall zu überfluthen, den die Zuchthaussträflinge mit opfermuthiger Begeisterung unter der Leitung ihres Directors schützen. Diese Schilderung ist prachtvoll; es ist ein Achenbach’sches Marinebild.

Sie wundern sich über die Rolle, welche der Dichter hier den Zuchthaussträflingen zuertheilt? Ein großer Theil des Romans spielt in der That im Zuchthause, wo von den Lippen des Directors das Evangelium der Humanität ertönt. Das sind solche schneidende Contraste, wie sie die neuen Schriftsteller lieben. Der Held des Romans, ein Primaner, der schulflüchtig, von seinem Vater verstoßen, in die Hände des wilden Zehren geräth, wird bei der Katastrophe, die das Schmuggelhandwerk ereilt, mitgefangen und zur Zuchthausstrafe verurtheilt, die er unter sehr gemilderten Umständen als Schützling des Directors und seiner Tochter verbüßt. Später finden wir ihn in einer Maschinenfabrik als tüchtigen Arbeiter, bis er sich zum Leiter und zuletzt zum Besitzer derselben aufschwingt. Ein Kleeblatt weiblicher Gestalten, die wilde Constanze, die stolze Hermine, die sanfte Paula, begleitet den Helden auf seinen Lebenswegen und erregt seine wechselnde Neigung. Hermine wird seine erste Gattin, sie stirbt zur rechten Zeit, um der Entwicklung des Helden nicht im Wege zu sein; denn nur Paula kann sie zu harmonischer Vollendung führen. Und es kostet einem Dichter ja blos einen Federstrich, um den Mißgriff seines Helden zu verbessern!

[747] Sie werden aus dieser Inhaltsangabe kaum ersehn, worin der fesselnde Reiz des Romans liegt; eine Menge zum Theil ergötzlicher Nebencharaktere, wie der Commercienrath und die Gouvernante Fräulein Duff, die Vorzüge des Styls, die Fülle geistreicher Gedanken, die durch das ganze Werk zerstreut sind, üben mit und neben den Abenteuern des Helden die größte Anziehungskraft aus.

Doch wo ist Hammer und Amboß? – werden Sie fragen. Ueberall und nirgends. Wir müssen nur mit den Augen des Dichters sehn. Unsere Zeit mit ihren Zuchthäusern und Fabrikwerkstätten erscheint hier noch als eine barbarische. Ueberall das kaum versteckte Verhältniß zwischen Herr und Knecht, überall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß. Doch es giebt ein Drittes, welches diese Wahl ausschließt. Der Held selbst zeigt den Weg, indem er die Arbeiter seiner Fabrik am Schluß zu Theilhabern derselben macht, nach Verhältniß ihrer Kräfte, ihres Verdienstes, ihrer Mittel.

Ich errathe Ihre Gedanken, Madame! Sie meinen, Hammer und Amboß sind so alt wie die Welt und werden mit ihr älter werden. Doch wer hat mehr Recht, an eine schöne Zukunft zu glauben, als die Dichter? und dichterische Naturen wie Sie werden den Glauben an den endlichen Sieg der Humanität nicht verdammen!