Zum Inhalt springen

London und seine Eisenbahnen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCXXXII. Triest Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCXXXIII. London und seine Eisenbahnen
CCCXXXIV. Coimbra in Portugal
  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
[Ξ]

DIE EISENBAHN
von London nach Greenwich

[12]
CCCXXXIII. London und seine Eisenbahnen.




Die Industrie hat den Weltthron bestiegen. Nicht Szepter und nicht Schwert hält ihre Rechte; ihr Herrscherzeichen ist der Oelzweig. Die heutige Industrie wird, sie muß bei ungestörter Fortentwickelung verwirklichen, was utopischer Traum war; sie muß den Krieg zur Unmöglichkeit machen. Mit Unrecht und ihr Wesen verkennend, hat man ihrem Treiben, das an Umfang, Unerschöpflichkeit und Größe Alles übertrifft, was die Geschichte kennt, die einseitige Wirkung zugesprochen, es werde der größern Zahl nichts übrig lassen, als ein rastloses, sinnliches Sorgen für Erwerb, Comfort und Genüsse aller Art, und die Menschheit dem grassen Materialismus gar überliefern. Als wenn ein solches Sinnenleben mit dem Weltgeiste sich vertrüge, der in allen Richtungen die Völkerschichten aufrüttelt und zu neuen, edleren Gestaltungen treibt! Jene Furcht ist baare Thorheit. Gewiß sind vielmehr die Riesenfortschritte der Industrie, der Windsbrautflug in den praktischen Künsten, eben so viel Anbahnungen zu Aehnlichem im Gebiete des Geistes, – unerläßliche Grundlagen, auf denen die Vorsehung den höhern Aufbau errichten will, den zu schauen unsere Zeit, oder doch unserer Kinder Zeit, berufen ist. Wer wäre so blind, daß er in den Eisenbahnen und in der Dampfschifffahrt nicht ausgestreckt sähe den gewaltigen Arm, welcher auf ein unerhörtes, organisches Zusammenleben der ganzen Menschheit hinweiset? Wessen Auge wäre so gar in Finsterniß befangen, daß es nicht in der fortsteigenden Anwendung der Maschinen und neu entdeckter mechanischer Kräfte eine Zukunft gewahrte, die den Menschen vom Adamsfluch erlöst, selbst Maschine zu seyn und in der rohesten Arbeitsfessel sein irdisches Daseyn zu verhauchen? Wer wäre so kurzsichtig, daß er nicht in der immer wachsenden Vervollkommnung, Vermehrung und Verwohlfeilerung der Bequemlichkeiten und Genüsse eine Verheißung läse von einer nicht fernen Zeit, wo auch der großen Masse der Menschheit, jener, welche man bisher mit der Hoffnung auf eine überirdische Seligkeit so wohlfeil abgefunden hat, ihr gebührendes Theil werden wird an den Genüssen, welche die Vergangenheit einer unendlichen Minorität gleichsam als Privilegium spendete? und wer freut sich nicht einer solchen Verheißung, die Allen gibt und zusagt, einem nimmt oder abkürzt? Das mit derselben nicht im Einklang zu stehen scheinende Rast- und Ruhelose im heutigen Treiben soll Niemanden irren. Der Preis lohnt der Mühe wohl, und es ist schon recht, daß er im Schweiße des Angesichts verdient seyn will. Es ist ein Preis, nicht der Unthätigkeit, sondern der Anstrengung, des Kämpfens, des Ringens.

[13] Kampf also und Ringen, Wettlauf und Wettstreben, nicht Ruhe, nicht Stillstand muß jeht auf der Erde seyn unter dem Walten des Oelzweigs. Der Krieg erstirbt; aber der Kampf bleibt lebendig: ein Kampf, der alle Kräfte bewegt, alle Elemente der Gesellschaft zur Theilnahme herbeizieht und doch kein Schlachtfeld röthet. Ein recht demokratischer, nivellirender Kampf ist es, bei dem meine republikanische Seele aufjubelt und mein die arme Menschheit liebendes Herz vor Freude hochklopft. Jagen nicht Alle nach dem einen Ziele, nach dem einen Preise, und unter dem einen Panier – dem der Gleichheit? Welcher Stand schließt sich noch aus? Nimmt der Strom der Industrie und des Erwerbs sie nicht mit einander auf und drängen nicht Alle sich auf der nämlichen Bahn? Der Ritter, der Freiherr, der Graf, der Fürst, Prinzen aus Königs- und Kaisergeschlecht, – all dieser stattliche Troß wirft die buntschäckigen Wappenröcke von sich und rennt mit nackten, arbeitsrüstigen Armen, Quasi-Kaufleute und Fabrikanten, mit dem Plebejerhaufen dahin, dem er ehedem sich nicht im Traume beigesellen mochte. Und nicht im Faschingsspaße, sondern im Ernste. Der hat den Speer zum Weberbaum gemacht, jener das Schwert zum Futtermesser, ein Dritter stellt Spinnmühlen auf in seinem Rittersaale und noch Andere trachten in Gewerbeausstellungen nach Ehre so eifrig, als die Ahnen nach Turnierpreis. Statt den Plan zu machen zu einem Feldzuge, der Länder verwüstet und Völker schlachtet, studirt der König die Rede für die nächste Versammlung, nicht des Reichs- oder des Fürstentags, sondern der Gewerb-Notabeln einer Provinz, und Mäkler sitzen im Rathe der Großen und diese erröthen darob nicht. Alle Schranken der Geburt und des Standes sind vor der industriellen Erklärung der Menschenrechte gefallen und die neuen Gleichheitsprediger durchziehen, sonder Scheu vor Herrschern und vor Kerkern, die absolutistischen Reiche. In diesem Sinne gährt es in Rußland wie in England, in Preußen wie in Frankreich, in Oesterreich durch alle Provinzen nicht weniger, wie in den Staaten des freien Bundes, den die Washington’s und Franklin’s aufgerichtet. In diesem Sinne ist ganz Deutschland in Bewegung und kein Bundesbeschluß steuert ihrem Fortschritt. Die Industrie, die Weltkönigin selbst, macht Revolution, auf daß unter ihren Stürmen ihr Thron sich mehr befestige. So ist alles auf den Kopf gestellt! Was hoch ist, eilt sich zu erniedrigen, der Niedrige steht dem Hohen gleich, der Adeliche drängt sich dem Bürgerlichen an, und der stößt den Hochgebornen zurück, für die unerbetene Ehre dankend. Chaotisch wirrt sich’s, drängt sich’s, reibt sich’s, stößt sich’s; doch erwächst eine Einheit daraus: – allgemeineres, größeres Menschenglück. Die Revolution geht vor unter den Augen der Mächtigen und – die Umwälzungsfeinde, hört! sie klatschen Beifall.

England ist in diesem Umwälzungsstreben weit voraus. Es gibt den Maaßstab für alle die Erscheinungen her, welche die andern Länder aus gleichem Streben zu erwarten haben, und der Britannia Siegesruf stachelt die übrige Welt rastlos zur Eile und zur That. Dort hat das Eisenbahnwesen, zumal in den letzten 5 Jahren, Wunder gewirkt, welche man zehn Jahre früher noch nicht als möglich denken, geschweige zu hoffen wagte. Längs [14] den Eisenbahnen, den Pulsadern des neuen Lebens, bauen ganze Bevölkerungen sich jetzt ihre Wohnungen hin, und gleichsam als wäre es nicht genug, daß der Raum in der Zeit fast vernichtet ist, strecken die großen Städte ungeheure Arme aus, sich auch körperlich zu umfangen. In wenigen Jahrzehnten wird ganz England durch Eisenbahnen und Dampfschifffahrt nur noch einer Stadt in einem Parke gleichen. In diesem Parke werden die Flüsse, die Canäle, die Eisenbahnen mit ihren sprühenden, fliegenden Feuerrossen, die Wälder und Felder, die prachtvollen Gärten und die tausende von Schlössern, die stadtgleichen Dörfer und jene Landstädte, die den Metropolen des Continents ähnlich sind, die Staffage seyn, und das heutige London, das schon drei Grafschaften, ganz oder theilweise, mit seinem Häusermeer überdeckt, dessen Bevölkerung (über 2 Millionen) die ganz Portugals übersteigt, wird der Mittelpunkt werden eines Conglomerats von vielen hundert Städten, dem es seinen Namen verleiht.

Es ist keine Kunst, ein Prophet zu seyn, wenn alle die Zukunft gestaltenden Bedingungen in der Gegenwart klar vor Jedermanns Augen liegen. Ganz England ist jetzt beschäftigt, sich mit einem Netz von Eisenbahnen zu überstricken, dessen Fäden mit London sich verknüpfen, wie die Adern im thierischen Körper mit dem Herzen. Erst ein Paar der Hauptlinien sind vollendet und strecken sich 200–250 englische Meilen weit in’s Reich; aber viertehalb hunderttausend Arbeiter, nebst einer nicht zu berechnenden Masse thierischer, wie lebloser, mechanischer Kräfte bauen gegenwärtig an den übrigen, und schon im kommenden Jahre wird die directe Eisenbahnverbindung Londons mit etwa 40 der größten Städte Englands in Nord und Süd und West und Ost dem Verkehr geöffnet seyn. –

Die Bahnhöfe der verschiedenen von London nach allen Richtungen aus zweigenden Routen befinden sich an den äußersten Enden der Stadt; der nach dem Süden an der Vauxhallbrücke, der nach dem Norden in Eustonsquare, der nach dem Westen in Paddington, jener nach dem Osten bei Holyway, der nach Greenwich an der Londonbrücke. Da schon täglich über 240,000 Personen von den verschiedenen Bahnhöfen befördert werden, oder daselbst ankommen, so kann man leicht berechnen, welche Vermehrung der Communikationsmittel innerhalb der Stadt dieses Ab- und Zuwogen so großer Menschenmassen aus allen Theilen der ungeheuern Metropole fordert. 3000 Omnibusse und eine Menge kleiner Dampfschiffe sind, jene in London, letztere auf der Themse, an verschiedenen Punkten stationirt, blos um den Dienst der Bahnhöfe zu besorgen. Die Concurrenz hat die Fahrpreise unglaublich herabgedrückt, was nöthig war, um den, bei den frühern unzulänglichen Einrichtungen und theuern Fiackerfahrtaxen unvermeidlichen, Uebelstand zu entfernen, daß dem Passagier die Reise in London, von seiner Wohnung nämlich bis zum Bahnhofe, oft mehr kostete, als eine Tour, 100 Meilen weit in’s Land. So niedrig auch für die englischen Geldverhältnisse die Eisenbahnpreise jetzt schon sind, so werden sie doch von Jahr zu Jahr wohlfeiler, was bei der immer steigenden Concurrenz der Unternehmungen nicht anders seyn kann. Wo die Grenze der Verwohlfeilerung seyn wird, läßt sich nicht wohl bestimmen. Bisher hat man die Erfahrung gemacht, daß in dem Verhältnisse, [15] als die Bahnpreise herunter gesetzt wurden, die Benutzung der Bahn gestiegen ist, und dieß in einigen Fällen so sehr, daß bei halben Preisen sich die Unternehmer besser standen, als früher bei den doppelten. Denke man sich nach Vollendung aller Bahnen und bei’m Minimum der Fahrpreise das Gewimmel der Bevölkerung! Es ist gar nicht abzusehen und die wunderbarsten Verhältnisse werden daraus hervorwachsen. Die Perspektive ist so colossal und endlos, daß sie jeder Maasberechnung spottet. – Noch ist die längste der von London ausgehenden fertigen Bahnen die, welche über Northhampton, Nottingham, York nach Durham führt, und im nächsten Jahre schon über Newcastle nach Edinburgh fortgesetzt werden wird. Bis York sind’s fast 200 englische Weilen. Man macht diese Fahrt in 8 Stunden für 1 Pfund Sterling. Vor 25 Jahren brauchte man dazu, mit Extrapost, 2 Tage und 3 Nächte; die Reise kostete das Achtfache, der Mehrbeschwerde nicht zu gedenken. Eine zweite fertige, auch lange Bahn geht über Birmingham nach Liverpool. Nach Birmingham sind’s 100 englische Meilen; man braucht dazu 10 Schilling und 3 Stunden. Sie wird wöchentlich von 60,000 Personen befahren. Im nächsten Monat (Januar 1841) steht die Eröffnung einer Fortsetzung dieser Bahn bis nach Lancaster (210 engl. Meilen von London) zu erwarten. Alle diese Bahnen sind nur ein Paar Hauptfäden des über den ganzen Norden von England gelegten Netzes. Unglaublich ist die Thätigkeit, welche sich für die schleunigste Vollendung desselben entwickelt. Ueberall in diesem Theile des Landes sieht man Tausende und aber Tausende von Arbeitern, Viadukte erheben sich, Brücken werden geschlagen, Durchstiche gemacht, Dämme aufgeworfen, und Tunnels wühlen und wölben sich durch der Berge Bauch. Schon ist der frühere Verkehr vervierfacht und jeder Distrikt, jede Grafschaft, jede Stadt beeilt sich, Theil zu nehmen an der allgemeinen Erndte.

Unter den kurzen, von London ost- und südwärts auslaufenden Bahnen zieht die nach Greenwich, wegen der Kühnheit ihrer Bauart, die Aufmerksamkeit aller Reisenden auf sich. Ihr Bahnhof ist an der rechten Seite der Londoner Brücke; er gehört ihr und der nach Brighton führenden Bahn (die zur Zeit erst bis Croydon fahrbar ist) gemeinschaftlich. Der Stahlstich gibt dessen Ansicht bei der Anfahrt. Trotz der ungeheuern Summe, welche, der besondern Lokalverhältnisse wegen, der Bau kostete, macht sich diese kleine, 5 engl. Meilen lange Strecke doch bezahlt. Für den Grund und Boden zu dem Pfeilerraum hat man allein über eine halbe Million Gulden ausgegeben.

Es war eine des Zeitalters würdige Idee, ein Riesengedanke war es, eine Eisenbahn zu bauen, welche, von Anfang bis zu Ende thurmhoch über einen großen Theil von London hinweg führt. Der ganze Trakt ruht auf einem Viadukt von etwa tausend Bögen, zwischen denen zum Theil schon wieder Wohnungen eingebaut sind. Mehre hundert Hauser mußten angekauft und niedergerissen werden, um den Bahnraum zu erhalten. Der Bau begann im Frühjahr 1834; er kam binnen 3 Jahren zu Stande. – Ihre Frequenz im Sommer ist ungeheuer. Zuweilen [16] fahren an einem Tage über 40,000 Personen. Höchst eigenthümlich ist die Lust, an solchen Tagen, in Gesellschaft vieler Tausende über das Hausergewühl der Tiefe hin dem Lieblingsziele der Cockney’s zuzufliegen, den immer grünen Hügeln, und Spielgründen und schattigen Gängen im Parke von Greenwich. Ein Wagen voll Musikanten, unmittelbar hinter dem Tender, eröffnet den unabsehlichen Train. Zwar geht die Fahrt großartigen Gebäuden nicht vorüber, allein der Blick, durch tausend andere Dinge beschäftigt, sucht auch nichts weniger als architektonische Schönheit. Von Häusern sieht man fast nur die Dächer; schwärzliche, rußige, ohne Glanz, ohne Zierde, düster, die meisten niedrig und klein. Um so herrlicher aber tritt das grandiose Bild heraus, welches sich dann und wann aufthut, wenn der Blick den Strom in der Tiefe erhascht. Mast an Mast, Wimpel an Wimpel drängt sich dort, so weit das Auge abwärts dringen kann, und durch die Mitte dieses unabsehlichen Waldes wälzt sich der Themse glitzerndes Gewässer, auf dem ein lebendiges Treiben von kommenden und gehenden Schiffen, Leuchtern, Boten und schnaubenden Pyroscaphen hin und her wogt. Ein unverständliches Tosen, das Produkt von hundert verschiedenen Tonelementen, dröhnt herauf: das Zurufen der Kommandirenden, das Aufhissen der Segel, das Knarren der Taue, das Schlagen der Ruder, das Aechzen der Krahnen, das Rasseln der Maschinen, das Peitschen der Wellen durch die Ruderräder, das Hämmern, Poltern, Klopfen an Borden und Kayen macht ein wunderliches Accompagnement zu der Musik, zu dem Zischen und Schnaufen des Feuerrosses, und seinem unheimlichen Hufschlag, von dem der luftige Bau erzittert. Westlich aber erhebt sich das unermeßliche London selbst, nur in den näheren Parthien dem Auge klar und deutlich; seine Ferne in Halbhelle und in Nebel, die fernsten Punkte in undurchdringliche Dunstwolken gehüllt, über denen die Thurmgestalten wie graue Riesenschatten ragen. Das Ganze ist ein Bild, dessen Mannichfaltigkeit und Großartigkeit seines Gleichen auf Erden sucht.

Die ganze Fahrt nach Greenwich dauert nur 6 Minuten, und im bunten, lauten, frohen Gewimmel, das am Ziele empfängt, verschwimmt das Gesehene wie Wolkenbilder einer Traumwelt.