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Lore von Tollen

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Lore von Tollen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–19, S. 1–7, 21–26, 37–42, 53–58, 69–74, 85–91, 101–106, 117–122, 133–138, 149–154, 165–170, 181–186, 201–206, 231–235, 251–255, 270–272, 286–292, 302–307, 318–322
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]

 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Roman von W. Heimburg.

Die Herbstsonne warf ihren fröhlichen Schein in die kleine Logirstube der Frau Majorin von Tollen, blitzte aus dem einfachen Spiegel an der sonst kahlen Wand zurück und ließ die Spitze eines Infanteriehelmes funkeln, der, aus dem geöffneten Futterale hervorsehend, neben allerhand Toilettengegenständen auf dem einzigen, etwas altmodischen Tische des Stübchens lag. Der vorschriftsmäßige Offizierskoffer stand am Boden, theilweise der Uniformstücke entleert, die auf dem Bette und den Stühlen umherlagen und hingen. Auf einem der birkenen Holzstühle saß ein junger schlanker Mann, unschwer als der Eigenthümer dieser Siebensachen zu erkennen. Er hatte ein hübsches intelligentes Gesicht, braunes dichtes Haar und über der Oberlippe ein keckes Schnurrbärtchen. In diesem Augenblick besah er mit verdrießlicher Miene einen Stiefel von höchst eleganter Façon.

„Verfluchte Wirthschaft!“ murmelte er, „mein einziges Paar Lackstiefel – Rechnung noch längst nicht bezahlt – und das Kamel von Dienstmädchen hat sie mit ordinärer Wichse – – unglaublich!“

Aergerlich warf er den Stiefel zu Boden, stellte sich, die Hände in den Taschen seiner Beinkleider vergrabend, an das einzige Fenster des schmalen weißgetünchten Raumes und betrachtete das kleine längliche Stückchen Erde dort unten, welches den stolzen Namen „Garten“ führte und in dessen engen Wegen der laue Herbstwind jetzt die ersten gelben Blättchen der alten Linde, seiner einzigen Zierde, umhertrieb. Um den dicken Stamm der Linde schlang eben ein junges Mädchen eine Waschleine; sie trat zu diesem Zweck auf die Bank, die den Baum umkreiste, und reckte sich auf den Zehen empor, um das Ende des Taues über einen Ast zu werfen. Es war eine wunderschöne schlanke Gestalt in einem sehr einfachen grauwollenen Morgenkleide. Die zurückgestreiften Aermel ließen ein Paar fein modellirter Arme sehen; das Haar lag in dichten schweren Flechten am Hinterkopfe und schimmerte wie mattes Gold unter dem einfachen Strohhut hervor. Ihr Thun hatte nichts Rasches an sich; es war eine ausgesprochen vornehme Art, mit der sie sich bewegte.

Ueber den Rasenplatz kam eine ältere Frau; sie trug, mühsam schleppend, mit dem Dienstmädchen, einem kleinen rothhaarigen schwächlichen Geschöpfe, einen Korb voll nasser Wäsche; ihre blaue leinene Schürze zeigte die feuchten Spuren des Waschfasses. Sie setzte den Korb hin und nickte dem jungen Mädchen zu, das von der Bank herabgesprungen war und eifrig begann, die Zeugstücke auf die Leine zu hängen.

Die ältere Dame blieb, tief athemholend, ein Weilchen stehen und wischte die Stirn; dann folgte sie dem Dienstmädchen wieder in das Haus zurück.

Das Gesicht des jungen Offiziers färbte plötzlich eine dunkle Röthe, während er [2] diese einfachen Vorgänge beobachtete. Und just in diesem Moment flog der Blick des Mädchens seinem Fenster zu. Sie hielt in ihrer Beschäftigung inne und kam herüber.

„Bist Du schon aufgestanden?“ scholl ihre helle Stimme fröhlich zu ihm hinauf. „Warte nur einen Augenblick, Rudolf, Du sollst sofort den Kaffee haben.“ Sie band die Klammerschürze ab, warf sie zur Erde und schritt eilig in das Haus.

Er wandte sich um und verließ das Zimmer; auf dem engen Flur scholl ihm das Klappern von Tassen und Tellern aus der im Erdgeschoß befindlichen Küche entgegen. Er stieg das schmale ächzende Treppchen hinunter und wurde am Fuße derselben von seiner Mutter empfangen. Ihr vergrämtes, von der Anstrengung der Arbeit geröthetes Gesicht hing mit aufleuchtenden Augen an den seinen.

„Guten Morgen, Rudi,“ sagte sie freundlich, „Du mußt nun auf den Kaffee warten, wer konnte denn auch ahnen, daß Du schon so früh aus den Federn sein würdest! Hast Du gut geschlafen, Herzensjunge?“

Sie streckte ihm die noch vom Waschen faltige Hand entgegen. „Komm in die Eßstube,“ bat sie, „Lore ist gleich fertig mit dem Frühstück.“

Er folgte stumm und verlegen; seine hohe Gestalt in eleganter Joppe mußte sich bücken unter der niedern Thür. Er sah sich in dem kleinen Zimmer, dessen blau und grau gemusterte Tapete die Spuren langjähriger Dienste trug, mit einem unbehaglichen Ausdruck um, und an dem sauber gedeckten Tische vor dem Sofa, auf welchem die Mutter bereits Platz genommen, stehen bleibend, fragte er verdrießlich:

„Warum wäschst Du denn selbst, Mutter?“

„Aber, Rudi!“ gab die alte Dame zurück, während sie hastig eine Semmel mit Butter bestrich. „Weil – nun – weil es mir Vergnügen macht, und der Lore auch.“

„Schönes Vergnügen! Langt’s denn nicht mal mehr zu einer Waschfrau?“

Die Majorin war roth geworden. Es langte in der That nicht mehr, seitdem die Zinsen des kleinen Kapitals fehlten, das im vorigen Jahre für Rudi „in einem dringenden Falle“ geopfert wurde, aber sie begnügte sich mit einem leisen Kopfschütteln. „Laß Dich doch das nicht kümmern, sagte die Dame, „es ist wirklich nicht schlimm. Setze Dich her, siehst Du, da kommt Lore mit dem Kaffee.“

Das junge Mädchen hatte eben die Kanne auf den Tisch gestellt und faßte nun den lockigen Kopf des Bruders mit beiden Händen. Guten Morgen, Du!“ rief sie lachend. „Was machst Du denn für ein Gesicht, Du Brummbär? Wie hast Du geschlafen?“

„Schauderhaftes Lokal, diese sogenannte Logirstube,“ erwiderte er, das schöne Mädchen etwas freundlicher betrachtend, „überhaupt ein nettes Unkenloch, diese neue Wohnung, die vorherige war wenigstens einigermaßen präsentabel, aber –“

„Aber diese kostet achtzig Thaler weniger!“ rief Lenore von Tollen, „und hier hast Du Sahne und Zucker; nimm recht viel davon, damit Du etwas weniger bittere Reden führst.“ Sie setzte ihm, noch immer lächelnd, die Unterschale näher und verließ das Zimmer. „Mama,“ rief sie, noch einmal zurückkommend, „nun bleib’ ganz ruhig sitzen und erzähle Dir etwas mit Rudi, ich besorge draußen schon alles, Papas Kakao steht auf dem Herde, wenn Du ihn suchst.“

Die Mutter betrachtete zunächst in stummer Bewunderung den ihr gegenübersitzenden Sohn. Dann aber begann der lange mühsam zurückgehaltene Redestrom. Jetzt hatte sie ihn ja endlich allein und konnte, wozu gestern abend nach seiner Ankunft keine Zeit mehr gewesen war, nach all den tausend Dingen fragen, die das Mutterherz zu wissen wünschte. „Der Vater freut sich so sehr, Rudi,“ schloß sie endlich, „Du mußt ihm recht viel erzählen; ich bin so glücklich, daß Du vier Wochen Urlaub hast, schon Lorchens wegen. Du lieber Himmel, sie hat wirklich nichts von ihrem jungen Leben!“

„Na, in diesem Neste –“ meinte der Sohn und brannte sich eine Cigarre an, und die ersten Züge thuend, fragte er: „Hat sie denn die Unglücksidee immer noch, den blutarmen Kerl, den Doktor Dingsda, zu heirathen?“

„Da fragst Du mich zu viel, Rudi, ich weiß es nicht. Daß sich die jungen Leute für einander interessiren, ist mir nicht verborgen geblieben, aber zu einer Aussprache zwischen mir und Lore ist es bis jetzt nicht gekommen, und ich hüte mich, daran zu rühren.“

„Wird ja wohl endlich vernünftig geworden sein,“ murmelte er; „aber hörst Du? Eben ist Vater erwacht.“

Ueber ihnen waren drei dumpfe Schläge erklungen, als werde mit einem Stock auf die Dielen gepocht. Frau von Tollen ließ ihre halb geleerte Tasse stehen und lief eilig aus dem Zimmer. Verstimmt blickte Rudi ihr nach. „Wo brennt’s denn?“ sagte er halblaut, setzte sich rittlings auf den Stuhl, die Arme auf die Lehne desselben gestützt, und blaue Ringel in die Luft blasend, dachte er darüber nach, wie er „dem Alten“ am besten eine höchst unangenehme Mittheilung machen könne, nämlich die, daß er einige Moneten brauche, um – na, natürlich um Schulden zu bezahlen. „Herr Gott, das wird wieder mal ein schönes Lamento geben! Aber es ist ja geradezu himmelschreiend, daß man mit der Lumpenzulage ausreichen soll! Und wenn man noch obendrein das schreckliche Pech hat –“

Er stockte in seinem Selbstgespräch, denn die Schwester kam herein. Sie hatte anstatt der großen Arbeitsschürze eine zierliche weiße umgebunden, die Aermel heruntergestreift und setzte sich mit einer Schüssel voll Bohnen dem Bruder gegenüber an das Fenster.

„So,“ sagte sie, „und nun erzähle mir auch etwas, Rudi; wir haben uns lange nicht gesehen; Stoff genug wirst Du haben.“ Sie begann dabei mit flinken Fingern die Bohnen zu schneiden und sah erst nach einem Weilchen, als keine Antwort kam, in das Gesicht des Bruders. Sie mußte diesen verdrießlichen, sorgenvollen Ausdruck kennen, mit dem er an ihr vorüberschaute; ihre schönen bräunlichen Augen öffneten sich plötzlich schreckhaft. „Um Gotteswillen, Rudi, Du hast doch keine Unannehmlichkeiten gehabt?“

„Ah! Bah! Es ist nicht von Bedeutung – aber – ich wollte, Papa wüßte es erst!“

Aus ihrem blühenden Antlitz wich jede Spur von Farbe, eine peinliche Angst malte sich in den weichen Augen. „Rudolf, wenn es Papa betrüben könnte, so verschweige es ihm – er ist so elend, so aufgeregt – ich bitte Dich!“

Er zuckte die Schultern und rauchte weiter.

„Was ist’s denn?“ drängte sie. „Du brauchst doch nicht etwa Geld, Rudolf?“

„Allerdings! Der ‚Isidor‘ ist mir gefallen; ich wollte ihn ja verkaufen, weißt Du, um damit Löwenthal zu befriedigen – kriegt das Beest die Kolik und ist in drei Stunden lebendig und todt!“ „Löwenthal? Wer ist Löwenthal und was verlangt er? Du hast im vorigen Jahre nichts gesagt von ihm –.“

Geld verlangt er!“ klang es ärgerlich zurück, „und seines Zeichens ist er Pferdehändler, den ich angepumpt habe; voilà tout –.“ Das junge blonde Geschöpf senkte den Kopf wie unter einem schweren Schlag. Sie hatte es geahnt, als der Brief kam mit der Meldung seines Besuches: er kommt, um neue Sorge zu schaffen, umsonst würde er sich nicht in dieses „Wurstnest“, wie er es zu nennen pflegte, hinsetzen; umsonst nicht die tödliche Langweile des „theuren Vaterhauses“ vier Wochen lang genießen wollen – und ihr Ahnen war jetzt plötzlich zur Gewißheit geworden. Da saß er und rauchte von den Cigarren, die sie angeschafft mit ihren ersparten Groschen, und draußen mühte sich die Mutter in der Küche, um das Leibgericht ihres Lieblings zu kochen. Tagelang hatte die alte Frau von weiter nichts gesprochen, als - „wenn Rudi erst da ist - wenn Rudi kommt –.“

Ja, nun saß er da, und mit ihm war die Sorge in das bescheidene Haus geschlichen, um sich abermals an das Krankenbette des gelähmten Vaters zu setzen und neben der bekümmerten Mutter zu stehen, wenn sie ungewohnte harte Arbeit that – damit sie ihr noch schwerer werde.

Lenore von Tollen war keine von den jungen Damen, die mit großen Erwartungen in die Zukunft blicken, aber ein bißchen Sonnenschein mitunter, so meinte sie bescheiden, wäre wohl nothwendig zum Leben. Ach, und die Sonne schien selten in dies junge Herz, und wenn ihre Strahlen wirklich einmal so recht goldig blinkten, dann kam immer und immer wieder eine dunkle Wolke und verhüllte sie. – Die dumpfen Wochen des vergangenen Jahres stiegen in ihrer Erinnerung auf, die einem ähnlichen Bekenntniß des Bruders gefolgt waren; die Bewegungen der kleinen sonst so flinken Hände verlangsamten bei der Aussicht auf eine erneute Katastrophe, auf abermalige Kummerthränen der Mutter, [3] da die ersten kaum getrocknet; auf frischen Gram und Groll des kranken Vaters, der den alten noch lange nicht verwunden, und lähmten sie förmlich.

„Sag’s ihm heute nicht!“ preßte sie endlich hervor, „schweige bis nach seinem Geburtstage, Rudolf.“ Und als er eine ungeduldige Bewegung machte, setzte sie leise hinzu: „Helfen kann er Dir ja doch nicht mehr.“

„Den Kuckuck auch!“ murmelte der Lieutenant, „wer soll es sonst? Mein Herr Bruder läßt mich abfallen, der Onkel schützt Müdigkeit vor –“

„Du hast an Viktor geschrieben?“ fuhr das junge Mädchen auf, und eine flammende Röthe goß sich über ihr Gesicht. „Rudolf, wie konntest Du das thun, wie ist es Dir möglich gewesen?“

„Ich habe nicht geschrieben, ich war persönlich bei ihm,“ erwiderte er gelassen und strich die Asche seiner Cigarre vorsichtig an der Stuhllehne ab. „Ich bin in D. vorgefahren gestern und wurde sehr liebenswürdig empfangen. Sie hatten just große Mittagsgesellschaft und luden mich ein, da zu bleiben; es waren verschiedene höhere Offiziere nebst Familie anwesend und einige von Frau Klothildens Verwandtschaft, vor jedem Gedeck standen sechs verschiedene Gläser, die Sache fing an mit Austern und zum Schluß floß der Sekt in Strömen. Aber Viktor, den ich nach Tische sprach in der bewußten Angelegenheit, erklärte mir sehr freundlich und verbindlich, daß er leider nicht in der Lage sei, meinen Wünschen zu entsprechen. Er habe den Grundsatz, aus den Mitteln seiner Frau Gemahlin nicht einen Dreier herauszuziehen, um ihn in seinem oder seiner Familie Interesse zu verwenden; er selbst aber verfüge über gar nichts weiter, als sein bescheidenes Rittmeistergehalt, das wisse ich jawohl auch, es thue ihm so leid – so leid –. Wir drückten uns zärtlich die Hände, ich saß noch ein Stündchen in Frau Klothildens Salon und ließ mich dann von ihr zu allerhand Ritterdiensten kommandiren, empfahl mich noch vor den übrigen Gästen und gab dem in lila Sammetlivree gesteckten Diener meinen letzten Thaler als Trinkgeld. Das Eisenbahnbillet bis Wellenberg hatte ich, Gott sei Dank, in der Tasche und durch die Liebenswürdigkeit meiner Schwägerin so außerordentlich dinirt, daß ich die fünf Stunden Coupefahrt von Berlin bis hier aushielt, ohne hungrig zu werden, – und soweit wären wir ja denn glücklich, meine liebste Lore.“

„Gott sei Dank – Du hast wenigstens sie nicht – angesprochen!“ kam es über des Mädchens blasse Lippen.

„Genire Dich doch nicht, sag’s nur heraus – ‚angebettelt‘,“ fiel er ein. „Nein, ich habe nicht mündlich gebettelt, aber vielleicht schreibe ich noch an sie.“

„Rudolf! Die Frau, die uns alle so kränkend behandelt, die unserer Schwester in ihrem Hause eine Stellung zuweisen wollte, welche noch unter dem Niveau einer ‚Bonne‘ war – an die wolltest Du Dich wenden, damit sie weiter erzählen kann, die ganze Familie ihres Mannes liege ihr zur Last?“

„Ah, bah! Helene hat das übertrieben; sie ist zimperlich und nervös geworden durch ihren ewigen Brautstand und hat die Manieren einer alten Jungfer angenommen. Es wird Zeit, daß ihr geliebter Franz sie unter die Haube bringt,“ erwiderte er. „Klothilde hat nicht allein über sie geklagt,“ fuhr er fort, „der Onkel auch. Der alte Geck kann übrigens meinetwegen nach Borneo gehen; ich werde ihn nicht mehr inkommodiren. Schreibt mir auf meinen sehr höflichen Brief, er sei im Begriff, eine größere Reise zu machen und habe dazu seine paar Kröten selbst nöthig; ich solle dach endlich ernstlich daran denken, mit meinen Mitteln auszukommen. Ein jeder müsse sich nach seiner Decke strecken. Es ist zu angenehm, wenn die Leute so ein bißchen armselig thun können, sie kommen damit so hübsch weit. Der hat sein Schäfchen im Trocknen auf der Reichsbank, aber – nur nichts hergeben!“

„Verzeihe, Rudi, der Onkel hat kein Vermögen; er besitzt weiter nichts, wie seine Pension als Generallieutenant, und davon giebt er redlich ab,“ versicherte Lore. „Er bezahlt ja doch das Schulgeld für Käthe und giebt mir und Helene ein kleines Taschengeld. Und an Papa schickt er Wein und Tabak, und –“

„Ja, an Euch Mädchen hat er einen Narren gefressen; unsereiner aber –“

„Er hat, weiß Gott, das Mögliche gethan, sollte ich denken,“ sagte leise das junge Mädchen.

„Ja, außerordentlich opulenter Weise,“ spottete der junge Mann und griff nach einer frischen Cigarre, „aber, was hilft alles Gekolke, ich muß das Geld schaffen, das ist ein Faktum.“

„Nein, nein, sage es nicht zu Vater!“ rief Lore und sprang auf, „heute nicht, und die nächsten Tage nicht. Ich will mit der Mutter reden, vielleicht weiß Franz Rath.“

„Helenes Bräutigam, der seit fünf Jahren auf Königszulage wartet, um heirathen zu können? Gutes Kind!“ Er sah sie bedauernd an und fuhr sich mit den schlanken weißen Fingern über die Stirn, warf die eben angezündete Cigarre fort und erhob sich. „Meinetwegen warten wir,“ gab er zu, „drei Wochen hat’s ja noch Zeit. – Was in aller Welt soll man nun den ganzen Tag anfangen?“ fuhr er fort und sah hinaus in den kleinen stillen Garten, wo die Wäsche lustig im Winde flatterte. „In diesem Krähwinkel giebt’s ja nicht einmal eine anständige Kneipe. Ist hier immer noch das alte Vergnügungsprogramm?“ fragte er dann, „der nachmittägliche Spaziergang? Mamas Whistpartie? Dein englisches Kränzchen und, wenn der Mond zuweilen scheint, um den auswärtigen Herrschaften die Landstraße zu erhellen, ein Klubabend mit Kälberbraten und Tanz?“

Das junge Mädchen hatte die Arbeit vollendet und räumte die gebrauchten Tassen auf dem Tische zusammen. Sie nickte leise auf des Bruders ironische Fragen.

„Nächsten Montag sind wir, auch Du, von Beckers zu einem Ball geladen.“

„Was?“ rief der Lieutenant, „mit denen verkehrt Ihr jetzt? Wie ist denn das gekommen? Papa schwur doch Stein und Bein, daß er mit diesen Geldsäcken nichts zu thun haben wollte?“

„Sie machten hier Visite,“ erklärte Lore, „erst der Sohn –“

„Adalbertchen Becker? Ei sieh, sieh!“

„Und dann die Mutter,“ fuhr Lore fort. „Der Kreis ist hier so klein, und Mama meinte, man könne sich nicht ausschließen, die andern verkehren alle mit ihnen, sie sind auch in den Klub aufgenommen.“

„Also Adalbertchen als Löwe der Westenberger Gesellschaft?“

„Ja!“ rief jetzt eine frische Stimme, „und unserer Lore macht er den Hof!“

Ein junges Mädchen zwischen sechzehn und siebzehn Jahren war hereingekommen, hing sich an des Bruders Hals und, ihn ansehend, bog sie den Kopf zurück, daß die langen dunkeln Zöpfe bis auf den Boden herunter hingen.

„Hast Du mir die Photographien vom Kaiser und von den Prinzen Wilhelm und Heinrich mitgebracht? Und –“

„Ratzibus vergessen, Backfisch!“ betheuerte der Bruder, „aber wenn ich wiederkomme –“

„Das sagst Du schon zum siebenten Mal. Wenn Du nicht willst, so laß es!“ war die Antwort. Sie setzte sich schmollend an den Kaffeetisch und schenkte ihre Tasse voll.

Sie war ein schlankes biegsames Geschöpf mit einem blassen Gesicht, das etwas ganz Fremdartiges hatte. Mitunter konnte man meinen, es sei geradezu unschön. Der Mund, obgleich klein, schien zu üppig, das kurze Stumpfnäschen allzu keck, der bräunliche Teint beinah fahl, aber dann brauchte sie nur die Augen aufzuschlagen, und alles war vergessen. Geradezu wunderbar waren diese großen, dunkeln, von langen Wimpern umschatteten Augen, aus welchen bald ein schwermüthiges Sehnen, bald übermüthige Lebenslust schaute; es wechselte beständig. Und diese Augen bestimmten den Ausdruck des ganzen Gesichtes, das einen Moment dem einer heimathskranken Spanierin, im nächsten wieder dem eines schelmischen Kobolds glich. Und natürlich war auch ihr ganzes Wesen diesem Augenwechsel entsprechend. Sie war mitunter der Sonnenschein des Hauses, ihr hellklingendes Lachen erfüllte es förmlich mit Lebenslust, aber sie konnte es auch finster machen, denn für Gelegenheit zum Aerger sorgte sie reichlich. Sie war die personifizierte Opposition gegen alle Hausordnung, wollte niemals helfen und verstand es meisterlich, sich von jeder Arbeit zu drücken, um sich mit einem Romane in irgend welchen unauffindbaren Winkel zurückzuziehen. In diesem Nesthäkchen schien sich der Feudalismus des ganzen Geschlechtes derer von Tollen konzentriert zu haben; sie hätte am liebsten einen Zelter bestiegen, den Falken auf den Handschuh gesetzt und wäre als Ritterfräulein in Wald und Heide auf die Beize geritten, so und soviel ihr huldigende Ritter im Gefolge. Wie die Sachen aber leider standen, mußte sie sich begnügen, anstatt einer stolzen Ritterburg ein sehr bescheidenes Miethshäuschen am Ende einer stillen Gasse der guten Stadt Westenberg zu bewohnen und in der Clematislaube des [6] Gärtchens von künftigen glänzenden Tagen zu träumen. Indessen sammelte sie eifrig Wappen, wußte die Stammbäume aller namhaften Geschlechter auswendig und gerieth über die immer häufiger werdenden Mesalliancen in hellen Zorn. Zur Hochzeit ihres ältesten Bruders simulirte die damals achtjährige Krabbe eine Halsentzündung und blieb daheim; sie hätte es nicht mit ansehen können, daß Viktor von Tollen, dem stattlichen Kürassier, ein simples Fräulein Lange angetraut wurde, und wären die Geldsäcke der niedlichen Braut noch zwanzigmal größer gewesen. Käthchen hätte am liebsten zu Zeiten der Raubritter leben mögen, damit Viktor den Herrn Kommerzienrath Lange ausplündern konnte, anstatt die Tochter zu freien. Dies alles hinderte sie aber durchaus nicht, mit wahrer Hingebung für Herrn Doktor Schönberg zu schwärmen, der die Litteraturstunden in der Selecta der Töchterschule übernommen hatte, welche Klasse Käthe besuchte, um das Erzieherinexamen zu machen. Sie suchte sich über diese „Verirrung“ mit den wunderlichsten Romanen zu trösten, in denen „Er“ jedesmal „von Schönberg“ hieß, der, nur durch die Noth gezwungen, seinen Adel einstweilen bei Seite legte. – –

Lore hatte die Schwester traurig angesehen. „Wie spät Du wieder aufgestanden bist,“ sagte sie vorwurfsvoll, „und konntest doch so gut etwas helfen, denn Deine Klasse beginnt heute erst um zehn Uhr.“

Käthe schnitt ein unbehagliches Gesicht, warf zwei große Stücke Zucker in den Milchkaffee und sprach von etwas anderem.

„Rudi! Rudi! ertönte jetzt die Stimme der Mutter draußen, „der Vater fragt nach Dir!“

Ein trauriger bittender Blick Lores folgte dem Hinausgehenden.




Lore war noch ein Weilchen in der Küche thätig gewesen, hatte ein zweites Frühstück in der Eßstube auf den Tisch gestellt, nach der Wäsche gesehen und sich dann in ihr eigenes Stübchen hinauf begeben, um Toilette zu machen. Es befand sich im Bodengeschoß und war eine sogenannte Mansarde; aber wie anmuthig sah es hier aus! Das schmale Bettchen unter dem schrägen Dach verdeckten duftige weiße Mullvorhänge, in denen die vielen Stopfen so fein ausgeführt waren, daß man meinen konnte, sie gehörten zu dem Blumenmuster. An dem niedrigen Fenster stand ein kleiner wunderlicher Schreibtisch, eine Art Rokokomöbel mit erblindeter Politur und allerhand Schäden, das eine der verschnörkelten Beine fehlte ganz und war in sehr primitiver Weise ersetzt worden. Aber dieser Schreibtisch war „historisch“; Frau von Tollen auf Donnerstadt nannte ihn einst ihr eigen, und Prinz Louis Ferdinand hatte, während er in Donnerstadt bei Gelegenheit eines Manövers zwei Wochen Quartier genommen, seine Briefe an diesem Tischchen geschrieben. Auf der oberen Platte standen nun die kleinen Nippessachen der jetzigen Eigenthümerin, bescheidene Blumenvasen, die stets gefüllt waren mit frischen Blüthen, wenn die Jahreszeit es erlaubte; Nadelkißchen, eine Kabinettphotographie des Kaisers, und als Pendant ein Bild der Königin Luise; kleine unbedeutende Kotillongeschenke, ein Kästchen mit Messingbeschlag zum Aufbewahren von Schmuck, das aber nur ein welkes Sträußchen in seinem dunkelrothen Atlaspolster barg. Auf der untern Platte lag die Schreibmappe, ein Geschenk Käthes; sie zeigte auf der Holzplatte in möglichster Größe, aber etwas primitiver Malerei das Tollensche Wappen, den silbernen Hund auf goldener Mauer im blauen Felde, und darunter den Wahlspruch: „Treu und fest.“ Der kleine Spiegel über der Kommode an der Längswand des Kämmerchens trug in der Ecke ebenfalls das Wappen; es wollte gar nicht zu der einfachen Holzleiste passen, die es umrahmte, so wenig, wie das schöne Mädchen in diesen niedrigen Raum zu gehören schien, in den es eben eingetreten war und wo es so unbeweglich stehen blieb mit tief gesenktem Haupt.

Endlich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, durch das geöffnete Fenster waren lärmende, lachende Stimmen erklungen. Sie spähte hinter den Blumenstöcken hervor zu dem Nachbargrundstück hinüber. Ein großes altersgraues Gebäude lag dort im klaren Sonnenschein, und auf dem weiten kiesbestreuten Platz davor tummelten sich ein paar hundert Knaben in diesem Augenblick. Ehemals ein Kloster, diente es jetzt dem Städtchen als Gymnasium.

Die Augen Lores irrten über die spielende bewegte Menge und blieben endlich mit beredtem Ausdruck an einem jungen Manne haften, der mitten durch das Getümmel über den Platz der Mauer zu schritt. Er trug einen dunkelblauen gut sitzenden Civilanzug und einen Filzhut von gleicher Farbe. Näher kommend, faßte er das Giebelfensterchen ins Auge und nahm grüßend den Hut ab. Rosig erglühend neigte Lore von Tollen den Kopf und trat zurück, während er, als geschehe es nur der warmen Sonnenstrahlen wegen, seine Kopfbedeckung in der Hand barhaupt weiterschritt.

Das junge Mädchen hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der vor ihrem Bette stand, sie konnte von dort aus seine Schritte verfolgen. Ein strahlendes Lächeln war über ihr Gesicht verbreitet, und so lächelnd wandte sie noch den Kopf zurück. als ihre Mutter eintrat.

„Lore,“ begann die alte Dame verlegen, „wenn es Dir keine Unbequemlichkeit macht – der Schuster – weißt Du, die Stiefel für Käthe und einige Reparaturen – er hat die Rechnung zum dritten Male geschickt und gleich quittiert. Die Frau wartet unten – und – ich bin – es ist der siebenundzwanzigste, Lore.“

Das junge Mädchen war aufgesprungen und an die Kommode geeilt. „Wie viel, Mama?“ fragte sie fröhlich, indem sie aus dem obersten Schub ein Kästchen hervorlangte und es vor dem Ohre der Mutter leise klappern ließ.

„Zwölf Mark. Lorchen – wenn es nicht zu viel?“

Vier blanke Thaler verschwanden in der Hand der alten Dame und vier Lippen preßten sich innig aufeinander. „Nächsten Ersten. Lore.“

„Mach’ Dir keine Sorgen, Herzensmutter!“

Als sie gleich darauf wieder allein war, überzählte sie ihren kleinen Schatz. Noch zwölf Thaler; davon würden drei für des Vaters Geburtstagsgeschenk sein, und das Uebrige – sie lächelte wieder und dachte an das hellblaue Tüllkleid, das sie so gern, so lebensgern zum ersten Winterklubabend sich kaufen wollte. Aber – Weihnacht? Nun, bis Weihnacht war schon längst wieder ihr Geburtstag gewesen und der Onkel hat die bewußten zwanzig Mark gespendet; bis dahin hatte sie auch aus dem Berliner Stickereigeschäft – sie sah sich unwillkürlich scheu um: das durfte ja niemand ahnen, daß sie heimlich für Geld arbeitete! Der Vater würde schelten, die Mutter weinen und Käthe außer sich sein. Und gar Rudi – ach, Rudi! –

Ihr sonniges Lächeln verschwand, wie hatte sie das nur einen Augenblick vergessen können? Still beendete sie ihre einfache Toilette und nahm, bevor sie das Zimmer verließ, von dem Bücherband eine Spruchsammlung, steckte den schlanken Finger zwischen die Seiten und las die Stelle, die seine Spitze berührte. Sie pflegte es jeden Morgen zu thun und den kleinen Wegweiser für den Tag in der zufällig bezeichneten Stelle zu suchen.

„Sorg’! Aber sorge nicht zu viel;
Es geht doch, wie Gott haben will.“

las sie.

Und noch einmal:

„Kein süßer Leid, denn Hoffen.“

Sie sprach es leise und wie fragend vor sich hin. Dann flog ihr Blick durch das Fenster zu dem Gymnasium hinüber, und wie Rosengluth ergoß es sich wieder über das schöne Gesicht. Hastig, als habe sie ein Geheimniß verrathen, schloß sie das Buch und lief hinunter zum Vater.

Der alte gelähmte Herr saß in seinem Rollstuhl, von blauen Tabakswolken umhüllt, und plauderte mit dem Sohne. Als er Lore gewahrte, flog ein ungeduldiger Zug über sein vergrämtes Gesicht. „Lore, wie tausendmal habe ich Dir schon gesagt, Du sollst Taubenfedern besorgen und die Pfeifen reinigen, sie sind kaum noch zu rauchen.“

„Papa, ich habe sie vor zwei Tagen alle gereinigt bis auf diese; Du rauchtest gerade daraus.“

„Ausreden giebt’s immer,“ polterte der alte Herr. – „Was sagte denn nun der freche Dachs von Fähnrich?“ wandte er sich, im Gespräch fortfahrend, an seinen Sohn. „Zu meiner Zeit hätte ich den Patron achtundvierzig Stunden eingelocht, aber –“

„Ist auch geschehen, Papa.“

„Lore!“ rief der Major.

Das Mädchen kam aus der Nebenstube zurück.

„Schließ die Fenster! Himmelsakrament, Junge, hör’ diesen Spektakel da draußen an! Was, ist’s denn schon Zwölf? Ach so – heute ist die Schule eine Stunde früher aus als gewöhnlich. Ich sage Dir, zum Verrücktwerden ist diese Wohnung; am Alltag der Schullärm und Sonntags drüben im sogenannten Hellmannschen Gartensaal die Tanzmusik“ – er verbeugte sich ironisch gegen Lore, die noch am Fenster stand – „alles haben wir den Damen [7] zu verdanken; sie fanden diese Bude idyllisch, gesund, allerliebst – ich weiß nicht, was noch! Und herein mußte ich!“

Lore antwortete nicht, sie putzte eben mit dem Staubtuche die Kommode, auf welcher der große Tabakskasten seinen Platz hatte. Rudolf war aufgestanden und ans Fenster getreten.

„Der Tausend,“ sagte er, „da kommt ja Herr Adalbert Becker zu Pferde. Gilt die Parade Dir, Lore?“ Er verbeugte sich dabei, einen Gruß erwidernd. „Donnerwetter, famoser Gaul!“

„Seine Mittel erlauben ihm das,“ brummte der Major, „und dabei hat er so viel Pferdeverstand, daß er kaum einen Percheron von einem Ziegenbock unterscheidet. Sieh ihn Dir an, der Kerl hängt wie eine Klammer auf der Waschleine.“

Das junge Mädchen war niedergekniet und befreite die geschweiften Füße des Sofatisches vom Staube.

„Ihr habt ja wohl Verkehr?“ fragte der Lieutenant.

„Wer unter Wölfen ist, muß mit ihnen heulen,“ erwiderte der alte Herr ungemüthlich, und als ob er möglichst von etwas anderem reden wollte, sprach er: „Gehst Du nicht einen Frühschoppen trinken? Du findest just die ganze Crême der Westenberger jeunesse dorée bei Kramer – am Markt, weißt Du?“

„Je nun, ja! Ich könnte es thun,“ war die Antwort.

Lore hatte eben, mit der Wasserflasche in der Hand, die Stube verlassen, als der Bruder ihr folgte. „Erlaube,“ sagte er galant, ihr die Karaffe abnehmend, „wolltest Du an die Pumpe?“

Sie nickte und ging neben ihm die Treppe hinunter.

„Papa scheint in etwas gereizter Stimmung,“ bemerkte er.

Sie blickte ihn ruhig an. „Nicht anders wie sonst. Er fühlt sich elend, die Gicht plagt ihn wieder; man muß Geduld haben, er meint es nicht so böse.“

Sie standen am Brunnen in der Nähe der alten Mauer. „Höre, Lore,“ sagte der Lieutenant, ihr die jetzt gefüllte Flasche reichend, „ich tränke ganz gern einen Schoppen bei Kramers – aber – Du weißt, in Berlin ist alles drauf gegangen, könntest Du mir, bis der Zahlmeister mein Gehalt schickt – Ich habe faktisch keinen Dreier mehr –“

„Aber natürlich, Rudolf!“ Unmerklich spielte ein Lächeln um den reizenden Mund. „Wie viel?“

„Wie viel kannst Du entbehren, Lore? Ich habe – ich muß nämlich auch eine kleine Rechnung abmachen. Würdest Du mir zehn Thaler geben?“

„Gewiß!“ Sie lief eilends die Treppe hinauf in ihr Stübchen und entleerte den Pappkasten seines Inhaltes. Ein paar Minuten später ging der Herr Lieutenant zu Kramer, und als er das Lokal wieder verließ, hatte er zwei Kaviarschnitten, ein Ragout fin und verschiedene Seidel Echtes genossen und für den andern Tag eine Reitpartie nach Demnitz verabredet mit Adalbert Becker und dem Bezirksadjutanten, um im dortigen Offizierskasino des Dragonerregimentes eine Pfirsichbowle mit auszutrinken, die Becker infolge einer Wette zu geben hatte. Er kam daher weniger gelangweilt nach Hause, als er fortgegangen war, neckte sich in liebenswürdigster Weise mit Käthe und erzählte Schnurren aus der Garnison, die den Major so heiter stimmten, daß er ein übriges that. Lore mußte in den Keller steigen und eine Flasche Rüdesheimer heraufholen.

„Ich trinke auf Se. Majestät unsern Kaiser!“ rief Käthe, mit dem Bruder anstoßend, und trank ihr Glas mit einer allerliebst burschikosen Manier auf einen Zug aus. Und dann flüsterte sie Lore mit leuchtenden Augen zu. „Du, Doktor Schönberg hat bei Beckers doch keinen Besuch gemacht, er hat gesagt, es passe ihm nun mal nicht.“

Lore antwortete nicht, sie bückte sich rasch nach ihrer Serviette.

„Du sollst heute zum Wachtelhündchen kommen, Lore,“ sprach Fräulein Käthe nun laut.

„Käthe!“ sagte vorwurfsvoll die Mutter, während der Lieutenant lachte. „Ich will es nie wieder hören, Käthe!“ fuhr die alte Dame fort, „Du hast ‚Tante Melitta‘ zu sagen und nicht anders – verstehst Du?“

„Wie? Sitzt Ihr noch immer so zu Füßen von Tante?“ fragte Rudolf.

„Sie hat ja sonst niemand,“ entschuldigte Lore. „Sagte sie, wann ich kommen soll, Käthe?“

„Nun, jedenfalls doch zum Kaffee,“ schmollte die Kleine; „sie rief es mir aus dem Fenster zu, sie müßte Dich nothwendig sprechen.“

„Verschrobenes Frauenzimmer!“ schalt leise der Major seine leibliche Schwester; „hätte heirathen sollen!“

„Sie hat ja eine unglückliche Liebe gehabt,“ erklärte Käthe.

„Nun ja, ja, das wissen wir,“ knurrte der alte Herr.

„Tante Melitta sagte neulich, sie bedauere es recht sehr, nicht doch noch geheirathet zu haben; es sei nun einmal das Richtige für die Frau, und –“

„Sei ruhig; Deine Weisheit kennen wir zur Genüge! Wenn drei Frauenzimmer zusammenkommen, sprechen sie vom Heirathen. Sie hätte ihn nehmen sollen, dann hätte sie wenigstens was Gescheiteres gethan, als –“

„Aber Papa!“ rief Käthe im Tone tiefster Entrüstung, „es ist doch nur Euer Hauslehrer gewesen und, erinnere Dich, er hieß August Kiebitz! Denke Dir: ‚Melitta Kiebitz, geborene von Tollen‘!“

„Nun und was weiter?“ sagte die Mutter, „wenn er sonst ein braver Mann war?“

Käthe schlug die Hände zusammen und lachte silberhell. „Mama, das ist klassisch von Dir!“

Die gute Mama, deren gebeugter Gestalt und vergrämten Zügen man es nicht mehr ansah, daß sie einstmals die reizendste Erscheinung auf den Hofbällen der kleinen mitteldeutschen Residenz gewesen, sah bekümmert zu Lore hinüber. „Bleib’ nicht gar zu lange aus, Kind; Du weißt, die Wäsche ist zu legen und – so mancherlei –“

„Wenn Ihr nur waschen könnt!“ rief der Major und trank den Rest seines Weins aus. „Gesegnete Mahlzeit!“ Und er hinkte auf seiner Krücke zur Thür hinaus, um oben in seinem verräucherten Zimmerchen der Ruhe zu pflegen.




Fräulein Melitta von Tollen, die vor kurzem ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, bewohnte am entgegengesetzten Ende des Städtchens in dem ehemaligen Zollhause, dicht vor dem Eingang zum Thor, den ersten Stock. Es war das kein Luxus, denn derselbe umfaßte nur drei Stuben und eine winzige Küche. Aber die Miethe war billig und die Wohnung bot unschätzbare Vortheile; erstlich besaß sie einen Balkon, auf dem der Ständer des Papageis und der Armstuhl des Fräuleins gerade Platz fanden, und der überdies in den wundervollen, schattigen, parkartigen Garten der Frau Ellfriede Becker hinabsah, und zweitens konnte Tante Melitta jeden Wagen, jeden Spaziergänger und jede Landpartie kontrolliren, denn nach dieser Seite befanden sich die Anlagen des Städtchens mit dem üblichen Kriegerdenkmal, der Siegeseiche und dem Schützengarten.

Tante Melitta lebte hier seit zwanzig Jahren. Als sie ihrem Vater die Augen zugedrückt hatte und sich auf eine schmale kleine Revenue, eine Familienstiftung, angewiesen sah, forschte sie überall nach einem Ort, wo man mit zweihundertfünfzig Thalern anständig leben könne. Aus Westenberg, allwo eine alte Freundin ihrer Mutter noch vegetirte, liefen die günstigsten Nachrichten ein, und so zog sie hierher mit ihrem Papagei, den Rokokomöbeln und dem Schmerz um ihre verlorene Liebe und war mittlerweile eine Merkwürdigkeit der Stadt geworden, erstlich durch die innige Theilnahme an dem Schicksale der gesammten Mitbürgerschaft, besonders wenn Ehen zu stiften waren, alsdann durch eine wunderliche Spielerei, der sie oblag. Sie besaß eine förmliche Puppenkolonie. Da gab es völlig eingerichtete Puppenhäuser, vom Keller bis zum Boden, Gärten, in denen Puppen spazierten, Waschhäuser, Plättküchen, Bäckereien. Jedes Geräth, jedes Möbelchen war zierlich durch ihre Finger hergestellt, so daß selbst Erwachsenen das Spielen mit diesen Miniaturpuppen manchmal eine Lust dünkte. Sie hatte Namen für diese verschiedenen Puppenfamilien, und man konnte nichts Eleganteres sehen, als das rosaseidene Boudoir der Frau Gräfin Adlerhorst, nichts Herzigeres als die Kinderstube im Puppenhause des Herrn Amtsrathes, in welcher sieben Puppenkinder mit steifen Armen um den winzigen Tisch saßen, und die Frau Puppenamtsrath vor der Kaffeekanne präsidirte. Nichts erfreute die alte Dame mehr als die Bewunderung, die ihre Gäste diesem Kunstwerk zollten.

Als ihr Bruder, der Major, den Abschied nehmen mußte und sich ebenfalls nach einem billigen Ort umsah, lobte und pries sie Westenberg bis in den Himmel; und richtig, die Familie zog her.

[21]
An dem Abend, wo Major von Tollen mit seiner Familie in Westenberg eintraf, hatte Tante Melitta alle ihre Puppenanlagen illuminirt und erntete den vollsten Beifall der drei Nichten, von denen die älteste, zwanzigjährige, freilich schon Braut, Lore aber erst zwölf und Käthe erst sechs Jahre zählte. Auf ihren Bruder, den Major, aber hatte Westenberg gleich in den ersten Minuten einen höchst niederschlagenden Eindruck gemacht. Die dreistündige Omnibusfahrt von der letzten Eisenbahnstation mit den unruhigen Kindern und dem vielen Handgepäck hatte seine Nerven gereizt; die Finsterniß des Herbstabends, nur durch spärlich vertheilte, an Ketten über den Straßen schwebende Laternen hier und da erhellt, die gealterte Erscheinung der Schwester, die ihn exaltirt bewillkommnete, der Anblick der alten bekannten Möbel, welche Erinnerungen an längst vergangene bessere Zeiten weckten, alles machte ihn unwirsch und verdrießlich. Er nannte die Puppenanlagen einen verfl… Unsinn, die Betten im Gasthause vorsündfluthlich und schloß mit der Versicherung, daß dies Westenberg allem Anscheine nach das miserabelste Nest sei, das ihm in seinem langen Leben vorgekommen. Er werde sofort die Möbelwagen zurückschicken, woher sie gekommen. Nun, das geschah freilich nicht, schon der Geldbeutel verbot es, aber die Schwester verzieh dem Bruder das Urtheil nie, das er über ihr geliebtes Puppenasyl und über ihr trautes Westenberg gefällt hatte, das Verhältniß blieb ein gespanntes bis auf den heutigen Tag.

Mit der stillen, von Sorgen gequälten Schwägerin ging es desto besser, denn im Grunde war Fräulein Melitta ein gutmüthiges Geschöpf, wenn sie auch, wie man so sagt, ihre Mucken hatte. Ihr Liebling war Lore, das schöne schlanke Mädchen mit der eigenartig stolzen Haltung des kleinen goldhaarigen Kopfes und dem ehrlichen Herzen. Sie hatte das kecke übermüthige Wesen der Jüngsten nie geliebt, Käthe war ihr daher ein Greuel, und seitdem dieser Unband ihr mit einer so frommen unschuldigen Miene zum letzten Geburtstage, am 31. März, Kiebitzeier, in ein Körbchen mit rosa Watte verpackt, geschenkt hatte, die das freche Ding von einem Nachbarsjungen mit unsäglicher Mühe erlangte, wurde sie von Tante Melitta überhaupt nur noch geduldet, denn: „Nicht einmal der Schmerz um den verlorenen Kiebitz ist ihr heilig gewesen! Die heutige Jugend ist entartet!“ hatte sie entrüstet geäußert zu Lore, die eine Viertelstunde später gekommen war und Käthe, blau vor unterdrücktem Lachen, mit einem Tellerchen voll Eierfladen [22] vor sich auf der Fensterbank, im Nebenzimmer fand. Lore ertrug wirklich musterhaft die Launen der alten Dame und würde sie ebenso musterhaft ertragen haben, wenn die Fenster des Wohnzimmers von Fräulein Melitta auch nicht den Blick gewährt hätten, wie sie es wirklich thaten, nämlich über die Straße hinweg zu einem Paar blinkender Fenster mit geblümten Kattunvorhängen, die so bescheiden und versteckt hinter hohen Rüstern lagen, daß sie gar nichts Bemerkenswerthes zu bieten schienen und weder der Tante noch den vielen Leuten auffielen, die dort vorüber gingen, die aber Lore von Tollen doch der schönste Anblick der Welt dünkten.

Das bescheidene Haus gehörte der verwitweten Frau Pastor Schönberg, und hinter den besagten Fenstern wohnte ihr Sohn, der Doktor Ernst Schönberg. Als Lore die Straße herunterkam, der Wind ihr gelbe Blätter entgegen wirbelte und ihr Auge die rothbraune Färbung der Rüstern gewahrte, zog es wie freudige Ueberraschung in ihr Herz – es nahte die Zeit, wo sie nicht mehr auf dem kleinen Balkon an der Hinterseite des Hauses mit Tante zu sitzen brauchte, wo das traute Plätzchen hinter der Filetgardine mit der entzückenden Aussicht wieder zur Geltung kam. Darüber vergaß sie einen Augenblick ihre vielen traurigen Gedanken von heute früh und trat, rosig und rasch athmend vom Gange und der steilen Treppe, in das Zimmer der Tante.

Die alte Dame mit der eigenthümlichen Haarfrisur – an jeder Seite des schmalen Gesichtes hingen drei bis vier Löckchen herunter, die allerdings ungemein an den Behang eines Wachtelhundes erinnerten – saß an ihrem Nähtisch und wühlte in einem Haufen von buntem seidenen Tand umher.

„Gott sei Dank, Lore, daß Du kommst!“ rief sie der Eintretenden entgegen, „der Thee ist schon abgegossen worden, er hätte sich sonst bitter gezogen; lege ab und setze Dich!“ Sie fuhr wieder mit den Fingern in den bunten Läppchen umher und zog einen Brief hervor. „Da ist ein Schreiben von Helene für Dich; sie bat mich, ich möchte es Dir unbemerkt übermitteln – ist wohl wegen Deines Papas Geburtstag, denke ich.“

Lore hatte das Jäckchen abgezogen, den dunkelblauen, sehr einfachen Filzhut von dem blonden Haare genommen und saß nun an ihrem geliebten Fensterplatz mit der interessanten Aussicht, der Tante gegenüber, den Brief in der Hand drehend. Die alte Aufwärterin des Fräuleins brachte Thee und Buttersemmeln, im Ofen brannte ein leichtes Feuer, denn die Herbstkühle war der alten Dame bereits sehr empfindlich, und der gemüthliche Zauber dieser wunderlichen Altjungfernstube, der die Puppenanlage einen heiteren kindlichen Ausdruck verlieh, theilte sich auch Lores jungem Herzen mit.

„Danke schön, liebe Engeln,“ sagte sie freundlich, der alten Frau die Tasse abnehmend und den Brief bei Seite legend. Dann wandte sie sich wieder zu der Tante: „Rudi ist gestern gekommen, er wird mich nachher abholen, um Dich zu begrüßen.“

„Weißt Du nicht, wie weit er mit seinem Interesse für die schöne Blondine in seinem Album gekommen ist?“

„Welche?“ fragte Lore belustigt. „Er hat Blondinen und Brünetten zu halben Dutzenden darin. Aber nun verzeih einen Augenblick, Tantchen, ich möchte den Brief erst lesen.“

Die Handschrift der Schwester erschreckte sie; die sonst so gleichmäßigen Schriftzüge hatten sich diesmal fast unleserlich gestaltet, als seien sie in Aufregung und Hast über das Papier gestreut.

„Liebste Lore!

Soeben beifolgende Zeilen meines Bräutigams – ich bitte Dich, was soll daraus werden? Am liebsten käme ich selbst, um die Sorgenstunden mit Euch zu tragen, aber die Pflicht fesselt mich hier; ich wäre zu undankbar, wollte ich meine Schwiegermama verlassen auf ihrem Krankenlager.

Ich kann mich nicht entschließen, Mama zu schreiben, wie Franz es wünschte –. Du bist so ruhig und verständig, in Deine Hände lege ich es; siehe zu, wie Du es den Eltern am besten beibringst.
 In treuer Liebe
  Deine Helene.“

Zitternd griff Lore nach dem Briefblatt, das mit des Schwagers Handschrift dicht bedeckt war. Noch suchte sie sich zu beherrschen, ihren Schrecken zu verbergen, da klopfte es an die Thür, und auf das „Herein!“ von der schrillen Stimme Tante Melittas erschien auf der Schwelle ein junger Mann in einem Besuchskostüm allerneuester englischer Mode.

„Mille pardon, meine Gnädigste, wenn ich störe! Schon lange beabsichtigte ich, unserer hochverehrten Nachbarin meine Aufwartung zu machen – Ah!“ unterbrach er sich, „Fräulein von Tollen – welch glücklicher Zufall! Eben ist meine Mutter bei Ihrem elterlichen Hause vorgefahren, um Ihnen, ganz speciell Ihnen, einen Besuch abzustatten. – Erlauben die Damen?“ Er hatte währenddem einen Stuhl herangezogen, um sich an Fräulein Melittas Seite niederzulassen, die mit einer gewissen altmodischen Feierlichkeit im Sofa Platz genommen.

„Freut mich sehr – äußerst angenehm, Herr Becker!“ lispelte sie.

Lore war ruhig auf ihrem Platz verblieben. Sie kam sich vor, als sei sie gelähmt, so rieselte ihr noch immer der Schreck über das Gelesene durch die Glieder. Die Anwesenheit Adalbert Beckers ward ihr zur psychischen Qual. Er richtete jetzt das Wort an sie, und sie sah ihn verständnißlos an, ohne eine Antwort zu finden. Er war gewissermaßen eine hübsche Erscheinung, dieser große blonde Mensch, nur lag in seinen feuchten hellblauen Augen ein Schimmer, der Lore stets mit Widerwillen erfüllte, ohne daß sie wußte, weshalb. Das rosige Gesicht war gedunsen, wie es denen passirt, die gern gut diniren und den Sekt dabei nicht sparen. Seine Toilette war elegant, aber nicht die eines Gentleman; er trieb einen wahnsinnigen Luxus in Kravatten und Hemdknöpfen, besaß die kleinsten Taschentücher mit den größten Monogrammen und die unmöglichsten Parfüms. Die Verbeugungen seines großen starken Körpers mißriethen meistens kläglich, und im Verkehr mit Damen warf er mit Komplimenten um sich, so groß und grob wie Bomben. Er sprach überdies gern von seinem Gelde und taxirte jedes Ding auf seinen Werth. Im großen und ganzen hatte er sich in den drei Jahren, die er in Westenberg verlebte, den Ruf eines „guten Kerls“ erworben, und in der That gab er nicht geringe Summen für wohlthätige Zwecke aus. Das neue städtische Krankenhaus war zum großen Theil aus seinen Mitteln erbaut, er hatte einen Brunnen auf dem Markt gestiftet und zu Kaisers Geburtstag speiste er den ganzen Kriegerverein in der „Krone“. Lauter Lobenswerthes; aber Lore von Tollen dachte anders. Sie hielt ihn für roh; sie hatte diese Ansicht von ihm, seitdem er ein edles Pferd, das er auf einem Wettrennen zu schanden geritten – es trug einen unheilbaren Schaden des rechten Vorderbeines davon und hustete – an einen Karrenfuhrmann verkauft. – Das Thier, das sich kaum zu schleppen vermochte, zog jeden Tag die schwere Sandkarre vor der eleganten Villa vorbei, in deren Ställen es noch vor wenigen Monaten gestanden, verhätschelt und geliebkost; und jedesmal machte das Thier Halt und wieherte leise, als ob es eingelassen werden wollte, und Herr Adalbert Becker sah es ruhig mit an – hatte er doch sechs Thaler für den Gaul bekommen!

Zufällig hatte Lore das erfahren; seitdem haßte sie den Mann, der für die beste Partie im Städtchen galt und der Gegenstand vieler heimlicher Berechnungen besorgter Mütter war, die heirathsfähige Töchter besaßen. Sie meinte, wer für Thiere kein Erbarmen habe, fühle auch Menschenleid nicht mit. Und dieser Mann widmete seine ausschließliche Huldigung Leonore von Tollen, und trotz der kühlen Nichtachtung wurde er immer eifriger in seinen Aufmerksamkeiten.

Nun saß er dort bei der Tante, bei der alten einsamen Person, die gar nicht Anspruch machte auf Besuche junger Lebemänner. Lore wußte ganz genau, es war wiederum ein Versuch, sich ihr und ihrer Familie zu nähern.

„Sie ahnen nicht, mein gnädigstes Fräulein, was meine Mutter Ihnen für eine Bitte vortragen wollte; da ich glücklicher bin als sie und Sie so unvermuthet hier treffe, darf ich Sie wohl damit bekannt machen? Es handelt sich um eine kleine Aufführung für unseren Ball – wir rechnen dabei auf Ihre Gnade. – Würden Sie die Rolle der französischen Bäuerin in dem kleinen Singspiel ‚Kurmärker und Pikarde‘ übernehmen? Diese entzückende Rolle wäre durch Ihre Grazie und Eleganz entschieden verkörpert.“

Er legte seine in helle Glacés gepreßten Hände bittend zusammen und sandte einen wahrhaft feurigen Blick zu dem jungen Mädchen hinüber.

„Ich bedaure sehr, ich spiele grundsätzlich nicht Komödie.“

„O, aber – warum nicht?“

„Weil ich es nicht liebe.“

[23]Warum lieben Sie es nicht? Sie sollten es lieben, denn es giebt keine Gelegenheit, in der sich eine reizende Dame –“

Er brach ab vor ihrem großen kühlen Blick, der, wie erstaunt über dieses dringende Zureden sein Gesicht streifte. Ihr feiner Mund zog sich unmerklich etwas herab, und dieser Zug verlieh dem Gesicht etwas Stolzes, Hochmüthiges.

„Weshalb wollen Sie nicht? Weshalb weisen Sie mich ab?“ stotterte er verlegen.

Sie antwortete auch jetzt nicht sogleich, sie erhob sich in ihrer ganzen schlanken Höhe und, die Briefe in der Hand dem Nebenzimmer zuschreitend, wandte sie an der Thür den goldschimmernden Kopf noch einmal halb zurück, wie eine Königin es nicht stolzer gethan haben könnte. „Sie werden sich mit der einfachen Thatsache begnügen müssen,“ sprach sie.

Im nächsten Augenblick war sie allein in dem Schlafzimmer der alten Dame, flüchtete mit den erhaltenen Briefen an das Fenster und las mit klopfendem angstvollen Herzen.

„Zu meinem großen Schmerz, liebste Helene, muß ich Dir mittheilen, daß Dein Bruder Rudolf sich abermals in einer peinlichen Lage befindet, man kann wohl sagen, in einer schlimmeren noch als im vorigen Jahre. Er wandte sich auch diesmal wieder an mich mit der Bitte, meinen Kredit bei irgend einer geldverleihenden Persönlichkeit für ihn eintreten zu lassen. Ich verstehe Rudolf nicht – er kennt meine Verhältnisse, weiß, daß ich über die allergeringsten Mittel verfüge, eine alte kränkliche Mutter besitze und jeden Groschen spare, um mit Dir vereinigt zu werden.

Ich habe ihm nicht allzufreundlich geantwortet, ihn aber vor allen Dingen gebeten, die Natur seiner Verlegenheit klarzulegen. Wie er mir darauf mittheilt, hat er durch unglückliches Spiel und durch Pferdekäufe und -Verkäufe sich in eine Ueberlast von Verbindlichkeiten hineingeritten, die er jedoch, wie er mir gestand, durch irgend einen Glückscoup loszuwerden hofft. Wie es mir scheint, bewog er einen Kameraden, für ihn gut zu sagen; nach Rudis Angabe soll sich derselbe dazu erboten haben – – Verzeihe, liebste Helene, wenn mir einige Zweifel an dieser Geschichte aufsteigen. Thatsache bleibt, daß Rudolf keineswegs im stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Wäre ich nur annähernd in der Lage – es handelt sich jedenfalls um eine größere Summe – so würde ich eintreten des armen Kerls wegen, der in Hangen und Bangen Rudolfs Bescheid entgegensieht, welcher ihm versprach, das Geld zu schaffen; sie gehen andernfalls beide um die Ecke. – Wenn Dein Vater sich trotzdem weigerte, seinen letzten Nothgroschen zu opfern, so kann ich ihm nicht Unrecht geben angesichts Deiner, der unversorgten Schwestern und Deiner guten Mutter. – Wie ein Ausweg gefunden werden soll, ist mir schleierhaft.

Ich schreibe es Dir, damit Du Deine Angehörigen etwas vorbereitest, die Katastrophe muß über kurz oder lang eintreten. Gräme Dich nicht, mein Liebling –“

Lore ließ das Blatt auf die Fensterbank sinken und preßte die Hände ineinander. Was sollte daraus werden! Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen, und die Augen füllten sich mit Thränen. Wer sollte helfen? Fieberhaft jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Onkel? Viktor? Ach Viktor, wenn er gewollt hätte! Aber dort war Rudolf bereits gewesen. – Und durfte sie es ihm verdenken? Er hatte Kinder und – er kannte den unverbesserlichen Leichtsinn des Bruders.

Was blieb übrig? Er würde sich wiederum an den Vater wenden, an den verbitterten, kränkelnden mißtrauischen Mann, dem schon eine Kleinigkeit das Signal war zum Stöhnen, Schimpfen, Tyrannisiren. Die Zeiten standen abermals vor der Thür des kleinen Hauses, in denen kaum ein scheues Wort gesprochen wurde, wo man sich mit rothgeweinten Augen sah, wo selbst Käthe still und gedrückt umherschlich und heimlich ihre Schulbücher herumstieß und die Fäuste ballte. Und dann die Nächte, wo die Kopfkissen naß wurden von Thränen!

Und diesesmal, diesesmal – mußte es nicht noch tausendmal schrecklicher werden, da die Mittel zur Rettung thatsächlich am Ende waren? Weil noch ein anderer rettungslos mit hinein- gezogen wurde in den Untergang? Sie meinte noch des Vaters Stimme zu hören, wie er im vorigen Jahre den Posteinlieferungsschein des Geldbriefes aus Käthes Hand nahm und ihn in das Fach des Schreibtisches schleuderte mit den Worten: „So, das ist fort – ein Weiteres unmöglich, denn wo nichts ist, da hat selbst der Kaiser sein Recht verloren!“

Sie fuhr empor – da klang ja Rudolfs helle Stimme zwischen das belegte tiefe Organ Adalbert Beckers hinein, ein fröhliches, sorgenloses Sprechen. „Ist Lore nicht hier?“

Das junge Mädchen stand auf und entschlüpfte durch eine Tapetenthür in den kleinen Alkoven, den die Tante als Garderobe benutzte. Wunderlich geschnittene Gewänder hingen in musterhafter Ordnung an hölzernen Haken; es war eine dumpfe Luft in dem Gelaß, wie sie aus Kleiderspinden zu quellen pflegt, die selten geöffnet werden. Lore senkte den Kopf gegen den Pfosten der Thür, sie hätte ihren Bruder jetzt nicht sehen können, ohne ihm zu sagen, daß sie alles wisse. Sie legte die Hand auf ihr stark klopfendes Herz und biß die Zähne aufeinander. Nebenan war die Thür gegangen, und durch die Bretterwand, die den Alkoven nach dem Flur abschloß, hörte sie, wie Adalbert Becker sich von ihrer Tante verabschiedete. Die alte Dame dankte einmal über das andere für den Besuch und versprach, sich den Park anzusehen, es war ein wortreicher Abschied. „Adieu, Tante!“ scholl nun auch Rudolfs Stimme, „sollte sich Lore wieder einfinden, so entschuldige mich, und sie möchte zu Hause bestellen, ich käme nicht zum Abendessen.“

Lore athmete auf, sie schob die Briefe tiefer in die Tasche und ging in die Wohnstube der Tante zurück. Die wieder eintretende alte Tante traf sie bereits im Hut und Jäckchen.

„Lore,“ sagte Tante Melitta mit hochgerötheten Wangen und die Seitenlöckchen zitterten unter ihrer zornigen Erregung, „ich bin erstaunt, Dich auf einem so großen gesellschaftlichen Fauxpas zu ertappen! Eure gute Mutter ist doch in dieser Beziehung allzu nachsichtig, Du und Käthe, Ihr benehmt Euch, wie Ihr wollt und nicht wie Ihr sollt.“

Sie war bei diesen Worten näher gekommen und öffnete ein Fenster, um dem betäubenden Jockeiklubgeruch, den Adalbert Becker zurückgelassen, Abzug zu gewähren „Bei meiner Mutter, in unserem Hause ging die gute Haltung über alles,“ fuhr sie fort, „über alles! Aber was ist Dir denn, Lore? Du siehst so verblichen aus!“

Das Mädchen wandte den Kopf. „Verzeihe mir!“ flüsterte sie und zog die Hand der alten Dame so ehrfurchtsvoll an die Lippen, als wollte sie die Worte Lügen strafen, die sich auf ihre mangelhafte gesellschaftliche Haltung bezogen. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Es wäre ihr nicht möglich gewesen, gleich nach Hause zu gehen, sie mußte erst ruhig überlegen, auf welche Weise sie die Eltern vorbereiten sollte. Zuerst natürlich die Mutter, die arme Seele, die weiter nichts gethan im Leben, als dulden und – arbeiten. Jetzt kamen ihr mit einem Male die Thränen brennend in die Augen, während sie, ohne zu wissen was sie that, ihre Schritte den Anlagen zulenkte. Auf dem stillen Flüßchen neben ihr schwammen gelbe Blätter, und jenseits über den Wiesen brauten weiße Nebelmassen, immer dichter quollen sie aus dem bruchigen Lande, fast gespenstisch anzuschauen in dem Dämmern des Herbstabends.

Sie ging rasch, wie von innerer Unruhe getrieben. In den Wegen der Anlagen war es völlig einsam, sie achtete nicht darauf. An einem schirmartigen Gartenpavillon, der sich inmitten eines Rondels erhob, machte sie endlich Halt und setzte sich auf die Bank unter dem hölzernen, vielfach schadhaften Dach. Sie that es ganz instinktiv, denn es hatte angefangen zu regnen. Die Bäume standen unbeweglich, es herrschte völlige Windstille, nur leise rauschten die Tropfen hernieder und hier und da sank ein welkes Blatt zur Erde. Unbeweglich saß sie und schaute in den grauen Nebelschleier hinein, aber wie sie auch grübelte und sann, nirgends fand sie einen Ausweg. Soviel stand fest, der Vater würde es nicht überleben, wenn sein Lieblingssohn mit Schimpf und Schande die Uniform ausziehen mußte – von der Mutter gar nicht zu reden. Und es würde doch so kommen, mußte so kommen! –

Sie hörte vor dem lauten bangen Schlagen ihres Herzens nicht den eiligen festen Schritt, der hinter ihr erscholl, dann stand sie plötzlich auf und in ihr feines Gesicht stieg langsam eine dunkle Röthe.

„Eingeregnet?“ sagte fröhlich eine wohlklingende Männerstimme, „erlauben Sie, Fräulein von Tollen, dieses Familiendach reicht für uns beide; – es ist doch gut, wenn man zuweilen [26] hinunter zu ihr. „Sei nicht böse, ich war sehr lange fort – aber ich will Dir nachher erzählen.“

„Da hat man sich nun gequält mit dem Essen für den Jungen,“ sagte Frau von Tollen, sich zum Scherz zwingend; „iß Du wenigstens, Lore.“

„Ich danke, Mama; aber helfen will ich Dir nun gleich.“

„Wo zum Kuckuck ist denn der Bengel hin?“ fuhr der alte Herr jetzt auf; „den ersten Abend gleich fort? Er wird immer rücksichtsloser!“

„Ich weiß es nicht, Papa.“

Käthe, die stumm ihren Thee getrunken, rief jetzt: „Aber ich weiß es! Sie sind im Sommertheater, Adalbertchen Becker läßt sich die Rolle des Kurmärkers von der alten Direktorin einstudiren – Na, Lore, Du kannst Dich freuen, wenn Du die Pikarde spielst.“

„O, ich habe schon abgelehnt,“ war die gelassene Antwort.

Der Major brummte irgend etwas in den Bart; man wüßte nicht, war es Beifall oder Unzufriedenheit. Die Mutter blickte Lore erstaunt an.

„Ich ziehe mich rasch um, Mama,“ flüsterte das junge Mädchen, „bitte, komm herauf, wenn Du einen Augenblick Zeit hast.“

Sie ging die Treppe hinauf in ihr Stübchen und setzte sich in den feuchten Kleidern auf den Stuhl vor dem Bette. Sie wußte nicht, wohin vor Glück und vor Kummer; nur aussprechen, nur herunter mit der Last, die sie zu überwältigen drohte! – Wenn doch die Mutter käme! –

Sie zündete Licht an und holte den Brief der Schwester aus der Tasche, und wie sie die ersten Zeilen wieder überlas, da war es, als ob der helle Schein, der eben in ihr Leben gestrahlt, bleicher und bleicher werde, als ob das, was da auf der Schwelle des Hauses stand, so erbarmungslos und schrecklich sei, daß es ihr junges Glück vernichten müsse –. Sie hörte jetzt den Schritt der Mutter auf der Treppe, der klang so müde; sie wollte der alten Frau entgegen gehen und blieb doch wie festgewurzelt in der Mitte des Zimmers stehen. Forschend betrachtete sie das Antlitz der Eintretenden, und sie sah abgespannte Züge und den Ausdruck getäuschter Erwartung in ihren Augen.

„Du bist noch in den nassen Kleidern, Lore? Eile Dich doch, ich möchte mich so gern etwas früher legen; ich bin so angegriffen heute.“

Das junge Mädchen rückte einen Stuhl herzu und hing ein Tuch um die Schultern der Mutter.

„Was wolltest Du denn, Lore?“ klang es gütig.

„Ich – ach, eigentlich nichts, Mama; ich wollte – ich wollte Dich nur sehen“ – das Mädchen stand, der alten Dame den Rücken wendend, vor der Kommode und legte Hut und Schleier hinein.

„Und Tante Melitta?’ Weshalb hat sie Dich den ganzen Nachmittag da behalten?“

Jetzt wandte sich das Mädchen um; sie sah ein, sie mußte sprechen, sie allein konnte ja nicht helfen.

Frau von Tollen wartete auf Antwort und derweil strich sie die Falten des weißen Bettvorhanges zurecht, die sich ein wenig verschoben hatten. Aber als Lore noch immer schwieg, sah sie auf. „Lore!“ rief sie dann, „Lore, es ist etwas passirt, um Gotteswillen – Helene ist doch nicht krank?“

„Nein, Mamachen, nein!“ Das junge Mädchen knieete nieder vor der Mutter und ihre Hand glitt zärtlich über das Gesicht. „Niemand ist krank, nein, das nicht, es ist nur eine kleine Verlegenheit, eine kleine Unannehmlichkeit, in der Rudi sich befindet, weißt Du –. Helene schrieb es mir, sie erfuhr es durch ihren Bräutigam. – Aber, Mama!“ rief sie laut – das Gesicht der Frau hatte sich furchtbar verändert, sie saß da mit starren Augen.

„Schulden!“ murmelte sie, „neue Schulden!“

„Aber Mama, das ist ja noch nicht so arg!“ flehte Lore angstvoll, „fasse Dich doch, er ist ja nicht gestorben –.“

„Zeig’ her den Brief!“ forderte die Majorin.

„Nein, Mama; hätte ich Dir doch nichts gesagt!“

„Ich will alles wissen, Lore – gieb!“ – Sie riß den Brief aus der Hand des Mädchens und las bei dem Schein der dünnen Stearinkerze. Ein paarmal stöhnte sie schmerzlich auf, dann setzte sie sich stumm in den Stuhl zurück und faltete die Hände in ihrem Schoß.

„Mama!“ bat Lore, „liebe Mama!“

„Ich weiß keinen Rath, keinen –“ sagte die alte Frau.

„Viktor muß helfen, Mama!“

„Mein Gott – Viktor!“

„Haben wir denn gar nichts mehr, Mama, gar nichts? Wir müssen helfen, wir müssen, Mama!“

„Nichts außer der Kleinigkeit, die Papa für Euch gespart hat – zweitausend Thaler – und – was ist das?“

„Nimm sie doch, Mama, es handelt sich ja nicht allein um Rudolf –.“

„Und was soll aus Dir und Käthe werden?“

Ueber Lores blasses Gesicht flog ein seliger Glanz. „Nimm sie, Mama,“ flüsterte sie; sie wollte hinzusetzen: „Ich bin versorgt, Mama, ängstige Dich nicht –.“ Die Gewißheit, daß ein starker Arm, ein treues Herz ihr eigen sei, kam aufs neue mit berauschender Gewalt über sie; aber sie brachte das Bekenntniß nicht über die Lippen, sie wollte in diesem Augenblick nicht von ihrem Glück sprechen. „Ich werde sorgen für Käthe,“ setzte sie stockend hinzu.

[37]
Die Majorin hörte nicht, was Lore sprach; sie war wie abwesend. „So gar kein Glück, so gar kein Glück!“ flüsterte sie; „o mein Gott, was habe ich für ein Leben gehabt! Nichts wie Sorge, nichts wie Arbeit und Kampf um das bißchen traurige Dasein! Wie schwer seid Ihr mir geworden, und was ist der Dank dafür?“

„Mama!“ schrie Lore auf. Sie hatte die geduldige Frau nie so sprechen gehört, es schnitt ihr ins tiefste Herz. „Mama, rede nicht so, ich will ja alles thun für Dich – Du sollst nicht so etwas sagen, ich habe Dich so lieb –“

„Ja Du, Du! Aber was soll denn aus Euch werden? Keine Nacht schlafe ich vor Kummer bei dem Gedanken, was werden soll, wenn Euer Vater stirbt. Ach Gott, der Vater, er überlebt es nicht, Lore; er darf es nicht wissen.“

In diesem Augenblick gellte die Klingel der Hausthür von unten herauf und ein lustiges Pfeifen erscholl, dann Käthes Stimme:

„Nun, Rudi, wie war’s denn im Sommertheater?“

„Lauf’ hinunter,“ sagte Frau von Tollen, „er soll zu mir heraufkommen, ehe er zu Papa geht.“

Das junge Mädchen that, wie ihr geheißen. Der Bruder neckte sich in der Eßstube mit seiner kleinen Schwester; er hatte ihre beiden schlanken Hände in die seinen genommen. „Kniee nieder,“ befahl er scherzend.

„Ich will aber nicht!“ schrie Käthe; „Du sollst mich loslassen, Rudi! – Du hast mit Adalbert Becker Freundschaft geschlossen und deshalb kann ich Dich nicht mehr leiden –“

„Du bist ein Gänschen,“ sagte er; „Adalbert Becker ist so übel nicht.“

„Rudolf, Mama will Dich sprechen, ehe Du zu Vater gehst,“ fiel Lore ein mit klangloser Stimme. Sie stand wie ein Wachsbild in dem Zimmer.

„Nanu?“ fragte er gedehnt und runzelte die Stirn.

„Helenens Bräutigam hat alles geschrieben,“ sagte sie.

Er pfiff leise vor sich hin. „Aha! Weiß etwa Papa schon?“

„O nein!“ erwiderte Lore bitter.

„Wo ist denn Mama?“

„In meiner Stube.“

„Also vorwärts mit frischem Muth!“ sagte er ironisch und ging aus der Thür. –

„Was giebt’s denn?“ fragte Käthe.

„Nichts!“ erwiderte Lore.

„Doktor Schönberg hat heute in der Litteratur von Deinem Lieblingsdichter geschwärmt, Lore; Du weißt, Mörike. Er hat etwas von ihm vorgelesen. Er liest doch wundervoll, Du hättest ihn hören sollen, wie das aus seinem Munde klang:

‚Ein Schifflein auf der Donau schwamm,
Drin saßen Braut und Bräutigam.‘“

[38] „Braut und Bräutigam,“ wiederholte Lore und ging vom Fenster zu dem baufälligen Kachelofen in dessen Röhre ein Wasserkessel summte.

„Du bist so so roth geworden, Lore?“

„So? Bin ich’s? – Hat Papa nicht eben gerufen? Bitte, sieh doch nach.“

„Sieh Du doch nach,“ schmollte Käthe, „Papa ist so sehr schlechter Laune, ich habe sie schon zur Genüge genossen heute abend.“

In diesem Augenblick trat der Bruder wieder ein, er sah ärgerlich aus und forderte seine Mütze, die er nicht finden konnte.

„Willst Du ausgehen?“ fragte Lore.

„Ich habe mich noch mit Becker verabredet.“

„Ich glaube aber, Papa hatte gehofft, Du würdest heute wenigstens bei ihm bleiben?“

Er antwortete nicht und ging suchend aus dem Zimmer; im Flur schien er die Mütze gefunden zu haben, denn er verließ gleich darauf das Haus.

„Lore,“ sagte Käthe, „weißt Du, die haben ein Souper mit den Schauspielerinnen.“

„Schweig doch!“ erwiderte Lore.

„Ich weiß es von der alten Dierks, die hat die Einladungen ausrichten und den Champagner kalt stellen müssen, die Blonde wohnt ja bei ihr.“

„Schweig!“ wiederholte Lore dunkelroth, „es sind das gar keine Sachen, die uns interessiren könnten.“

„Vielleicht mich nicht, aber – Dich.“

„Schäme Dich, Käthe!“

„Warum soll sich denn Rudi nicht amüsiren?“

„Aber, Käthe, ich bitte Dich!“

„Es ist so gräßlich langweilig bei uns, Lore, ich verdenk’s ihm gar nicht, wenn – er nur nicht gerade mit Adalbert Becker –“

„Aber jetzt zum letzten Male, was geht uns das an, Käthe?“ rief Lore empört.

„Vielleicht geht’s uns doch an, Lore.“

Das junge Mädchen kam herüber und blieb vor der schönen schlanken Schwester stehen.

„Lore,“ sagte sie mit sprühenden Augen, „wenn er es wagen sollte, so gieb ihm eine Ohrfeige!“

Wer denn? Was denn?“

„Wenn Adalbert Becker Dich heirathen will, dieser Mensch –“

Lore lächelte plötzlich. „Sei ganz ruhig, Käthe.“

„Ich habe Angst für Dich, Lore, er ist so zudringlich und er ist in Dich verliebt, fürchterlich verliebt.“

„Ich bitte Dich, Käthe, schweig endlich. Thue mir den Gefallen und gehe zu Papa, ja Kleine? Ich habe noch mit Mama zu sprechen.“

Käthe lief, diesmal wirklich gehorsam, aus dem Zimmer. Lore folgte ihr langsam. Da tönte von oben die Stimme des Majors: „Bekümmert sich denn niemand von Euch um Eure Mutter?“

Lore flog die Treppe empor. „Was ist’s mit Mama?“ rief sie angstvoll.

„Was es ist?“ donnerte der alte Herr, „krank ist sie, ihre alten Nervengeschichten hat sie! Hol der Teufel die ganze Wirthschaft im Hause!“

Krachend flog die Thür ins Schloß, während die Töchter nach dem kleinen Schlafstübchen der Mutter eilten und sich um die Kranke zu schaffen machten, die eisigkalt und zitternd auf dem Bette lag und leise stöhnte.

„Aengstigt Euch nicht,“ flüsterte sie, während ein Frost sie schüttelte, „ängstigt Euch nicht, gute Kinder, es geht gleich vorüber.“ Aber Lore saß die ganze Nacht bei ihr und streichelte die Hände der Leidenden, sie kannte ja die Ursache der Krankheit.

Gegen Morgen fuhr sie aus einem leichten Schlummer auf, sie hörte Schritte auf der Treppe, unsichere schwere Schritte. Leise erhob sie sich und öffnete ein wenig die Thür – in dem grauen Morgenlichte erkannte sie den Bruder; er hatte die Mütze schief auf dem Kopfe und sah eigenthümlich blaß aus, und als er über die Schwelle seines Zimmers trat, stolperte er und hielt sich schwankend an dem Pfosten.

Lore wandte sich in das Krankenzimmer zurück mit einem Ausdruck von Ekel auf ihrem Gesichte. Sie wickelte sich fröstelnd in ein Tuch und legte, auf dem Fußbänkchen am Bette der Kranken sitzend, ihren Kopf auf das Kissen der Mutter; sie erwachte erst, als eine heiße Hand sie streifte.

„Du müßtest Dich wohl um die Wirthschaft kümmern, Lorchen,“ schalt die müde Stimme, „wenn ich mich zu Mittag besser fühle, werde ich aufstehen; armes Ding, Du bist gewiß sehr müde?“




Im Beckerschen Hause, das inmitten eines weiten im englischen Stil gehaltenen Gartens lag, begann eben das längst besprochene Fest. Das ganze Parterre der Villa, die in ihrem modernen Ungeschmack einem weißen Würfel glich, war glänzend erleuchtet, der Diener, Kutscher und Gärtner staken in Livree, die nach der Schneiderwerkstatt roch, so neu war sie, und außerdem figurirten die beiden bekannten Lohndiener des Städtchens, als die gewandtesten von allen.

Eben waren die ersten Gäste eingetroffen; seidene Schleppen rauschten durch das teppichbelegte Vestibül nach dem Zimmer, wo die Damen ihre Mäntel abzulegen hatten, und nach einem Weilchen rauschten dieselben Schleppen, anderen Platz machend, in den violett dekorirten Salon der Frau Elfriede Becker, die in bordeauxrother Moireerobe, auf dem stark gefärbten Haar echte Spitzenbarben, von Brillantnadeln fest gehalten, ihre Gäste mit einem Schwall von liebenswürdigen Worten empfing. Ihre Stimme hatte etwas Lautes, Kreischendes, sie war sehr korpulent, von rother Gesichtsfarbe und ihre kleinen dunkeln Augen fuhren blitzgeschwind über die Toiletten der Eintretenden, es sah aus, als kontrollire sie, ob man auch ein festliches Kleid angelegt habe und somit die Ehre ihrer Einladung gebührend zu würdigen wisse.

Herr Adalbert Becker unterstützte seine Mutter mit mehr Gewandtheit, als diese zeigte; er führte die älteren Damen zu den Sofaplätzen unter das lebensgroße Porträt der Frau Elfriede, geleitete die jüngeren in das im Rokokostil gehaltene Boudoir der Mama, klopfte den Herren auf die Schulter und rieb sich, im vertraulichen Geflüster mit verschiedenen jungen Dragoneroffizieren die von X. herübergekommen waren, das Fest zu verherrlichen, die Hände, lachte laut über seine eignen Witze, warf plötzlich das Monocle aus dem Auge und stürzte auf die Thür zu, in welcher soeben Fräulein Melitta von Tollen erschien, hinter ihr Lore.

Frau von Tollen war noch immer leidend; sie hatte ihre Schwägerin bitten müssen, Lore auf dieses Fest zu führen. Das Flehen des jungen Mädchens, sie doch zu Hause zu lassen, war vergeblich gewesen, sie hatte sich seufzend gefügt. Tante Melitta in penseeseidener Robe etwas sehr unmoderner Art, mit einem ebenso unmodernen Spitzenshawl um die mageren Schultern, die Haube mit einem Bouquet Stiefmütterchen verziert, knixte nach allen Seiten und begrüßte ihre „liebe Nachbarin“ mit einer Freundlichkeit ohne gleichen, die dennoch eines Beigeschmacks von Herablassung nicht entbehrte. Lore begnügte sich mit einer graziösen stummen Verbeugung vor der Dame des Hauses.

„Mein liebes Fräulein von Tollen,“ kreischte Frau Becker über das ganze Zimmer hinweg, „wie bedaure ich, daß Ihre Frau Mama unwohl, wie lieb von Ihnen, daß Sie dennoch gekommen sind! – Adalbert! Adalbert! Du hattest doch – Du weißt –“

Der große blonde Mann drängte sich eben wieder durch all die Menschen, die da plaudernd umherstanden, und überreichte Lore einen prachtvollen Strauß aus weißen und rothen Rosen. „Erlauben Sie mir, mein gnädiges Fräulein, und gestatten Sie zu gleicher Zeit die Bitte um den Kotillon.“

Aller Augen richteten sich auf diesen Vorgang.

Lores Kopfhaltung wurde in diesem Moment geradezu hochmüthig. „Ich bedaure sehr, Herr Becker, ich kann selbstredend nicht bis zum Schluß des Festes hier bleiben – Mamas wegen.“ Sie umklammerte dabei mit beiden Händen den einfachen Holzfächer, auf dessen obersten Stab Käthe das Tollensche Wappen gemalt hatte, und wandte sich ab.

„Aber doch die Blumen, mein gnädiges Fräulein,“ bat er, „was haben Ihnen die armen Blumen gethan?“

Er hielt ihr mit lächelnder Miene den Strauß entgegen und seine Augen sahen von unten herauf bittend in die ihrigen.

Lore ward roth. Sie hatte ein erneutes. „Ich danke!“ auf der Zunge, da fühlte sie, wie ihr Bruder leise mahnend ihren Arm drückte.

Er hatte wohl recht; sie stand im Begriff, unartig zu sein dem Manne gegenüber, dessen Gastfreundschaft sie eben, wenn auch widerwillig, in Anspruch nahm.

Zögernd griff sie nach den Blumen.

[39] „Ich habe den Vorzug, Sie zu Tische zu führen?“

Sie neigte leicht bejahend das schöne Haupt und trat in das Rokokoboudoir. Das Gespräch der jungen Damen, die dort mit ihren Theetassen saßen, verstummte, als sie mit dem riesigen Bouquet erschien, das in seiner übereleganten Ausführung seltsam abstach gegen die auffallend einfache Toilette des Mädchens. Sie trug ein weißes Mullkleid, das bis zum Hals hinauf geschlossen war und nur matt den schönen Nacken durchscheinen ließ, einen Gürtel aus rosa Faille, der in einer breiten Schärpe endigte, und eine einzelne Rose im Haar. Es war ein Kleid, das alle Menschen, die die Westenberger Gesellschaften besuchten, genau kennen mußten. Lore pflegte es stets zu tragen. Sie wusch und plättete es eigenhändig und band entweder ein rothes oder blaues Band dazu um, und in diesem Fähnchen trat sie in so vornehmer Haltung auf, als trage sie eine Toilette von Gerson, die aus den kostbarsten Stoffen zusammengesetzt sei.

Sie grüßte freundlich und wandte sich zu einer kleinen brünetten Frau, die in ihrem Brautkleide zwischen all den jungen Mädchen saß, sie hatte vor einigen Wochen aus dem fröhlichen Kreise geheirathet und war Gegenstand allgemeinen Interesses.

„Glücklich zurückgekehrt, Marie?“ fragte Lore.

„Wie Du siehst,“ war die schalkhafte Antwort, „und Du wirst nun wohl die nächste sein, Lore. Sage Deinem Gebieter nur gleich von vornherein, daß er mit Dir bis Neapel hinunter geht; ich hatte vergessen, es vorher auszumachen, und bin nicht weiter gekommen als bis Rom. Wenn Du erst seine Frau bist, hast Du nichts mehr zu sagen.“

Die andern lachten oder zuckten die Schultern und flüsterten mit einander. Lore sah ihre Freundin verwundert an. „Marie,“ sagte sie scherzend, „Du phantasierst doch nicht?“

„Und die schönen Rosen?“ bemerkte die junge Frau.

„Sie sind in der That schön,“ gab Lore zu „es ist schade, sie in der Hand verwelken zu lassen.“ Und mit diesen Worten stellte sie den Strauß in eine der Vasen auf dem Kamin.

Rudolf von Tollen war indeß geschäftig, als sei er der Sohn des Hauses. Er ging eben mit Adalbert Becker Arm in Arm durch das Boudoir und verschwand hinter dem Vorhang der Thür, der zum Speisesaal führte. Lore sah ihnen mit verwunderten Blicken nach.

„Sieh mal, Lore,“ sagte die junge Frau, „sie gehen dahin wie ein paar Brüder – das war doch früher nicht? Weißt Du nicht zufällig, wie das kommt?“

Lore von Tollen wandte sich um. „Nein, Du siehst mich selbst erstaunt,“ erwiderte sie.

„Und wer viel Heu im Stalle hat, dem wird die Kuh nicht mager,
Und wer ’ne schöne Schwester hat, der kriegt bald einen Schwager,“

citirte der kleine Uebermuth im Brautkleid.

Ueber Lores stolzes Gesicht glitt ein unmuthiger Zug. „Ich bitte Dich recht ernstlich, Marie –“

„Ich kann doch nichts dafür!“ schmollte diese.

Indessen half Rudolf von Tollen Tischplätze aussuchen. „Du willst also neben meiner Schwester sitzen?“ fragte er und legte eine riesige blumenverzierte Karte mit Lores Namen auf irgend einen Teller.

„Ich habe die Ehre, Deine Schwester zu führen.“

„Schön! Ich wünsche Dir besten Erfolg,“ sagte der Lieutenant.

„Sie hat etwas gegen mich, ich weiß es,“ gab Becker zu, „indessen –“

„Ah, bah! Mädchenlaunen!“

„Nichts Ernstliches?“ forschte der junge Mann, „auf Ehre nicht?“

„Was sollte denn das sein? Ich wiederhole Dir – Mädchenlaunen. Das ostentative Bouquet konntest Du Dir übrigens sparen, oder denkst Du, die Mädel sind alle über einen Kamm geschoren? Du hast doch nicht die kleine Schauspielerin vor Dir! Damit kommst Du bei Lore nicht an.“

„Das konntest Du mir vorher sagen, mein Bester.“

„Na, es wird ja den Kopf nicht kosten. A propos, morgen möchte ich das Geld abschicken, Adalbert, wenigstens soviel, daß ich den verd… Löwenstein los werde. Der Kerl tritt mich auf die schnödeste Weise; das andere, die Hauptsache, hat ja noch etwas Zeit.“

Adalbert Becker ließ das Monocle aus dem Auge fallen. „Heute noch? Diese Nacht noch?“ sagte er gedehnt. „Ehrlich gestanden, das paßt mir nicht; komme morgen früh her, Tollen.“

„Aber bitte, halte es bereit!“

„Nu, aber sicher – versteht sich – das heißt – – na ja, es wird wohl gehen.“

Der Hausherr schritt nach diesen Worten noch einmal um die Tafel und verschwand dann sehr rasch in das Gesellschaftszimmer. Er begrüßte dort noch einige Bekannte und bot Fräulein Melitta von Tollen den Arm; im Nebensaale begann die Polonaise und alles begab sich dorthin. Der Lieutenant von Tollen kam bei den Klängen eilig durch die jetzt leeren Zimmer zurück, es schien keine Dame für ihn übrig geblieben; oder doch? In dem Boudoir bewegte sich ein Schatten. – Er trat eilig ein.

„Lore?“ fragte er verwundert und enttäuscht.

Sie saß in einem der kleinen Sessel und blätterte in einem Album. „Ich tanze heute nicht,“ sagte sie.

„Du tanzest nicht? Du wirst immer unbegreiflicher! Erst verdirbst Du Beckers die Theateraufführung, und nun spielst Du Dich auf als die Unnahbare? Albern!“

Die Polonaise ging jetzt in einen Walzer über, die älteren Herrschaften kamen in den Saal zurück und Adalbert Becker trat mit tiefer Verbeugung vor das junge Mädchen. „Den Walzer, gnädiges Fräulein – bitte, den Walzer!“ sagte er süß lächelnd, indem er die großen, mit weißen Glacés bekleideten Hände gegen einander legte.

„Ich danke sehr! Ich tanze nicht heute abend. Ich habe soeben erst dem Lieutenant von S. einen Tanz abgeschlagen.“

Das starke rothe Gesicht des jungen Mannes ward blaß, er verbeugte sich und ging ohne ein Wort des Bedauerns.

„Albernes Benehmen!“ wiederholte Lores Bruder und entfernte sich achselzuckend.

Sie sah ihm aufathmend nach und trat ins Fenster hinter die seidenen blumengestickten Gardinen. – Wenn nur der Vorbau der Veranda nicht wäre, dann könnte sie die Giebelfensterchen schimmern sehen; sie wußte, er würde dort stehen und herüberschauen. – Was wollten sie denn nur alle von ihr? Sie war gehorsam hier erschienen, aber das hatte sie nicht versprochen, sich von einem fremden Mann umfassen zu lassen und mit ihm im Tanze dahin zu fliegen, das Recht hatte nur noch Einer, ein Einziger. – Sie preßte die Stirn an das Glas und strengte die Augen an, um durch das Gewirr der Zweige womöglich die Umrisse des kleinen Hauses jenseit der Landstraße zu erkennen, und sie meinte, er müsse diese sehnsüchtigen Blicke fühlen in seinem einsamen Zimmer; müsse ahnen, wie heiß sie an ihn denke.

Die Klänge des Walzers drangen herüber, es war ein Volkslied hinein verwoben; sie kannte die Worte:

„Mein Schatz ist hübsch, aber reich ist er nit,
Was nutzt mir der Reichthum, das Geld küß i nit.“

Ihr ernstes schönes Gesicht war mit einem Male von einem reizenden schalkhaften Lächeln verklärt; ein wahrer Uebermuth im Bewußtsein ihres heimlichen Glückes überkam sie. Was war denn alles Leid in der Welt gegen diese Wonne? Sie hätte hinüberlaufen, in sein Zimmer fliegen und ihm sagen mögen. „Da bin ich! Es ist so dumm von mir gewesen, Dich fern zu halten – komm und wirb um mich – morgen – heute noch, wenn Du willst. Was soll eine Komödie, die mir Stunden des Glückes raubt!“

Sie athmete rasch, während sie das dachte, sie sah ihn aufblicken von seinem Arbeitstisch, sah ihn die Arme ausbreiten: „Lore, meine stolze Lore – –“ Ja, stolz war sie, stolz wollte sie auch bleiben als sein Weib –. Was gingen sie denn diese Menschen an, die sie halb spöttisch, halb mitleidig betrachteten? Da drüben in dem engen Hause, da allein würde sie den Stolz ablegen, in seinem Hause; er sollte eine Frau in ihr finden so demüthig, so bescheiden wie keine, sie würde das Behagen in ihr Heim zaubern, wie es nur die Liebe versteht, sie würde die alte Mutter pflegen, die im unteren Geschoß des Hauses wohnte, die alte mürrische Frau Pastorin, der das Hochdeutsch so schwer wurde, die sich nur wohl fühlte, wenn sie hinter ihren Geranienstöcken am Fenster saß, die Kaffeetasse neben sich, und mit einer Nachbarin über die schlechten Zeiten auf gut Altmärkisch plaudern konnte.

Was die alte Frau wohl für Augen machen würde, wenn sie eines Tages über die Schwelle der Witwenstube trat und „Mutter“ zu ihr sagte?

Und von diesem Bilde flogen ihre Gedanken zu der eigenen Mutter. Sie sah die leidende Frau auf ihrem Bette mit den [42] matten, schlaflosen, fiebernden Augen, und sie hörte die Worte: „Mein Kopf, Lore, mein Kopf! Wenn ich nur nicht denken müßte!“

Arme Mutter! Sie ballte die kleine Hand zur Faust, als sie des Bruders Stimme eben vernahm hinter der Portiere, laut, lustig und lachend.

„Aber, mein liebes Fräulein von Tollen,“ gellte die Stimme der Frau Elfriede Becker, und sie rauschte mit ausgestreckten Händen auf das junge Mädchen zu, das mit traurigen Augen an ihr vorübersah, „hier verstecken Sie sich? Warum ziehen Sie sich denn so zurück? Wenn Sie nicht tanzen, so kommen Sie wenigstens zu uns in den Salon und – bitte, mein Herzchen, geben Sie mir Ihren Arm – so! Ich kann Ihnen nicht beschreiben – unter uns natürlich – wie matt ich mich heute fühle, wie nervös!“

Lore sah auf die kleine kugelrunde Dame hinunter, die wie das Leben selbst erschien. Sie trat, die unaufhörlich Sprechende am Arm, in den Salon, wo ein Kreis älterer Damen auf Sofas und Fauteuils Platz genommen hatte.

„Nicht wahr, meine liebste Frau Landräthin,“ kreischte die Wirthin und legte sich fester auf Lores Arm, „es ist reizend, solch jugendliche Stütze zu haben? Mir fehlt wirklich nichts zu meinem Behagen als ein liebes Töchterchen, man wird doch alt. Ich danke Ihnen, mein Häschen, – setzen Sie sich neben mich, bitte hier!“ Und als Lore zögernd Platz genommen, winkte sie dem jungen Mädchen vertraulich, indem sie ihren Mund an das kleine Ohr brachte. „Ach, liebes Kind, meine Müdigkeit!“ flüsterte sie so laut, daß es alle hören konnten, „würden Sie einen kleinen wirthschaftlichen Gang für mich thun? Ich weiß nicht, wo die Diener mit den Erfrischungen bleiben, vielleicht sind sie beim Arrangement der Tafel beschäftigt – würden Sie vielleicht mir die Säumigen schicken?“

Lores Kopf wich zurück, ihre Miene ward eiskalt. Aber ehe sie noch antworten konnte, hatte Frau Becker schon wieder mit ihrer hohen Stimme das Glück gepriesen, ein so reizendes hilfreiches Töchterchen für diesen Abend gefunden zu haben.

Langsam erhob sich Lore und schritt nach dem Ballsaal, sie dachte nicht daran, den Auftrag auszuführen, die Diener drängten sich schon durch das Gewirr der Jugend mit Präsentirtellern voll Bowlengläsern. Sie blieb am Eingang des Saales stehen und schaute in den Wirbel einer Polka; ihr kam alles so schal und albern vor heute abend. Ihr Bruder machte eben einer niedlichen Blondine so sorglos den Hof, als trübe kein Wölkchen seinen Himmel, als er an ihr vorüberflog mit seiner Dame, deren Fächer er in der Hand hielt, nickte er ihr vergnügt zu.

Sie setzte sich auf das gelbe Seidenpolster einer längs der Wand befindlichen Ruhebank und blieb dort, ohne eigentlich zu hören und zu sehen, bis der Sohn des Hauses ihr seinen Arm bot, um sie in den Eßsaal zu führen. Man speiste heute in zwei Zimmern, die Jugend in dem sogenannten Gartensaal. Lore befand sich an einer Art Ehrenplatz, vor ihr prangte ein wundervoller Blumenkorb, über die ganze Tafel waren Blüthen verstreut, und es funkelte überprächtig von Krystall und Silber; sie hatte noch nie an einer so reichen Tafel gesessen.

„Amerikanische Sitte, gnädiges Fräulein,“ erklärte beflissen Adalbert Becker, dessen Antlitz feucht und roth war vom Tanz, und er deutete auf die Blumen. „In New-York wird ein kolossaler Luxus damit getrieben, jede Dame findet auf ihrem Teller ein immenses Bouquet der seltensten Blüthen und außerdem noch Blumen, wo man sie irgend anbringen kann. Wir haben da mitunter Soupers gegeben, wo ich den Blumenschmuck mit ein paar hundert Dollars bezahlte.“

Lore blieb unhöflich still während des Essens und nippte kaum an ihrem Glase, in dem der Champagner lustig Perlen aufwarf.

Das Lachen und Sprechen an der Tafel ward mit jedem Gang lebhafter und die Gänge wollten kein Ende nehmen, die Luft war so schwül und von dem Geruch der Speisen erfüllt.

Adalbert Beckers Gesicht ward nach jeder Flasche Sekt, die er in den silbernen Eiskübel vor seinem Kouvert stellen ließ, röther, die Augen immer intensiv blauer und glänzender, mit denen er Lore unausgesetzt anstarrte. Beim Nachtisch bot er ihr ein Vielliebchen an.

Sie dankte kurz.

Er sah sie vorwurfsvoll an und rückte ihr näher. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, wandte sie sich zu ihrem andern Nachbar und bat um ein Glas Wasser.

„Gnädiges Fräulein,“ flüsterte da eine leidenschaftliche Stimme, „warum behandeln Sie mich so schlecht? Wenn Sie wüßten – Lore – wenn Sie wüßten –“

„Fräulein von Tollen, bitte!“ erwiderte sie und setzte sich zurück auf ihren Stuhl.

„Ich flehe Sie an, gnädiges Fräulein, lassen Sie mich einen Blick in Ihr Herz thun! Sie können nicht so kalt über mich denken, wie Sie es zeigen. Sie müssen es wissen, daß, seit ich Sie gesehen –“

Der kleine Holzfächer in ihrer Hand brach hart entzwei in diesem Moment; sie machte unwillkürlich eine Bewegung, aufzustehen.

„Um Gotteswillen,“ flehte er, „bleiben Sie, ich bitte! Nach Tische noch ein einziges Wort –“

Sie legte zitternd vor Erregung den Fächer auf den Tisch, mitten durch das Wappen ging der Bruch.

Adalbert Becker winkte noch eine frische Flasche Champagner herbei; als er sein Glas eingeschenkt hatte, rief er nach dem andern Ende der Tafel. „Tollen! Tollen!“ indem er den Kelch hob; „Du weißt schon!“

Lore sah ihren Bruder mit entsetzten Augen an. Wie? „Du“ nannten sie sich?

In dem bunten Durcheinander beim Aufheben der Tafel hoffte sie entschlüpfen zu können, sie wollte fort! Das war ihr einziger Gedanke, aber als es so weit war, erwies es sich als unmöglich. Sie wurde in dem Strom mit fortgerissen, der in den kühlen Salon und den Tanzsaal führte, die Klänge eines Walzers empfingen die vom Wein erregte Gesellschaft und die Paare begannen zu tanzen, etwas weniger korrekt, aber lebhafter, feuriger.

„Rudolf, ich muß Dich sprechen!“ flüsterte Lore, die an einer schwarzen Marmorsäule stand, welche eine Terpsichore trug; hinter ihr, erhitzt und verstimmt, befand sich Adalbert Becker, der sie abermals um einen Tanz bestürmt hatte. Sie hielt ihren Bruder am Arme fest, als er an ihr vorüber wollte mit seiner Dame. „Gleich!“ erwiderte er und tauchte in dem Wirbel unter.

„Ein Wort! Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte es hinter ihr, „ich liebe Sie von ganzer Seele –“

Sie stand mit zusammengepreßten Lippen, bleich wie die weiße Wand des Saales, und that nicht, als habe sie es gehört.

„Sie sind ein so wunderschönes Mädchen, Lore – ich muß – ich – Sie machen mich verrückt durch Ihre Kälte!“

Sie fühlte den heißen Athem an ihrer Wange, eine warme Berührung an ihrem Ohr – sie lief plötzlich quer durch den Saal und stand vor Rudolf, der eben ausruhte vom Tanze. „Bringe mich nach Hause!“ forderte sie mit bebenden Lippen, „sofort! Ich fühle mich nicht wohl!“

Sie sah ihn so verängstigt an mit den vor zorniger Erregung flimmernden Augen, und ihr Gesicht war so bleich, daß er aufsprang, sich bei seiner Dame entschuldigte und, ihr den Arm bietend, sie nach der Garderobe führte. Tante Melitta fand sich händeringend dort ein, ihre Whistkarten in der Hand, als Lore bereits in Mantel und Kapuze stand.

„Was um Gotteswillen ist Dir denn, mein Engelchen?“

Rudolf brummte etwas von „Launen“, während er den Paletot umnahm.

„Bleib’ bei Deiner Whistpartie, Tante,“ bat Lore, „mir ist nicht wohl, ich habe Kopfschmerz. Du weißt, ich schlief wenig in der letzten Zeit.“

Sie küßte das kleine bekümmerte Gesicht unter den Pensees und huschte die Treppe hinab in den hallenartigen Flur; sie lief dann, wie gejagt, ins Freie hinaus, den Gartenweg entlang, hinter ihr war Adalberts Stimme erklungen, heiser und aufgeregt. Ihr Bruder holte sie erst an der Gartenpforte des Beckerschen Parkes ein.

„Recht angenehm, so heißgetanzt diese unerwartete Promenade machen zu müssen,“ sagte er ärgerlich. Und als sie schwieg. „Was fällt Dir ein, so davon zu laufen?“

„Ich bedaure von Herzen, daß ich Dich bemühen muß, Rudi, aber an wen soll ich mich wenden, wenn nicht an Dich?“ sprach sie mit bebender Stimme.

[53]
Warum bist Du denn eigentlich aus der Gesellschaft fortgegangen?“ grollte Rudolf. „Man hat’s doch wahrhaftig nicht an Aufmerksamkeiten fehlen lassen für Dich! Aeußere Dich doch wenigstens zur Sache, damit ich dem armen Kerl, dem Adalbert, sagen kann: so und so; der ist ja rein außer sich.“

„Ich will nicht Unverschämtheiten von einem Halbberauschten anhören,“ erwiderte Lore und schlug den Zipfel ihres Radmantels, der aus einem alten türkischen Shawl der Mutter gemacht war, über die Schulter, denn der kalte Nachtwind fiel sie jetzt mit aller Gewalt an.

„Berauscht? Unverschämt?“ fragte der Lieutenant, dem ebenfalls der Champagner im Kopfe saß. „Er hat Dir jedenfalls etwas gesagt von seiner Neigung, aber das ist doch immer noch keine Beleidigung? Ihr seid himmlisch, Ihr Mädels, wahrhaftig!“

Lore ging schnell und schneller. „Laß doch das!“ bat sie.

„Nein, zum Kuckuck! Der arme Kerl dauert mich. Er liebt Dich, Lore! Ich dächte, Du solltest froh sein, aus dem Geächze und Gekrächze zu Hause endlich heraus zu kommen. Und – was willst Du denn überhaupt noch weiter? Er ist –“

Das laute Sprechen verstummte plötzlich; Lore, die vor ihm herging auf dem schmalen Trottoir, hatte sich umgewendet, das flackernde Licht der einzigen Laterne, die während der ganzen Nacht an der Rathhausecke brannte, der Feuerwache wegen, die sich dort befand, beleuchtete ihr zorniges, schönes Gesicht und zeigte ihre sprühenden Augen. „Was ich noch weiter will?“ sagte sie. „das fragst Du, der Du noch vor kurzem diesen Menschen als einen Emporkömmling der allergewöhnlichsten Sorte bezeichnet hast?“

„Ich habe ihn seitdem näher kennen gelernt, er ist wirklich so übel nicht,“ erklärte der Bruder trotzig. „Aber so geh’ doch, so geh’ – es ist ein teufelsmäßiger Zug hier.“

Aber sie ging nicht. „Du nennst Dich ja Du mit ihm,“ fuhr sie fort, „scheinst also sein Freund geworden zu sein? Nun, so nimm denn Du auch die Antwort für ihn: ich könne ihn nicht ausstehen – sag’ ihm das; er sei mir der unsympathischste Mensch, der mir je begegnet, und er solle sich hüten, noch ein einziges Mal derartiges zu mir zu sprechen, er soll sich hüten!“

Der Mantel flog im Winde von ihrer Schulter; sie sah unheimlich drohend aus in diesem Moment.

„Werde nur nicht tragisch,“ sagte der Lieutenant trocken, „er ist ein guter Kerl und gut situirt dazu, auch durchaus nicht eingebildet. [54] Wenn Du eine Ahnung vom Leben hättest, würdest Du Dich nicht so fest aufs hohe Pferd setzen.“

Sie hatte den Mantel wieder um sich geschlagen und ging weiter durch die nächtlich einsame Straße.

„Was geht es uns denn an,“ fuhr der Lieutenant fort, neben ihr auf dem Fährdamm schreitend, „womit er drüben sein Geld verdient hat? Meinetwegen kann er Hundescherer gewesen sein, wenn er nur nicht gestohlen hat. Und was kümmert’s uns, was sich die Leute von Frau Elfriedens Herkunft erzählen? Uns kann’s gleich sein, ob sie aus New-York stammt oder aus Westenberg, wie die Leute sagen, und gleich ist’s auch, was ihre Eltern gewesen sind. Ueber alle unsere verschrobenen Standesvorurtheile kommt man hinweg, wenn man sieht, was man eigentlich für ein Lump ist – ohne den nöthigen Groschen. Ihr sitzt hier in dem kleinen Nest noch auf Eurem Wappenschild wie auf einem Thron, und Du ganz besonders; Du wirst lange auf einen Reichsbaron warten können, mein Schatz, und wärst Du noch hübscher, als Du bist. Hast Du etwa Lust, als alte Jungfer zu versauern? Und was wolltest Du denn eigentlich anfangen, wenn der Alte die Augen zuthut? Ich denke, es wäre doch wohl Deine Schuldigkeit, zuzufassen wenn Dir eine so vortheilhafte Partie sich bietet, schon um der Eltern willen, die sich täglich sorgen, was aus Euch Mädels wird. Käthe hätte dann auch einen Halt. – Der Teufel – es ist doch keine Kleinigkeit in Deiner Lage, hat man solchen Antrag! – He? Sagtest Du etwas, Lore?“

Sie bog eben um die Ecke der Straße, an deren Ende das väterliche Haus lag. „Nein!“ scholl es, halbverweht nom Winde, der sich ihnen hier mit voller Gewalt entgegenwarf. Das verächtliche Lächeln, das über ihr Gesicht zog, konnte er nicht sehen.

„Denn nicht!“ murmelte er.

Einige Minuten später stand das junge Mädchen athemlos vor der niedern Hausthür und drehte den Schlüssel leise im Schloß.

„Nu?“ sagte er, hinter ihr stehend.

„Was?“ scholl es zurück.

„Ich gehe wieder hin, Lore, und –“

„Viel Vergnügen!“ erwiderte sie gleichgültig.

„So höre doch!“ rief er leise und gereizt und hielt sie am Mantel. „Ich sage ihm, Du würdest es überlegen, Lore?“

„Und welches Interesse hast Du an dieser Freiwerberei?“ fragte sie, und ihre sonst so weiche Stimme klang schneidend. „Fürchtest Du vielleicht, daß Dir später ein paar arme Schwestern zur Last fallen könnten? Sei beruhigt darüber –.“

„Aber Lore – bei Gott nicht!“ betheuerte er verlegen, „ich meine es einfach gut mit Dir.“

„Aber ich will nicht!“ rief sie laut und außer sich vor Zorn, „hörst Du, ich will nicht! Und die Thür flog ihr aus der zitternden Hand und fiel krachend ins Schloß, zugleich sprang vom Zugwind das gegenüberliegende Fenster auf und die erbärmlich kleine Petroleumlampe, die man für sie auf die Treppenstufe gestellt, um sich in ihr Stübchen zu leuchten beim Nachhausekommen, verlosch jäh. Sie tastete im Dunkeln empor, mit leisen Schritten und angstklopfendem Herzen, hatte sie den Vater geweckt? Sie lauschte auch auf dem oberen Flur – es blieb still – aber jetzt erklang die Stimme der Mutter. „Lore! Lore!“

Sie kam an das Bett der Mutter und kniete nieder. „Hast Du Dich sehr erschreckt, Mama?“ erkundigte sie sich zärtlich.

„Nein, nein! Aber warum kommst Du jetzt schon, Lore? Ist es schon aus? Hast Du Dich amüsirt? Es war gewiß sehr schön!“

Bei dem trüben Scheine der Nachtlampe blickte ihr das Mutterauge mild und liebevoll entgegen.

„Ach! sich nur aussprechen können!“ dachte das junge Herz, und sie legte den Kopf an die Schulter der Mutter und begann stockend zu beichten von der zudringlichen Werbung Adalbert Beckers, durch ihren schlanken Körper ging es wie ein Schauer der Empörung, und endlich versagte ihr die Stimme in einer Thränenfluth.

Frau von Tollen lag ganz still, die Hand auf dem Scheitel ihres Kindes. „Aber warum weinst Du denn so schrecklich?“ fragte sie endlich; ist es eine Schande, wenn ein Mädchen einen Heirathsantrag bekommt?“

Lore fuhr empor, wie von einer Schlange gebissen, und sah entsetzt die Mutter an. Ja, und ob es eine Schande war! Sie sah die lüsternen Augen und hörte das halbtrunkene Flüstern: „Sie sind so ein wunderschönes Mädchen, Lore!“ – „Mama!“ stöhnte sie, „Du?“ –

„Geh’ schlafen,“ begütigte die alte Dame und strich zärtlich die heiße Wange. „Wir sprechen morgen darüber, schlafe nur erst. Gute Nacht!“

„Wir sprechen nicht darüber, Mama, morgen nicht, und –“

„Wie?“

„Und niemals, Mama.“ Und sie schritt ohne „Gute Nacht!“ der Thür zu.

„Lore!“ rief die Kranke, als ob sie sich erst jetzt auf etwas besinne, „bleibe noch, ich muß Dir noch erzählen, Klothilde hat heute geantwortet –. Ich habe schon so viel geweint, daß man sich so etwas sagen lassen muß –. Nicht einen Pfennig würde sie geben, schreibt sie, ich könne ihr das doch nicht verdenken, sie habe selbst Kinder, und ihr Vater halte sie auch sehr knapp –. Wenn Onkel nicht hilft, dann weiß ich nicht mehr –. Ach, diese Sorge, Lore, diese Sorge!“

„Gute Nacht, Mama!“ wiederholte Lore tonlos. Sie hatte kaum verstanden, was die Mutter wollte. Sie kam mit einem bleischweren, vom Weinen schmerzenden Kopf in ihr Stübchen und warf sich im Finstern auf ihr Bett.

Sie verstand zum ersten Male ihre Mutter nicht.




Der Bruder war erst mit grauendem Morgen zurückgekehrt. Er erschien nicht beim Frühstückstisch, und Lore, die, blässer als gewöhnlich, die Haushaltungsgeschäfte besorgte, entschloß sich gegen zehn Uhr, an seine Thür zu klopfen und ihm zu sagen, es sei ein Dienstbrief gekommen.

Er rief ihr zu, den Brief durch den Thürspalt zu werfen, und fragte, ob er denn solche Eile habe.

Frau von Tollen, die wieder aufgestanden war, schlich matt im Hause umher, es lag ein unheimlicher Druck auf allen Gemüthern. Lore wich ihrer Mutter heute förmlich aus; die alte Dame versuchte alles Mögliche, um das Gespräch auf das gestrige Fest zu lenken – vergebens. Endlich stieg die Majorin zu dem Logirstübchen empor und fragte, ob sie eintreten könne.

Der Sohn lag noch im Bette; er sprach von Kopfschmerzen und sah dabei sehr deprimirt aus. Die Mutter setzte sich zu ihm. „Es thut mir leid, Rudi, aber Klothilde giebt Dir nichts,“ begann sie mit einem Seufzer.

„Geldprotzen sind’s!“ murmelte er.

„Wenn nun Onkel nicht hilft – Rudolf, dann –“

„Bah, der! Dann ist’s eben nicht anders! Es kommt auch alles zusammen! Der gemeine Kerl da, der mir meine Civilanzüge macht, hat mich beim Regiment verklagt, da ist der Wisch, ich muß auch den bezahlen.“

Die alte Dame nahm den Brief, es waren dreihundert Thaler eingeklagt. Sie sagte kein Wort, sie senkte den Kopf nur etwas tiefer.

„Na, das macht den Kohl doch auch nicht fetter,“ erklärte der Sohn, „auf irgend eine Weise muß ich aus der Patsche kommen. Gestern dachte ich ja wahrhaftig, es wäre schon so weit, aber – hm! –“

„Weißt Du auch, daß der Arzt gestern sagte, Deinem Vater könnte eine solche Alteration das Leben kosten?“ fragte leise weinend die alte Dame.

„Nun, da sagen wir’s ihm eben nicht!“ erwiderte ungeduldig der Lieutenant.

„Und was soll werden?“

„Ich habe keinen Schimmer! Aber Zeit wird’s, daß Rath kommt. Kommt keiner, nun dann –“ er machte eine Handbewegung nach rückwärts. „Mich dauert nur der arme Kurt –.“

„Der Benberg, Rudi? Ach Gott, und die Mutter! Aber Rudolf, Rudolf, wie konntest Du auch –?“

Er antwortete nicht. „Dumme Trine!“ flüsterte er endlich.

„Was meinst Du?“

„Hat Dir Lore nichts erzählt?“

„Doch, Rudolf – aber –“

„Von dem hätte ich jede Summe bekommen.“

„Aber – Kind –“

„Na, was denn? Man hätte später zurückgezahlt. Wenn ich jetzt um die Ecke gehe, ist’s auch nichts mit Lieschen Maikat –“

„Wer ist das?“

[55] „Die Tochter vom Alten, der einmal alleiniger Besitzer der jetzt B.schen Aktienbrauerei war. Sie ist gut erzogen, leidlich hübsch und hat ordentliches Moos. Aber –“

„Was denn, Rudi?“

„Ich kann doch einen Menschen nicht anpumpen, dem mein Fräulein Schwester einen Korb gegeben?“

„Allerdings nicht. Wenn aber die Sachen mit Deiner Heirath so stehen, dann könntest Du wohl auch darauf hin –?“

„Jawohl! Der Alte hat Horcher bei allen Halsabschneidern; man drängelt sich nicht schlecht um die Fräulein Tochter. Einer in arrangirten Verhältnissen muß es sein – sonst – Lore ist nicht recht gescheit!“ setzte er ärgerlich hinzu.

„Also ist es wahr?“

„Na, und ob! Verliebt wie ein Stint ist er, der Tolpatsch! Ich habe ihm hundertmal vorgepredigt, daß er vorsichtig zu Werke gehen soll, aber er hat’s natürlich gründlich verkehrt angefangen.“

Die alte Dame schwieg und faltete die Hände im Schoß. „Ist er denn wohl ein anständiger Mensch, Rudi?“ fragte sie zaghaft nach einer Weile.

„Was ich von ihm gesehen habe – ja! Und die Kameraden in Xleben sagen es auch.“

Wieder eine Pause.

„Rede Lore nicht zu,“ flüsterte sie endlich, „um Gotteswillen, rede nicht zu! Er ist so schwer, der Schritt, für eine Natur wie Lores, wenn die Liebe fehlt; Du kannst es gar nicht verstehen, Rudi.“

„Gott soll mich bewahren, ich sage kein Wort. Wenn’s ihr Spaß macht, zu versauern – meinetwegen!“

„Wenn ich Dir nur helfen könnte, Rudi!“

„Na, ich sag’s ja schon. Wenn alle Stränge reißen, ziehe ich mitsammt Benberg den bunten Rock aus und gehe nach Amerika. Basta!“

Jetzt legte sich die alte Frau schluchzend in den Stuhl zurück. „Daß Du uns das anthun willst! Ich überlebe es nicht,“ klagte sie.

Er machte eine ungeduldige Bewegung, aber er sah ganz blaß aus; der Gedanke war ihm ungemüthlicher, als er sich selbst eingestehen wollte.

„Geh nur, Mama,“ bat er, „ich möchte mich nun auch erheben, es ist spät.“

Sie ging auch wirklich, und weil sie ungesehen weinen wollte, stahl sie sich in eine Kammer, in der allerlei altes Gerümpel lag und stand. Da war auch noch der kleine Stuhl, auf dem die Kinder gesessen, eines nach dem andern. Sie starrte auf das abgenutzte Möbel, und es war ihr plötzlich, als ob der braune Krauskopf ihres kleinen Rudi daraus auftauchte. Er war ein süßes Kind gewesen, ihre ganze Seligkeit, und er sollte nun, mit Schimpf und Schande beladen, von ihr gehen – auf Nimmerwiedersehen! Denn ehe er einmal wiederkehrte, hatte sie sich längst zu Tode gegrämt.

Sie wollte ihm zürnen und konnte es nicht. Sein leichtes Blut – es war ein Erbtheil ihrer Familie; zwei Brüder von ihr waren durch den nämlichen Leichtsinn untergegangen. Sie hörte auf zu schluchzen und blickte mit weit geöffneten Augen zu dem kleinen Stuhl hinüber; – ja freilich, der Jüngste, der hatte sich erschossen. Sie stöhnte schwer auf: „Gott erbarme sich!“

Eine völlige Fassungslosigkeit überkam sie. Sie sprang empor und band sich mit zitternden Händen die Schürze fester; es geschah rein mechanisch. Wenn sie so etwas an ihrem Kinde erleben müßte! Die Kraft, das zu tragen, hatte sie nicht mehr, nein, die hatte sie nicht mehr! Und der kranke Mann – die armen Mädchen – „Gott im Hintmel, wenn Lore vernünftig wäre!“

Sie band wieder die Schleife der Schürze auf und ward roth. „Vernünftig? Wer ist denn hier vernünftig?“ – „Wenn Lore sich opfern wollte!“ sagte eine ehrliche Stimme in ihr. „Nein, nicht zureden! Ich will kein Wort sagen; das arme Ding – Gott wird ja einen Ausweg zeigen, Gott muß sich erbarmen!“

Drunten rasselte jetzt die Schelle der Hausthür und die Stimme des Briefträgers scholl bis zu ihr herauf. Die schwache Frau flog aus der Kammer und die Treppe hinunter, mit fast jugendlicher Leichtigkeit. Ihre zitternde Hand nahm einen Brief in Empfang, sie barg ihn hastig, ohne ihn näher anzusehen, in der Tasche und kam dann mit der „Kreuzzeitung“ die Treppe wieder herauf, um sie in das Zimmer ihres Mannes zu tragen.

„Nichts weiter?“ fragte brummig der alte Herr und griff nach dem Blatt.

„Nichts, Tollen!“ Sie antwortete noch athemlos und machte sich etwas zu schaffen mit dem Kaffeegeschirr, das vor dem Gatten stand, der im Lehnstuhl am Fenster saß. Sie ward nicht einmal roth bei der Lüge, sie war es so gewöhnt, zu verbergen, zu verheimlichen, Nothlügen vorzubringen. Sie hatte eine solche Fertigkeit darin erlangt während der letzten Jahre ihrer Ehe, daß sie mitunter vor sich selbst erschrak, aber es blieb ihr ja kein anderes Mittel, um den Frieden des Hauses zu erhalten. Der Major ward zornig bei jeder Rechnung, die eintraf, er schimpfte, als ob seine Frau die Kohlen nur verbrenne, um ihn zu ärgern, die einfachen Kleiderstoffe nur anschaffe aus reinem Uebermuth, und sie ließ ihm schon seit langer Zeit nichts derartiges vor die Augen kommen. Er war schrecklich, wenn er tobte. Der alte Herr mußte wissen, daß Schulden vorhanden seien, aber er fragte nie danach; er trennte sich so schwer von den paar Goldstücken, die er für unvorhergesehene Fälle in seiner Kassette hütete; die Trennung ging niemals ohne Sturm vor sich, und so war es ihm recht, wenn die Frauensleute nicht „um jeden Quark“ zu ihm kamen, er erfuhr es noch immer frühzeitig genug, daß er Geld hergeben sollte. Und manchmal fehlte es ihm ja ganz! So geschah es, daß die Kaufleute oft Monate lang warten mußten, ehe sie befriedigt wurden, und daß die Tollens nicht gerade hoch in der Achtung der Westenberger Bürger standen.

Die Majorin ging mit dem Kaffeegeschirr hinaus, stellte es auf ein Tischchen im Flur und stieg die schmale Holztreppe hinauf zu Lores Mansardenstübchen.

Das junge Mädchen stand am Fenster; sie gewahrte das Eintreten der Mutter nicht, und diese bemerkte nicht, wie ein heimlicher Gruß und ein Winken hinunterflog zu dem Hof des Gymnasiums.

„Lore,“ begann die alte Dame, „vom Onkel, ich glaube vom Onkel,“ und sie holte den Brief aus der Tasche, „lies Du doch, ich kann nicht, mir flimmert es so vor den Augen.“

Lore nahm ruhig den Brief aus der Hand der Mutter, schnitt das Couvert auf und las. „Es ist nichts, Mama,“ sagte sie dann, „er will durchaus nicht helfen; Onkel schreibt: ‚Mag er denn die Folgen des Leichtsinns tragen und jenseit der großen Pfütze arbeiten lernen. Die Arbeit, das eiserne Muß allein ist im Stande, derartige leichtsinnige Naturen auf den Weg der Pflicht und Ordnung zurückzuführen.‘“

Die Majorin drehte wieder nervös die Bänder ihrer Schürze um die Finger und sah angstvoll an Lore vorüber. „Nun weiß ich nichts mehr!“ murmelte sie.

„Vielleicht gelingt es Benberg dennoch, das Geld anzuschaffen, Mama?“

Aber die alte Dame hatte keine Antwort. Sie stand auf und ging mit raschen Schritten aus der Thür. Traurig blickte Lore ihr nach.




Die verwitwete Frau Pastor Schönberg saß in ihrer Stube am Fenster und strickte an einem grauen wollenen Strumpf für ihren Sohn. Die alte Frau hatte auf den ersten Blick ein merkwürdig verdrießliches Gesicht, so, als sei ihr eitel Kummer und Trübsal im Leben zu theil geworden. Wenn man ihr aber in die vergißmeinnichtblauen Augen sah, die merkwürdig jung unter der tadellos frischen Tüllhaube hervorschauten, so wußte man gleich: da ist Humor, hier hat stets die gute Laune obgesiegt, waren die Zeiten auch noch so trübe. Und dann dachte man sich wohl dies alte Mütterchen als junges Mädchen und sagte sich: „das mag ein lustiges Ding gewesen sein!“ – Es war zu drollig, wenn die Frau Pastorin ihren Bekannten versicherte, ihr Sohn mache ihr zuviel Sorgen, er wolle allewig zu hoch hinaus, er poche immer auf die paar tausend Thaler, die er nach ihrem Tode erben werde. Es sei ein Jammer, wenn die Kinder wüßten, daß es bei den alten Eltern noch etwas zu holen gäbe. Und dabei lachten dann die Augen, denn sie glaubte selber nicht, was sie sprach.

Das Dienstmädchen war hereingekommen und hatte um den Speiseschrankschlüssel gebeten; es sei Zeit, den Thee für den Herrn Doktor aufzugießen.

„Dat möt ja Thee sin, anners geit dat nich mehr,“ bemerkte sie und hakte das Schlüsselbund aus dem Gürtel.

„Der Herr Doktor muß gleich kommen, es ist ein Viertel fünf vorbei,“ sagte das Mädchen im Hinausgehen und blickte auf die Uhr.

[56] Die Frau Pastorin murmelte irgend etwas, dann horchte sie auf; eben klang die Schelle und ein rascher Männerschritt näherte sich ihrer Thür. Mit einem „Guten Tag, Mutter!“ trat der junge Doktor über die Schwelle.

„Gu’n Dag!“ war die Antwort, „dat regnet ja?“

„Es ist nur Nebel, Mutter; dafür haben wir Oktober. Wie geht es denn, hast Du das Wochenblatt schon gelesen?“

„Ja! Da steht ordentlich drin, daß bei Beckers Ball gewesen ist! Die werden ja woll noch überspönig, wenn die Westenberger thun, als seien sie Königs selber. Und nun guck einmal – da fährt ja richtig die Beckern in ihrer Kalesche vor und holt das alte schrullige Puppenfrölen ab! Nun, es wird ja wohl so sein, wie die Kontrolörin sagt, daß da ein Brautpaar zustande kommt.“

Der Doktor hatte eben den Hut abgelegt und es sich am Tische auf dem Sofa bequem gemacht, wo er gewöhnlich seinen Thee zu trinken pflegte, wenn er nachmittags aus der Schule kam. Nun hob er den Kopf. „Was sagst Du, Mutter? – Bitte doch lieber die Kontroleurin, daß sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmert.“

„Na, uns kann es ja gleich sein, mein Jung. Da fahren sie richtig ab, das Frölen hat ihren pensee Stürmer auf mit den gelben Rosen, das läßt sich nach was an!“

Der Sohn war ans Fenster getreten und sah den Wagen vorüberfahren. Es war ein elegantes Coupe, hinter den spiegelnden Scheiben tauchte richtig der verschossene stadtbekannte Hut des Fräulein Melitta von Tollen auf, der seit Jahren jeden Sonntag im Kirchstuhl zu St. Marien sichtbar war. Auf dem intelligenten, von einem blonden Vollbart umrahmten Gesicht des Doktors spiegelte es sich wie leise Schadenfreude.

„Wetten?“ sagte er, „die fahren zu Majors und machen dort einen Besuch. Nur zu!“

„Das ist schlau,“ bemerkte die Pastorin. „Es macht sich ganz gut, so eine vornehme Equipage vor dem Hause. Das wird dem gnädigen Fräulein Lore schon einleuchten.“

Er schaute, herzlich belustigt, auf die kleine mürrische Frau hinunter. „Meinst Du?“ fragte er.

„Jung, thu nicht so dumm! Die Tollens können weder schwimmen noch baden, und wenn da ein noch größerer Esel käme als der Adalbert von drüben –“

Jetzt lachte er halblaut. „Daß Ihr Frauen Euch gegenseitig immer so schlecht beurtheilt!“ sagte er. „Aber, da ist ja mein Thee!“

Er setzte sich in voller Seelenruhe an den Tisch, den das Mädchen mit einer blendend weißen Serviette bedeckt hatte, und begann zu trinken.

„Du liebe Zeit!“ murmelte die alte Frau, „Noth bricht Eisen – es hat schon manche geheirathet, um aus dem Elend zu kommen.“

„Sie hat nur nicht Lore von Tollen geheißen!“ erwiderte er ernsthaft.

Die Mutter wandte rasch den Kopf und schob die Brille auf die Stirn, um den Sohn besser sehen zu können.

„Ei du meine Güte – na, Du willst sie doch nicht etwa heirathen?“

Er rückte die Tasse etwas zur Seite und kam wieder zu ihr herüber. „Warum denn nicht?“ fragte er und zupfte neckend an den breiten steifgestärkten Spitzen der Haube.

„Du bist nicht bei Troste!“

„Ei! Gefiele Dir denn das liebe Mädel nicht als Schwiegertochter?“

„Um Gotteswillen, Jung, schweige rein still!“ rief die alte Frau.

[57] „Gefällt sie Dir nicht, die Lore, Mutter?“

„Du brauchst nicht Spott mit mir zu treiben, ich glaube Dir ja doch nicht!“ knurrte sie. „Na, das wäre die Rechte!“

Er schwieg, aber lächelte noch immer.

„Enterben thäte ich Dich,“ erklärte sie plötzlich im vollsten Ernst – „Enterben!“

„Wirklich?“ erkundigte er sich, und es zuckte um seine Mundwinkel. „Und wem wolltest Du das viele Geld vermachen?“

„Ein Narrenhaus ließ ich davon bauen, daß Du es weißt, Du frecher Jung!“ rief sie, „da hinein kämst Du mit sammt Deiner vornehmen Braut.“

„Wenn wir die einzigen Narren darin bleiben, nehme ich es dankbar an. – Guten Abend, Mutter, ich gehe jetzt spazieren.“

Er nahm seine Bücher, Hut und Stock und hatte im nächsten Augenblick die Stube verlassen. Die alte Frau hörte ihn auf der Treppe ein lustiges Lied pfeifen und schüttelte den Kopf.

„Nein,“ sagte sie endlich, „so dumm ist er nicht – so ein glattes Frätzchen und nichts dahinter – nein!“

Und sie legte das Strickzeug säuberlich zusammen, setzte sich mit gefalteten Händen in den Rohrstuhl zurück und wiederholte noch einmal. „So dumm ist er nicht!“

Er stand auf einmal draußen und pochte an die Scheiben. Sie schob den blitzblanken Messingriegel zur Seite und öffnete den Fensterflügel.

„Höre, Mutter,“ sagte er, „bevor die Lore meine Frau wird, müssen wir oben noch die Giebelstube ausbauen; es ist zu wenig Platz im Hause.“

Sie ward dunkelroth und schlug klirrend das Fenster zu, er aber preßte das Gesicht an die Scheibe und lachte mit lustigen Augen hinein, wie er es als kleiner Junge gethan.

Da öffnete sie noch einmal. „Töv, Du Slüngel, Du willst Din oll Mutter foppen?“ Und sie nahm ihm, ehe er sich’s versah, den Hut vom Kopfe, daß er barhaupt da stand und der Wind ihm durch die dichten braunen Haare sauste. „Du wolltest doch spazieren gehen? Geh doch, mein Jungchen, viel Vergnügen! Du kannst ja nun gleich, wie Du da bist, um Deine Lore anhalten.“

Sie wollte das Fenster schließen, da drängte er ihre alte Hand zurück, und im nächsten Augenblick war er mit einem Satz durch das niedrige Fenster gesprungen und stand in der Stube.

Die alte Frau saß in ihrem Lehnstuhl und lachte. „Schämst Dich nicht?“ rief sie, „was sollen nur Deine Schüler sagen, sähen sie, wie Du Dich benimmst! Da sollen sie wohl gar noch Respekt behalten? Wenn ich nur wüßte, was Dich so übermüthig macht –“

Und da hatte er plötzlich einen Stuhl neben sie gezogen und sah sie groß und ernsthaft an.

„Du darfst es ja wissen, Mutter,“ sagte er leise, „das Glück macht es, das süße reine Glück – sie hat mich lieb, die Lore, und will meine Frau werden.“

„Grundgütiger!“ stammelte die Pastorin leichenblaß. „Junge, was fängst Du für Geschichten an!“

In seinen Augen lag ein bittender Ausdruck. „Mutter, halte keine Reden, es wäre doch alles vergebens.“

„O lieber Gott, das ist doch keine Frau für Dich,“ begann die Pastorin, „eine von den Tollens, die nichts weiter wissen und können, als hochmüthig thun, und denen die Edelmannsmucken aus allen Kleiderfalten gucken! Jung, was hast Du denn gesündigt, daß Dir so ein Kreuz auferlegt wird?“

„Du kennst ja Lore nicht,“ erwiderte er und griff nach ihrer Hand. „Sie ist so lieb und einfach, und sie ist mir von Herzen gut.“

[58] „Ich müßt’s erst mit eigenen Augen sehen, ich glaub’s nicht eher. Nun ist das Unglück über uns gekommen, damit fängt’s an.“

„Willst Du sie einmal sehen, Mutter? Darf ich sie Dir bringen?“ rief er, ohne die letzten Worte zu beachten. „Ich denke, ich treffe sie jetzt auf dem Spaziergange, und will sie bitten, daß sie einen Augenblick hereintritt zu Dir.“

Er hatte sich erhoben und den Hut aufgenommen, der vom Schoß der alten Frau achtlos zur Erde geglitten war.

Sie antwortete nicht.

„Ich bringe sie Dir, Mutter, dann hast Du sie lieb, ich weiß es!“ rief er. Und er lief mehr als er ging aus der Stube, in den dämmernden Oktobernachmittag hinaus.

In den Anlagen durchmaß er die Wege mit förmlichen Sturmschritten, aber all die Gänge lagen einsam vor ihm. Ein Gefühl der Enttäuschung bemächtigte sich seiner; er hatte bestimmt geglaubt, Lore werde mit der Schwester spazierengehen. Er saß einen Augenblick unter dem Pavillon nieder und zeichnete mit seinem Stock Lores Namen in den feuchten schwarzen Erdboden; er war so vertieft darin, daß er nicht bemerkte, wie ein paar seiner Schüler vorübergingen und ihn grüßten und dabei die verbotenen Cigarren versteckten. Es wurde nahezu grauer Abend und ihn fror, er ging langsam nach der Stadt zurück und stand ein Weilchen außen vor der Gartenthür seines kleinen Grundstückes, überlegend, ob er hinaufgehen solle, um zu arbeiten. Es sei ihm nicht möglich, meinte er dann, und schlenderte dem nahen Stadtthore zu.

Unter dem gewölbten Durchgang kam, mit den Armen schlenkernd, Käthe Tollen ihm entgegen. Das braune Wollkleid war etwas sehr kurz, die Lederstiefel hatten ausgeweitete Gummizüge und gaben dem Fuß eine wunderliche Form, und das Filzbarett saß schief über dem gelangweilten kecken Gesichte. Er mußte lächeln; welch ein Unterschied zwischen den beiden Schwestern!

„Guten Tag, Fräulein Käthe,“ begann er auf sie zugehend, „wollen Sie spazierenwandern? Und so allein?“

Das Gesicht des jungen Mädchens ward glühend roth, sie machte eine etwas unbeholfene Verbeugung. „Die Lore kann ja nicht mit, die muß in Mamas Salon sitzen und der alten ‚Beckern‘ Kaffee präsentiren.“

„So? Nun, da werde ich Sie ein Stückchen begleiten, wohin wollen Sie denn gehen?“

Käthe versagte einen Augenblick der Athem – Doktor Schönberg wollte mit ihr – – der heimliche Abgott sämmtlicher Schülerinnen mit ihr, mit Käthe Tollen – spazieren? Sie blickte ihn völlig konsternirt an, dann besann sie sich – in der Stadt traf man jedenfalls Mitschülerinnen, und welches Furore würde es machen! – „Ich wollte eben umkehren,“ log sie, „ich muß noch auf den Markt, habe da eine Bestellung – bei – bei –“

„Schön“ unterbrach er sie, „ich werde Sie bis zu – zu – na, es ist gleich – begleiten. Wie steht’s mit Ihrem Aufsatz, Fräulein Käthe, über –?“

„Den habe ich ja längst abgegeben!“

„Ah, richtig – ja, ja. Also Ihre Frau Mama hat Besuch?“

„Seit zwei Stunden sitzen sie da und hecheln den Ball durch,“ berichtete Käthe.

„Er war wohl sehr schön?“

„Weiß ich nicht, Lore spricht schon den ganzen Tag kein Wort, sie ist überhaupt viel früher nach Hause gekommen als die andern. Ich kann’s ihr nicht verdenken.“

„Wieso denn?“ fragte der junge Mann und schritt auf dem Fahrdamm, weil der Bürgersteig allzu schmal war für beide.

„Na, das weiß doch jeder, daß Adalbertchen unserer Lore den Hof macht.“

Er antwortete nicht gleich. „Das ist Fräulein Lore sicher sehr unangenehm?“ preßte er dann hervor.

„Möglicherweise – ja!“ erwiderte Käthe. „Jedenfalls wäre ich nicht dageblieben, und wenn die Frau Elfriede Becker mir noch zehnmal mehr Liebenswürdigkeiten sagte und noch besorgter thäte um mein Befinden.“

Er war stehen geblieben, just vor einem Goldschmiedsladen. Wie in Gedanken verloren musterte er die bescheidenen Auslagen, und seine Augen blieben an einem Kästchen mit Sammetleisten hängen, zwischen denen eine Menge glatter goldener Ringe, im Scheine einer Petroleumlampe, blitzte.

„Das sind Trauringe,“ sagte Käthe, die seinen Blicken gefolgt war.

„Würden Sie mir einen Gefallen thun, Fräulein Käthchen?“ fragte er, ohne die Augen abzuwenden von dem Kästchen.

„Was denn?“ scholl es zurück. Jeder andere hätte zur Antwort bekommen „Ich habe keine Zeit!“ Ihm gegenüber brachte sie es nur zu einem unfreundlichen. „Was denn?“

„Fräulein Lore ein Buch übergeben, das ich ihr versprach.“

„Na ja! Geben Sie her!“ klang es gleichgültig.

„Ich muß es aber erst von Hause holen“

„Das ist gleich. Ich komme mit bis an Ihre Wohnung, während Sie das Buch holen, gehe ich auf und ab.“

Er hatte sich schon umgewandt, und sie schritten eilig neben einander her. Weite Entfernungen gab es ja nicht in Westenberg, nach kaum acht bis zehn Minuten eilte der Doktor durch den kleinen Vorgarten in sein Haus, Käthe blieb vor der Gitterpforte stehen. Unter den hohen Rüstern war es vollständig dunkel; sie hatte sich gegen einen der Bäume gelehnt und sah hinauf nach dem Giebelfenster, wo er wohnte. Sie athmete rasch und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Nun flammte Licht dort oben auf; sie sah einen Schatten sich bewegen, dann mußte er sich tiefer ins Zimmer zurückgezogen haben, denn der Schatten verschwand.

Sie hatte sehr lange zu warten. Sollte er es vergessen haben, daß sie dort unten stand? Und Käthe war nicht gewöhnt, zu warten. Was ging es sie an, daß er Loren ein Buch versprach! - Was das wohl zu bedeuten hatte? Käthe nahm sich vor, dieses Buch erst zu studiren, bevor sie es an Lore gab. Sie traute der Sache nicht; Lore war eine Heimlichthuerin, sie war so oft roth geworden, wenn ihnen der Doktor beim Spaziergange begegnete, oder wenn überhaupt von ihm die Rede gewesen. –

Käthe stampfte plötzlich mit dem Fuße auf und ballte die Hände zur Faust. Sie hätte Lore schütteln mögen vor Zorn und wußte doch nicht – weshalb? Sie wollte fortlaufen, und doch hielt sie der Gedanke, sie müsse erfahren, was es mit dem Buche sei.

Endlich kam er. Das Buch war in Zeitungspapier eingeschlagen.

„Haben Sie sich gefürchtet?“ fragte er. „Sie hätten zu meiner Mutter eintreten sollen.“

„Ich fürchte mich nicht,“ klang es trotzig zurück. Sie riß ihm das Buch aus der Hand. „Soll ich sonst noch etwas bestellen?“

„Nein! Fräulein von Tollen weiß schon, aber Sie dürfte es vielleicht interessiren, daß ich nächsten Donnerstag die Litteraturstunde nicht geben kann; ich muß auf acht bis zehn Tage verreisen.“

„So? – Viel Vergnügen!“ Es sollte recht gleichgültig klingen.

„Ist keine Vergnügungstour,“ bemerkte er, „ich muß zu einer Philologenversammlung nach M. Nun wollen wir aber gehen, ich begleite Sie nach Hause.“

„Ich danke,“ antwortete sie, „ich gehe allein viel lieber. Guten Abend!“

[69]
Käthe lief, wie verfolgt, durch das Gärtchen auf die Straße hinaus. Erst als sie in der Thorgasse war, ging sie ruhiger, aber das Buch brannte wie Feuer in ihrer Hand. Unter einer Laterne zur Seite des Fahrdammes blieb sie stehen und betrachtete das Packet. Es war mit einem Siegel zugedrückt und mit Bindfaden umwunden. Ein eisiger Zug legte sich um ihren Mund und ließ das junge Gesicht um Jahre älter erscheinen, ihre Finger zuckten, als müsse sie das Siegel erbrechen, aber sie unterließ es. „Unverschämt!“ flüsterte sie, weiterschreitend mit verdoppelter Hast. Ungestüm trat sie in die Thür des väterlichen Hauses, und als sie Lores Stimme aus der Küche hörte, stand sie im nächsten Augenblick vor der Schwester, die am Herd beschäftigt war, des Vaters Abendsuppe zu bereiten.

„Hier!“ sagte sie fast heiser und hielt Lore das Packet entgegen, „da ist das Buch.“

„Welches Buch?“ klang es überrascht zurück.

„Nun, das vom Doktor Schönberg, thue doch nicht so verwundert; nimm es, ich habe keine Lust, es Dir noch länger hinzuhalten.“

Lore hob die Kasserole vom offenen Feuer, in der die Wassersuppe am Ueberschäumen war, und ergriff erst dann das Packet. Käthe schlug die Arme in einander und beobachtete, wie die Schwester, am Küchentisch vor der kleinen Petroleumlampe stehend, die Kordel löste und aus dem Umschlag ein Buch nahm. Als sie es öffnete, flog ein Streifchen Papier hernieder, ohne daß sie es bemerkte.

Käthe rührte sich nicht.

Lore schüttelte den Kopf. „Ein griechisches Wörterbuch? Käthe, das ist wohl ein Irrthum!“

Das junge Mädchen lachte laut auf. „Der Kommentar liegt zu Deinen Füßen, Lore!“ rief sie; „Schönberg besitzt wahrscheinlich keinen Schimmer, daß Du so schwer kapirst, sonst hätte er vielleicht außen auf dem Päckchen bemerkt: ‚Einliegend ein Billetdoux!‘“

Lore hatte sich rasch gebückt und das Zettelchen aufgehoben, sie las es, roth erglüht:

„Ich konnte Dich nicht treffen heute, Lore, und mich verlangt es, Dich zu sehen. Ich muß mit Dir verabreden, wann ich mit Deinem Vater sprechen darf; so ertrage ich es nicht länger. Entschließe Dich, komme heut abend nach Tische zu meiner Mutter, ich habe ihr alles anvertraut. Ich muß Abschied von Dir nehmen für acht lange Tage; eben fand ich einen Brief vor, der mich nach M. ruft. Wenn Du mich liebst, Lore, so erfülle meine Bitte.“

Sie stand noch immer, den Kopf geneigt, mit sinnendem Ausdruck in ihrem schönen Gesichte. Würde es sich thun lassen heute abend? Aber, es war ja keine [70] Frage – sie mußte, mußte ihn sprechen, zumal er fortging. Sie wollte sich geborgen wissen gegenüber den Beckerschen Zudringlichkeiten, schlimmstenfalls ging sie heimlich.

Ein bitteres Schluchzen ließ sie aufschauen. „Aber Käthe, warum weinst Du?“ fragte sie.

„O Du!“ stieß das junge Mädchen hervor mit zornfunkelnden Augen, „Du – geh’, Du bist schlecht, Du hast ein heimliches Liebesverhältniß; Du betrügst den Vater und die Mutter, Du hast Dich weggeworfen –“

Lore goß ruhig die Suppe in die große Mundtasse des Hausherrn, und indem sie sich anschickte, die Küche zu verlassen, sagte sie sanft. „Komm, Käthe, der Vater wartet auf sein Abendessen, nachher will ich Dir antworten.“ Sie stieg mit der dampfenden Tasse die Treppe hinauf und trat dann in das Zimmer des alten Herrn.

Er saß im Lehnstuhl am Ofen und rauchte wie immer. „Ihr habt wohl das Mehl erst mahlen lassen?“ begrüßte er die Tochter, „Pünktlichkeit giebts gar nicht mehr. – Wo ist denn Mama?“

„Die sitzt noch unten im Salon bei Tante Melitta, Frau Becker ist vorhin fort – –“

„Was will denn das Weibervolk eigentlich? Die alte Beckern habe ich ja bis hier herauf kreischen gehört!“

„Sie wollte sich erkundigen, ob mir der Ball gut bekommen sei,“ erwiderte Lore achselzuckend.

Der Major, der eben getrunken, wischte sich den Schnurrbart und lachte. „ Alte Katze – gelt, Lore?“

„Ja, Papa!“

„Und so’n Pack hat Moses und die Propheten und kann’s nicht mal cavalierement anwenden! Unsereiner saugt Hungerpfoten! Mit dem Reglement da oben kann’s nicht stimmen, Lore, sonst steckte dieser Kerl, der Adalbert, auf der Regimentskammer und machte Kommißstiebeln – he, Lore? Oder gefällt er Dir etwa?“

Sie strich zärtlich mit der Hand über seine unrasirte Wange. „Guter Papa!“ sagte sie.

„Lore!“ rief Frau von Tollens Stimme.

Die Tochter eilte nach der Thür: „Gleich, Mama!“

„Tante Melitta bleibt zum Abend,“ scholl es herauf, „siede doch ein paar Eier!“

Sie lief bestürzt die Treppe hinunter. Das war dumm von Tante Melitta!

„Aber weich, Kind, pflaumenweich!“ rief das alte Fräulein ihr zu.

Als Lore nach ein paar Minuten mit dem Gewünschten in das kleine Eßzimmer trat, fand sie Mutter, Tante und Schwester bereits dort sitzend, Rudis Platz neben dem ihrigen war leer, der Major pflegte ja immer die Abendmahlzeit in seiner Stube zu nehmen. Fräulein Melitta war entsetzlich redselig, sie wandte sich beständig an Lore.

„Ich sagte eben zu Deiner Mutter, Lorchen, daß man doch nie vorschnell urtheilen soll. – Diese Frau Becker ist so eine charmante Frau, eine wirkliche Dame, Lorchen.“

„Sie zieht sich wenigstens beinahe so an, als wäre sie eine,“ bemerkte Käthe.

„Käthe, ich muß bitten, daß Du etwas zurückhaltender bist mit Deinem noch sehr unreifen Urtheil,“ schalt Tante Melitta, und ihre Löckchen geriethen in zitternde Bewegung, „übrigens spreche ich nicht zu Dir, sondern zu Lore.“

„Lore fehlt heute die Zeit, über Frau Becker nachzudenken,“ erwiderte Käthe und hieb mit dem Messerchen gegen ein Ei, „gelt, Lore? Wir haben nachher noch Geheimnisse mit einander – wegen Papas Geburtstag.“

„Nach dem Essen hoffentlich?“ fragte die Mutter.

„Ja, Mama.“

Lore warf ihrer jungen Schwester einen dankbaren Blick zu, aber die sah an ihr vorüber, als sei sie Luft.

„Ich habe wirklich selten so etwas Geschmackvolles gesehen wie die Beckersche Einrichtung,“ hub Tante Melitta wieder an. „Denke Dir, liebste Marie,“ wendete sie sich an die Schwägerin, „der Salon pensee Sammet, und das Boudoirchen nebenan maisgelber Atlas mit Blumen durchwirkt – ein entzückender Effekt! Ich dekorire die nächste Puppenstube so – die Frau Becker erklärt übrigens, daß die oberen Räume, die ihr Sohn theilweise jetzt schon bewohne, und die er ganz einrichten werde, wenn er sich verheiratet, noch viel schöner seien. Die Braut, die sich Adalbert einmal aussucht, hat wirklich nur nöthig, etwas Leibwäsche mitzubringen, für alles andere ist bereits gesorgt.“

„Nur nicht für anständige Gesinnungen,“ murmelte Käthe, zum Glück so leise, daß die Tante es nicht verstand und fragen mußte, was das Fräulein gemeint habe. „O, nichts!“ erwiderte diese, „ich sprach nur so mit mir selbst, das ist eine Angewohnheit von mir.“

„Ja, und Adalbert Becker erzählte mir gestern, er würde die Hochzeitsreise nur nach Italien machen; er war schon öfter dort in dem Lande, wo die Citronen blühen, ‚dahin, dahin‘ – – Lore, wie heißt es doch? – ‚möcht’ ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn!‘ Der selige Kiebitz sang es so schön –“

Lore erhob sich plötzlich. „Du erlaubst doch, Mama?“

„Ja, aber kommt bald wieder, Papa will eine Partie Whist machen, da Tante gerade hier ist, paßt sich das gut, wenn Du mitspielst.“

„Mama – –!“ stotterte Lore.

„Geh’ nur rasch, Kind, Papa wird so leicht ungeduldig, weißt Du.“

Lore, der die Schwester folgte, lief durch den dunklen Flur in den sogenannten Salon, der gegenüber dem Eßstübchen lag. Es war ein sehr einfaches Zimmer, das die Petroleumlampe spärlich erhellte, die noch – unerhörte Verschwendung – auf dem Tische brannte, an dem vorhin die Damen mit Frau Becker gesessen hatten. – So dürftig das Ganze und doch mit dem unverkennbaren Streben geordnet, daß es dem Besucher einen behaglichen Eindruck machen solle. Die Nußbaummöbel halb erblindet, ein unmoderner Spiegel mit schrecklich geschmacklosem Goldrahmen über dem Pfeilertischchen zwischen den Tüllgardinen, davor die Stutzuhr, die schon lange nicht mehr gehen wollte. Ein großblumiger Teppich vor dem Sofa, rechts und links ein Fauteuil; ein alter gestickter Ofenschirm; ein Silberschränkchen, auf dem eine Alabasterschale stand, die schon hie und da angeleimtes Rankenwerk zeigte, und ein Schreibtischchen, ein recht unnützes Möbel, bedeckt mit kleinen Nippes aus besseren Tagen, als die Hausfrau noch jung und schön war.

Dort sank Lore auf den Stuhl. „Käthe,“ rief sie, „Du mußt mir helfen!“

„Nein!“ erklärte der Trotzkopf.

„Aber Du weißt ja gar nicht – –“

„Ich will es auch nicht wissen!“

„Käthe!“ Lore trat mit gefalteten Händen vor sie hin, „wir haben uns doch immer gut vertragen – ich habe ihn so lieb, Käthe – hilf mir!“

Ueber das Gesicht der jungen Schwester zog eine Leichenblässe. „Du wirst doch nicht so dumme Vorurtheile haben, Käthe, daß wir etwa nicht für einander passen, weil ich zufällig Lore von Tollen heiße, und er – Ernst Schönberg? – Käthe, er ist ein so lieber prächtiger Mensch, Du hast ihn ja auch gern –“

„Nein!“ stieß Käthe hervor.

„Ich muß ihn sprechen, heute abend noch,“ sagte Lore, in einen andern Ton übergehend. „Wenn Du mir nicht helfen willst, so helfe ich mir allein, ich bitte Dich nur um Diskretion.“

„Selbstverständlich!“ erwiderte die Schwester mit gekräuselter Oberlippe.

„Lore! Lore!“ scholl es draußen, „Papa wartet!“ „Käthe,“ flehte das jsunge Mädchen, „ich kann doch nicht fort! Ich bitte Dich – Dich wird niemand vermissen – lauf’ Du zur Frau Pastor Schönberg, sag’, daß ich nicht kommen könnte, mit dem besten Willen nicht –“

„In drei Deibels Namen!“ schrie der alte Herr jetzt mit Donnerstimme über das Treppengeländer, „wo bleibst Du denn? Ist’s gefällig?“

Lore flog zur Thür. „Gleich, Papa, augenblicklich! – Käthe, um Gotteswillen, geh’! Sag’, ich würde morgen früh um halb acht Uhr auf dem Bahnhof sein. Es ist ja gleichgültig, ob uns jemand dort sieht; ich bitte Dich, Käthe, wenn Du mich lieb hast, so geh’! mein Lebelang will ich Dir danken; – sag’, er soll sich nicht sorgen – –“

Sie hatte Thränen der Angst im Auge.

„Ja doch!“ murmelte Käthe, und wie gejagt lief Lore hinauf.

[71] Käthe wickelte sich wirklich in ein Tuch und schlich aus dem Hause. Sie wußte, sie wurde nicht vermißt; man dachte sicher, daß sie ihre schriftlichen Aufgaben arbeite. Es war ein stockfinsterer, stürmischer Abend, die Laternen über der Straße schwankten im Winde. Das junge Mädchen ging sehr schnell, sie wußte selbst kaum, daß sie beinahe lief. Es brannte ihr im Kopf und Herzen, die ganze Welt schien sich mit ihr zu drehen, es war ihr so beklommen, so weh zu Muthe, und doch war sie zornig. Sie dachte, welch eine Wohlthat es sein müsse, könnte sie die Lore am Arme packen, sie schütteln und ihr ins Gesicht schreien. „Du Schlange, Du Verrätherin!“ – Sie ging erst langsamer, als sie sich der Gartenthür des Schönbergschen Grundstücks näherte, sie tastete in der Finsterniß – hier vor dem Thore brannte nirgends eine Laterne – nach der Klinke und ihre Augen suchten den schmalen Lichtstreif hinter den Läden der Frau Pastorin. Oben in seinem Zimmer war es dunkel. Auf einmal fühlte sie sich an der Hand ergriffen und im nächsten Augenblick hatte sie ein Arm umfaßt und ein Kuß drückte sich auf ihre Lippen.

„Lore! Lore! Gott sei Dank, daß Du kommst!“ flüsterte eine leidenschaftliche Stimme.

Sie war völlig schwindlig in diesem Augenblick, sie hatte nicht die Kraft, ein Wort hervorzubringen. Erst als er jetzt ihre Stirn küßte und ihre Hand, und sie wieder „Lore, meine Lore!“ nannte, machte sie sich los aus seinen Armen und stieß ihn zurück.

„Ich bin’s ja!“ rief sie klanglos, „die Käthe. Lore kann nicht kommen.“

Einen Moment blieb es still. „Käthe?“ klang es in ihr Ohr, enttäuscht und ärgerlich.

„Ich kann nichts dafür,“ murmelte sie und brach in Schluchzen aus.

„Nein! Nein! Entschuldigen Sie nur, Fräulein Käthe! – Lore beichtete Ihnen hoffentlich. Aber wollen Sie nicht eintreten?“ Das klang wieder, als stehe er auf dem Katheder, so kühl und besonnen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Hausthür, Lichtschein fiel aus dem Dunkeln und einer Silhouette gleich trat die kleine Gestalt der Frau Pastorin in den Rahmen der Thür. „Ist mein Töchterchen da?“ fragte sie leise und freundlich.

„Nein, Mutter, es ist Fräulein Käthe.“

„Wollen Sie nicht hereinkommen?“ wiederholte die alte Frau die Bitte des Sohnes.

„Nein, ich kann nicht, ich will nicht –“ flüsterte das Mädchen, zurücktretend, „ich soll nur einfach bestellen, daß Lore nicht kommen konnte, sie muß Whist spielen mit Papa und Tante, sie würde aber, wenn möglich, am Bahnhofe sein, oder schreiben.“

„Es war wirklich so ganz unmöglich?“ fragte er bitter.

Sie zuckte die Schultern: „Lore sagt’s ja! – Lore ist feig,“ flüsterte sie leidenschaftlich, „wenn ich – ich es gewesen – gute Nacht!“

Sie war plötzlich in der Dunkelheit verschwunden. Als er ihr nacheilte bis zum Thor, vermochte er keine Spur mehr von ihr in der einsamen, schwach erhellten Straße zu erblicken.

„Mag der Irrwisch laufen, was sollte ihr auch in Westenberg passiren?“ murmelte er und ging verstimmt zurück. Ja, Lore hätte kommen müssen, meinte er, sie hätte Mittel und Wege finden müssen, wozu Rücksichten nehmen, wenn es sich um das Glück zweier Menschen handelt. War es nicht ein kleinlicher Zug? – Er stand mit blassem Gesicht vor der Mutter.

„Nun, nun,“ tröstete die alte Frau und setzte die Kuchentellerchen und Theetassen bedächtig wieder in den Glasschrank, die sie zur Bewirthung des Gastes hervorgenommen. „Das sind Liebesleiden, gieb Dich zufrieden, mein Jung, es kommt noch besser!“

Lore saß mit den Karten in der Hand am Whisttische und horchte auf jeden Schritt, der von der Straße herauf erscholl.

„Zum Tausendsapperment! So paß auf!“ schrie der Major, der ihr Aide war. „Ich hab’ Pique angezeigt. Das ist ja um zu verzweifeln, wie Du spielst!“

Sie sah ihn verständnißlos an.

„Da kommt Käthe die Treppe herauf,“ sagte Fräulein Melitta, und stach über; „danke, Lore, Ihr werdet Schlemm.“

„Mag der Deibel spielen!“ schrie der alte Herr zornig und warf die Karten auf den Tisch. „Ich nehme den Strohmann.“

Das Mädchen stand hastig auf und ging der Thür zu.

„Hierher!“ donnerte der Major ihr nach, „hingesetzt und aufgepaßt! Wie willst Du es sonst kapiren?“

Sie kam gehorsam zurück und saß vor den aufgedeckten Karten wie ein Wachsbild. Hie und da richtete der alte Herr eine Frage an sie. „He, Jüngferchen, wie würdest Du das jetzt machen? Wie wird gespielt?“

Sie sah ihn verängstigt und erschreckt an, ihre Gedanken kamen von Ernst zurück.

„Papa, ich habe heftiges Kopfweh,“ entschuldigte sie sich, als die Kuckucksuhr Zehn schlug und die Karten von neuem gemischt wurden.

„Meinetwegen leg’ Dich aufs Ohr,“ knurrte er und ordnete das Spiel in der Hand.

Sie sagte „Gute Nacht!“, eilte hinaus und in das Kämmerchen der Schwester. Die saß auf ihrem Bette, ihre Wangen brannten wie im Fieber und ihre Augen streiften Lore glühend.

„Käthe,“ fragte Lore athemlos und nahm die kalte Hand der Schwester, hast Du ihn gesehen? Was sagte er? War er böse?“ Käthe schüttelte den Kopf. „Ich habe halt bestellt, was Du sagtest, weiter sollte ich doch nichts? –“ entgegnete sie und wandte sich ab.

„Nein, weiter nichts! Ich danke Dir, Käthe,“ klang es enttäuscht. „Aber bist Du krank?“ fragte sie dann, als ein leises Schütteln durch die Glieder des jungen Mädchens ging.

„Nein! Laß mich allein!“

„Sei nicht so garstig, Käthe! Wenn man einen liebhat, da fragt man nicht nach seinem Stammbaum.“

Käthe lachte kurz auf, aber sie antwortete nicht. Lore machte einen Versuch, ihr das Haar zu streicheln, aber die Schwester stieß sie zurück. „Laß mich!“ wiederholte sie.

„Schlaf wohl, Käthe,“ sagte Lore und ging. Sie hatte kaum die Thür hinter sich geschlossen, da schob sich der Riegel vor, und nun war es ihr, als hörte sie leidenschaftliches Schluchzen. „Käthe!“ bat sie noch einmal; da ward es still.

Sie ging in ihr Stübchen und begann einen Brief zu schreiben an Ernst Schönberg.

„Ja, Ernst, es ist besser, Du bittest den Vater bald um seine Einwilligung. Mir ist so angst um unsere Liebe. So wie Du von M. zurück bist, komme zu Papa, ich will ihn vorbereiten. Reise glücklich und denke an
  Deine Braut.“

„Für alle Fälle,“ flüsterte sie. „Wenn ich nicht nach dem Bahnhof gehen könnte, muß Käthe ihn abgeben, die wird sich ausgeweint haben in dieser Nacht und sich darein finden müssen, das närrische stolze Ding.“

Sie saß noch lange wach und las in Scheffels „Trompeter“; die Lampe beleuchtete hell ihr schönes reines Angesicht, das so glücklich aussah in diesem Augenblick, wo sie sich in die reizenden Lieder hineinträumte. Dann fuhr sie empor. Draußen war die Thür gegangen.

„Rudi!“ sagte sie, und mit Bergeslasten fiel die bange Gegenwart auf ihre Seele.




Am andern Morgen wanderte Käthe dem Bahnhofe zu, sie trug bereits die kleine Ledertasche mit den Schulheften am Arme. Lore war in aller Frühe in das Zimmer der Schwester gekommen und hatte sie mit müder Stimme gebeten, ihr den einzigen Gefallen zu thun und Doktor Schönberg das Briefchen zu übergeben, sie könne leider wieder nicht ihr Versprechen halten, denn Papa sei wahrscheinlich infolge des längeren Aufbleibens und des Gläschens Grog gestern abend gar nicht wohl erwacht; sie müsse gleich hinauf zu ihm, um sein krankes Bein zu verbinden; Käthe wisse ja, er leide das von niemand anders.

Käthe hatte ihr das offene Couvert förmlich aus der Hand gerissen, im übrigen kein Wort dabei gesprochen. Aber Lore wußte, der Brief würde besorgt werden, zuverlässig war Käthe und „Treu und fest!“ ihr Motto. – Das junge Mädchen ging auf Umwegen nach dem Bahnhofe. Sie hatte einen starren Ausdruck, der ihr unregelmäßiges Gesicht fast unschön machte. In ihren dunkeln, heute von tiefen bläulichen Ringen umgebenen Augen lag etwas Grausames. Sie hielt das Briefchen Lores in der Hand und schien es kaum zu bemerken, daß sie es fast zerdrückte.

Auf einem schmalen Wege, der zwischen Gartenzäunen dahinführte, blieb sie stehen. Es war schon außerhalb des Ortes, die [74] Gärten gehörten zu den Bürgerhäusern der inneren Stadt, hie und da stand ein einfaches Lusthäuschen. Ueber die schon gelichteten Ligusterhecken ragten die entblätterten Aeste der Obstbäume, in denen die Sperlinge plusterten; sonst glich die Landschaft einem Meere, so dicht war der Nebel, er verhüllte die alten Wälle und Mauern der Stadt zur Linken und die Felder rings umher; kein Mensch war auf dem einsamen Pfade, der sich feucht und schmal vor ihr dahinzog.

Käthe betrachtete das Couvert und biß sich auf die Unterlippe. Darin standen Liebesworte an ihn und – Lore hatte sie geschrieben!

Sie heftete die Augen so starr auf das weiße Papier, als vermöchte sie, dasselbe mit ihrem Blick zu durchdringen. Sie konnte einfach das Schreiben herausziehen, aber sie that es nicht, sie hätte es nicht gethan um alles in der Welt.

Man soll anderer Leute Briefe nicht lesen, auch wenn sie offen sind, und man will es auch nicht, wenn man weiß, daß jedes darin enthaltene Wort so weh thut im eigenen Herzen wie ein Messerstich.

Käthe war seit gestern kein Kind, kein gedankenloser Backfisch mehr; Käthe war zum jungen Mädchen erwacht. Sie begriff selbst nicht, wie sie bis jetzt gelebt! – Sie hatte die Nacht schlaflos verbracht und nachgedacht und geweint, und sie war zu dem Abschluß gekommen, daß sie „verrückt“ werden müsse, wenn – ja wenn – –? „Verrückt werden!“ war immer ein Lieblingsausruf, wenn ihr leidenschaftliches Temperament nicht mehr ein noch aus wußte.

Sie preßte auf einmal den Brief in einen Knäuel zusammen und ballte die Hand zur Faust darum. Weshalb sollte sie, gerade sie, diese Liebesbotin sein?

Durch den Nebel erschollen jetzt drei Glockenschläge. Sie hob den Kopf. „Dreiviertel auf Acht!“ flüsterte sie. Um acht Uhr pünktlich mußte er abfahren! – Sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz herum und schritt den Weg zurück, hinter ihr in der Ferne rollte ein Zug, da lag der Bahnhof. Sie schlenderte förmlich, dann blieb sie stehen und zupfte eine halb erfrorene Hagebutte von dem wilden Rosenstrauch, der sich durch die Hecke drängte mit schwankem dornigen Gezweig, sie öffnete die rothe Frucht und begann die behaarten Körner zu zählen. Der Gazeschleier ihres Hutes ward feucht, so naß ging der Nebel hernieder. Sie mußte wohl sehr frieren, sie sah entsetzlich blaß aus.

Nach einer Weite schlug sie wieder die Richtung nach dem Bahnhofe ein, sie schritt jetzt sogar eilig dahin, den Papierknäuel trug sie noch immer in der Hand. Ganz unten tauchte ein rother Ziegelsteinbau aus dem lichter werdenden Nebel auf, das war die Station. Wieder tönte ein dumpfes Rollen, näher und näher kam es, das war der Hamburger Kurierzug, der um acht Uhr von hier weiterging, mit dem er fahren mußte. Sie begann auf einmal zu laufen, sie war dunkelroth geworden und die Augen schimmerten in Thränen. Dann hielt sie athemlos ein, just am Ende des Gartenweges. – Ein greller Pfiff, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof, sie konnte ihn hinrasen sehen, hinein in das silbergraue Nebelmeer – hatte dort nicht jemand aus dem Coupéfenster geschaut? Er?

Nun schlugen auch die Glocken der Stadtuhren achtmal.

„Zu spät!“ flüsterte sie, und langsam wandte sie sich nach links, um das Büchower Thor zu erreichen. Der Zug war zu früh abgefahren, entschieden zu früh!

Sie nahm den Papierknäuel und begann ihn zu zerreißen in lauter winzige Stückchen, sie flatterten wie Schneeflocken ein Weilchen hinter ihr drein und blieben dann gleich weißen Blümchen auf dem nassen Grase zur Seite des Weges liegen. Sie wußte kaum, was sie that; sie dachte nur immer, daß sie „verrückt“ werden müsse, wenn – ja wenn – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[85]
Gegen mittag hatte der Beckersche Diener ein Schreiben an den Herrn Major von Tollen abgegeben, nebst einem Hasen und einer Empfehlung von Frau Becker; den Hasen habe der Herr heute früh geschossen. Die Hausfrau hatte dem Ueberbringer beides selbst abgenommen.

Der Major war grimmiger Laune heute; er ärgerte sich über den Herrn Sohn, der es mehr als je an Rücksicht für ihn fehlen ließ, und die Damen mußten es ausbaden. Rudi war wieder erst in der Nacht um ein Uhr heimgekommen, klagte heute früh über Kopfschmerzen und befand sich infolge dessen in sehr gereizter Stimmung.

„Was mag es nur sein?“ fragte ängstlich die Majorin, nachdem sie den Diener abgefertigt hatte. Dabei betrachtete sie angelegentlich das elegante Couvert.

„Mama,“ sagte Lore sanft, „wenn Du es nicht weißt, ich kann es Dir nicht verrathen; ich denke aber, es ist das Begleitschreiben zu dem Braten.“

Das vergrämte Gesicht der alten Dame ward roth vor Verlegenheit.

„Ach Gott,“ seufzte sie, „wenn nur Frau Becker nicht –“

„Um mich anhält für ihren Adalbert, Mama? Ich würde mich nicht wundern.“

„Ist es denn eine Beleidigung, wenn eine Mutter, die ihren Sohn liebt, das Mädchen seiner Wahl zu gewinnen sucht für ihn?“ rief Frau von Tollen.

„Mama, Du mußt bei der Sache bleiben, bitte, Mama! Es ist eine Dreistigkeit, wenn sie es wagt, nachdem ich –“

Lore brach ab, sie sah an dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter, sie sollte nicht verstanden werden.

„Ich muß das Schreiben abgeben,“ sagte Frau von Tollen resolut und legte den Hasen auf das Fensterbrett. „Wozu spreche ich noch? Es wird sich ja finden, was sie will.“

Lore mußte lächeln; sie wußte es am besten, welch einen Aufwand von Muth die Mutter brauchte, um dies, gerade dies Schreiben in die Hände ihres Mannes zu legen. Er langte auch nicht ganz zu, der Muth; die Majorin kam wieder zurück in die Küche.

„Rieke!“ rief sie aus dem Fenster in den Garten hinaus, „komm einmal her!“ Sie hatte den Brief auf einen Teller gelegt und übergab ihn nun dem kleinen Dienstmädchen. „Den trage zum Herrn Major hinauf; aber erst eine reine Schürze – so – er sei eben abgegeben worden.“

Sie nahm auf einem Stuhle Platz neben dem Küchentisch, an dem Lore stand und Aepfel schälte, rein mechanisch; sie war [86] schon wieder weit, weit von hier, auf dem Wege nach M. „Lore, mein Gott!“ seufzte die alte Dame.

Die Tochter wandte ihr das blasse Gesicht zu.

„Du bist so gleichgültig, Lore!“

„Wegen Rudi, Mama? Nein, sicher nicht,“ betheuerte das junge Mädchen. „Ich schlafe keine Nacht, mir ist zu Muthe wie vor einem Gewitter, weißt Du, so schwül und bang – aber es ist eben nichts anderes zu thun, als abzuwarten. Und dann –“ sie beugte sich zärtlich zu dem Haupte der Mutter nieder und küßte ihr die Stirn, „dann tragen wir das Schwere wieder treu mit einander, Mütterchen, wie so manchmal schon.“

„Wenn’s aber zu schwer wird, wenn es meine alten Schultern nicht mehr aushalten?“

„Ich helfe Dir ja, Mama, habe Vertrauen, es kommt auch wieder ein Sonnenstrahl dazwischen, warte nur ab!“ Ihre Augen lachten sekundenlang, sie wußte so ganz sicher, welche Sonne scheinen würde. Und als ob ihr dies Bewußtsein neuen Muth gebe, fragte sie. „Sind denn heute keine neuen Nachrichten von Herrn von Benberg für Rudolf gekommen?“

„Doch!“ erwiderte die Mutter, „er bombardirt ja förmlich den armen Jungen. Gestern zwei Briefe und vorhin schon wieder einer, Rudi hat ihn aber ungelesen in die Tasche gesteckt. Was kann’s auch helfen?“

„Wo ist Rudi denn?“

„Bei Papa.“

Das Dienstmädchen klapperte jetzt auf ihren Holzpantoffeln die Treppe wieder herunter und lief in den Garten.

„Nun hat er den Brief,“ flüsterte Frau von Tollen, „und eben kommt auch Rudolf herunter.“

Der junge Offizier trat bald darauf in die Küche zu Mutter und Schwester. „Gott sei Dank!“ murmelte er, „das ist ja nicht mehr zu ertragen mit dem Geschimpfe, hoffentlich bringt ihn der Brief auf ein anderes Thema, ich bin heute nach allen Richtungen hin ‚gerissen‘ worden. – Den Hasen da hat wohl Becker geschickt?“ setzte er fragend hinzu, „er wollte heute früh hinaus.“

Lore bejahte.

„Na, da giebt’s doch wenigstens endlich mal keinen Kälberbraten zum Sonntag,“ brummte er.

„Mein Herz, ich kann nicht Feldhühner und dergleichen kaufen,“ sagte Frau von Tollen zerstreut.

„Ja doch, Mama! Lieber Gott, Du nimmst auch alles übel.“

„Ach nein, Rudi, das habe ich mir schon längst abgewöhnt –“

Sie flog plötzlich vom Stuhle empor, der Major rief nach ihr mit wahrer Donnerstimme.

Die Geschwister waren jetzt allein. „Na, das wird ein schöner Radau werden,“ sagte der Lieutenant und nahm den Platz der Mutter ein.

„Gar nicht! Warum denn?“ fragte Lore, ohne in ihrer Beschäftigung einzuhalten.

„Hm! Du wirst Dir wohl denken können, was die Dame will.“

„Annähernd – aber es gehören immer zwei dazu, Rudolf; sie hätte sich das sparen sollen.“

„Meinetwegen, mir kann’s gleich sein!“ erwiderte er verdrießlich und erhob sich. In der niedrigen Thür wandte er sich noch einmal um. „Es geht lustig zu da oben, hörst Du?“ bemerkte er achselzuckend. Des Majors Stimme klang bis zur Heiserkeit entstellt herunter.

„Es hat alles mal ein Ende,“ sagte Lore, obgleich sie einen Schein bleicher geworden war. „Mich dauert nur Mama – Papa, denke ich, ist meiner Ansicht.“

Nach einem Weilchen ging sie hinauf. Als sie an der Thür zu ihres Vaters Zimmer vorüber kam, rief der alte Herr just: „Meine Töchter mögen heirathen, wen sie wollen, aber verkuppelt sollen sie nicht werden! Das Mädel mag mir selber sagen, daß sie ihn will, dann werde ich’s glauben – eher nicht – basta! Die Melitta aber fliegt bei Gott im Himmel die Treppe hinunter, läßt sie sich hier blicken, und wenn ich der Mörder meiner einzigen Schwester werden sollte. Kunkeleien dulde ich nicht!“

„Aber, Tollen!“ bat weinend die Gattin.

„Schweig! Der alten Zigeunermutter da, der Beckern, werde ich antworten, ich – verstehst Du? Schöner Kerl das, der sich unter die Schürze der Mutter steckt! Kann der Laps denn nicht selbst sein Heil versuchen? Nein, da heißt’s: ‚Mein Sohn, der zu bescheiden ist, um sich hinter dem Rücken des Vaters der Tochter zu nähern, möchte durch ein kurzes Wort erfahren, ob es dem hochverehrten Herrn Major und dessen liebenswürdiger Frau Gemahlin genehm ist, wenn er sich um die Hand des Fräulein Leonore bewirbt.‘ Verfluchter Frauenzimmerkram! Der Kerl hat nie in der bunten Jacke gesteckt, sonst wäre er ehrlich gekommen und hätte nur gemeldet: ‚Ich liebe das Mädel – kann ich sie kriegen oder nicht?‘ Und dann – dann würde ich ihn ebenso ehrlich die Treppe hinunter geworfen haben, daß er sich die Knochen einzeln hätte aufsuchen können, der Protz, der Pomadentopf.“

Lores schönes Gesicht war plötzlich eitel Sonnenglanz. Sie lief eilig die Treppe hinauf und in ihr Stübchen. Der herzige, gute alte Papa! Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Sie blickte nach dem Gymnasium hinüber und dann in die Ferne hinaus, die dunstig und verschleiert vor ihr lag. – Guter, lieber Papa! Nie wieder wollte sie murren, wenn er schalt und brummte, nie wieder! Und zu ihm gehen wollte sie heute noch und sagen: „Papa, ich liebe Einen, der wird zu Dir kommen und Dich kurz und bündig fragen, ob er ‚Dein Sohn‘ heißen darf. Und ein ganzer Mann ist er, ein guter, ein kluger Mann, der Doktor Ernst Schönberg.“

Sie ertappte sich auf einmal auf halblautem Singen. – Wenn doch Käthe käme! Sie mußte ihr ja Grüße bringen, sie mußte erzählen können, ob er sehr betrübt gewesen, daß sie nicht selbst kam. Und heute nachmittag in der Dämmerung würde sie zu seiner Mutter schlüpfen. – Sie ward wie mit Blut übergossen bei dem Gedanken und ihr Herz klopfte rasch, es ist ein banges Gefühl für ein junges Mädchen, das zum ersten Male unter die Augen der zukünftigen Schwiegermutter tritt. Sie wußte, die alte Pastorin war eine abgöttisch liebende Mutter und würde sie scharf ansehen als diejenige, von der ihres Sohnes Glück und Wohlergehen abhinge; – wenn sie ihr doch gefallen möchte! Sie ging an ihr Blumenbrettchen, wo eben die letzten Monatsrosen blühten, und bog jede einzelne herunter, um sie zu betrachten. Die wollte sie abschneiden für die alte Frau.

Wenn doch Käthe erst da wäre! Aber Käthe kam nicht. Als man bereits beim Mittagessen saß, erschien der kleine Junge, der Pagendienste bei Fräulein Melitta versah, und meldete, Fräulein Käthe äße bei Fräulein von Tollen Mittagbrot, die Herrschaften möchten nicht warten. – Es war das etwas so Unerhörtes, daß ein allgemeines Staunen erfolgte, denn Käthe und Tante Melitta mieden einander wie Sonne und Mond.

„Was giebt’s denn heute beim gnädigen Fräulein?“ fragte der Lieutenant mit einem Anflug von Humor und goß sich aus des Vaters Flasche Rothwein in die Suppe, um die „Kraftbrühe“ einigermaßen genießbar zu machen, wie er zu sich selbst sagte.

„Klump und backen Beeren,“ erklärte schmunzelnd der Junge.

Lore wunderte sich innerlich, vor Klößen und Backobst lief Käthe sonst davon.

Der Kleine ward entlassen. Der Major saß in stiller Wuth über die Verschwendung seines Rothweins da, und niemand sprach ein Wort. Lore bemühte sich, durch freundliches Wesen die drückende Stimmung zu bannen, umsonst. Der alte Herr aß hastig und trug sein grimmigstes Gesicht zur Schau, Frau von Tollen blieb stumm, der Sohn spielte mit Messer und Gabel und war ungeheuer förmlich beim Zureichen der Schüsseln oder dem Ablehnen der dargebotenen. Schließlich faltete der alte Herr, noch bevor er abgegessen, die Serviette zasammen, brummte ein kurzes: „Mahlzeit!“ und hinkte zur Thür hinaus.

„Papa fühlt sich nicht wohl,“ sagte die Mutter entschuldigend. „Ihr dürft ihm das nicht übelnehmen.“

Sie wußte kaum, daß sie es sprach, sie kannte diese Redensart längst auswendig. Seit einer Reihe von Jahren hatte sie täglich Veranlassung, sie anzuwenden, und sie that es mit nimmermüder Geduld.

Der Lieutenant stand auf und pfiff ein paar Takte, zog sein Cigarrenetui aus der Tasche und setzte sich ans Fenster. „Es ist mir bloß schleierhaft, wie Ihr das aushaltet, ohne überzuschnappen,“ erklärte er und vertiefte sich, während das kleine Dienstmädchen den Tisch abräumte, in die Lektüre des Wochenblattes.

Lore nahm ein leichtes Tuch um und ging in den Garten. Der Himmel hing voller Wolken, aber die Luft war still und fast warm. Sie spazierte in den engen Wegen umher und lenkte endlich ihre Schritte dem Gitterpförtchen in der alten Mauer zu und [87] trat, dasselbe öffnend, hinaus. Da blieb sie stehen und schaute auf eine bestimmte Stelle im nassen Grase.

Es war wohl schlecht von ihr, daß sie heute den Zank und die Oede des väterlichen Hauses nicht mit aller Schwere empfand? Sie konnte es nicht, sie meinte in ihrem vom Sonnenglanz der Liebe erfüllten Herzen, es müsse noch alles gut werden, alles! Wie ein Wanderer kam sie sich vor, der jetzt noch in Dunkelheit und Nacht auf schlechten Wegen dahinzieht, der aber sicher weiß, am Ende dieses Weges liegt ein schönes Ziel, und nach der Nacht kommt der Morgen in funkelndem Sonnenlicht. Sie schlang den Arm um den Stamm einer Birke, die, dicht am Wasser stehend, ihren Laubschmuck noch trug, aber brennend gelb verfärbt, als sei jedes einzelne Blatt vergoldet. Sonderbar leuchtete der Baum in den grauen Herbstnachmittag hinein, so golden wie die Hoffnung des jungen Geschöpfes unter ihm in die düstere Gegenwart. Sie war so vertieft, daß sie nicht merkte, wie langsam Blatt auf Blatt hernieder taumelte; sie merkte auch nicht, wie aus der Gitterthür das kleine Dienstmädchen schoß, mit verstörtem Gesicht und Augen ganz irr vor Entsetzen.

„Fräulein Lore! Fräulein Lore!“ keuchte sie und faßte die junge Herrin an der Schulter. „Grundgütiger! Kommen Sie doch – unsere gnädige Frau –“

Lore fragte nicht; sie starrte das Mädchen erschreckt an, dann lief sie in das Haus.

„Da unten!“ schrie das Mädchen ihr nach, „im Salon!“

Lore riß die Thür zu dem bezeichneten Raum auf; sie sah nichts in der ersten Sekunde, als den Bruder, der am Fenster stand, die Hände in den Hosentaschen, unbeweglich.

„Was ist geschehen?“ wollte sie fragen, aber der Mund schloß sich wieder – dort vor dem Sofa an der Erde, den Kopf auf dem Polster, die Hände in das graue Haar gekrallt, lag die Mutter.

„Mama,“ sagte Lore, „liebe Mama, sprich doch!“

Die alte Frau richtete sich empor. Lore erschrak, als sie in das veränderte Antlitz der Mutter schaute; – sie glich einer Irren.

„Das ist mir recht geschehen!“ schrie sie auf, „das habe ich verdient um meine Kinder! Auf das Herz treten sie mir, die ich sie auf Händen getragen! Warum denn nicht wenigstens gleich todt – todt!“

Und sie ließ sich in den Stuhl fallen und schlug die zitternden Hände vor das Gesicht.

Der Sohn wandte sich plötzlich auf dem Absatz und ging der Thür zu.

„Rudolf!“ schrie die Majorin so schrill und bang, daß er stehen blieb. Sie war aufgesprungen und hatte ihn am Arm gepackt, ihre Augen hingen mit Todesangst an seinem Gesicht, aus dem jede Spur von Farbe verschwunden war. „Rudolf, um Gotteswillen, was willst Du thun?“ flüsterte sie.

Der junge Offizier wandte sich ab, als könne er diesen Blick nicht ertragen, diese Worte nicht hören. „Aber Mama,“ murmelte er, „was denkst Du denn?“

„Mama,“ bat Lore, mit gefalteten Händen auf sie zutretend, „sage mir, sage mir doch wenigstens, was ist geschehen?“

Die Majorin hielt noch immer des Sohnes Hand. „Der Benberg!“ sprach sie flüsternd weiter, mit den nämlichen angststarren Augen, „der Benberg, Lore, der hatte für den Major von Machwitz Gelder ausbezahlt bekommen, während der auf Urlaub – ich glaube, Machwitz hatte Pferde verkauft und die Leute angewiesen, an Benberg zu zahlen, und – weil Rudi in Noth war, hat er es Rudolf auf vierzehn Tage angeboten, verstehst Du – hat es ihm angeboten – -“

„Benberg hat es Dir angeboten, Rudolf?“ fragte Lore.

„Ja doch – ich glaube – ich weiß selbst nicht, wie es kam – –“ murmelte der Bruder.

Lore hatte kein Wort mehr; sie stand wie ein Bild aus Stein, nur ihre Lippen zitterten leise.

„Der Benberg war es, Lore,“ wiederholte die alte Frau.

„Aber für ihn doch, für ihn!“ stammelte das Mädchen. „Was nun? Was soll geschehen?“

„Die Sache ist leider schrecklich einfach –. Wenn ich bis morgen abend das Geld nicht zur Post gebe, so“ – er zuckte die Schultern, fuhr sich dann mit den Händen hinter die Ohren und riß den Waffenrock auf, daß die Berlocken seiner Uhrkette klirrend auf die Erde flogen.

„Sei doch nur ruhig!“ wisperte die alte Dame, die offenbar kaum wußte, was sie that, „daß es Papa nicht hört; sei doch ruhig!“

„Rudolf,“ fragte Lore, „was kann Benberg geschehen?“

„Er wird kassirt! Aber es darf so weit nicht kommen –.“

„Das hast Du alles heute erst erfahren, Rudolf?“

„Erfahren? Was heißt erfahren? Daß das Geld Benberg nicht gehört, wußte ich; aber es war ja absolut kein Risiko –. Machwitz hatte vier Wochen Urlaub, und bei mir hieß es: entweder – oder. Verstehst Du? – Ich gab ihm einen Ehrenschein, daß in drei Wochen die Summe wieder in seinen Händen, – da plagt den Machwitz der Teufel, daß er vierzehn Tage früher wiederkommen will. Voilà tout! Das letztere habe ich allerdings erst heute früh erfahren, und zwar durch einen Brief und zwei Depeschen. Benberg scheint den Kopf verloren zu haben.“

„Wie viel ist es denn?“

„Viertausend Mark ungefähr.“

„Mein Gott, Rudolf, und keine Idee, wie Du helfen kannst?“

„Keine! Als ob ich sonst – – lächerlich!“

„Becker giebt Dir das Geld; Rudolf, geh’ zu Becker!“ sagte Lore. „Ihr seid ja gute Freunde jetzt –“

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. „Mir giebt er keinen Heller, Lore, mir nicht.“

„Soll ich vermitteln, Rudolf? Ich will ihn bitten, ihn anflehen – der Eltern und Benbergs wegen, den Du unglücklich gemacht hast!“

„Danke schön – bemühe Dich nicht! Du wirst es begreiflich finden, daß der Mann, dem Du auf die unartigste Weise von der Welt einen Korb gabst, nicht thöricht genug sein wird, Deinem Bruder sechstausend Mark vorzustrecken. Diesen Edelmuth würde selbst der einfältigste, dümmste Geselle nicht ausüben.“

„Glaubst Du das sicher, Rudolf?“

„Ich habe den Beweis! Vor dem Ballabend war Becker bereit, mir eine Summe zu leihen; als ich aber am andern Morgen zu ihm kam, da war es ihm zufällig nicht gelungen, das Geld flüssig zu machen; er vertröstete mich auf einige Tage später. Mißzuverstehen war das nicht.“

Lore holte tief Athem. „Freilich,“ sagte sie langsam, „dann kann ich Dir nicht helfen!“

„Ich verlange auch kein Opfer von Dir,“ erwiderte er und verließ das Zimmer.

Die Majorin sah ihm stumm nach und wandte dann ihre Blicke auf Lore. Es war ein jammervoller Anblick, diese alte, bis ins Herz getroffene Frau. Lore lief hinüber zu ihr und schlang die Arme um sie.

„Mein Muttel! Mein armes, gutes Muttel!“ flüsterte sie, „ängstige Dich nicht so furchtbar, fasse doch Muth, irgend eine Hilfe muß sich ja finden lassen!“

„Ja, aber wo? – Es ist gut, Lore, laß mich nur, ich muß zum Vater. Sieht man es mir an, daß ich aufgeregt bin? Oder – geh’ Du doch lieber, sag’, ich hätte mein altes Migränekopfweh, ich läge – –. Ich will alles noch versuchen – weißt Du, ich gehe zu Tante Melitta, ich muß hinaus.“

„Ich gehe mit Dir, Mama.“

„Nein, bleib’ hier!“

Lore blieb. Sie saß beim Vater in der verräucherten Stube und spielte Schach mit ihm. Der alte Herr war bedeutend besserer Laune als heute mittag, er machte Witzchen und freute sich, als er seine Tochter endlich matt gesetzt hatte.

Lore konnte von ihrem Platze aus die Straße sehen und auch die gegenüber liegenden Häuser. Dicht neben dem Gasthofe, auf dessen allsonntägliche Tanzbelustigungen der alte Herr so wüthend war, lag ein sauberes einstöckiges Häuschen mit spiegelblanken Fensterscheiben, hinter denen schneeweiße Gardinen leuchteten. Dort wohnten Engels, ein altes Ehepaar, das in dem Rufe stand, sehr wohlhabend zu sein. Die alte Frau war das Muster einer braven bürgerlichen Hausehre; der Mann dasjenige eines harmlosen Philisters. Sie und Tollens pflegten sich mit freundlichem Kopfnicken zu begrüßen, wenn man, wie es Sitte war in Westenberg, abends nach Tische ein wenig auf der Bank vor der Hausthür saß.

Die Majorin hatte oft geäußert, wenn die beiden Alten da so einträchtig saßen, er im Schlafrock mit der langen Pfeife, das Käppchen auf dem silberweißen Haar, sie in schwarzer Wollschürze, ein Strickzeug in den nimmermüden Händen: „das sieht aus wie das Glück und die Behaglichkeit selber, Lore.“ – Freilich, Tollens hatten sich das Glück nur immer von weitem angesehen.

[88] Aber was fiel denn der Mutter ein, da drüben in das Haus zu gehen? Lore sah es ganz deutlich, sah, wie eben die braunlackirte Hausthür sich hinter der Gestalt der Majorin schloß. – Gott im Himmel, sie suchte bei Engels das Geld zu bekommen!

Lores Hand zitterte plötzlich, sie warf an paar Figuren um. „Verzeih’, Papa, es ist so schwül hier.“

„Das kommt von dem Schandwetter,“ brummte der alte Herr, „ich merk’s seit drei Tagen schon in meinem Bein. Meinetwegen mach’s Fenster auf!“

Lore öffnete das Fenster. Der Vater hatte recht, es war eine unnatürliche Wärme draußen und dabei ja ruhig – – die Stille vor dem Sturme. Ihre Augen hafteten an dem Hause drüben. War es denn nicht unrecht von der Mutter? Wie, wenn die guten Leute ihrer Bitte willfahrten, ihr sauer erworbenes Geld darliehen? Betrog sie dieselben nicht? Sie war eine Borgerin, die keinerlei Sicherheit bieten konnte; sie hatte das nicht überlegt, die Mutter, sie war in ihrer Todesangst dorthin gegangen.

Kling! Der Ton einer Hausglocke scholl, und über die Schwelle des Engelschen Hauses kam die Majorin. Lore meinte, ihr Gesicht sei noch nie so kalkweiß gewesen. Sie sah nicht nach rechts noch links, sie ging den Weg nach der Kirche hinunter.

„Da läuft ja die Mutter!“ rief der alte Herr, der aufgestanden war und über die Schulter der Tochter sah, „ich denke, sie hat Kopfweh? Das weiß der Himmel, man ist jetzt wie verrathen und verkauft in seinen eigenen vier Pfählen! Wenn ich nur wüßte, was Ihr vorhabt! Sag’ mal, Lore, Ihr macht doch hoffentlich keinerlei Hopphei zu meinem Geburtstag? Hör’, Lore, Du weißt, das kann ich nicht vertragen!“

„Nein, Papa, ich weiß nichts,“ betheuerte das Mädchen. „Mama geht ja doch öfters an die frische Luft, wenn sie Kopfweh hat.“

„Lüg’ Du und der Deibel!“ rief der Major zwischen Ernst und Scherz, „sie liegt für gewöhnlich dabei wie ein Hamster auf der Klappe. Es ist gut – mach’s Fenster zu und komm her, meinetwegen nehmt Affen aus!“

Die Dunkelheit brach rasch herein, Lore zündete die Lampe an. Der Major las, des Schachspiels müde, die Zeitung, und sie stieg erst nach der Küche hinunter, um das Abendbrot zu besorgen, und ging dann hinauf in ihr kleines Stübchen und begann an Ernst Schönberg zu schreiben, Käthe würde ihr ja seine Adresse bringen.

Sie mußte sich ihre Angst von der Seele schreiben. – Wenn er hier wäre, wenn sie sich aussprechen dürfte – – aber das konnte sie ja nicht, konnte doch die Schande ihres Hauses nicht erzählen! War Rudolf weniger schuldig als der, der, um ihn zu retten, ein Verbrechen beging? – Sie zerriß den Brief in lauter kleine Stückchen. „Mein Gott!“ – Sie war doch fürchterlich, diese Lage, in die der Leichtsinn eines Menschen sie alle gestürzt!

Wenn doch die Mutter daheim wäre!

Draußen hatte sich wirklich der Sturm aufgemacht, er legte sich fauchend gegen die Scheiben der Mansardenfenster und sauste durch die Aeste der Linden auf dem Schulhofe drüben. Und durch den Sturm verzitterten die Glockenklänge der Uhr von St. Marien.

Sieben Uhr! Kam denn keines? Rudolf nicht, die Mutter und Käthe nicht? – Sie wollte eben hinunter, um nachzusehen, ob die Lampe in der Eßstube brenne, da that sich die Thür auf und jemand trat über die Schwelle, den Lore allerdings nicht vermuthet hatte.

„Um Gott - Tante Melitta! Und wie siehst Du aus!“ rief sie.

Das alte Fräulein hatte das Tuch von dem grauen Haupt genommen und dabei ihre Haube mit herunter gerissen; die zierlichen Seitenlöckchen hingen ihr, vom Winde zerzaust, um das Gesicht, das einen so wunderbaren Ausdruck von Angst und Entschlossenheit trug.

„Sei doch still, Lorchen, daß Dein Vater nichts merkt,“ wisperte sie. „Laß mich sitzen, Kind, ich will mit Dir reden – Du weißt ja wohl, wie es steht und daß etwas geschehen muß, rasch geschehen muß?“

„War die Mutter bei Dir, Tante? Hast Du sie mitgebracht?“

„Sie sind alle unten.“

„Auch Käthe? – Warum kommt Käthe nicht? - Wollen wir nicht hinunter, Tante?“

„Bleib’ doch sitzen, Lore, ich muß mit Dir erst sprechen,“ flüsterte Tante Melitta. „Siehst Du, Deine Mutter ist bei Hinz und Kunz gewesen, um das Geld aufzutreiben – die reine Thorheit, Lore, Euch borgt kein Mensch einen Silbergroschen, geschweige solche Summe. Aber die arme Frau ist halb irr vor Angst. Rudolf lieh sich ein Pferd von Beckers und ritt nach Zeppke zum alten Schmettow, aber, mein Gott, der hat selbst drei Söhne in der Armee, man kann’s ihm ja nicht verdenken, wenn er ‚Nein!‘ sagt, und so auf den Stutz –; heutzutage hat einer die Tausende auch nicht so liegen. Da machte ich mich vorhin auf und ging zu Beckers.“

Fräulein Melitta brach ab und trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch.

„Tante!“ kam es angstvoll von den Lippen des Mädchens. „Sie wollen’s geben, Kind,“ fuhr das kleine Wesen auf dem Stuhle fort, „wenn Du nur erlauben willst, daß er sich Dir nähern darf – weiter nichts vorläufig, ich schwöre es Dir, Lore.“

„Tante!“ rief das Mädchen entsetzt, „bist Du wahnsinnig? Wie kannst Du mir so etwas sagen? Giebt es keine Spur mehr von Ehrgefühl in unserer Familie?“

„Lore, ich bitte Dich, Du weißt nicht, was Du redest. Es ist ja nicht um den Hans Liederjahn, den Rudi, der möchte meinetwegen sich die Kugel vor den Kopf schießen, von der er vorhin sprach – aber der andere und seine Mutter, und vor allem Deine eigene arme Mutter, die dabei zu Grunde gehen wird.“

„Tante, mit meinem Leben, wenn’s sein muß – nur das nicht!“

„Ach, Lore, das sind schöne Redensarten, es klingt wie aus einem Roman, das können wir nicht brauchen. Du sollst Dich ja nicht verloben heute und morgen, Du sollst ihm nur die Hoffnung lassen.“

„Aber das kann ich nicht! Erbarmt Euch doch! Ich wäre schlechter denn schlecht, thät’ ich’s. Ich bin nicht im Stande, ihm die geringste Hoffnung zu geben, Tante.“

„Das wird sich ja alles finden, vorläufig mußt Du Dich zwingen, mußt – sage ich. Man ist verpflichtet, seiner Familienehre zu Liebe noch andere Opfer zu bringen – hörst Du, Lore? Ueberlege Dir das; überlege, was Deine Eltern, was Deine Mutter für Dich gethan! Eltern und Kinder sind darauf angewiesen, sich gegenseitig zu helfen. – Lore, ich bitte Dich, mache nicht so erschrecklich starre Augen!“

Das Mädchen war unter dem Strome dieser flehenden Worte förmlich zusammengeknickt. „Nein!“ stammelte sie, „lieber will ich sterben.“

„Nun, dann sieh Deinen Bruder als Sträfling oder – wenn’s Glück gut ist, wenn er nach Amerika entkommt, so sieh ihn nie wieder, laß Deine Mutter und Deinen Vater zu Grunde gehen, und sei glücklich dabei, wenn Du es kannst!“

Das alte Fräulein eilte in vollster Verzweiflung der Thür zu.

„Schicke mir Käthe herauf!“ bat Lore.

„Käthe? Was soll Käthe? Die ist unzurechnungsfähig, sie versteht nicht mal, um was es sich handelt, das launische Ding. Kommt sie da heute zu mir, spricht kein Wort und setzt sich wie ein Stock an das Fenster, wo Du immer sitzest. Ich frage sie, kriege aber keine Antwort, sie guckt immer nur das Schönbergsche Haus an, als habe sie es noch nie gesehen; ich bringe ihr ihr Lieblingsbuch, den Gothaischen Kalender, da sagt sie, es interessire sie durchaus nicht, zu wissen, ob Herr von so und so Fräulein von so und so geheirathet, und wieviel Kinder er habe, es sei langweilig. – Gott im Himmel, was soll aus Euch verzogenen Gören werden!“

„Schicke mir Käthe!“ wiederholte Lore.

„Sei doch nur verständig, Kind!“

„Quäle mich nicht todt!“ rief das Mädchen wild und fuhr sich mit der Hand in das weiche Blondhaar, „ich kann nicht, bei Gott, ich kann nicht, Tante Melitta!“

„Du willst nicht!“

„Ja, ich will nicht.“

„Nun, so komme, was da kommen muß!“

Das alte Fräulein ging und Lore blieb allein. Es war eiskalt in dem Zimmer, denn der kleine Windofen ward nur höchst selten geheizt, aber ihre Wangen glühten trotzdem. Sie horchte nach der Thür hin, Käthe mußte ja kommen – ja, jetzt! Langsam, Stufe für Stufe – was hatte sie denn nur? Endlich trat das junge Mädchen ein.

[90] „Ach Käthe, Gott sei Dank, Du bist es!“

„Ja, ich bin’s – und – ein recht hübscher Tag heute,“ antwortete diese und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür.

„Ja, es ist sehr traurig, es ist furchtbar, Käthe, aber –“

„Na, nimm’s nicht übel, Lore, wenn man vor solche Wahl gestellt wird –“

„Was denn Käthe?“

„Ich meine: Familienschande – oder Opfer, dann weiß man doch, was man zu thun hat.“

„Käthe, Du sagst das? Du?“

„Ja!“

„Und weißt, daß ich ein Wort brechen, mein und sein Glück preisgeben müßte?“

Lore fand keine Antwort, und auch Käthe schwieg. Sie blieb in ihrer Stellung, die Augen gesenkt, und wippte mit den Fußspitzen. „Käthe,“ sagte Lore endlich, „Du kannst gehen!“

„Schön! Adieu!“

„Nur die Adresse möchte ich noch.“

„Ich weiß sie nicht.“

„Hast Du ihn denn nicht gefragt danach, Käthe?“

„Nein. – Gute Nacht!“ Sie wandte sich langsam. „Wenn Benberg sich nur nicht eine Kugel vor den Kopf schießt,“ sagte sie über die Schulter zurück, „ich glaube, er thut es.“

Die Thür klappte hinter ihr zu und Lore wußte nicht, ob sie wache oder träume. Sie setzte sich auf den Stuhl am Bette und wollte nachdenken, aber es ging nicht. „Warum denn ich?“ sprach sie einmal laut, dann sank sie wieder in sich zusammen.

Es mußte schon spät sein, als sie emporschrak, die Lampe brannte trübe und es fröstelte sie. Ob sie denn schon zu Bette, die andern? Sie sah nach der unförmlichen silbernen Taschenuhr über ihrem Bette, welche ein Erbstück des Großvaters war, das sie sich vom Vater erbettelt hatte, damit sie die Zeit nicht verschlafe. Die Zeiger wiesen auf elf Uhr.

Ob die Mutter wohl schlief?

Sie ging leise aus der Stubenthür und lauschte über das Treppengeländer. Unten war es still und dunkel, nur der Wind klapperte mit den Läden. Schon wollte sie wieder zurücktreten, da klang es wie ein Stöhnen in ihr Ohr. „Der Sturm!“ flüsterte sie, aber sie wagte nicht, sich zu rühren, ein unsagbares Grauen erfaßte sie, alle Schauergeschichten, wie sie das Volk hier zu Lande sich erzählt, traten vor ihre erregten Sinne. – So stürmt es, wenn einer sich selbst das Leben genommen, sagen die Leute, dann fliegt seine arme Seele mit dem Nacht-Raben über das finstere Land und muß ewig mit ihm fliegen durch Sturm und Grauen zur Strafe seiner Sünde. Sie sah plötzlich mit furchtbarer Deutlichkeit den Lieutenant Benberg vor sich, wie sie ihn gestern gesehen auf der Photographie, die sie in Rudolfs Koffer gefunden; schlank, den Ueberrock aufgeknöpft, aber es war ein blasses ernstes Gesicht, furchtbar blaß sogar, und er lag auf einem Kissen, mit geschlossenen Augen. Todt – Rudolfs wegen und – sie – sie hätte ihn retten können!

„Barmherziger!“ – Jetzt schrak sie zusammen: wieder ein Stöhnen durch das Toben des Sturmes. Aber im nächsten Augenblick befand sie sich schon auf der Treppe und stand im Flur des ersten Stockes.

„Mama?“ fragte sie. „um Gottes wissen, Mama, wo bist Du denn?“

Es war so dunkel hier unten, Lore konnte nicht die Hand vor Augen sehen, und dennoch fand sie die Mutter gleich und schlang niederkniend die Arme um die Gestalt, die da auf der Kammerschwelle des Sohnes hockte.

„Mama!“ schluchzte Lore, „arme liebe Mama!“ Und sie sprang auf und zog die alte zitternde Frau zu sich empor. „Komm, komm – Du frierst; komm in Dein Bett, ich bleibe bei Dir.“

„Ob er wohl schläft, Lore? Ob er noch hier ist?“

„Ich will nachsehen Mama, aber erst komm in Deine Stube!“ Sie trug die Mutter fast hinein und legte sie auf das Bett und rieb ihr die kalten Füße.

„Mein Herz, Lore, mein Herz! Es ist, als wolle es stille stehen,“ klagte die Majorin. Dann lag sie wieder stumm, und die Tochter hielt ihre Hand, am Bette sitzend.

„Schlaf doch, Mama, schlafe doch!“

„Ach – schlafen! – – Lore, ich muß immer denken, wie Rudolf mit dem Pferde gestürzt war und sie ihn uns für todt brachten – weißt Du noch?“

„Ja, Mama!“

„Großer Gott, warum hast Du ihn damals nicht zu Dir genommen?“ murmelte die alte Frau und setzte sich im Bette hoch und rang die Hände in einander. „Der arme kranke Mann da drüben,“ fuhr sie fort, wie zu sich selbst redend, „übermorgen ist sein Geburtstag, und da hat er heimlich zu Krügers geschickt und hat für Euch Billets bestellt zum Trompeterkonzert, damit Ihr doch eine Freude habt an dem Tage. Und nun? Wie soll’s nur werden? – Lore, weine doch nicht, Du kannst ja nichts dafür. – Ach, Lore, mein Rudolf, mein Lockenköpfchen, mein Goldjunge – zum Diebe hat er sich gestempelt, zum gemeinen Diebe und nie sehe ich ihn wieder! Um Jesu willen, Lore, er wird doch sein Wort halten und wird mir die Hand geben zum Abschied?“

„Mama, ich verstehe Dich nicht!“

„Lore, er kann doch Benberg nicht im Stiche lassen? Nun hat er an Machwitz geschrieben, daß er Benberg bestohlen habe – verstehst Du? Benberg soll thun, als habe er keine Ahnung – er kommt mit einer Rüge weg, und – Rudolf geht nach Amerika – heute nacht noch. Aber,“ fuhr sie flüsternd fort mit unheimlich starren Augen, „das sagt er ja nur so, Lore, er fährt auch nach Hamburg, und da kauft er sich einen Revolver und dann geht er an ein stilles Fleckchen, und am andern Tage finden sie ihn. Siehst Du, Kind, als Dieb – als Dieb kann ein Tollen nicht leben, niemals! Mein Bruder hat’s auch so gemacht. – Lore, schreie nicht, Papa hat so leisen Schlaf. – Ach, ich wollte, ich wäre todt!“

Das Mädchen hatte sich vor dem Bette niedergeworfen und barg ihren Kopf in die Kissen. Die Mutter kam ihr in diesem Augenblick wie eine Sterbende vor.

„Mama – Mama!“ murmelte sie, und nun hob sie das verstörte Gesicht. „Mama – ich will, ich will!“ schrie sie auf. Und wieder sank ihr Kopf in die Kissen. „Schlafe, schlafe – ich komme gleich zurück,“ flüsterte sie dann.

„Du kommst gewiß wieder?“

„Ja, Mama!“

„Horche doch an seiner Thür – ging sie nicht eben? Er ist gewiß fort! Ach, Allmächtiger, und ich habe ihn nicht mehr gesehen!“

Lore sprang auf und schlich über den Flur zu des Bruders Thür. Da drinnen klangen Schritte, er war wach, er ging auf und ab. Sie faßte plötzlich die Klinke. „Mach auf!“ rief sie halblaut, „ich bin es, Lore.“

Die Thür öffnete sich; der Bruder stand vor ihr in Civilkleidung, ein kleiner, noch offner Handkoffer neben ihm am Boden.

Das Mädchen überfiel ein starkes Zittern, so daß sie auf der Schwelle niedersank.

„Was willst Du?“ fragte er.

„Und Du?“ flüsterte sie, und ihre Zähne schlugen auf einander.

Er antwortete nicht. Er nahm ein paar Photographien von dem Tische und wickelte sie in Papier. Sie hatte bei dem Scheine der dünnen Stearinkerze die Bilder erkannt, er mußte sie vom Schreibtische der Mutter drunten im Salon genommen haben, es waren die Porträts der Eltern, Käthens und das ihrige.

„Rudolf!“

„Ja, es ist nicht anders, Lore, geh nur schlafen,“ murmelte er.

„Nein! Du sollst nicht fort!“ rief sie und sprang auf die Füße, „ich will es nicht, ich könnte es nicht mit ansehen, wenn Mama –. Bleib hier – ich will – Becker –“

Er stutzte, es flog etwas Erlösendes über sein Gesicht. „Nein,“ sagte er dann niedergeschlagen, „um meinetwillen nicht.“

„So geh! Aber ich – ich nehme ihn doch!“ brach es verzweiflungsvoll von ihren Lippen.

Er ließ sich mit einem Seufzer auf den nächsten Stuhl fallen.

„Morgen früh, ganz früh,“ fuhr Lore fort, „kannst Du zu ihm gehen und ihm sagen – – nein – warte, er möcht’s nicht glauben. Hast Du Papier?“

Sie stand an dem Tische und zog unter den verschiedensten Gegenständen die noch offene Schreibmappe hervor, schob mehrere fertige Briefe zurück, rückte das Tintenfaß heran und schrieb mit fliegender Feder:

[91]  „Geehrte Frau Becker!

Gestatten Sie, daß ich an Stelle meines Vaters Ihr geehrtes Schreiben beantworte, indem ich Ihnen sage, daß es mir eine Ehre sein wird, wenn Ihr Herr Sohn sich bei Papa um meine Hand bewirbt.
 Leonore von Tollen.“

Sie faltete das Billet und schob es in ein Couvert. Dann ergriff sie einen zweiten Bogen:

„Es ist alles aus, Ernst! Vergieb mir; werde glücklich ohne mich und verdamme nicht Deine arme
  Lore.“

Sie schloß auch dies Couvert, adressirte dann beide Briefe und ahnte nicht, daß sie dieselben in ihrer furchtbaren Aufregung verwechselte. Den einen mit der Adresse der Frau Becker übergab sie dem Bruder, den andern behielt sie noch in der Hand.

„Ich gehe zur Mutter, Rudolf.“

Er schlang plötzlich den Arm um sie und begann zu weinen. „Lore,“ sagte er, „ich will mich ändern, bei Gott, ich will –“

„Zu spät für mich!“ dachte sie, und sie machte sich los von ihm und ging. Sie tastete die Treppe hinunter und legte das Schreiben, das die Adresse: Herrn Doktor Ernst Schönberg z. Z. in M. trug, auf den Küchentisch; das Dienstmädchen wußte, daß es die dort befindlichen Briefe nach dem Postkasten zu tragen habe, wenn sie am frühen Morgen die Semmeln beim Bäcker holte. Eine Marke für den Brief hatte Lore nicht, sie dachte auch gar nicht daran. Dann ging sie wieder hinauf und setzte sich an das Bette der Mutter. „Schlaf ruhig, Mama, Rudi bleibt bei uns.“

„Er kann ja nicht, Lore, er kann nicht!“

„Doch, Mama; es kommt alles in die Reihe. Rudi geht zu Becker morgen früh – der will es arrangiren.“

„Lore!“ rief die Mutter erschreckt.

„Was denn, Mama?“

„Um Gott, Lore, Du wolltest – –?“

„Ja – es wird schon gehen.“

„Liebst Du ihn denn, Lore?“

„Ich? – Mama, es wird schon gehen.“

„Lore, Herzenskind, ich meinte immer, der Doktor Schönberg – –“

„Doktor Schönberg? Ach nein, Mama.“ Sie sprach es, als sei es nicht ihre eigne Stimme.

„Lore, es sind nicht immer die glücklichsten Ehen, die die Liebe schließt; glaube es mir, Herzenslore!“

Die alte Frau nahm des Mädchens Hände und zog sie an sich, und ein heißer Thränenstrom erleichterte das geängstigte Herz. Lore fühlte die rinnenden Thränen auf ihrem Gesicht; sie selbst konnte nicht mehr weinen, in ihr war alles kalt und todt.

Sie schliefen beide nicht bis zum grauenden Morgen, dann endlich schlummerte die alte Frau ein. Lore blieb am Bette sitzen, unbeweglich. Erst als sie drunten die Thür gehen hörte, hob sie den Kopf und starrte mit glanzlosen großen Augen in das Gesicht der Mutter, als müsse sie sich besinnen, dann sprang sie auf und eilte in die Küche hinunter.

Der Brief war fort.

Sie lief wie wahnsinnig durch den Garten, zur Pforte hinaus, an das Wasser. Dichter Nebel lag über der Landschaft, die Luft war ruhig und voll herbstlichen Duftes, an der Birke aber hing nicht eins der goldschimmernden Blättchen mehr; der Sturm hatte sie sämmtlich herabgeweht. Das kleine Dienstmädchen kam, um Wasser zu schöpfen, und wunderte sich, ihr Fräulein dort an der Erde knieen zu sehen, den Kopf gegen den Stamm des Baumes gelehnt und die Hände ineinander geschlungen.

„Nein – die Vornehmen!“ murmelte sie und ging mit gefüllten Eimern zurück, und ihre singende Stimme scholl grell durch den Nebel:

„Kühler Reif kam über Nacht,
Nahm den Blumen ihre Pracht,
Ihre Schönheit auch dabei,
Glücklich, wer ist frank und frei.“

[101]
Gieb her!“ sagte Adalbert Becker zu dem Diener, der auf einem silbernen Tablett zwei Postscheine brachte, „Bon –, und die Depeschen sind fort?“

„Sogleich abgesandt, Herr Becker, es war ‚dringend‘ vorbemerkt.“

„Schön! Nun bringe noch eine Flasche Château la Rose und dann geh zum Assessor Bernhardt: ich bedauerte sehr, ich sei plötzlich verhindert worden, mit auf die Jagd zu fahren, würde ihn aber um elf Uhr nach Neiphagen abholen.“

Der Diener verschwand und Becker wandte sich auf dem Stuhle wieder um und reichte die Papiere über den reich besetzten Frühstückstisch hinweg dem Lieutenant von Tollen zu. „Hier, mein Verehrtester, und nun steck ein anderes Gesicht auf; das wäre in Ordnung!“

Die abgespannten Züge des Offiziers belebten sich. „Der Schuldschein liegt dort auf dem Spiegeltisch,“ erwiderte er, „ich danke Dir, Becker.“

Die Gläser der beiden trafen sich und Herr Becker beschäftigte sich dann angelegentlich mit einem Fleischsalat. Der Lieutenant rauchte; er hatte das Essen abgelehnt.

„Die nahe Bräutigamswonne hat Dir wenigstens den Appetit nicht verdorben,“ sagte Tollen, sich zum Lächeln zwingend.

[102] „Im Gegentheil! Im Gegentheil!“ versicherte Adalbert Becker und langte nach den Sardinen, ich gebe Dir mein Wort, es hat mir lange nicht so gut geschmeckt.“

Der andere schwieg und betrachtete nachdenklich den Mann, dem, wie er sich selbst eingestand, die Schwester sich verkauft hatte. Er fühlte sich unsagbar elend heute früh, die Seelenkämpfe von gestern und der letzten Nacht waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. „Becker,“ begann er, „Du weißt, ich habe meine Schwester sehr lieb, sie ist ein ungewöhnliches Mädchen und ich erwarte, daß Du sie hoch hältst, sie –“

„Auf Händen trägst,“ ergänzte der andere. „Sei überzeugt, Tollen, ich weiß genau, wie man schöne Frauen zu behandeln hat.“

„Schöne Frauen – hm –!“

„Prosit, Tollen! Sie soll leben, die Schönste, die Eine, die Meine!“ Er trank sein Glas bis auf die Neige aus. „Wann darf ich denn kommen zu Deinem Alten?“ fragte er und wischte den Schnurrbart mit der Serviette, „steht es vielleicht hier drin?“ Er nahm den an seine Mutter adressirten Brief Lores und betrachtete ihn.

„Möglich,“ erwiderte Tollen.

„Die Frau Mama schlafen vermuthlich bis elf Uhr,“ entschuldigte Becker, indem er mit dem Dessertmesser rasch das Couvert aufschnitt und den flüchtig zusammengeknickten Zettel herausnahm.

„Aber, höre mal,“ rief der Lieutenant erstaunt und griff nach dem Briefe, „der ist an Deine Mutter! Gilt hier bei Euch das Briefgeheimniß nicht?“

„Ach was! Die Alte darf kein Geheimniß vor mir haben,“ wehrte der andere lachend. „Laß mal sehen –“ Er sprang nach dem ersten Blick auf das Papier empor und trat mit leichenblassem Gesicht auf den jungen Offizier zu, dann wandte er sich und schritt nach der weitgeöffneten Thür seines Ankleidezimmers. Entschuldige einen Augenblick!“ rief er zurück und verschwand, die Thür hinter sich zuziehend.

Der Lieutenant blieb betroffen sitzen, Lore hatte vielleicht nicht allzu freundlich geschrieben – was weiter? – Er sah sich in dem Frühstückszimmer seines künftigen Schwagers um, es war ein mit türkischen Stoffen behaglich dekorirter Raum, an den Wänden kostbare Waffen und allerlei Porzellan- und Bronzenippes, der Tisch funkelte im Scheine des lodernden Kaminfeuers von Silber und Krystall, der Teppich war ein echter Smyrna. Die Leute mußten schwer reich sein, und Reichthum war Glück in den Augen des armen, eben dem Verderben entgangenen Offiziers.

„Lore wird’s aushalten können,“ murmelte er mit einem Seufzer der Erleichterung und goß sich das Glas von neuem voll.

Eben erschien Becker wieder. Er lächelte und bemerkte, er habe nur dem Gärtner Auftrag gegeben, für Fräulein Leonore einen Strauß im Gewächshause zu binden.

„Ich werde also heute gegen abend kommen, um mit Schwiegerpapachen zu sprechen,“ setzte er hinzu, „Du würdest mich verbinden, wolltest Du mir sagen lassen, ob es so gegen sechs Uhr paßt. Dann recht bald die Hochzeit! Apropos, Tollen, kennst Du den Doktor Schönberg?“

„Na, so wie Du, von der Reunion und der Kneipe her.“

„Charmanter Junge – was?“

„Ein Erzphilister, denk’ ich.“

„Aber hübsch, klug? Die haben ja alle die Weisheit mit Löffeln gegessen.“

„Möglich! Und die Mädels haben ihn gern, meine kleine Schwester wenigstens scheint eine große Schwärmerei für ihn zu hegen.“

„So! So! Die kleine, Tollen? Uebrigens, Du kommst doch mit nach Neiphagen? Um elf Uhr fahren wir von hier fort, jetzt ist es Neun; Du hast mich verdammt früh aufgestöbert. Leg’ Dich also noch ein paar Stunden aufs Ohr und dann komm’ her, oder soll ich Dich abholen?“

„Nach Neiphagen?“ fragte Tollen.

„Na, um Gotteswillen, Mann des Friedens, weißt Du denn nicht. daß Natuschki uns zum Frühstück eingeladen hat? Vorgestern abend, als er mit der kleinen Schwarzen die Sektwette verlor.“

„Und die kommt zum Austrag heute? Richtig! Ja, weißt Du, Becker – ich danke! Ich bin müde.“

„Du hast wohl gute Vorsätze gefaßt über Nacht, alter Kerl? Na, sei nur gut, Du mußt mit, Du kannst mir als angehendem Bräutigam nicht zumuthen, das Fräulein Klingner nebst Mutter hinauszufahren, wie ich versprach. Das liegt Dir also ob. Ich werde mit dem Break und in angemessener Begleitung des Assessors nachkommen.“

„Ach, laß das heute, Becker, bleib hier, weißt Du, gerade heute, Du kommst sonst angekneipt zu dem Alten.“

„Nein, morgen wär’s überhaupt schon ein Verbrechen, mein Bester, Du bist um elf Uhr hier, basta! Denke Dir bloß den Jux, wenn die alte halbblinde Frau von Natuschka die Klingner wieder für Deine oder meine Gattin hält, wie neulich, als sie bei Breidenberg hineinschneite! Na, na, mach’ keine Faxen; Du kommst! Grüß’ mir mein Lorchen, Freund! Um fünf Uhr sind wir wieder daheim, und um sechs Uhr trete ich mit frischen Glacés bei Euch an. Mein Wort – sehr nüchtern, wie es sich für einen Bräutigam geziemt.“

Der Lieutenant fühlte sich im Wirbel herumgedreht und befand sich im Umsehen auf dem Korridor, wo der Diener ihm den Paletot umhing.

Er ging nach Hause. Ja, der Sturm war vertobt, aber eine erschrecklich drückende Stille war dafür eingetreten.

Daheim schien alles wie sonst. Er traf die Majorin im Eßzimmer.

„Es ist alles geordnet,“ sagte er kurz.

Sie wandte sich ab und weinte. „Werde vernünftig, Rudolf!“

„Wo ist denn Lore?“ fragte er.

„Sie wollte etwas ruhen.“

„Sage ihr doch, daß Becker heute abend schon zu Papa kommt.“

„Schon? – Und er ahnt noch nichts! Sag’ Du es ihm, Rudolf!“

„Ich werde es ihm selbst mittheilen,“ erklärte Lore, die eben eingetreten war.

„Mein Gott, Mädel,“ murmelte der Lieutenant. Sie sah zum Erbarmen aus.

„Ich gehe gleich zu Papa,“ wiederholte sie, „ich will nur eine Tasse Kaffee nehmen –.“

„Nein“ wehrte die Mutter, „das sollst Du nicht, das will ich Dir abnehmen,“ und sie küßte die Tochter und ging hinauf.

Lore saß am Tisch und hielt den Kopf gesenkt, als müsse jetzt das bekannte Donnerwetter da oben losbrechen. Aber alles blieb still. Nach einer langen Pause kam die Mutter mit verweinten Augen herunter. „Lore, er sitzt ganz blaß in der Sosaecke und will’s nicht glauben.“

Sie erhob sich und ging hinauf. Der alte Herr saß ganz gedrückt da, die Pfeife war ihm ausgegangen; sie lag unbeachtet zu seinen Füßen.

„Lore,“ sagte er unsicher, „das ist doch Dein Ernst nicht?“

Sie setzte sich neben ihn und legte den Kopf an seine Schulter. „Ja, Papa!“ flüsterte sie.

Dann schwiegen sie beide. Ein paarmal räusperte sich der alte Herr, als mache er einen Ansatz zu sprechen.

„Ich bin ein rechter Bettellump,“ sagte er endlich bitter und fuhr sich mit der Hand über die Augen, „ich kann nicht einmal sprechen. ‚Laß das, Kind, Du bereust es vielleicht – warte ab in Geduld!‘ Ich kann’s nicht; denn wenn ich morgen sterbe, habt Ihr armen Mädels nichts, wo Ihr den Kopf hinlegt. Mutters zweihundertfünfzig Thaler Witwenpension – – lieber Gott, ich darf Dir keine Zukunft verscherzen –. Wenn’s nach mir ginge, Lore – Allmächtiger – –“

Sie drückte ihm die Hand und schmiegte sich noch fester an ihn.

„Lore,“ begann er nochmal, „muß es denn sein?“

Sie nickte stumm.

„Ach, Kind, ich hatte es mir anders gedacht!“ seufzte er.

„Ich auch!“ klang es in ihrem Herzen, aber sie antwortete nicht.




Die Frau Pastorin Schönberg trat unruhig ans Fenster, es hatte schon vor einem ganzen Weilchen zwölf Uhr geschlagen. Draußen lag eine blendend weiße Schneedecke über Gärten und Straßen; es war der dritte Dezember und ein frostklarer Winterhimmel lachte über dem Städtchen, so, als habe er sich ganz extra blau gefärbt, weil heute das schönste Mädchen in Westenberg Hochzeit halten wollte. Die Gitterthüren des Beckerschen Parkes standen weit geöffnet und von den beiden Thürmchen der Villa flatterten lustig zwei Fahnen im Winde.

[103] Jetzt rollte ein geschlossener Landauer aus der Gitterpforte, Kutscher und Diener in violetter Tuchlivree mit Silbertressen. Im Fond saß Adalbert Becker, der Bräutigam, und knöpfte noch an seinen Handschuhen. Die Kirchenglocken von St. Marien begannen eben zu läuten.

„Ich wollt’, er wäre daheim,“ seufzte die Frau Pastorin. In demselben Moment öffnete Doktor Schönberg die Gartenthür und ging schnurstracks ins Haus, aber anstatt, wie sonst, bei seiner Mutter vorzusprechen, lenkte er seine Schritte treppauf.

„Guter Gott, wäre der Tag erst vorüber!“ seufzte die alte Frau.

Er schloß oben gleich die Luftscheibe des Fensters; der Ostwind trug die Glockenklänge so betäubend laut in sein einsames Zimmer, dann setzte er sich vor seinen Schreibtisch nieder. „Ich hätte doch gescheiter gethan, wenn ich heute nach Büsow gefahren wäre,“ murmelte er.

Die Mutter lugte nach einem Weilchen zur Thüre hinein, es hatte ihr dort unten keine Ruhe gelassen. „Na, mein Jung, willst Du nicht essen kommen?“

„Ja gewiß – sofort!“

„Aber, wenn Du keinen Appetit hast, zwing Dich nicht,“ fuhr sie fort mit einem Blick in sein bewegtes Gesicht, „und schau, wie Dir die Sonne so blendend hereinscheint, laß mich mal die Gardinen zuziehen – sieh, so!“ Und sie verhüllte mildthätig den Blick auf die Straße. Spazieren gehen solltest Du, und recht weit – hörst Du?“

„Du meinst es so gut, Mutter, aber – weißt Du, laß mich allein!“ bat er. – – –

Lore stand in dem kleinen überheizten Salon ihrer Eltern im Brautkleide. Sie waren schon alle in die Kirche gefahren, nur Käthe und eine Freundin warteten mit ihr auf den Bräutigam. Käthe hatte ihre Schwester nicht aus den Augen gelassen heute, Lore sah so merkwürdig aus unter dem weißen Tüllschleier und dem grünen Kranz, sie war so erschreckend mager geworden, das Gesicht so schmal in den paar Wochen ihres Brautstandes. Sie stand da wie eine Statue und sah auf den kleinen Kachelofen, als läse sie dort etwas, was ihr ganzes Interesse in Anspruch nähme. „Wenn noch Wunder geschehen könnten,“ dachte sie, und ihre Finger schlangen sich plötzlich ineinander um den Stiel des Orangeblüthenbouquets. „Gott im Himmel, vergieb mir die Sünde, daß ich den andern nicht vergessen kann, daß mein Herz stärker ist als mein Wille!“ – Das war ihr Brautgebet. –

Ach, der Wille war da. Sie hatte alle Nächte hindurch darum geweint, sie hatte redlich mit sich gekämpft. Sie hatte um eine barmherzige Krankheit gebeten, um einen Aufschub der Hochzeit zu gewinnen, sie hatte den Tod erfleht, aber die Krankheit war nicht gekommen und sie lebte noch, erlebte diesen Tag, und die Kirchenglocken läuteten zu ihrer Hochzeit!

Eben fuhr der Wagen des Bräutigams vor, hinter ihm der für die Brautjungfern bestimmte, und gleich darauf trat Becker ein.

Lore sah nicht auf von ihrem Strauß, ganz mechanisch nahm sie seinen Arm und ließ sich hinausführen. Vor der Hausthüre stand eine Menge neugieriger Menschen und aus allen Fenstern lugten Köpfe, um die Braut zu sehen. Nun saß sie im Wagen, der Diener legte die Schleppe des einfachen weißen Seidenkleides hinein, und in schwindelndem Tempo ging es der Kirche zu. Auch hier der weite Raum gedrängt voll Menschen. Am Altare warteten die Hochzeitsgäste. Lore streifte, als sie die Altarstufen emporschritt, des Vaters Gesicht, der im Rollstuhl saß, dem alten Manne liefen die Thränen über die Wangen. „Um Deinetwillen!“ sagte sie leise.

Sie suchte auch das Auge der Mutter, aber die hielt die Wimpern gesenkt, eine fahle Blässe lag über ihren Zügen. Käthe lächelte ihrer Schwester zu; sie sah überraschend damenhaft aus in dem blaßgelblichen Kaschmirkleid und dem brennend rothen Nelkenkranz im dunklen Gelock. Es war eine stattliche Hochzeitsgesellschaft, viele Uniformen und viele reiche Toiletten, alle überstrahlt von Frau Elfriede Becker, welche sämmtliche Brillanten, die sie besaß, auf der bordeauxrothen Moiree-Robe verwandt hatte. Auch Lores Bruder mit seiner Frau und die ältere Schwester mit ihrem „ewigen Bräutigam“ waren zugegen. Beckers hatten es gewünscht, daß die Feier so prächtig wie möglich stattfinden solle.

Nein, es geschah kein Wunder! –

Der Prediger begann zu sprechen; an ihr Ohr schlugen die Worte: Treue – Pflicht – Duldsamkeit –; ihre verwirrten Gedanken vermochten nicht dem Gang der Rede zu folgen. Sie fand sich auf einmal niedergekniet und ihre Hand lag in einer heißen Männerhand, die ebenfalls zitterte, sie fühlte einen Ring am Finger und sie sprach ein „Ja!“ aus, das ihr der Prediger vorgesagt hatte, und dann senkte sie den Kopf tiefer, als müsse jetzt das schöne alte Tonnengewölbe mit seinen goldenen Sternen über ihr zusammenstürzen, weil sie den Muth gehabt, an dieser Stätte zu lügen.

Sie stand wieder aufrecht. Die Orgel brauste; „Unsern Eingang segne Gott,“ sang die Gemeinde und plötzlich wurde es ruhig in ihr. Es war so ein merkwürdiges Gefühl, als sie an seinem Arm durch den blumenbestreuten Mittelweg der Kirche schritt, an all den gaffenden Leuten vorbei. – Alles vorüber – sie war des andern Frau, sie wollte, ja sie wollte ihre Pflicht thun, sie durfte mit keinem einzigen Gedanken von diesem Wege abschweifen und Gott würde ihr helfen dazu.

Nun fuhr der Wagen mit ihr nach der neuen Heimath. Als sie sich dem Schönbergschen Hause näherten, legte sie sich unwillkürlich etwas zurück, und jetzt sprach auch der Mann neben ihr die ersten Worte nach dem „Ja!“ vor dem Altar, indem er zu dem Giebelfenster hinaufdeutete.

„Der ist der einzige, der mir einen Korb gab zu unserer Hochzeit, Lore, na, man darf es ihm wohl nicht übelnehmen, he? Er mag sich unangenehm überflüssig heute vorkommen?“

„Wer?“ fragte sie mit zitternden Lippen.

Er zupfte sie lächelnd an dem kleinen Ohr, das zartrosig unter dem bräutlichen Schleier leuchtete, und als sie ungestüm den Kopf zur Seite bog, begannen seine Augen sich zu verändern, es lag plötzlich etwas Gehässiges darin, das seltsam abstach von den noch immer lächelnden Mienen. „Kleine Heuchlerin,“ flüsterte er, indem er gewaltsam ihre Hand festhielt, „denkst Du denn, man kennt Deine Geheimnisse nicht?“

Die Röthe, die eben noch ihr Gesicht gefärbt, wich einer tiefen Blässe und ihre Augen sahen ihn erschreckt an. Wie? Er kannte ihr Geheimniß und doch saß er neben ihr? – „Was meinen Sie?“ stammelte sie, und der Herzschlag stockte ihr fast.

„Na, na, mein Schatz – Mädchenlieben! Für gewöhnlich habt Ihr ein Dutzend auf Lager. Aber bitte, mach Dich nicht lächerlich, Du wirst Dich entschließen müssen, ‚Du‘ zu mir zu sagen, und ferner – stecke nicht auch heute wieder das beliebte kalte Gesicht auf, mit dem Du Dich als Braut zu zeigen geruhtest, die Leute möchten sonst glauben, wir seien unglücklich verheirathet!“ Er lachte laut über seinen Witz und bot ihr die Hand zum Aussteigen.

Das war sein Gruß als Gatte! – Sie schämte sich, als habe sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.

Ein paar Minuten später ließ sie die Gratulationen der Gäste über sich ergehen. Sie saß beim Diner, als sei sie betäubt; sie hörte kaum die Reden, die Hochrufe, den Lärm der hochzeitlichen Tafel, es war ihr, als gehörte sie nicht dazu. In ihrem Ohre lag noch immer der frivole Ton dieser Stimme, die eben an das heiligste Geheimniß ihrer Seele gerührt; sie wußte jetzt, was sie längst geahnet – der Mann da neben ihr war von einer niedrigen Denkungsart. Und noch etwas hatte sie in seinen Blicken gelesen, was sie mit unsagbarer Angst ergriff: daß er sie peinigen würde in kleinlicher Rachsucht, ihr ganzes Leben lang, weil er erfahren – Gott allein wußte, wie? – daß ihr Herz nicht ihm gehörte, sondern dem andern, daß sie nur aus bitterer Noth das Ja heute gesprochen. Sie dachte an den Abend, da sie ihn zur Brautwerbung erwartet hatte, und er nicht kam, da sie schon anfing, an seine Großmuth zu glauben. Er sei leider unpaß von einem Ausflug zurückgekommen, hatte ihn endlich Frau Becker entschuldigt, die statt seiner erschienen war, und Rudolf, der einige Minuten später kam, hatte sie so scheu und mitleidig angeblickt. Am andern Mittag erst war er erschienen; der Major hatte ihn empfangen, und nach einer kurzen Weile war sie gerufen worden. Dann, mit ihm allein gelassen, hatte sie ihm ruhig und offen erklärt, daß sie nur auf Wunsch und im Interesse ihrer Familie seine Werbung annehme, daß sie sich aber Mühe geben wolle, ihm eine pflichttreue Frau zu werden, mehr könne sie ihm nicht versprechen.

Er hatte gelächelt, ihr die Hand geküßt und gesagt, mehr dürfe er ja vorläufig gar nicht verlangen, und darauf war sie [104] gegangen, um die Eltern und Geschwister hereinzurufen. Der Major hatte Wein bringen lassen, und als man auf das Brautpaar angestoßen, hatte sich der Bräutigam entfernt, um, wie er sagte, seiner Mutter die frohe Nachricht zu überbringen. Lore hörte freilich, wie er Rudolf zuflüsterte: „Ich habe einen furchtbaren Kater, Tollen.“

Am Abend hatte Familienfeier bei Beckers stattgefunden. Sie erinnerte sich dessen nicht mehr genau, nur daß sie viele Geschenke erhalten, daß sie ellenlange Auseinandersetzungen von Mutter, Schwiegermutter und Tante Melitta über Ausstattung und Brautkleid mit angehört. Sie wußte, daß sie täglich spazieren gefahren war mit Frau Elfriede und dem Bräutigam, und dies alles tauchte vor ihr auf wie die Bilder eines Kaleidoskopes, während sie hier saß an ihrer hochzeitlichen Tafel.

Nur eines trat entsetzlich deutlich aus dem Chaos hervor – ihr Wiedersehen mit Ernst. – Sie ging am Arme Beckers, um Brautvisiten zu machen; sie war ja stets ein Automat neben ihm. Und so hatte er sie die Straße daher geführt, in welcher das Gymnasium lag, um dem Direktor und dessen Frau einen Besuch abzustatten. Sie kam erst zur Besinnung darüber, als sie auf dem Schulhofe stand unter den alten kahlen Linden. Die Nachmittagsschule war eben aus und die Dämmerung des Novembertages füllte die Gänge des Klosters, als sie die Treppe hinaufschritten. Und da, mitten auf der engen Stiege, hatte sie ihm plötzlich gegenüber gestanden. – Ihr war es gewesen, wie wenn der Boden unter ihr wanke, als er mit abgenommenem Hut an ihr vorüberschritt, ohne daß sein Auge sie nur streifte. Sie hatte sich mit beiden Händen an dem Geländer festhalten müssen, und droben bei der jungen Frau Direktor hatte sie gesessen, körperlich und geistig elend, ohne ein Wort sprechen zu können.

Sie wußte es nun, der Mann, den sie verrathen hatte, verrathen mußte – verachtete sie.

Ihre Blicke suchten jetzt den Vater, als wollte sie aus seinem Anblick wieder Kraft schöpfen. Er saß da drüben neben der schwatzenden und lachenden Frau Elfriede Becker. Sein Gesicht hatte einen leidenden Zug, als ob er sich nur mit Mühe aufrecht halte, er sprach auch nicht, er drehte Brotkügelchen zwischen den nervös zuckenden Fingern und dann und wann führte er hastig das Glas zum Munde.

Ob er nur krank war, kränker als gewöhnlich?

Die junge Frau packte auf einmal ein Gedanke, der ihr das Herz schmerzhaft zusammenpreßte. Wie, wenn sie den alten Mann zum letzten Male heute sähe? Wenn er stürbe, derweil sie fern von ihm in Italien weilte? Sie suchte angstvoll die Augen der Mutter, aber die alte Dame sah nicht herüber zu ihr. – Eben hatte der Prediger ein Hoch auf das junge Paar ausgebracht, brausend fiel die Musik in die Jubelrufe der Menschenstimmen und die Gäste drängten sich mit den Champagnerkelchen um Herrn und Frau Becker. Der Name, ihr neuer Name, den irgend jemand im Scherz aussprach, klang mahnend in ihre Seele. – Gott im Himmel, sie hatte sich mehr Kraft zugetraut!

„Hast Du gehört, Lore, was der Herr Pastor sagte?“ fragte ihr Mann. „Glaubst Du nicht auch, daß er die Treue meint, welche die Frau dem Ehemann schuldet?“ Und er stieß lachend mit seinem Glase an das ihre.

Sie sah ihn nicht an, sie kam sich vor wie eine Verworfene in diesem Augenblick, kein einziger ihrer Gedanken gehörte ja ihm!

Sie ward dann endlich beim Aufheben der Tafel von der Mutter in ihr Zimmer geführt, um die Brautschleppe mit dem Reisekleide zu vertauschen. Es waren schöne, prächtig ausgestattete Räume, die sie bewohnen sollte, sie lagen nach dem Parke zu, und eben ging die Sonne purpurroth unter hinter den Bäumen und ihr Schein erfüllte das trauliche Boudoir der jungen Frau mit warmem Lichte und umwob rosig ihre weiße bräutliche Gestalt. Dieselbe Sonne war es, die sich auch da drüben in das kleine Studierstübchen durch die Vorhänge stahl und den Mann streifte, der ruhelos dort auf und ab wanderte.

Die Majorin sprach kein Wort, während sie geschäftig Kranz und Schleier aus dem Haar der Tochter nahm und ihr half, das dunkelgrüne mit Biber besetzte Tuchkostüm anzulegen, in dem sie reisen sollte. Die alte Frau dachte an ihre eigene Hochzeit, und wie anders sie doch als Braut gewesen sei, so ganz anders wie dieses blasse apathische Wesen vor ihr.

„So, mein Herzenskind, da sind die Handschuhe und der Muff, und nun komm, Lore, küsse mich!“

Das schöne unbewegte Gesicht bog sich zur Mutter herunter.

„Schreibe bald, und schreib mir, daß Du glücklich bist,“ schluchzte jetzt Frau von Tollen und schlang die Arme um die Tochter. „Ich will Dein gedenken, ich will beten für Dein Glück.“

– Lore schüttelte leise den Kopf, es sah aus, als wollte sie

sagen: „Bemühe Dich nicht, es ist umsonst!“

Die Stimme ihres Mannes scholl jetzt vom Korridor herein. Sie zuckte zusammen und preßte die Hände an die Schläfen, es lag eine furchtbare Verzweiflung in dieser einzigen Bewegung.

Die Mutter sah es nicht, sie weinte in ihr Taschentuch.

Jetzt trat er ein, schon in seinem kostbaren Pelz, und seine Augen ruhten mit lächelnder Siegesfreude auf den blassen abgespannten Zügen seiner jungen Frau. Die Majorin verließ still das Gemach, und im Nebenzimmer sank sie auf einen Fauteuil und barg den Kopf in die Polster.

Drunten rollte nach ein paar Minuten ein Wagen von der Rampe. – „Meine Lore,“ schluchzte sie, „meine goldene, gute Lore!“

Die Musik und der Lärm des Festes schollen kaum noch hierher, niemand störte die alte Frau in den Thränen, die ihr die Angst erpreßte um das Wohl und Wehe ihres Kindes. „Herr Gott, gieb das Beste!“ betete sie, „sie nahm ihn, weil sie nicht anders konnte, und ich – ich habe das Opfer angenommen!“

So saß sie lange. Sie schaute erst auf, als ihre älteste Tochter vor ihr stand und mit eigenthümlich bewegter Stimme sagte. „Mama, komm doch einmal herunter – Papa ist gar nicht wohl.“

Sie stand urplötzlich auf den Füßen. „Was denn?“ fragte sie erschrocken, „was ist?“

„Ich glaube, es ist nur eine Ohnmacht, Mama,“ und das starke Mädchen faßte die zitternde Frau um die Schultern und führte sie in die untere Etage, wo der Major besinnungslos auf dem Himmelbette der Frau Elfriede lag.

Die Söhne, der Schwiegersohn und Tante Melitta standen an dem Lager und ein zufällig anwesender Arzt beschäftigte sich um den alten Herrn.

Es war todtenstill im Hause geworden, die Musik verstummt, und die fröhlichen Gäste standen flüsternd im Gesellschaftszimmer beisammen und besprachen den traurigen Vorfall.

Als der Wagen fortfuhr mit den jungen Eheleuten, war der alte Herr ans Fenster gehinkt, gestützt von seiner ältesten Tochter und ihrem Bräutigam. Sie hatten beide gehört, wie er „Lore!“ gemurmelt, und plötzlich hatte er sich die Uniform, die er dem festlichen Tage zu Ehren trug, aufgerissen und war gegen die Wand getaumelt. Der Schwiegersohn war noch eben im stande gewesen, ihn aufzufangen.

„Ein Schlagfluß!“ sagte der Arzt endlich.

„Ist es gefährlich? Muß er sterben?“ fragte die Majorin, die aussah, als träume sie das Schreckliche nur.

„Gnädige Frau, Herr von Tollen ist ein alter schwacher Herr, aber es ist ja möglich, daß er es übersteht –“

Der Lieutenant folgte dem Arzt, der hinausgegangen war, um einige Anordnungen zu treffen. „Herr Doktor, wie lange kann mein Vater noch leben?“

„Vielleicht noch eine Stunde – vielleicht bis morgen mittag, Herr Lieutenant.“

„Ist es möglich, daß er noch einmal zur Besinnung kommt?“

„Möglich, ja!“

Der junge Offizier dankte und ließ sich im Vestibül Paletot und Mütze geben. Er wußte, Lore würde es ihm nie verzeihen, wenn er sie nicht benachrichtigte.

Drei Stunden später fuhr langsam ein Wagen an der Wohnung des Majors vor, und der Todte wurde hinaufgetragen in sein Zimmer. – Er war noch einmal zur Besinnung gekommen und hatte nach Lore gefragt.

Zu dem Zug um sechs Uhr war ein Wagen an den Bahnhof geschickt, man glaubte, das junge Paar müsse zurückkehren, denn der Lieutenant hatte die Depesche nach der nächsten Station gesandt, an welcher der Zug einige Minuten halten mußte. Wenn sie, was ja ohne Zweifel geschehen, richtig in die Hände Beckers gekommen war, so konnten sie mit dem Zug, der den ihrigen dort kreuzte, sofort zurückkehren.

Der Wagen kam leer wieder.

[106] Die Augen des Sterbenden hatten beständig auf der Flügelthür gegenüber seinem Lager gehaftet. Aber die, die er suchte, kam nicht, um noch einmal seine Hand zu küssen.

Nun saßen in dem kleinen Salon der Tollenschen Wohnung die Kinder und Schwiegerkinder bei einander und weinten, und selbst Frau Klothildens Augen schimmerten feucht. Die Mutter kniete droben vor dem todten Gatten und hielt seine Hand; sie konnte sich noch immer nicht darauf besinnen, wie alles gekommen war.

„Wo ist nur Käthe?“ fragte plötzlich Helene und hörte auf zu schluchzen.

Niemand hatte das junge Mädchen bis jetzt gesehen.

„War sie denn nicht mit in dem Schlafzimmer, als Papa starb?“

Keines wußte es zu sagen.

„Mein Gott, sie weiß am Ende noch gar nicht – –?“

„Beim Aufbruch der Tafel habe ich sie in dem gelben Boudoir erblickt,“ bemerkte der Lieutenant. „Sie sah sehr angegriffen aus, vielleicht war sie nicht wohl.“

Helene ging hinauf nach Käthes Stübchen; sie fand die Thüre offen und alle Kommodenschubladen ausgeräumt, überhaupt eine merkwürdige Unordnung. Käthe war gleich nach Schluß des Diners heimlich nach Hause gelaufen; sie fand es gräßlich langweilig im Hochzeitshause und hatte durchaus keinen „Mum“ zum Tanzen, wie sie sich selbst gestand. In ihrem Stübchen angelangt, hatte sie sofort ihre Toilette abgelegt, das Morgenkleid angezogen, eine Schürze vorgebunden und war mit ganz merkwürdiger Hast an ein wunderliches Treiben gegangen. Sie schleppte alle ihre Sachen und Sächelchen, ihre Kleider und Bücher nach oben in Lores verlassenes Stübchen. Die Wangen brannten ihr dabei vor Eifer, aber ihre Gedanken mußten doch noch wo anders sein, denn sie legte Verschiedenes an unrichtige Plätze, von wo es dann unwillig wieder weggerissen wurde.

Wie dumm, daß Lore durchaus den alten netten Schreibtisch mitnehmen wollte in ihr neues Heim! Käthe hätte ihn so gut brauchen können. – Aber eines, eines hatte sie doch nicht mitnehmen können, das war die Aussicht von dem kleinen Fenster dort. Und Käthe trat hinzu und schaute auf die verschneiten Giebeldächer des alten Gymnasiums, die hoch in den Nachthimmel hineinragten, und ein schier übermüthiges Lächeln flog um ihren vollen Mund. Sie besaß es jetzt, um was sie die Schwester beneidet hatte, täglich, stündlich. Und sie warf sich auf Lores Bett, zog die Decke empor und dachte – dachte dasselbe, was Lore hier einst gedacht, nur wilder, ungestümer. Und sie lachte und weinte dabei; sie war so der Wirklichkeit entrückt, daß sie nicht die schweren Männertritte auf der unteren Treppe hörte, nicht das hastige Treiben und den Aufschrei des Dienstmädchens; sie stand ja unter den dunklen Bäumen vor einem kleinen Hause und hörte eine leidenschaftliche Männerstimme und fühlte einen Kuß auf ihren Lippen. –

„Um Gotteswillen, Käthe, wo steckst Du denn?“ scholl die Stimme der suchenden Schwester in ihr Ohr.

Das junge Mädchen fuhr jäh empor. „Mein neues Zimmer habe ich eingeräumt,“ versetzte sie leichthin, „dann habe ich geschlafen.“ Und sie löschte die tief herabgebrannte dünne Stearinkerze aus, damit die Schwester ihre glühenden Wangen nicht sähe. „Es war so gräßlich langweilig auf der dummen Hochzeit,“ setzte sie hinzu.

„Komm herunter, Käthe!“ sagte Helene, „Du weißt nicht, was geschehen – unser Vater – –“ sie schluchzte laut auf und lehnte sich gegen den Rahmen der niedrigen Thür – „unser Vater ist – todt!“

[117]
Lore befand sich indessen ahnungslos auf dem Wege nach Berlin. Sie saß in einem Coupé erster Klasse und ihr gegenüber der, dem sie seit heute angehörte. Sie hatte beim Einsteigen aufathmend bemerkt, daß bereits ein junger Kavallerieoffizier in dem rothen Sammetpolster lehnte, der bei ihrem Anblick sofort die Cigarre aus dem Fenster warf.

Der Zug raste durch die einförmige Schneelandschaft, sie verharrte regungslos mit geschlossenen Augen. Zwei- oder dreimal hob sie erschreckt die langen Wimpern, das war, als ihr Mann sie anredete mit irgend einer gleichgültigen Frage. Ihr war geistig und körperlich so schlecht zu Muthe, als stehe sie vor dem Ausbruch einer schweren Krankheit, sie konnte nicht mehr klar denken. In dem kleinen Muff hatten sich ihre Hände in einander geschlungen, und sie verlangte in dem verworrenen Gedankenflug Schreckliches von dem Gott, zu dem sie betete.

Ein Eisenbahnunglück – aber dann müßten so viele Unschuldige mitleiden! Aber ist es denn wirklich eine so große Sünde, wenn man sich selbst das Leben nimmt? Sie sah den Schienenstrang vor sich, ganz unten in weiter Ferne liefen die beiden Linien in einander, und dort, an der äußersten Spitze leuchtete ein Paar glühend rother Punkte, und die Punkte kamen näher und näher und sie wartete mit einer wilden Freude darauf, daß die keuchend daherbrausende Maschine sie zermalmen solle, sie, die dort auf den Schienen lag. Sie schrak wieder empor; ein gellender Pfiff, der Zug hielt und „St…!“ schrie der Schaffner. Die Coupéthüre wurde geöffnet. „Acht Minuten Aufenthalt!“

Ein Gewirre von Stimmen herrschte draußen; sprechende, rufende Menschen hasteten auf dem Perron durcheinander, Männer gingen mit der Oelkanne den Zug entlang und beklopften die Räder, die Packkarren rasselten dazwischen, mit Koffern und Körben hoch beladen. Endlich verlief sich der Lärm und der Schaffner sah in das Coupé, ob die Passagiere vollzählig – er wollte es wieder schließen.

„Ist hier vielleicht ein Herr Becker - Adalbert, aus Westenberg?“ fragte da ein Telegraphenbote.

Allerdings!“ antwortete Becker. „Was soll’s?“

„Eine Depesche, mein Herr!“

„Was?“ – Er nahm das Papier, entfaltete es und las, und etwas wie Schreck zuckte über sein Gesicht. Dann sah er zu Lore hinüber, die theilnahmlos dem Vorgange gefolgt war. „Es ist nichts,“ sagte er, „Dein Bruder macht sich einen Scherz mit uns. Morgen früh werde ich es Dir erzählen.“ Und er schlug lächelnd mit seinem Handschuh [118] auf ihren Muff und schob die Depesche in die Tasche seines Pelzes.

Sie antwortete nicht, was ging sie das an? Sie wandte den Kopf nach dem Fenster und sah die Laternen des Bahnhofes verschwinden und die Lichter des Städtchens. Und weiter ging es, immer weiter in das winterliche Land hinein. Einmal schaute sie sich um nach ihm, er hatte sich bequem zurückgesetzt und war, ihres Schweigens müde, eingeschlafen. Sie musterte sein Gesicht mit großen forschenden Augen, einen Ausdruck von Ekel um ihren schönen festgeschlossenen Mund. Dann blickte sie auf den jungen Offizier. Der saß und schaute sie unverwandt an. Sie ward glühendroth, als könnte er ihre Gedanken errathen haben, und sie zog den Schleier vor das Gesicht.

„Ein Wunder!“ betete sie wieder, „lieber Gott, ein Wunder, das mich rettet!“ Mit jeder Minute ward es ihr klarer, daß es keine Möglichkeit für sie gäbe, ein Leben neben ihm zu ertragen, daß die Abneigung gegen ihn stärker sei als das strenge Pflichtgefühl, das sie in der Zeit ihres Brautstandes aufrecht erhalten, das ihr heute am Altar die Kraft gegeben hatte, das Ja! zu sprechen.

Der Zug fuhr in die Halle des Berliner Bahnhofes.

„Da sind wir schon,“ bemerkte Adalbert erwachend, bot Lore den Arm, auf den sie willenlos die Fingerspitzen legte, und führte sie zu dem Wagen, der sie in das Hotel bringen sollte. Eine kurze Strecke schweigenden Fahrens und sie hielten vor dem Portal des „Kaiserhofes“. Im Vestibül die übliche Bewillkommnung vom Hôtelpersonal; die Zimmer seien erwärmt und erleuchtet, versicherte man, und zwei Kellner und ein Hausdiener beeilten sich, die Angekommenen hinauf zu geleiten.

Abermals bot Becker seiner Frau den Arm. Sie übersah es, sie starrte mit verlangenden Augen durch die Riesenspiegelscheiben auf die Straße hinaus, in welcher das Leben der Großstadt vorüberfluthete, Menschen und Wagen in wirrem Durcheinander. – Hinaus können, dort hinaus fliehen durch die unbekannten fremden Straßen, fort – weit fort in das armselige Vaterhaus, geborgen sein dort für immer! Und die Gegenwart nur ein wüster schwerer Traum!

„Lore!“

„Geh voran!“ sagte sie tonlos.

Doch anstatt diesem Wunsch zu willfahren, zog er ihren Arm in den seinen, zwar lächelnd, aber ungeduldig und unsanft, und hielt ihn eisern an sich gepreßt, während er sie die Stufen hinan geleitete.

Sie fügte sich. Hinter ihnen ging der Hausdiener mit Reisedecken und Handkoffern; vor ihnen der Kellner.

Die Zimmer lagen im ersten Stock. Ein Herr und eine Dame kamen ihnen auf den rothen Smyrnadecken des Korridors entgegen, beide jung und beide glücklich. Der Herr trällerte ein Liedchen, die hübsche Frau, eng an seinen Arm geschmiegt, warf im Vorübergehen einen verwunderten Blick auf das todtenblasse Antlitz Lores.

Der Kellner hatte indeß eine Zimmerthür geöffnet, und sie schritt über die Schmelle des eleganten kleinen Salons, der ihr mit seinem prasselnden Kaminfeuer, seinem gedeckten Theetisch und dem frischen Veilchenduft, der einem großen Strauß ihrer blauen Lieblingsblumen entstieg, einen schmeichelnden Willkomm zu bieten schien.

Sie empfand das nicht. Sie ging mechanisch zum Fenster hinüber und schaute auf die Straße. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihres Mannes. Er befahl das Souper, schalt, daß der Strauß nicht geschmackvoll genug gebunden und daß eine Hundekälte hier sei. „Also sofort den Thee! Man ist halb erfroren nach solcher Fahrt – nicht, Frauchen?“

Sie war jetzt allein mit ihm und wandte sich um. In ihren Mienen lag plötzlich eine unheimliche Entschlossenheit. Sie lehnte an der Fensterwand; das Gesicht hob sich wie Elfenbein von dem dunkelrothen Sammet des Vorhanges ab, und ihre Augen verfolgten jede Bewegung ihres Mannes.

Er hatte eben die Koffer geöffnet und trat nun vor den Spiegel, dicht neben Lore. Er legte auf die Marmorplatte desselben Cigarrentasche, Brieftafel, Feuerzeug, Meerschaumspitze und Papiere aus seinen Taschen, und ohne einen Blick von seinem Spiegelbilde zu verwenden, ordnete er den Bart mit einem zierlichen Kamm.

Sie wartete, daß er zu ihr spreche, mit klopfendem Herzen aber muthig. Sie meinte gefunden zu haben, was sie ihm sagen wollte in aller Ruhe; fragen wollte sie ihn, woher er denn wisse, daß sie den andern liebe, und warum er, da er es gewußt, dennoch gewagt habe, seine Hand nach ihr auszustrecken? Und daß sie bei alledem glauben müsse, er habe bei seiner Werbung wohl nur an eine Repräsentantin seines Hauses gedacht – –. Sie werde gewiß die Pflichten einer solchen gewissenhaft erfüllen, aber weiter – –.

Sie stockte in ihren Gedanken und eine Purpurgluth überzog ihr Antlitz. Er hatte ihre Hände ergriffen und sah mit lächelnder Zärtlichkeit in die schönen zornigen Augen. Sie empfand den Blick wie eine Beschimpfung.

„Lassen Sie das!“ sagte sie, sich hastig befreiend. „Ich – –“ Aber sie fand die rechten Worte nicht zum Weitersprechen.

„Nun, Lore!“ unterbrach er sie lachend. „Zunächst möchte ich sprechen.“ Und in einiger Entfernung von ihr stehend lehnte er an dem Spiegel und begann zu reden. Es war, als wenn ein Schuljunge etwas Auswendiggelerntes hersagte. Ein langer und breiter Strom floß vor den Ohren Lores vorüber, über das Vertrauen, das Eheleute zu einander haben sollten, daß auch sie es zu ihm haben könne, ja haben müsse, denn er sei ein ‚guter Kerl‘, – „wahrhaftig, Lore, ein guter Kerl!“ Er könne nur eins nicht ertragen, so ein stolzes Gesicht, wie sie aufzusetzen beliebe, heute ganz besonders. Und er habe doch das ernsthafte Bestreben, sie wahrhaft glücklich zu machen, und er liebe sie rasend und bleibe nun einmal dabei, Vertrauen sei die Hauptsache, und was ihn beträfe, so läge ja sein Herz offen vor ihr da. – Er sei immer ein harmloser Bursche gewesen, und man könne ihn um den Finger wickeln, wenn man es richtig anfange. –

Sie war nicht imstande, ihm zu folgen; sie hörte nur immer wieder die Schlagworte: „Liebe, Vertrauen, Glück, guter Kerl“ –. Ihre Lippen, die sich verächtlich auf einander gepreßt hatten, öffneten sich, als er endlich schwieg. „Ich muß Zeit haben, um Vertrauen zu Ihnen fassen zu können,“ sagte sie ruhig, „bis jetzt – – ich kenne Sie kaum – –“

Sie stockte. Der Kellner trat ein, das riesige Präsentierbrett von der Schulter nehmend, begann er den Tisch mit kalten Platten zu besetzen, eilig und geräuschlos.

Lore war es, als wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen; sie sank in den Lehnstuhl, muthlos, gebrochen vor dem erbarmungslosen Ausdruck, mit dem die Augen des Mannes sie getroffen hatten, der jetzt zornig auf und ab ging, wie ein gereiztes Thier. Sie fühlte, daß kein Ausweg war; daß es thöricht von ihr gewesen, einen solchen suchen zu wollen, daß er im Rechte, und daß es albern, nutzlos sei, auf seine Ritterlichkeit, sein Zartgefühl zu vertrauen; sie fürchtete sich vor ihm, vor seinem Lachen, seinen funkelnden Augen.

Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Eine furchtbare Sehnsucht nach ihrem Vater packte sie in dieser elendesten Stunde, die es für ein Weib geben kann, wenn es nicht liebt –. Der alte Mann war der einzige gewesen, der gefühlt, daß sie sich opfere; sie meinte noch seine Frage zu hören: „Lore, bist Du denn wirklich überzeugt, mit ihm glücklich zu werden? Sag’s mal ehrlich, Mädel!“ – Sie fühlte wieder den traurigen Blick, den letzten, als sie vom Wagen aus noch einmal emporschaute zum Fenster, an dem er gestanden. Er hatte sie so seltsam berührt, dieser Abschiedsgruß, als sei er ein letzter – –.

Sie fuhr empor. Der Kellner hatte das Zimmer verlassen; verzweifelt sah sie zu ihrem Gatten hinüber.

„Du hast Dir wahrscheinlich die Fortsetzung Deiner netten Ansprache überlegt?“ sagte er unheimlich freundlich; „nicht wahr, Schatz? Sie war so viel verheißend. Wie wär’s aber, wenn Du Dich entschließen könntest, endlich Deinen Hut abzulegen und zu Tische zu kommen? Du darfst während des Essens ganz ungestört Deine erste Gardinenpredigt vollenden. Ich bin ein Mann von sehr viel Geduld und außerordentlicher Nachsicht einer so schönen Frau gegenüber, mit einem Worte, ein guter Kerl.“ – Er lachte und wandte sich nach dem Tische, um die Schüsseln zu mustern.

Sie hörte nicht, was er weiter sprach. Ihre Blicke hafteten an einem halb auseinandergefalteten Papier auf der Spiegelkonsole; die blauen Buchstaben hatten anfänglich keine Bedeutung für sie gehabt, ganz mechanisch las sie:

„– wenn Lore ihn noch lebend – – kommt sofort –
  Rudolf.“

[119] Sie begriff es auch jetzt noch nicht, – sie streckte die Hand aus nach dem Blatt, wie sie es vielleicht auch nach einer Zeitung gethan haben würde, um zu lesen, während der andere schreibt oder ißt.

„Ich bin nicht imstande, etwas zu genießen“ murmelte sie, während sie das Blatt entfaltete. „Papa – Schlagfluß – wenn Lore ihn noch lebend sehen will, kommt sofort zurück!“ – –

Im Fluge hatte sie es gelesen und verstanden, obgleich ihr die Depesche mit einer halblauten Verwünschung aus der Hand gerissen ward.

„Mein Vater!“ schrie sie. Sie war aufgesprungen und der Thüre zugestürzt. Da fühlte sie sich gehalten.

„Aber, Lore, mach doch keine Geschichten – zum Donnerwetter! Es wird ja nicht so schlimm sein!“ rief er roth vor Zorn – oder Schreck.

Sie stieß ihn zurück und stand vor ihm mit entsetzten Augen, an allen Gliedern bebend. „Das war der Scherz?“ stieß sie hervor, „das?“

Die ganze große Brutalität dieser Verheimlichung ward ihr mit einem Schlage klar. Sie wollte sprechen, wollte ihm sagen, daß sie ihn verachte, verabscheue, ihn, der sie um den letzten Blick des Vaters zu betrügen versuchte, aber es kam kein Wort über ihre Lippen. Stumm wandte sie ihm den Rücken und schritt der Thüre zu. Sie hörte nur noch. „Ich wollte Dich ja schonen, Kind, Du hättest es doch, weiß Gott, noch früh genug erfahren – Wo willst Du denn hin? Es geht ja gar kein Zug! – Lore, was sollen die Leute denken – zum Kuckuck – sei doch gescheit!“

Sie flog schon den Korridor hinunter und eilte aus dem großen Vestibül, an dem verwunderten Portier vorüber auf die Straße. „Nach dem Anhalter Bahnhof!“ rief sie dem nächsten Droschkenkutscher zu, „ich muß den Kurierzug nach Hamburg erreichen!“

„Geht in einer halben Stunde, Madam!“

„Fahren Sie rasch – um Gotteswillen!“ bat sie.

Da fühlte sie sich plötzlich beim Einsteigen unterstützt, und ihr Mann sprang ihr nach in den Wagen.

„Du erlaubst wohl, daß ich Dich begleite?“ fragte er höhnisch. „Es ist nur wegen der Leute, weißt Du, man pflegt doch im allgemeinen nicht so eins, zwei, drei seinem Ehemann davonzulaufen! – Recht angenehmer Abend übrigens! Und um was wird der Spektakel sein? Natürlich nur blinder Lärm, der Alte wird ein Glas Sekt zuviel getrunken haben.“

Lore schlug die Hände vor das Gesicht und unterdrückte einen Aufschrei der Empörung. Auf dem Bahnhof angekommen, flüchtete sie in ein Damencoupé, und dort lag sie während der Fahrt verzweifelnd, betend, fordernd, nur noch lebend ihn zu treffen, nur noch einmal in die alten treuen Augen sehen, nur noch einmal ihren Namen von seinen Lippen hören zu dürfen. –

Gegen Mitternacht langte der Zug in Westenberg an. Ein eisiger Wind empfing sie, als sie das warme Coupé verließ. Sie zog den Schleier vor das Gesicht und eilte über den Perron, auf der wohlbekannten Straße dahin, die zur Stadt führte. Was kümmerte sie das leise Fluchen des Menschen, der da hinter ihr schritt, was die grimmige Winternacht, die ihr Eis und Schnee ins Gesicht trieb? Sie hatte nur einen Gedanken noch: ihren Vater! Sie flog förmlich, ihren Mann weit zurücklassend, und mit athemloser Angst langte sie vor dem kleinen Hause an. In des Vaters Wohnzimmer war Licht, aber in der Schlafstube daneben hatte man beide Fensterflügel der kalten Luft geöffnet.

Sie wußte, was das bedeutete, und es überwältigte sie so, daß sie kaum noch die Kraft fand, die Klingel zu ziehen.

Und dann klangen langsame Schritte da innen, und es ward aufgethan. Die Mutter stand vor ihr, die Lampe hochhaltend.

„Mama!“ rief Lore und starrte die Frau an, die um Jahre gealtert war in den wenigen Stunden.

„Lore, Du?“ fragte die Majorin. „Aber, siehst Du, es ist doch zu spät!“

Da wandte sich die junge Frau und schob den Riegel vor die Hausthür. Dann blieb sie stehen, die Hände geballt, im Blick den furchtbarsten unversöhnlichsten Haß gegen den, der jetzt von außen die Thür zu öffnen suchte.

„Aber, Lore, was thust Du! Ist es nicht Dein Mann, der – –?“

Sie hielt die alte Dame, die öffnen wollte, mit fester Hand am Armgelenk. „Komm,“ sagte sie, „komm, bringe mich zu Papa!“

„Aber, Lore, was – –“

„Nein, nein, Mama! Er soll nicht, er darf nicht!“ wehrte sie, „er darf nicht zu Papa.“ Und sie zog die Mutter mit sich die Treppe empor und am Sterbelager sank sie nieder und legte ihr Gesicht auf die kalten starren Hände des alten Mannes, und schwere Thränen rollten aus ihren Augen.

Ihr Wunsch war erfüllt – daheim war sie, in dem ärmlichen kleinen Vaterhause. Aber so – so hatte sie es nicht gewollt!




Der Major von Tollen wurde begraben mit all dem traurigen Pomp, den die kleine Stadt für einen alten Offizier, der das Eiserne Kreuz getragen, aufzubringen wußte. Der Kriegerverein war mit der Fahne erschienen, die Schützengilde hatte sich angeschlossen und der Zug war die Straße hinuntergegangen unter den Klängen des Chopinschen Trauermarsches. Gleich hinter dem Sarge waren die beiden Söhne geschritten, nach ihnen die Schwiegersöhne, der junge Ehemann, dem der unbarmherzige Tod einen Strich durch die Hochzeitsreise gemacht hatte, mit mehr verdrießlicher als trauriger Miene. Die Leute im Städtchen wußten es alle, daß das junge neuverheirathete Paar noch in derselbe Nacht zurückgekommen sei, und daß Frau Lore Becker, als sie, direkt vom Bahnhofe in das väterliche Haus eilend, die Todeskunde erfuhr, verzweifelt zusammengebrochen war.

Ja, das Leben spielt oft wunderlich! Jetzt hätte der alte Herr doch endlich einmal aufathmen, sich im Glanz seiner Kinder sonnen können – da mußte er fort! Nun, die Beckers mochten jetzt ordentlich in die Tasche langen, denn viel zu brocken und zu beißen würde wohl für die Witwe und die Kinder nicht da sein. – So urtheilten die Damen, die im Tollenschen Salon zurückgeblieben waren bei den weiblichen Mitgliedern der Familie; so wisperten die Herren in dem langen Trauerzuge, und so raunten es sich die gaffenden Menschen auf der Straße zu.

„Ja, es ist ein Elend, wenn Leute aus so einem Stande kein Geld haben und doch immer vornehm thun wollen. Die Lore, die hat's just noch getroffen,“ sagte Frau Nachbarin Engel, als der letzte Mann des Zuges um die Straßenecke verschwand, zu ihrem hübschen Dienstmädchen, das außen auf der Straße stand. Dann schloß sie das Fenster vor der kalten Dezemberluft, welche die Wärme des Stübchens um einige Grade vermindert hatte, und setzte sogleich ein Paar Filzschuhe an den Ofen, damit ihr Gottfried es recht behaglich finde, wenn er von dem kalten Gange nach dem Friedhofe heimkehrte. – –

Und Lore saß am Tage nach dem Begräbniß in des Vaters Stube am runden Sofatisch der Mutter gegenüber, beschäftigt, die Papiere und Dokumente des Verstorbenen durchzusehen. Der Bruder mit seiner Frau, der Bräutigam Helenens und diese selbst waren wieder abgereist heute früh. Der erstere hatte großmüthig auf die „paar Kröten“ verzichtet, die der alte Herr in der Reichsbank gehegt und gepflegt, es waren zweitausend Thaler da. Tausend Mark hatte er vor kurzem gekündigt für Lores kleine Ausstattung, sie wurde damit für abgefunden erklärt, das übrige sollten die zwei andern Mädchen unter sich theilen. Rudolf erhielt nichts, da ihm im vorigen Jahre Schulden bezahlt worden seien in einer Höhe, die bereits das überstieg, was er von Rechtswegen fordern konnte. Diese Aufzeichnung hatte der alte Herr in einem verschlossenen Couvert neben seinen Personalpapieren liegen gehabt und noch etwas dabei, eine kleine Summe Geldes, die zu seinem Begräbniß bestimmt war, und bei welcher sich ein Zettelchen befand, darauf er geschrieben: „Mehr soll nicht verausgabt werden für den Zauber. Ein eichener Sarg ist nicht nothwendig; Tischler Thienemann weiß schon, hab’ mit ihm gesprochen darüber, will ihn für sechs Thaler machen. Auch kein Kuchen und Wein soll gegeben werden, man soll mir aber meine Uniform anziehen und mir den Säbel, den ich im Feldzuge getragen habe, auf den Sarg legen, sowie den alten Lorbeerkranz von meines Kaisers Bild, den mir die Lore als kleines Mädchen entgegengebracht hat, als ich damals zurückgekommen bin. Will der Kriegerverein über meinem Sarge schießen, so sollen es meine Hinterbliebenen nicht hindern. Ferner sollen meine Frau und Kinder nicht länger als vier Wochen trauern, weil mir schwarze Kleider immer ein Greuel waren und die Meinigen mich auch so betrauern werden.      von Tollen.“

[122] Lore hatte eben noch einmal das wundersame Schriftstück überlesen und lehnte sich nun aufschluchzend in den alten Stuhl zurück, in welchem der Verstorbene immer gesessen hatte.

„Gott sei Dank!“ sagte die Witwe, die mit gerötheten Augen und bekümmertem Gesicht in den Papieren suchte, „Gott sei Dank, Kind, daß Du endlich weinst!“

„Mama, glaubst Du, daß Papa gedacht hat, ich würde noch wiederkommen? Hat er wirklich gewartet auf mich?“

„Ja, Lore! Wir hatten ihm doch gesagt, daß telegraphirt sei!“

Die junge Frau hatte schon hundert selbstquälerische Fragen gethan nach den letzten Augenblicken des Vaters. „Und er hat immer so nach der Thüre geschaut?“ murmelte sie, und ich kam nicht, ich ahnte nichts!“ – – Sie sprang auf, und das Taschentuch fest gegen den Mund gepreßt, ging sie im Zimmer auf und ab, in einer so hastigen und nervösen Art, wie man es von ihr gar nicht gewöhnt war. Sie sah merkwürdig verändert aus in dem schwarzen Trauerkleide, das so schlicht an den Hüften herniederfiel und ihr Gesicht noch weißer, ihr Haar noch blonder erscheinen ließ.

„Mama,“ begann sie endlich, „wenn Becker kommen sollte – ich glaube, er sprach davon – um mich zu holen, so sage ihm, ich sei mit Käthe nach dem Kirchhof – ich – – “

„Aber, Lore, warum? Bedenke, daß Du vier Tage hier geblieben bist, und daß er sein Recht fordert, wenn er verlangt, daß Du in sein Haus kommst.“ Lore blieb vor dem Tische stehen. „Sein Recht,“ flüsterte sie, wie zu sich selbst und sah an der Mutter vorüber mit Augen so voll Todesqual, daß die alte Frau plötzlich alles begriff.

„Aber Lore!“

„Sage ihm doch, ich sei krank,“ murmelte sie. Und als packe sie ein Entschluß, trat sie mit gefalteten Händen vor die entsetzte Frau; „oder sag ihm die Wahrheit,“ sprach sie rasch und hastig, „sag, daß ich niemals zu ihm kommen würde; sag ihm, daß ich ihn hasse wie – wie nichts auf der Welt! Daß er mir ekelhaft ist wie die Schlange, die über meinen Weg kriecht, – daß er – daß –“. Sie hatte den Tisch bei Seite gestoßen und war vor der Mutter auf die Kniee gesunken, keine Spur von Thränen mehr in den brennenden Augen. „Mama,“ flehte sie, „weise mich nicht weg, laß mich bei Dir bleiben! Ich kann nicht mit ihm gehen – bei allem, was mir heilig ist auf der Welt, ich kann nicht!“

Die Majorin rührte sich nicht; sie war wie betäubt von dieser Wendung der Dinge. „Aber – aber, mein Gott!“ rief sie endlich und ergriff die Tochter an der Schulter, „Lore, weißt Du denn nicht mehr, was Du redest? Du bist nicht mehr seine Braut, Du bist seine Frau – Du mußt, hörst Du? Du mußt!“

„Nein, nein, ich muß nicht, Mama, sage das nicht!“

Da richtete Frau von Tollen sich auf. „Du bist wahrscheinlich krank,“ sprach sie ernst, gewaltsam ihre Angst bezwingend, „sonst würdest Du nicht solche Geschichten angeben. Was fällt Dir denn ein, Kind? Du hast gewußt, was Du thatest, als Du Dich verlobtest, Du hättest Dir das besser überlegen sollen, mein Herz. – Warum hast Du ihn denn genommen?“

„Warum, Mama? Du fragst das, Du?“ Und Lore sprang auf die Füße und begann zu lachen, es klang schrecklich von den blassen Lippen und sah so unheimlich aus neben den zornigen irren Augen. „Ja, Du hast recht, Mama, warum habe ich ihn genommen!“ Und sie setzte sich ans Fenster und sah auf die Straße hinab, auf welcher der Schnee zu thauen begann und die Jungen einen großen Schneemann erbauten unter Schreien und Lärmen.

[133]
Lore,“ begann die Majorin nach einer langen Pause, „bleib heute noch hier; ich werde ihm sagen, du seist elend – Du bist es auch, der Schrecken um Papa hat dich so mitgenommen. Du glühst ja, Du hast gewiß Fieber.“

Aber Lore drängte die Hände der Mutter zurück und ihre Blicke flogen nach der Thür, als müsse sie dort hinaus laufen, um sich irgendwo zu verstecken. Aber sie besaß keinen Platz mehr, der ihr allein und zu eigen gehörte, ihr kleines Stübchen hatte Käthe eingenommen, als sie noch kaum das väterliche Haus verlassen; sie empfand das wie einen Diebstahl, wie eine Pietätlosigkeit sondergleichen, denn alle die Träume von Glück und Seligkeit hatte sie dort geträumt, die einfachen vier Wände hatten ihren Jubel, ihre Thränen sehen dürfen. Sie würde auch jetzt vielleicht wieder Ruhe gefunden haben, wenn sie dort hätte hinaufflüchten, den Riegel hinter sich zuschieben können, um ihre Verzweiflung auszuweinen, ungesehen, unbelauscht! Sie stand trotzdem auf. In den Garten? Aber der lag unter tiefer Schneedecke. Sie kam zurück und setzte sich wieder. – Die Majorin raffte die Papiere zusammen, um sie in den Schrank zu legen. Sie war beleidigt durch Lores liebloses Wesen; aus ihren rothgeweinten Augen sprangen wieder große helle Tropfen. Und dazu die Sorgen, diese drückenden Sorgen! – Wenn Rudolf doch käme, wenn er ihr sagen könnte, ob Becker ihm für die nächste Zeit einen Zuschuß zahlen wollte! Was sollte der arme Kerl anfangen, wenn Becker nicht – –. Sie konnte es nicht mit den paar Groschen Witwengeld.

Unten klang die Schelle, Rudolfs Schritte kamen die Treppe herauf, und gleich darauf trat er ein. Er sah erregt aus, warf den nassen Ueberzieher auf einen Stuhl und die Mütze auf den Tisch.

„So!“ sagte er, „soweit wären wir! Dein Herr Gemahl, Lore, bot sich an, mir in Amerika eine Stelle auf dem Bureau seines früheren Compagnons zu verschaffen; und da er heute abend noch Geschäfte halber nach drüben reist, so schlug er mir vor, gleich mit zu kommen – wegen der Reisegesellschaft vermuthlich.“

Lore wandte das Haupt, und ihre [134] schönen finstern Augen sahen verständnißlos zu ihm hinüber. Sie glaubte, er rede im Weinrausch.

„In allem Ernst!“ betheuerte der Lieutenant, „Dein Mann packte eben den Handkoffer für eine kleine Reise nach New-York; ich habe mich vor dem Schwall seiner zornigen Flüche rückwärts konzentrirt. Jedenfalls hat er seiner Mutter, die ihn bewegen wollte, zu bleiben, fast den Kopf abgerissen.“

„Wie kam es?“ fragte Lore, und ihr Kopf sank an die Lehne des Sessels.

„Er erhielt eine Depesche, weiter weiß ich nichts. Ich verhandelte gerade mit ihm über eine Zulage, die er mir natürlich nur leihen sollte – da fiel das Kabeltelegramm hinein und er lief Hals über Kopf zur Frau Elfriede hinunter. Wahrscheinlich doch geschäftliche Interessen –.“

„Und ich bleibe hier?“ flüsterte Lore.

„Ja, es war wenigstens absolut nicht die Rede von Deiner Begleitung. Ich soll Dir nur sagen, daß er in einer Viertelstunde kommt, um Abschied zu nehmen.“

Frau von Tollen hatte sprachlos dabei gesessen. „Giebt er Dir das Geld?“ fragte sie jetzt.

Der Lieutenant zuckte die Schultern. „Er läßt gar nicht mit sich reden, er ist furchtbar gereizt und verstimmt; schließlich antwortete er mir, warum es denn Viktor nicht thue?“ – Der junge Offizier lachte kurz auf. „Es ist eine reizende Situation. Da höre ich übrigens den Schlitten, er kommt schon.“

Vor dem Hause verstummte das Geläut, die Thürglocke erscholl und im Flur stampfte jemand den Schnee von den Stiefeln. Dann knarrte ein schwerer Tritt die Stiege herauf.

Lore war aufgestanden und hatte sich hinter dem Ofen auf einen Stuhl gekauert; sie saß da mit emporgezogenen Schultern. Frau von Tollen ging dem Schwiegersohn bis zur Thür entgegen: „Guten Tag, lieber Becker; ich höre, Sie verreisen so eilig?“

„Es geht unsereinem wie dem Soldaten,“ erwiderte er, „wir müssen immer auf dem Posten sein. Wo ist meine Frau?“

Lore neigte sich vor. „Hier!“ sagte sie, ohne ihn anzusehen.

„Was sagst Du zu der Ueberraschung?“ fragte er, und jetzt blickte er an ihr vorüber. „Nette Hetzerei! Morgen früh neun Uhr geht zum Glück erst der Dampfer. Aber so ist’s, wenn man Pläne macht! Ich dachte, wir würden morgen zusammen abfahren, jetzt –. Meine Mutter wird Dich heute abend abholen,“ wandte er sich zu ihr, „und Dich, wenn ich zurückkomme, nach Hamburg begleiten. Wir reisen von dort aus nach Italien; März, April sind noch die besten Monate an der Riviera. Es thut mir leid, daß ich jetzt ohne Dich fortgehen muß, aber die Geschäfte drüben sind derart, daß ich Dich beständig allein lassen müßte; da möchtest Du Grillen fangen.“

Dann ging er zwischen Tisch und Ofen zu Lore hinüber, und indem er sie unter das Kinn faßte, hob er ihr Gesicht in die Höhe.

Frau von Tollen winkte dem Sohne, und beide gingen hinaus.

Die junge Frau rührte sich nicht, sie war nur noch blasser geworden, und die Augen hielt sie halb geschlossen, die Lippen fest auf einander gepreßt.

„Es ist eine verdammte Geschichte, Lore,“ sagte er. „He? Als wäre es verhext mit uns. Und zu allem behandelst Du einen noch niederträchtig schlecht, bei Gott, unverdient, Lore! Ich bitte Dich dringend, mein Schatz, laß diesen hochadligen Zug um Deinen Mund weg, hörst Du? Ich möchte Dir bei dieser Gelegenheit ein für allemal sagen, daß ich mir ein anderes Benehmen ausbitte; ich will freundlich, ich will liebevoll behandelt werden!“

„Ich habe Ihnen bei unserer Verlobung der Wahrheit gemäß erklärt, daß ich Sie nicht liebe,“ sagte sie laut und fest.

„Allerdings hattest Du die liebenswürdige Ehrlichkeit, aber Du fügtest hinzu, Du glaubtest mir eine pflichtgetreue Frau sein zu können.“

„Ja – damals! Ich wollte es auch,“ flüsterte sie.

Er verstand es nicht. „Was sagst Du?“

Sie antwortete nicht.

„Nun, kurz und gut,“ fuhr er fort, in einen polternden Ton übergehend, „ich hoffe, Dich in anderer Verfassung wiederzufinden. Ich bin nicht der Mann, der sich von seiner Frau auf der Nase herumtanzen läßt, absolut nicht, mein Kind. Wenn Du geglaubt hast, mir eine Gnade zu erweisen, indem Du mir Deine aristokratische Hand hinunter reichtest, so –“

Er brach ab, sie hatte sich erhoben und stand da an dem alten Ofen, hoch aufgerichtet, entschlossen, in ihren Augen glühte es wie Kampflust.

„Es war keine Gnade von mir,“ sagte sie ruhig, „es war einfach ein Handel, den Sie mit meinen Angehörigen eingegangen sind, und ich – ich ließ mich verschachern, um meinem Vater einen herben Kummer zu ersparen. Ich bedachte nicht, daß es so schwer ist, sich zu opfern. Ich wollte Ihnen dies bereits am Hochzeitsabend in Berlin sagen, nur etwas anders. Da hatte ich noch den Willen, neben Ihnen zu leben, Ihrem Hause vorzustehen; ich wollte Sie bitten, mir Gelegenheit zu geben und Frist, das Vertrauen, das Sie von mir forderten, gewinnen zu können, nach und nach. – Ich bin keine Natur, die leicht vertraut und glaubt. Nun ist mein Vater todt und ich finde nicht mehr die Kraft, das, was ich in der Verzweiflung gelobte, zu tragen ein ganzes Leben hindurch, denn ich fühle es, ich werde nie ein Herz zu Ihnen fassen, werde Ihnen nie vertrauen können, von Liebe gar nicht zu reden. – Und darum – geben Sie mich frei!“

Einen Augenblick blieb es still in dem Gemach, nachdem ihre Stimme verklungen war. Seine kleinen runden Augen hatten sich seltsam vergrößert. Nun schlug er eine helle Lache auf.

„Ich dachte allerdings nicht, daß ich Dich so zum Scherzen aufgelegt finden würde,“ sagte er endlich, noch immer mit kleinen Lachanfällen kämpfend. „Also, Du wirst mich nie lieben können? Und das wolltest Du mir schon in Berlin sagen? – Und wen liebst Du denn, wem vertraust Du? Dem andern – dem – dem –? Ihr seid doch klassisch, Ihr Frauen!“

Er wischte sich die Thränen aus den Augen, die das Lachen hinein getrieben, nahm seine Uhr heraus, that einen Blick darauf, und in einen ernsthaften, fast geschäftsmäßigen Ton übergehend fuhr er fort: „Du wirst von heute ab bei meiner Mutter wohnen. Damit Du kein Heimweh bekommst, stelle ich Dir frei, Deine Angehörigen so oft einzuladen, wie es Dir beliebt. Ich habe auch nichts dagegen, daß Du abends beim Mondschein am Fenster seufzest, so viel Du Lust hast. Eifersüchtig bin ich nicht, trotz des interessanten ‚Gegenüber‘! Und wenn Du Appetit auf irgend einen lyrischen Dichter verspürst, der zufällig nicht in Deiner Bibliothek vorhanden ist, so laß ihn Dir vom Buchhändler kommen. Kurzum, amüsire Dich auf Deine Art während meiner Abwesenheit, aber – scheiden lassen oder, wie Du Dich so zart ausdrückst, Dir die Freiheit zurückgeben nach vier Tagen des Verheirathetseins –“ und wieder brach er in Lachen aus – „das kannst Du nicht verlangen, Schatz! Aber, es ist niedlich, es ist originell und gäbe einen hübschen Stoff zu einem Lustspiel.“

Er hatte das Lineal des Verstorbenen, das vor ihm auf dem Tische lag, genommen und hieb pfeifend durch die Luft damit. „Ein sehr hübscher Stoff zu einem Lustspiel,“ wiederholte er.

Sie stand noch immer da, den verächtlichen Ausdruck in den großen Augen. „Ich sprach nicht im Scherz,“ sagte sie kühl.

Er hielt inne mit Lachen und sah sie an, und das Blut schoß ihm in das Gesicht. „Ah!“

„Ich bitte Sie allen Ernstes, lassen Sie mich bei meiner Mutter! Es paßt so gut, wenn Sie jetzt reisen, und es wird somit weniger Aufsehen machen, wenn wir uns trennen.“

Er hielt sie plötzlich mit eiserner Faust an der Schulter gepackt und schüttelte sie wie ein schwaches Bäumchen hin und her. Lore starrte in ein von Leidenschaft und Wuth verzerrtes Gesicht, als er sie freiließ. Sie hatte keinen Versuch gemacht, sich zu wehren.

„Warum?“ fragte er heiser, und das Lineal durchschnitt die Luft.

„Ich weiß es nicht,“ stammelte sie fast ohnmächtig, „ich weiß nur das Eine, ich kann nicht mit Ihnen sein – geben Sie mir mein Wort zurück!“

Das Lineal zerbrach mit lautem Krach auf der Tischkante. „Niemals!“ sagte er heiser, „hörst Du – niemals! Und wenn Du und ich daran vergehen sollten!“

Es trat eine lange Pause ein. Die wahnsinnigste Eifersucht packte ihn plötzlich. Sie stand da, so hilflos, sie erschien ihm so schön wie nie in ihrer zornigen Verwirrung. – Wenn er hier bleiben könnte! Es war, als treibe ein Dämon sein Spiel mit ihm – diese verdammte amerikanische Geschichte! Er faßte hastig in seine Tasche, dort steckte die Depesche, die fatale Depesche, er kannte sie auswendig; er hatte längst so etwas gefürchtet:

„Erfahre soeben, daß El. beabsichtigt, Sie in Deutschland aufzusuchen. Kommen Sie und ordnen Angelegenheit sofort.   C.“

Er mußte hinüber, es konnte ein Höllenspuk sonst werden, und er durfte Lore nicht mitnehmen, er mußte sie hier lassen. Er murmelte etwas Unverständliches und sah wieder nach der Uhr.

[135] „Na, Lore, nun sei vernünftig,“ sagte er einlenkend. „wir gehören nun einmal zusammen und werden uns einleben. Ich bin ein guter Kerl – wer weiß, ob Du mit dem andern glücklich geworden wärst. Was ist er denn? Was hätte er Dir geboten?“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen,“ unterbrach sie kühl.

„Na, den Herrn Doktor Ernst Schönberg, zum Donnerwetter! Hol’ ihn dieser und jener!“ polterte er.

„Ich verlange zu wissen, woher Sie erfahren, daß Doktor Schönberg mir nahe stand?“ sagte sie, den Kopf erhebend.

„Hm!“ Er zog langsam eine Brieftasche aus dem Jackett und nahm einen Zettel heraus und in dem sinkenden Tageslichte hielt er ihr das Blättchen, ihren Abschiedsgruß an den Geliebten, unter die Augen. „Eine Verwechslung wie im Lustspiel.“

„Und Sie lasen das, Sie wußten, daß ich ihn liebe, und Sie streckten dennoch die Hand nach mir aus?“ schrie sie verzweifelt und griff nach dem Papier.

„Oho!“ Er wich zurück und legte das Blättchen in sein Portefeuille, ohne in das von dunkler Scham erglühte Antlitz zu sehen. „Das ist werthvoll für künftig,“ sagte er gelassen. „Du weißt nun, woran Du bist, mein Schatz.“

Sie strich sich das Haar aus der feuchten Stirn. „Gut,“ sprach sie wie zu sich selbst, „so komme denn, was kommen muß!“

„Was heißt das?“

Sie zuckte die Schultern „Ich trage allein die Schuld,“ sagte sie dumpf.

„Siehst Du es ein? und siehst Du ein, daß Du kein Recht hast, solchen Blödsinn zu fordern, wie Du vorhin gethan?“

„Ich sehe ein, ich habe keinerlei Rechte.“

„Du gehst in Dein Hans, heute noch?“

„Ja!“

„Und wirst vernünftig?“ Sie antwortete nicht. Er wußte nicht, was er noch fragen sollte, er fürchtete sich vor ihren starren Augen. „Komm her, und gieb mir die Hand!“ sagte er befehlend.

Sie nahm ihr Kleid zusammen und ging an ihm vorüber zum Fenster. „Niemals!“ klang es in sein Ohr.

Niemals! Er verstand sie plötzlich und zuckte leicht die Schultern „Pah! – Weibergrillen!“ Er sah wieder nach der Uhr. Tausend noch einmal, er mußte eilen „Du könntest mich nach der Bahn begleiten,“ bat er, „es sähe doch wenigstens aus, als ob wir beide zusammengehörten.“

Sie hob unmerklich die Schulter und schwieg.

„Adieu!“ sagte er unsicher. „Vertrage Dich gut mit Mama. Verzeih, wenn ich heftig wurde, aber – da soll ein Lamm die Geduld nicht verlieren!“

Sie rührte sich nicht, sie wandte sich erst um, als ein paar Sekunden später die Thür krachend ins Schloß fiel. Dann stand sie auf und lauschte, wie er im Flur noch mit ihrer Mutter sprach; sie konnte nicht verstehen was, aber es klang ruhig und verbindlich.

„In vier Wochen bin ich zurück,“ scholl es jetzt, „trösten Sie unterdeß meine kleine Frau!“

Sie ließ den Arm sinken. „An unzerreißbarer Kette!“ flüsterte sie. „Ein Leben der Lüge, der Verstellung, des Elends!“ Und als der Schlitten fortgeklingelt war, da nahm sie Mantel um und Hut und lief im letzten Grauen des Wintertages hinaus nach dem Kirchhof. – Sie kehrte naß und fröstelnd nach einer Stunde zurück, sie hatte keinen Trost gefunden an dem stummen Grabe.

Rudolf kam just vom Bahnhofe, wohin er den Schwager begleitet hatte. „Ich soll noch einmal grüßen“ sagte er verdrießlich zu Lore.

Frau von Tollen sah ihn fragend an.

Er strich den Schnurrbart. „Essig! Er könnte sich doch nicht zum Bankier für die ganze Familie machen, erklärte er mir.“

„Lore,“ fragte die Majorin, „Du sprachst wohl nicht mit Deinem Mann über Rudolfs Angelegenheit?“

„Ich?“ erwiderte die junge Frau so empört, als habe man ihr eine Beleidigung zugefügt.

Die Majorin senkte den Kopf, der Lieutenant biß sich auf die Lippen. „Na, laß nur, Mama,“ sagte er, „ich muß wieder zum Juden; mag’s denn so lange gehen wie es geht –.“

Lore ging aus dem Zimmer; sie sagte, sie wolle die Lampe holen, kam aber nicht zurück. Als um acht Uhr der Wagen vorfuhr, der sie holen sollte, suchte man im ganzen Hause nach ihr, endlich fand man sie im Garten, in den verschneiten Wegen umhergehend ohne Tuch und Hut, mit Wangen, die wie im Fieber glühten. Und nun sollte sie fort aus dem Vaterhause, wirklich fort!

Mutter und Geschwister hatten sich zu dem einfachen Abendbrot gesetzt in der kleinen Eßstube, während sie sich Hut und Mantel holte. Sie trat dann zu ihnen und ihre Blicke flogen über den Tisch. Für sie war kein Platz mehr. Sie hätte ihr Leben dafür gegeben, hier sich niedersetzen zu dürfen und die Brotscheiben aus der Mutter Hand zu empfangen, wenn alles noch gewesen wäre wie sonst, in Noth und Kummer – und daneben die Hoffnung auf goldene Zeit.

Das kleine Dienstmädchen kam mit rothgeweinten Augen herein und fragte, ob die gnädige Frau noch nicht bereit sei. Der Diener behaupte, die jungen Pferde ständen so schlecht.

„Warum weinen Sie denn?“ fragte Käthe.

„Frau Majorin haben mir eben gekündigt,“ stotterte es.

Die alte Dame sah auf ihren Teller. „Ich kann sie doch nicht behalten,“ murmelte sie.

„Adieu!“ sagte Lore rasch mit fast heiserer Stimme. „Ich komme morgen wieder.“ – Der Lieutenant brachte sie an den Wagen.

Drinnen im Zimmer weinte Frau von Tollen, nur Käthe aß und trank. In ihr glühte und blühte es trotz Eis und Schnee, trotz des frischen Grabes da draußen auf dem Kirchhofe und trotz der Thränen der Mutter. Sie setzte sich, nachdem abgeräumt war, an den Tisch zur Lampe, hielt sich die Ohren zu und las mit glühenden Wangen. „Was liest Du da?“ fragte die Majorin aus alter Gewohnheit.

„Die Frithjofssage, Mama. Doktor Schönberg hat mir das Buch geliehen.“




Frau Elfriede Becker war über die plötzliche Abreise ihres Sohnes so erregt, daß sie ihr liebes Schwiegertöchterchen nicht selbst abholen konnte. Sie hatte sich auf eine Chaiselongue gelegt und Tante Melitta saß neben ihr und half ihr bei den Klagen über dieses dumme Geschick der armen jungen Leutchen.

Lore kam eben mit ihrem heißen Gesicht über die Schwelle in das wohldurchwärmte, sanfterleuchtete Gemach, in welchem es nach Patchouli und Baldriantropfen duftete; es schien ihr, als müsse sie ersticken, so hämmerte ihr das Blut in den Schläfen.

Frau Becker weinte ein wenig. „Ich habe die Tante Melitta holen lassen, Goldherzchen, damit es Dir nicht zu einsam ist beim Souper,“ klagte sie und reichte der jungen Frau die Hand. „Bitte, liebstes Fräulein von Tollen, sorgen Sie doch, daß es der kleinen Strohwitwe behaglich wird in ihrem netten Heim.“

Lore ging mechanisch hinter Tante Melitta her nach dem oberen Stock. Man hatte ihre Zimmer erleuchtet, die Jungfer war da, um ihr Hut und Mantel abzunehmen, der ganze Apparat einer reichen Häuslichkeit begann um sie zu spielen.

Tante Melitta saß unter einem riesigen Oelgemälde in schwerem Goldrahmen, ein Waldidyll darstellend, auf dem blaßblau und weiß geblümten, von lichten Silberfäden durchzogenen Atlaspolster und schwatzte in ihrer eintönigen Weise.

„Du siehst entsetzlich echauffirt aus, Lorchen, aber gelt, Du hast es doch superb hier oben. Sieh nur diese entzückenden Rokokomöbel, und wie sich der dunkelblaue Sammet reizend macht zu dem hellen Stoff – und wie graziös sind die Portieren aufgenommen! Weint die Mutter noch viel, Lore? – Ach Gott, es ist ja auch hart, und Leo war ein braver Mann, ich kannt’ ihn wie keiner, er war ja mein Bruder –. Das ist recht, Herzchen laß Dir warme Schuhe anziehen. Und sieh nur das Schlafzimmer,“ fuhr sie fort und folgte Lore, „auch ganz wundervoll! Es ist wohl Mode jetzt, daß es so dunkel gehalten wird? Eigenthümlich, dieses Roth – ist es das sogenannte Pompejanische Roth?“

„Kupfer heißt die Farbe,“ erklärte die Zofe, die das vom Tapezierer gehört hatte, und half ihrer Herrin in ein warmes Morgenkleid.

„Friert Dich, Lore?“ erkundigte sich Fräulein Melitta und befühlte die Schnitzerei der aus schwarzem Holze gefertigten, mit Gold inkrustirten Möbel.

„Ja, und ich habe so furchtbares Kopfweh.“

„Du siehst auch so roth aus, die Augen ganz verschwollen. Du solltest Dich bald nach dem Essen legen.“

„Ich will nicht essen, Tante.“

„Aber wir haben ja ein so nettes kleines Souper,“ klagte die alte Dame.

„Ich bitte, Tante, entschuldige mich bei Frau Becker,“ stammelte Lore. Ihr war so schwindlig, daß sie sich an dem geschnitzten Bettpfosten halten mußte.

[138] „Herr Gott, Kind, Du bist wahrhaftig krank!“

„Ja, Tante!“ Und sie sah auf einmal seltsam stier in dem Schlafzimmer umher. „Wo bin ich denn?“ flüsterte sie und sank auf den Teppich.

Das gewandte Mädchen hob sie empor und brachte sie zu Bett, während Tante Melitta lamentirend in den unteren Stock lief, um Frau Becker zu benachrichtigen, daß Lore ohnmächtig geworden sei. Der Arzt saß nach einer halben Stunde am Lager der jungen Frau und darum standen Schwiegermutter, Tante und Mutter.

„Ich komme morgen ganz früh wieder,“ sagte der Doktor, nachdem er Eisumschläge auf den Kopf verordnet, „ich kann heute noch nicht entscheiden, ob diese Ohnmacht der Vorbote einer Krankheit gewesen ist. Jedenfalls muß jemand bei der Patientin wachen. Die Alteration, meine Damen, über den Tod des Vaters und an solchem Tage – hoffen wir das Beste!“

Frau von Tollen wachte an dem prächtigen Himmelbette, in dem die junge Frau regungslos lag, die ganze Nacht hindurch.

Tante Melitta, die am andern Morgen kam, fand ihre Schwägerin eingeschlafen, Lore noch immer mit wachen starren Augen. Sie fragte flüsternd nach dem Ergehen, erhielt aber keine Antwort. Sie weckte die Schwägerin und eröffnete ihr im Nebenzimmer, Lore sei entschieden sehr krank, man müsse an ihren Mann telegraphiren. Frau Becker, die ebenfalls eintrat, meinte zögernd, die Depesche werde ihn nicht mehr erreichen.

„Aber man kann es doch versuchen!“ drängte das alte Fräulein, und Frau Becker willigte ein, es zu thun. Sie lief hinunter in ihre Räume, das Taschentuch in der geballten Faust.

„Dieses Geschöpf! Diese Ellen!“ murmelte sie, aber sie schrieb kein Wort an dem Schreibtisch, vor dem sie stand, sie zog aus dessen eben von ihr erschlossenem Schränkchen ein Päckchen zusammengebundener Papiere und nahm ein Bild heraus, eine Photographie, das Porträt einer Frau mit einem Kinde, eng an einander geschmiegt, unverkennbar Mutter und Sohn, so lieblich wie eine Blume neben der Knospe. Das Bildchen hatte wohl früher in einem Rahmen gesessen, man sah es noch an den Rändern, die verletzt waren. Sie betrachtete die Rückseite. „Lieber Papa,“ stand da mit den Krakelfüßen eines Kindes, dem die Hand geführt wurde, „ich gratulire Dir zum Geburtstage und bitte Dich, daß Du meine Mama und mich lieb behalten willst.“

Es war da ein Tropfen hineingefallen, der sicher aus den Augen der Frau stammte, die das Kind beim Schreiben auf dem Schoß gehalten hatte. Frau Becker fühlte nicht das Rührende dieser einfachen Worte, eine dunkle Zornesröthe überflammte ihr Gesicht. – War denn diese Person wahnsinnig mit ihren Ansprüchen? – Gott im Himmel, das hätte eine nette Geschichte werden können, wenn die hier hereinschneite, in diese kleine Stadt, wo jeder wußte, was der andere zu Mittag aß!

Die starke, hastig athmende Frau in dem schwarz- und weißgestreiften Morgenkleide, in das sie dem verstorbenen von Tollen zu Ehren – man konnte ja nicht anders, er gehörte nun mal zur Familie – schwarze Spitzenkrausen geheftet hatte, nahm das Bild und riß es mitten durch. – „So!“ sagte sie und warf es in den Papierkorb. Sie sah dabei so gehässig aus, als bedaure sie nur, mit den Kopien nicht auch die Originale vernichten zu können „Eine Lappalie! Eine Liaison wie alle jungen Männer sie haben! Nur seine Gutmüthigkeit war schuld, daß er – –. Mein Himmel, das kostet wieder einen schönen Groschen, um diesen Mund zu stopfen!“ Und sie schüttelte dabei das rothe ärgerliche Gesicht. „Natürlich!“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, die immer kreischender wurde, je liebenswürdiger sie klingen sollte, der Tante Melitta zu, die eben wieder eintrat, um zu fragen, ob die Depesche fort sei. „Ich habe sofort telegraphirt, liebstes Fräulein von Tollen – – ach Gott, wenn es nur nichts Schlimmes wird! Adalbert überlebte diesen Verlust nicht. Sie glauben nicht, Tollenchen, was für ein tiefes Gemüth mein Sohn hat. Er legte sich mit ins Grab, wenn sie stürbe –“

„Aber sprechen Sie doch nicht so etwas Gräßliches!“ wehrte das kleine Fräulein, und sie kauerte sich in einen Lehnstuhl am flammenden Kamin, trocknete sich die Augen und holte aus ihrer Tasche eine Unmasse schwarzer Läppchen und Fleckchen hervor. Sie nähte Trauerkleider für eine Puppenfamilie, und wie sie so dasaß und mit ihren verweinten Augen und dem vergrämten Gesichte, um das die Seitenlöckchen zitterten, sich mit ihrem kindischen Kram beschäftigte und dazwischen aus Herzensgrund seufzte, da sah sie so unendlich komisch aus, daß Käthe, die eben herein kam, um zu fragen, wie es der Schwester gehe, Mühe hatte, nicht zu lächeln.

„Sehr schlecht!“ riefen beide Damen wie aus einem Munde.

„Ach, Lore fiebert immer so leicht,“ sagte Käthe, sah aber doch ein wenig blaß aus ob dieser Nachricht.

„Fieber und Fieber ist ein Unterschied!“ erklärte Tante Melitta.

„Der Sanitätsrath machte ein so ernstes Gesicht,“ sekundirte Frau Becker und begann im Zimmer auf und ab zu wandern; sie war in gereizter Stimmung.

„Ich will hinaufgehen,“ sagte Käthe und verabschiedete sich. Sie kam durch die Wohnzimmer unhörbaren Schrittes bis in die Schlafstube und trat an das untere Ende des Bettes.

Die Kranke hatte jetzt die Augen geschlossen und lag völlig bewußtlos. Sie sah aus wie eine Sterbende, so verzerrt war das Gesicht in Schmerz und Qual. Langsam öffnete sie endlich die Augen und das erschrockene Gesicht Käthes erblickend sagte sie: „Ich bin nicht krank, mir thut nichts weh; nur müde bin ich, entsetzlich müde.“

Die Mutter, die eben wieder hereintrat mit einer Erfrischung für Lore, schickte Käthe fort.

„Geh’ nur heim,“ flüsterte sie, „sieh’, daß Rudolf etwas zu essen vorfindet und hilf ihm den Koffer packen, ich kann hier nicht fort.“ Und sie suchte in ihrem Kleide nach dem Portemonnaie und reichte der Tochter zwei Zehnmarkstücke. „Gieb ihm das, mehr habe ich nicht übrig, und grüße ihn!“




Doktor Schönberg saß in seinem Zimmer am Schreibtische und arbeitete. Es war noch dasselbe altmodische Möbel, das schon in seines Vaters Studirstube in der Oetzer Pfarre gestanden hatte, ein sogenanntes Cylinderbureau aus Mahagoniholz. Drüben an der Wand hing das Bild des Pastorhauses, uralt, mit moosbewachsenem Schindeldach und nach altsächsischer Bauart die zwei gekreuzten Pferdeköpfe am Giebel tragend, lugte es unter hohen knorrigen Eichen hervor, wie ein Idyll von Voß.

Er sah von dem Hefte, das er eben korrigirte, auf. Es lag ihm drückend schwer im Sinn, selbst bei der Arbeit spürte er die dumpfe Gegenwart des Leides, das ihn betroffen. Von dem Aufsatze über Cornelius Nepos flog sein Blick zu dem Bilde empor. Auf jener Schwelle da hatte er als Kind gespielt, und Sonntag abends waren die Mädchen des Dorfes unter den Eichen in langer Reihe, Arm in Arm, hin und her gewandert, die alten Liebeslieder singend, die sie von Eltern und Ureltern ererbt. Er hatte einmal Lore von der Poesie erzählt, die über dem kleinen weltfernen Pfarrhause lag, die in den Eichen rauschte, in seinem schattigen Garten lauschte und um die alten Hünengräber wob auf der „Wische“ hinter dem Dorfe. Ihre Augen hatten dabei so innig in die seinen gesehen.

„Ich führe Dich einmal hin in das kleine Dorf!“ hatte er stillschweigend gelobt, denn damals war noch kein Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden; aber sie mochte es wohl aus seinen Mienen gelesen haben, denn sie sagte:

„Ich möchte es sehen das alte Haus, in dem Sie als Kind gespielt haben. Es bleibt immer etwas hängen am Menschen von seiner Heimath.“

Er warf die Feder heftig auf das Schreibzeng, daß ein rother Tintentropfen wie ein Blutfleck auf dem sauber geschriebenen Hefte schimmerte, stand auf und ging vom Schreibtisch weg zum Ofen hinüber, in dem eben die letzte Gluth erlosch, und da strich er sich über die Stirn. Es war ja doch nun einmal so, sie hatte ihn verlassen! – – Wenn er beschreiben sollte, wie ihm die Wochen vergangen seit dem Tage, da er aus M. zurückkehrte und die Mutter ihn mit einem so merkwürdig fragenden Gesicht empfing, wie sie endlich mit zornbebender Stimme hervorbrachte, daß Lore von Tollen die Braut eines andern sei, wie er oben auf seinem Schreibtisch den Brief fand, der ihn in M. vergeblich gesucht hatte und schon seit zwei Tagen seiner hier harrte, und daneben die elegante Verlobungsanzeige – er wäre es nicht im stande gewesen.

Er hatte sich nicht entschließen können, Lores Brief zu öffnen; ungelesen war er in den Ofen gewandert. Was hatte sie ihm auch noch zu sagen? Womit sich zu entschuldigen? – Er wollte es nicht wissen; da lag die gedruckte Bestätigung ihres Treubruches, alles andere war überflüssig. Ja freilich, man mochte ihr zugeredet haben, sie hatte wohl auch gekämpft, aber – sie unterlag doch.

[149]
Doktor Schönberg rüstete sich zum Ausgehen, und dann ließ er doch die Hand sinken, die er nach dem Hute ausgestreckt hatte, um an den Stammtisch zu gehen, zum Abendschoppen, um die Gedanken zu bannen. Er dachte an den Wagen der gestern abend an ihm vorüberfuhr im Stadtthor; beim Schein der Laterne hatte er in dem Coupé Lore erkannt; sie kehrte vom Trauerhause heim zu ihrem Gatten.

Siedend schoß ihm das Blut zum Kopfe, er war seiner nicht mächtig vor Zorn und Weh und er hielt die Fäuste an die Schläfen und fragte sich, ob er es ertragen werde, das Leben, wie es jetzt vor ihm lag; ob es nicht besser sei, er mache ein Ende.

Hätte ich die alte Mutter nicht – flüsterte er. – Warum sich so ein Mädel nicht lieber ins Wasser stürzt als in die Arme dieses plumpen Gesellen? Und Lore – seine stolze Lore! – –

Eben wurde vorsichtig die braungebeizte niedrige Thür geöffnet. „Ernst?“ fragte die alte Frau. „die kleine Tollen ist schon wieder unten; sie bringt das Buch zurück, das Du ihr geliehen. Ich wollte es Dir nur sagen, weil Du gestern so böse wurdest, als Du hereinkamst und nicht benachrichtigt warst von ihrer Anwesenheit.“

„Laß sie doch,“ antwortete er, „sie meint es gut,“ und sein Blick flog nach einer kleinen Porzellanvase, in der ein welkes Sträußchen steckte; das hatte auf seinem Katheder gelegen, als er andern Tages, nachdem er von M. zurückgekehrt, in die Selecta der Mädchenschule trat, um die Litteraturstunde zu halten. In der Hausthür war er beim Schluß des Unterrichts mit Käthe von Tollen zusammengetroffen; sie stand da, als habe sie auf ihn gewartet; mechanisch hatte er den Hut gezogen, um an ihr vorüber zu gehen, und erst, als sie eine bittende Bewegung mit den gefalteten Händen machte, war er stehen geblieben. „Was wünschen Sie, Fräulein von Tollen?“

„Seien Sie mir nicht böse – ich kann ja nichts dafür,“ hatte sie gebeten mit thränenerstickter Stimme.

Dann war sie neben ihm hingeschritten, völlig stumm, über den Schulhof bis auf die Straße. Er erinnerte sich wenigstens nicht, daß sie noch irgend etwas gesagt hätte, nur die in Thränen schimmernden Mädchenaugen glaubte er noch zu sehen. Er hatte nie gewußt, daß Käthe von Tollen so sprechende schwarze Augen besitze.

Einige Tage später traf er Käthe im Zimmer seiner Mutter; sie hatte ihre Ausarbeitung gebracht, die sie vergessen in der Klasse abzugeben. Das junge Mädchen saß der Frau Pastorin gegenüber und hielt ihr Garn zum Wickeln. Er hatte sie [150] artig gegrüßt und war dann in sein Zimmer gegangen. Was hatte er noch zu schaffen mit den Tollens?

Sie war dann öfter zu der Mutter gekommen, deren Groll allmählich schmolz vor der Zuthulichkeit des Mädchens.

„Es ist doch was dran an der,“ uteinte sie, „die trägt die ganze Reue mit für ihre Schwester und möcht’s gutmachen; ’s ist all eins, das kann keiner, da muß erst viel Wasser vom Berge hinunter fließen, mein armer Junge; – aber sie hat doch den Willen.“

„Laß sie doch, sie meint es gut,“ hatte er ebenfalls gesprochen, und die alte Frau war es zufrieden und ging wieder hinunter in ihr Wohnstübchen.

Käthe saß heute an dem wachstuchüberzogenen Sofatisch, auf den ein großer Haufe Linsen geschüttet war, und las eifrig die schlechten heraus mit den schlanken weißen Fingern. Nun wandte sie den Kopf und ein Zug von Enttäuschung glitt über ihr Gesicht, als die alte Frau Pastorin allein eintrat und, sich aufs Sofa setzend, dieselbe Beschäftigung aufnahm. An der Stubenwand schwang sich der Pendel der schwarzwälder Uhr, in dem wunderlichen pyramidenförmigen Kachelofen glühte der Torf und leise zischten die Borsdorfer Aepfel in der Röhre, durch die Doppelfenster klang gedämpft das Abendläuten von St. Marien; dieselbe Glocke schwang da noch ihren Klöppel über der alten Stadt, die vor fünfhundert Jahren schon die Bürger gemahnt. „Feierabend! Feierabend! Laßt die Arbeit ruhen!“

„Es ist so hübsch hier,“ sagte Käthe plötzlich, „und bei uns ist es so leer, so öde, ich habe es nicht ausgehalten, ich bin zu Ihnen gelaufen – sind Sie böse?“ Sie war aufgesprungen und vor der alten Frau niedergekniet.

„Stehn Sie man auf, so wat mag ik nich liden,“ antwortete die Frau Pastorin, der „neumodische Exaltation“ gar nicht paßte. „Vor mir braucht kein Mensch zu knieen. – Wieso ist’s denn ‚öde‘ bei Ihnen? Sie haben Ihr oll Mutter ja doch, und die wird Sie jetzt so nöthig brauchen wie nie.“

„Mama ist bei Lore,“ antwortete Käthe leise, indem sie sich erhob und nach dem Fenster zu wies, „und Rudolf ist abgereist, ich habe mich gefürchtet mit dem dummen Dienstmädchen so allein –“

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und der Doktor trat ein. Käthe ward purpurroth, und dieses Erglühen machte ihr unregelmäßiges Gesichtchen mit den großen mandelförmigen Augen unbeschreiblich anziehend. Er blickte sie auch groß an, wie erstaunt. Sie erschien so mädchenhaft reizend in dem langen schwarzen Trauerkleide und der Schürze, die ihr seine Mutter geliehen, weil sie durchaus helfen wollte.

Er grüßte sie stumm, setzte sich an die freie Seite des Tisches und begann, wie in Gedanken, mit den Körnern zu spielen.

„Aschenbrödel?“ fragte er dann, mit einem Versuch zu scherzen, als Käthe ihre Arbeit wieder aufnahm.

„Ich mag das gern thun,“ erwiderte sie.

Er lächelte ein wenig. „Seit wann denn?“

Draußen klingelte es jetzt und über den Flur kam ein schlürfender Tritt. „Das ist die Krügern,“ erklärte die Mutter, und gleich darauf klopfte es und die Freundin der Frau Pastorin trat ein.

„Nun, laßt mich man erst verpusten!“ rief die kleine dicke Dame, die in Tuchmantel und Pelzkappe vermummt war. „Guten Abend, Pasterchen! Wie geht’s denn? Ist das ein Weg! So ein Glatteis habe ich doch noch nicht erlebt! Geh’ nur nicht hinaus, Du brichst Dir Arm und Beine. – Grundgütiger, das ist ja die kleine Tollen! Wie geht’s denn der jungen Frau Becker? Ist’s wahr, daß sie so krank geworden ist?“

Käthe nickte stumm und sah erschreckt zu dem Doktor hinüber; es war das erste Mal, daß Lores Name hier in ihrer Gegenwart genannt wurde. Aber der machte sich am Ofen zu schaffen, er hatte es wohl nicht gehört.

„Und der junge Ehemann hat so rasch abreisen müssen?“ fuhr Frau Krüger fort. „Nein, Kind – aber so eine Hochzeit! Das ist ja ein schreckliches Schicksal! Nun, reden Sie doch, was fehlt ihr denn eigentlich?“

„Sie hat sich erkältet,“ erwiderte Käthe kurz und band die Schürze ab. „Ich will jetzt gehen,“ fügte sie hinzu

Der Doktor hatte seinen Hut vom Stuhle genommen; er pflegte immer auszureißen, wenn seine Mutter derartigen Besuch bekam. „Wir gehen ein Stück des Weges miteinander,“ sagte er zu dem jungen Mädchen, das sich rasch verabschiedete.

Sie traten zusammen ins Freie, ein scharfer Nordost wehte und feiner Sprühregen, vermengt mit einzelnen Eiskrystallen, traf empfindlich die Haut. Der Schein, welchen die Lampe aus des Doktors Giebelfenster warf, spiegelte sich auf dem übereisten Pfade, den man durch den zusammengeschmolzenen Schnee geschaufelt hatte.

Er that ein paar Schritte voraus; dann sagte er, sich umwendend: „Sie können nicht allein gehen, es ist in der That sehr glatt. Geben Sie mir Ihren Arm, ich begleite Sie heim.“

„Ich will nicht nach Hause,“ erwiderte sie zögernd, indem sie trippelnd zu ihm herüber kam. „Mama würde es übelnehmen, wollte ich mich nicht nach Lore erkundigen, und – ich fürchte mich auch daheim. Danke, der Weg ist ja kurz, ich gehe allein.“

Sie war jetzt neben ihm, aber die Stiefelchen mit den hohen Hacken erlaubten kein sicheres Auftreten, sie mußte sich doch an seinem Arm halten.

„Ich werde Sie hinüber begleiten,“ sagte er, „bis zum Parkthor wenigstens.“

Sie ging jetzt ganz sicher an seinem Arm, obgleich ihr fast schwindelte. Es war keine lange Strecke; sie sah das Ziel, das geöffnete Parkthor, schon nahe vor Augen. „Gute Nacht!“ sagte sie zögernd, „ich will nicht, daß Sie mit hereinkommen – es thut mir so leid, daß es so ist, aber Lore – –“

Er blieb stehen. „Sprechen Sie nicht darüber,“ sagte er rauh, „es ist abgethan –. Aber ich sehe, Sie können nicht gut allein gehen,“ fügte er hinzu, als sie erschreckt schwieg, „ich werde Sie bis zur Hausthür begleiten.“

Es war das erste Mal, daß er auf Beckerschem Grund und Boden dahinschritt. Der Fahrweg zog sich in weitem Bogen um den verschneiten Rasenplatz; vornehm schaute es aus matt erhellten Fenstern in den schweigenden Winterabend hinaus.

„Ich wollte Ihnen ja nicht wehthun,“ sagte Käthe jetzt weinerlich.

„Ich bin überzeugt davon,“ entgegnete er. Und als er sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte, that sie ihm leid. „Weinen Sie nicht, Käthe!“ bat er und drückte ihr die schmale Hand. „Ich weiß, Sie nehmen theil an meinem Geschick. Sie und meine Mutter sind ja die einzigen, die es in seiner ganzen Schwere kennen, Sie sind ein guter kleiner Kamerad, ich bin Ihnen dankbar dafür.“

Sie standen da in dem eisig kalten Winde, neben ihnen stieg pyramidengleich ein Taxus empor, auf welchem der Schnee nur noch in einzelnen weißen Flocken lag, droben am Himmel jagten die Wolken, und ab und zu erschien der Mond, um gleich wieder zu verschwinden. Käthe hatte ihre Hand aus dem Arm des jungen Mannes gezogen und preßte das Tuch vor die Augen, während sie schluchzte, daß ihre ganze schlanke Gestalt erbebte.

„Und es ist alles so schrecklich und so schwer,“ stieß sie hervor. „Papa ist todt, und Mama hat soviel Sorgen. Und ausziehen müssen wir, und wenn ich mein Examen gemacht habe, dann gehe ich unter fremde Menschen und –“

Sie sprach nicht weiter, sie hörte auf zu weinen und nahm das Tuch vom Gesichte, indem sie an ihm vorüber sah mit den schimmernden großen Augen, so ergeben und müde, daß es zum Erbarmen war.

Er wußte nicht, was er antworten sollte. Erst, als sie aufs neue zu schluchzen begann, flüsterte er, während er die Schritte weiter lenkte. „Aber Sie haben ja reiche Verwandte, Fräulein Käthe, Sie haben Brüder, die –“

„Brüder?“ unterbrach sie ihn bitter.

„Und Ihre Schwester – Sie hatten sich doch so innig lieb.“

„Nicht einen Pfennig nehme ich von ihr!“ rief das junge Mädchen und warf stolz den Kopf in den Nacken, „nicht einen Pfennig! Ich kann ihn nicht leiden – ich –“ sie ballte die Hände zusammen.

„O – weshalb?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte sie und mit einer unbeschreiblich vornehmen Handbewegung setzte sie hinzu. „Gefühlssache! – Gute Nacht, Herr Doktor!“

„Gute Nacht!“ erwiderte er. Er stand noch ein Weilchen und sah ihr nach, wie sie die glasüberdeckte Auffahrt hinaufschritt und auf den Knopf der elektrischen Klingel drückte. Sie hatte etwas Bestimmtes, Stolzes in ihren Bewegungen, das flackernde Licht des Kandelabers streifte ihre schlanke Gestalt in dem kurzen ausgewachsenen Jäckchen und dem langen neuen Trauerkleide. Sie mußte größer sein als Lore, es fiel ihm erst heute auf.

[151] Er ging erst, als das letzte Zipfelchen des langen Kreppschleiers, mit dem der Wind spielte, in der geöffneten Hausthür verschwunden war. Ein wunderliches Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Was war aus diesem Kinde geworden! Wie wenig glich sie doch Lore, der demüthigen, echt weiblichen, reizenden, ach, und so charakterlosen Schwester!

Er lachte bitter vor sich hin. Lore hatte sich bei guter Zeit aus dem Elend geflüchtet in eine wohldurchwärmte sichere Behaglichkeit. Und sie war krank jetzt? Schwache Seelen unterliegen auch körperlich leichter – vielleicht hat sie doch am Sarge des Vaters die Reue erfaßt? Er mochte wunderlich gewesen sein, der alte Herr, einen Ehrenmann vom Scheitel bis zur Zehe hatte man doch in ihm begraben.

Nun, was ging es ihn an? Ihn, mit seinen achthundert Thalern Gehalt und seinem Fachwerkhäuschen, in dem die alten Ausstattungsmöbel der Eltern standen? – Lores schöne Gestalt hätte nicht hineingepaßt in diesen Rahmen, sie hatte das wohl selbst noch zeitig genug entdeckt. –

So rasch es die Glätte erlaubte, schritt er dahin und ein paarmal strich er sich über die Stirn. „Was geht es mich an?“ murmelte er, „ich kann nicht helfen!“ Er sah immer und immer Käthes großes Auge, wie es schmerzverloren an ihm vorüberschaute in eine farblose düstere Zukunft. Einige Minuten später trat er in die warme rauchgefüllte Gaststube und setzte sich zu den Herren, die am runden Mitteltisch ihren Abendschoppen tranken.

Der Sanitätsrath sagte gerade. Das ist mir noch nicht vorgekommen – gestern eine Temperatur von vierzig Grad und heute nachmittag ganz gesund und fieberfrei! Das sind diese weichen, beweglichen Frauenkonstitutionen, bei jedem Schreck, bei jeder Aufregung – Fieber, und in der Zeit von ein paar Stunden wieder obenauf wie das Fähnchen auf dem Thurme.“

„Es ist ihr aber auch arg mitgespielt worden, der kleinen Frau,“ lachte der Bürgermeister, „wenn der Ehemann von drei Tagen plötzlich nach Amerika muß.“

„Was will er denn in New-York?“ fragte ein dritter, „aus dem Geschäfte ist er, denke ich, heraus?“

„Man sagt so – wer weiß es denn? Sein Vermögen hat er drüben angelegt, meistens in Eisenbahnpapieren; auch Ländereien besitzt er,“ bemerkte der Bürgermeister.

„Was hatte er denn eigentlich für eine Branche?“

„Eisenbahnschienen!“ rief der Baumeister X.

„Gott behüte!“ verbesserte der Rathmann B., „er machte Shoddy!“

„Ich denke, er hatte eine Haarölfabrik: „Keine Kahlköpfigkeit mehr, nie dagewesener Erfolg!“ lachte der Apotheker.

„Er hatte ein Speditionsgeschäft,“ entschied der Bürgermeister, „ich denke es genau zu wissen.“

Ein junger Arzt, der sich erst vor kurzem in Westenberg niedergelassen, fragte, ob es wahr sei, daß Frau Elfriede Becker ein Stadtkind von Westenberg.

Der alte Bürgermeister lächelte. „Ja, ja, es stimmt. ihre Rosenzeit hat Frau Elfriede hier verlebt. Sie stammt aus den ‚Drei silbernen Hechten‘ und kredenzte den Kunden ihres Papas das Braunbier höchst eigenhändig.“

„Was?“ riefen ein paar Herren, „aus der Fuhrmannskneipe?“

Das Gesicht des Stadtoberhauptes lächelte verschmitzt. „Bildhübsch war sie, sag ich Euch, und hinter den Ohren hat sie es gehabt – so dick –“ er ballte die Faust – „und nebenbei einen Zug nach oben. Sie hätte so gern –“. er sah sich nach allen Seiten um – „den Landrath selber, damals war er noch Assessor, eingefangen. Der fidele Bruder hat sie denn auch gründlich an der Nase herumgeführt, bis er eines Tages an ihrem Fenster vorüberging, ohne sie zu grüßen, alldieweil er sich Tags zuvor mit Isabelle, Gräfin auf und zu Prebbenau, verlobt hatte. Da erhörte die schöne Elfriede in Wuth und Zorn noch am nämlichen Abend Herrn Johann Becker, denselben jungen Mann, der unter dem unmittelbaren Scepter des Herrn Assessors Akten schrieb und sie, die schöne Elfriede, schon längst im Herzen trug. Aber hier bleiben wollte sie nicht, man kann es ihr ja auch nicht verdenken, wenn man – so zu sagen aus dem Gerichtssaale in die Kanzlei hinunterfällt. Und da auch Herr Becker ein unzufriedenes Gemüthe war, so gondelten sie mit einander nach Amerika.“

Doktor Schönberg bestellte sich Bier und nahm die Zeitung vor. Was kümmerten ihn diese Sachen! – Er las den Leitartikel und schreckte erst infolge eines schallenden Gelächters der Herren empor. Der lustige Bürgermeister hatte gerade erzählt, wie der Herr Landrath vor kurzem seine alte Flamme am Klubabend zu Tische führen mußte, und wie herablassend Frau Elfriede sich die kleine spindeldürre Landräthin mit ihrem ewigen grünseidenen Kleide und dem vergrämten Gesicht betrachtet habe. „Ich wette, das war die Krone, das Tüpfelchen auf dem I von Frau Elfriedens Ehrgeiz, wenn es ihr nicht noch drüber geht, daß sie jetzt sagen kann: ‚Meine Schwiegertochter, die Geborne von Tollen,‘“ schloß er.

Doktor Schönberg trank sein Glas aus, bezahlte und ging. Er flüchtete wieder in sein einsames Zimmer; er war nicht imstande, dergleichen anzuhören.




Es war richtig, Lores Befinden hatte sich plötzlich gebessert. Mochte es ihre große Willenskraft sein, die das Fieber bannte, oder hatte wirklich nur die entsetzliche Aufregung sie in den Zustand versetzt – sie wachte nach einem kurzen Schlaf auf mit klarem Bewußtsein und schlief abermals ein. Frau von Tollen konnte am andern Mittag beruhigt nach Hause zurückkehren, und Lore saß in ihrem Boudoir und schaute in die Kaminflammen.

Freilich, sie war merkwürdig blaß und still; sie hatte keine einzige Antwort auf die theilnehmenden Fragen der besorgten Schwiegermutter, die in rauschender schwarzer Seide, mit Jetschmuck beladen und Spitzenbarben auf dem gefärbten braunen Haar, bei ihr erschien, nachdem vorher die Zofe angefragt hatte, ob der gnädigen Frau der Besuch der Frau „Mama“ erwünscht sei.

Ein leises Ja! und Nein! war alles, was Lore sprach. Aber die redselige Mama merkte das kaum. Sie erzählte gerührt von den vorzüglichen Eigenschaften ihres Adalbert, und welch große Verehrung er in der vornehmen Gesellschaft genossen. In New-York hatte sich ungefähr die ganze vornehme Welt der „fifth Avenue“ nach der Ehre gesehnt, ihn in ihre Familie aufzunehmen; aber er war ein so guter Sohn, er liebte seine Mutter so innig! „Eine Deutsche soll es sein,“ hatte er gesagt, wie seine Mutter; und da das Glück und die Sehnsucht dieser Mutter darin bestand, in Deutschland ihr Leben zu beschließen, so war er mit herüber gekommen. „Und nun hat er ja auch sein Glück hier gefunden. – Ach, Deutschland! Man fühlt doch erst recht, was es heißt, ein Vaterland zu haben, wenn man in der Fremde war. Du kannst es glauben, Kind, nie wäre Adalbert imstande gewesen, eine Amerikanerin zu lieben.“

Lore hatte während dieses Ergusses aus einem kleinen Beutel ein Häkelzeug genommen und begann zu arbeiten.

„Um Gottes willen, das darfst Du nicht! Es macht so nervös!“ schrie Frau Elfriede und riß der Erstaunten die Arbeit aus den Händen. „Für was denn? Laß doch andere häkeln; Adalbert würde außer sich sein, wollte ich’s dulden!“

Sie legte die Arbeit auf ein Zierschränkchen neben die reizende Kopie des „Nil“ aus dem Vatikan, die dort auf einem mit dunkelblauem Sammet bezogenen Sockel stand. „Der Berliner Dekorateur hat aber wirklich wunderbare Ideen gehabt,“ schrillte jetzt ihre Stimme wieder, „wie kann er nur diese Gruppe in das Boudoir einer Lady stellen! Wie, Lore? Das soll doch der Menschenfresser sein! – Diese armen kleinen Puttchen, die da so ahnungslos auf ihm herumkrabbeln – wirklich, man bekommt Herzklopfen, und dabei sieht das Monstrum so harmlos aus. Oh! Oh! It is tasteless, my darling – so etwas in Marmor zu verewigen!“

Die Augen der jungen Frau wurden einen Moment groß vor Staunen, und ein flüchtiges Zucken erschien um ihre Mundwinkel, dann senkte sie den Kopf. – Das war die Frau, in deren Gesellschaft sie leben sollte!

„Ich denke, wir speisen zusammen, bis Adalbert wiederkommt, liebes Kind,“ fuhr Frau Becker fort und betrachtete mit der Lorgnette das Oelbild über der Chaiselongue, „Du brauchst dann keine besondere Wirthschaft zu führen, und Sonntags können Deine Verwandten ja bei mir essen, Deine Mutter und die Kleine und Tante. Sie werden doch nicht gerade für täglich so sehr kräftig – so –“ Sie räusperte sich und betrachtete Lores alten Schreibtisch, der in die tiefe Fensternische gestellt war und auf seiner Platte alle die einfachen Sächelchen trug, die sie mitgebracht hatte aus ihrer kleinen Mansardenstube daheim. „Dear me, wie drollig, wie naiv,“ rief sie, „diese Mädchensachen! Ich hatte zu Anfang meiner Ehe auch noch immer derartige Souvenirs aus meiner Jugendzeit, aber man gewöhnt sich Sentimentalitäten so schrecklich leicht in Amerika ab. – Wirklich, allerliebste Nicknacks, [152] und wie komisch diese Schreibmappe! Hatte Dir Adalbert nicht eine aus Juchten geschenkt, darling? – Nicht? So werde ich es thun.“

Lore saß ganz still. Sie hatte keinen andern Wunsch als allein zu sein, aber das ward ihr noch lange nicht zu theil. Auch Tante Melitta erschien. Und als Lore den Wunsch aussprach, frische Luft zu schöpfen, da fuhr der Wagen vor und Frau Becker sank neben ihrer Schwiegertochter in die Atlaspolster und breitete die pelzgefütterte Decke über sich und sie aus.

Und Lore wäre so gern mit den alten derben Lederstiefelchen, die sie zu Hause im Wandschrank wußte, gelaufen und gelaufen, die einsamsten Wege, nur müde werden, allein sein – nur einmal ihn treffen und ihn bitten können, daß er sie nicht verachte, daß er Mitleid haben möge mit einer Geopferten.

Das war der einzige Gedanke, den die junge Frau jetzt noch hatte.

Als sie den Abend im Schnee des elterlichen Gartens umherlief, war in ihrem armen kranken Herzen der verzweifelte Vorsatz aufgetaucht, zu sterben; und dann hatte sie gemeint, sie müsse erst seine Verzeihung haben. Sie hatte ja Zeit, und wenn sie dieses Leben erst verließ am Tage vor der Rückkehr ihres Mannes, so war es früh genug. Erst mußte sie ihn noch sprechen, das gab ihr Kraft, das machte sie erfinderisch und stählte ihre Energie.

Sie ward erst nach und nach inne, daß man sie bewachte, daß jede ihrer Handlungen beobachtet wurde. Es war so merkwürdig, sie konnte keinen Schritt aus dem Hause gehen, ohne daß die Schwiegermama nicht auch zufällig denselben Weg nehmen wollte. Die unvermeidliche Dame begleitete sie zu ihrer Mutter, sie ging sogar in den Anlagen an klaren Wintertagen spazieren, als Lore das Fahren ablehnte, und pustete lächelnd mit lokomotivenartiger Majestät in ihrem mit kostbarem Pelz besetzten Sammetmantel und mit den Diamantohrringen, in welchen die Sonne funkelte, neben der schwarzen schlanken Gestalt her.

Anfänglich hatte Lore es so hingenommen, dann gingen ihr die Augen auf: ihr Mann hatte die Mutter beauftragt, sie zu überwachen!

Sie machte ein paar Probeversuche, in der Dämmerung verstohlen das Haus zu verlassen – vergeblich. Das eine Mal trat ihr die Jungfer auf der Treppe entgegen und erhob ein gewaltiges Lamento, daß die gnädige Frau im Dunkeln allein ausgehen wolle, das zweite Mal fand sie die vordere Gitterpforte verschlossen und als sie sich eben an den Gärtner wenden wollte, der hier am Ausgang sein Haus hatte, und dessen Frau es oblag, die Thür abends nach zehn Uhr zu schließen, kam Frau Elfriede in eilig übergeworfenem Pelz und Kapuze den Gartenweg entlang getründelt und war des Todes verwundert, ihren Liebling hier zu treffen. Sie wolle gewiß zur lieben Mama, und Frau Becker hatte just den nämlichen Gedanken, und warum sie’s nicht gesagt, Pferde und Wagen wären doch da? „Ach, und hier ist wohl zugeschlossen? Richtig – so weißt Du, Herzchen, ich gab den Befehl. – Bei der früh einbrechenden Dunkelheit und so ohne Herrn im Hause – bin ich – so ängstlich.“

Lore wandte sich stillschweigend um und schritt dem Hause zu.

„Willst Du denn nicht mit?“ schrillte es hinter ihr her.

„Nein,“ antwortete sie gelassen, „ich habe mit Mama allein zu reden.“

Sie verstand nicht, was man ihr nachrief. Sie saß oben in ihrem kleinen Zimmer und hatte die Hände geballt und funkelnde Zornesthränen in den Augen. Sie war thatsächlich zu einer Gefangenen gemacht worden. Eine ohnmächtige Wuth ergriff sie; sie hatte das Gefühl nie gekannt, sie erschrak vor sich selber. Und nun kam Frau Elfriede herauf, mit dem zuckersüßen Lächeln und ihrer gellenden Stimme.

„Ich habe den Wagen geschickt, daß er Deine Mutter hole; mein armes Mäuschen soll seinen Willen bekommen. Ich finde es ja so natürlich, daß Du mit Mutterchen so mancherlei zu besprechen hast. Wollt Ihr hier oben allein speisen? Gott behüte mich, daß ich störe. Du wirst doch so etwas von mir nicht denken! Macht es Euch recht behaglich. – Ich lese heute abend noch den Schluß des interessanten Romanes aus, weißt Du, wo der Graf seine Frau vergiften läßt durch poudre de riz; denke, diese Idee! Daß es so etwas giebt! – Aber mein Goldtöchterchen sagt mir doch ‚gute Nacht‘? – Auf Wiedersehen!“

Und sie küßte die junge Frau, ohne bemerken zu wollen, daß diese unartig hastig das Gesicht abwandte, und verließ das Zimmer.

Frau von Tollen kam nach einer Viertelstunde; sie sah blaß und aufgeregt aus. Als sie Lore auf der Chaiselongue erblickte, mit heißen Wangen und brennenden Augen, sagte sie nur: „Ach Gott, ich dachte es schon, Du bist krank, Lore.“

„Ich bin ganz gesund, Mama.“

„So? Dann konntest Du doch zu mir kommen, Lore! Ich habe Kopfweh heute abend, es ist ja auch kein Wunder.“

Lore schwieg und sah die Mutter an, die so matt in dem Stuhle lag und der die Sorge so tiefe dunkelbraune Ränder unter die Augen gemalt hatte.

„Den ganzen Nachmittag bin ich auf Wohnungssuche gewesen,“ fuhr Frau von Tollen fort und wies das Fläschchen mit Kölnischem Wasser zurück, das ihr Lore stumm hinhielt, „und habe nichts gefunden. Das Billige ist zu ordinär, wir können da nicht wohnen, und die besseren Quartiere sind infolge des Gerüchtes, daß Westenberg Garnison erhält, so gestiegen, daß ich ebenso gut wohnen bleiben könnte, wenn der Wirth nicht schon wieder gesteigert hätte. Nun war ich eben zu Hause angelangt und hatte die Schuhe ausgezogen und mich an den Ofen gesetzt, dachte Du müßtest zu mir kommen, da fährt der Wagen vor.“

„Bleib bei mir heute abend, Mama, ja?“ bat die junge Frau.

„Es geht nicht, Lore, Käthe weiß nicht, daß ich fort bin, und findet kein Abendbrot, wenn sie heimkommt.“

„Ich lasse es ihr sagen, wo ist sie denn?“

„Wo sie immer jetzt ist, bei der alten Frau Schönberg.“

Lore, die schon den Klingelgriff erfaßt hatte, wandte sich herum und schaute die Mutter an. „Bei Schönbergs?“ kam es stockend von ihren Lippen.

„Ja!“

„Und so oft?“ Sie befahl dem eben eintretenden Mädchen, den Diener hinüber zu schicken und Fräulein von Tollen zum Abendessen herüber zu bitten.

Wie kam Käthe dazu, täglich in das Schönbergsche Haus zu gehen? Lore schritt, auf Antwort sinnend, im Zimmer hin und her, während die Mutter ihre müden Augen durch den eleganten Raum schweifen ließ. Wenn sich doch Lore in ihr Los finden wollte, dachte sie – aber freilich, wer keinen Kummer hat, schafft sich welchen.

Käthe kam nach einiger Zeit, sie hatte rosige Wangen und leuchtende Augen, schien aber sehr ungnädig. „Was soll ich denn?“ erkundigte sie sich – „ah so, Mama ist auch da!“

„Ich will Dich etwas fragen, Käthe,“ sagte Lore, „komm einmal her!“ Und sie zog die Schwester in den angrenzenden, mit aprikosengelbem Plüsch dekorirten Salon, in welchem nur eine Lampe an dem Lüster brannte und die Temperatur um einige Grade niedriger war als im Boudoir, die junge Frau stand dort wie eine Schuldbewußte vor der Schwester. „Verstehe mich nicht falsch, Käthe, Du hast ihn jedenfalls jetzt oft gesehen – ist er sehr böse auf mich? Ist er sehr traurig?“ – Die Hand, mit der sie sich auf den Flügel stützte, der schräg im Zimmer stand, zitterte heftig, und die Augen hielt sie gesenkt. „Verstehe mich nicht falsch, Käthe,“ wiederholte sie, „Du bist ja meine einzige Vertraute.“

„Ich habe nicht mit ihm über Dich gesprochen,“ antwortete Käthe laut und öffnete das Instrument, um einige Töne anzuschlagen.

„So thue es noch, Käthe; sag ihm, er solle mir verzeihen, weiter wollte ich nichts auf der Welt von ihm – nur das.“

Die schlanke Mädchenhand griff einen falschen Accord. „Aber, Lore, das ist doch höchst merkwürdig, ich –“

„Es ist keine Sünde, Käthe, nein wahrhaftig nicht,“ flehte Lore, „ich begehe keinen Verrath, wenn ich seine Vergebung erbitte. Sieh, ich kann nichts anderes mehr denken, wie immer nur das; ich will ganz ruhig werden, wenn ich weiß, daß er mich nicht für zu schlecht hält. – Erbarme Dich doch, Käthe!“ –

Und als das Mädchen mit einem Ausdruck von Bedenklichkeit und Verwunderung schwieg, trat Lore einen Schritt näher. „Du thust es, Käthe, Du erzählst ihm, wie alles so gekommen ist, nicht wahr? – Ich weiß, das ist ja noch immer keine Entschuldigung für meinen Treubruch, aber ich war so geängstigt und so verwirrt – und der arme Papa und die Mama – ich weiß selbst nicht mehr alles – sag’s ihm und bitte Du für mich bei ihm – sag ihm, ich wolle nie seinen Weg kreuzen – nur nicht schlecht soll er von mir denken.“ Ihre weiche leise Stimme brach in Schluchzen [154] bei den letzten Worten. „Willst Du, Käthe, willst Du? Ach, sag doch ‚ja!‘ – Du weißt ja nicht, wie sehr ich ihn lie – geliebt habe,“ verbesserte sie sich weinend.

„Wie merkwürdig, daß Dir das jetzt plötzlich einfällt!“ sagte Käthe.

„Er hat meinen Abschiedsbrief nicht bekommen; statt dessen – es muß ihm ja völlig unverständlich sein, daß ich –“

Käthe hatte die Arme unter einander geschlagen und sah an Lore vorüber. „Wenn mal die Rede darauf kommt,“ sprach sie, „so kann ich vielleicht –“

„Nein, Du sollst nicht so lange warten!“ drängte Lore.

„Aber, ich – ich weiß nicht, ob sich das schickt,“ rief Käthe trotzig. „Ich will es versuchen, es ist aber doch so peinlich!“

Lore senkte den schönen Kopf; sie bat nicht mehr.

„Essen wir denn nicht bald, Lore?“ fragte die Schwester nach einer Pause, „ich bin recht hungrig, und um den Kartoffelpuffer bei Schönbergs hast Du mich auch gebracht; der Doktor und ich haben der Frau Pastorin so nett geholfen in der Küche beim Schälen und Reiben, das heißt, er nicht, er saß auf dem Küchenschemel und sah zu.“

Lore antwortete nicht; sie blickte starr gerade aus – sie sah die blitzblanke Küche vor sich und sie kannte den weißgescheuerten Küchenstuhl am Kachelherd. Sie hatte sich so tausendmal in Gedanken dort gesehen, schaltend und waltend und für ihn sorgend.

„Gnädige Frau, der Thee ist servirt,“ meldete der Diener und öffnete die Flügelthüren, die zu dem behaglichen Speisezimmer führten, das am entgegengesetzten Ende der Etage lag.

Sie saß dort mit Mutter und Schwester, fremd im eigenen Hause, am eigenen Tische. – –

[165]
Hast Du es ihm gesagt, Käthe?“ Das war die stehende Frage Lores, wenn die Schwester kam, und als ewig ein: „Nein es ließ sich nicht machen,“ erfolgte, fragten nur noch vorwurfsvoll ihre großen Augen, der Mund war verstummt. Käthe kam auch immer seltener, und seitdem Lore einen Brief des Bruders, der sich nochmal wegen Geld an sie wandte, ablehnend beantwortet hatte, zürnte ihr sogar die Mutter ein wenig.

„Mama,“ sagte verzweifelt die junge Frau, „siehst Du denn nicht ein, daß ich das nicht kann?“

„Ja, ja, es thut ja auch nichts!“ war die leise Antwort gewesen.

Und Lore hatte thatsächlich kein Geld. Das einzige, was sie besaß, war eine kleine Summe, die sie von dem Berliner Geschäft für eine Tischdecke erhalten hatte, ihre letzte Mädchenarbeit. Am Tage vor ihrer Hochzeit war das Geld noch eingetroffen, und es lag in ihrem Schreibtisch bei der Häkelnadel, mit der sie es verdient hatte. Hundertmal schon hatte ihr die Hand gezuckt, es der Mutter zu geben, und immer wieder ließ sie es liegen; es war ihr ein so beruhigendes Gefühl, etwas Geld ihr eigen nennen zu können.

Acht Tage vor Weihnachten erhielt sie den ersten Brief von ihrem Manne, die Dienerin brachte ihn auf silbernem Tellerchen, als die junge Frau frühstückte, und fixirte dabei das erschreckte Gesicht ihrer Herrin, die mit zitternden Fingern das Schreiben nahm. Als das beobachtende Mädchen, das sich ein Weilchen noch im Zimmer zu schaffen machte, gegangen war, legte sie den Brief uneröffnet vor sich hin, und so lag er noch, als Frau Elfriede möglichst geräuschvoll herauf kam, um sich zu erkundigen, was denn ihr Mignon für Nachrichten von dem Gatten empfangen habe. Lore nahm das Schreiben und öffnete es. Es war kein langer Brief, aber so süßlich zärtlich, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. „Er ist glücklich angekommen,“ sagte sie, das Schreiben zusammenfaltend, zur Schwiegermutter, die erwartend in der Fensternische stand.

„Hast Du schon fertig gelesen?“

„Ja! Er läßt grüßen.“ Sie zerpflückte langsam das Papier in lauter kleine Stücke und warf es in die Flammen des Kamins.

„Der gute Junge! Er muß geschrieben haben, als er kaum angekommen war in New-York,“ lobte die Mutter und zerknüllte ihr Taschentuch in der Hand vor Zorn. So wurde der erste Brief behandelt!

[166] Lore bemerkte es. „Ich bewahre niemals Briefe auf,“ sagte sie entschuldigend.

„Du mußt noch heute schreiben, wenn er den Brief zu Neujahr haben soll,“ schrie Frau Becker zurück, die in den Salon gegangen war, um nachzusehen, wo Lore die große Photographie des fernen Gatten placirt habe, welche die Mutter ihr gestern verehrt hatte, es war ihr unangenehm aufgefallen, sie nicht in Lores Wohnstübchen zu erblicken. Sie fand das Bild erst im dritten Raume, im sogenannten Empfangszimmer, da stand es verlassen in dem breiten geschnitzten Rahmen, den eine fünfzackige Krone schmückte, auf der gedrechselten Staffelei, und das große Männergesicht schien die Mutter ärgerlich anzublicken aus den hellen dreisten Augen.

Frau Elfriede warf erbost den Kopf zurück und rauschte wieder zu der Schwiegertochter hinüber.

„Hier war wohl kein Platz für Deines Mannes Bild?“ fragte sie scharf

Lore ward einen Schein bleicher. „Nein,“ sagte sie ruhig, „es ist tatsächlich kein Platz hier,“ und sie wies im Zimmer umher nach den tausend Dingen, die jedes Winkelchen ausfüllten.

„So laß das alte Gerümpel hinausschaffen, – da ist ja ein herrlicher Platz für die Staffelei, die das Bild trägt!“ Frau Becker wies verächtlich auf den Schreibtisch.

„Nein!“ erwiderte Lore ebenso ruhig, „ich bitte, lassen Sie das Tischchen hier, es ist eine Erinnerung an daheim.“

„Von daheim?“ rief die alte Dame, und der Zorn flog ihr roth um die brillantgeschmückten Ohren. „Es könnte freilich gut sein, eine Erinnerung vor Augen zu haben an die Hungerwirthschaft, aus der Du durch Gottes Gnade herausgekommen bist. Aber das vergißt sich freilich rasch genug, wenn man erst im warmen Neste sitzt, ebenso wie die Dankbarkeit, die man dem schuldet, der – –“

Lore blieb ganz ruhig. Sie thaten ihr nicht mehr weh, die scheltenden Worte der Frau.

„Ich habe den äußeren Glanz nie vermißt zu Hause,“ sagte sie, „und deshalb empfinde ich ihn auch nicht als Wohlthat. Ich wäre mit so viel weniger zufrieden.“

Frau Elfriede befand sich mitten im hellen Zorn, und der war noch das einzige Echte an ihr und erinnerte sehr an den Schenktisch der „Drei silbernen Hechte“. Sie trat unter einer ganzen Fluth von kräftigen Ausdrücken und landläufigen Redensarten gegen das alte Tischchen; das morsche Bein, das sie traf brach ab, und da das kleine Möbel das Gleichgewicht verlor, stürzten die Sachen und Sächelchen darauf mit rasselndem Gepolter zu Boden und flogen unter weiteren Fußstößen der erzürnten Frau in allen Winkeln des Zimmers umher.

Lore stand in der Fensternische, sie hatte die Zähne aufeinander gebissen und wendete sich nicht um. Sie durfte der Wüthenden nicht einmal gram sein: es war eine liebende Mutter und zürnte der, die so deutlich ihre Abneigung gegen den Sohn verrieth, dessen Gattin sie war. Die verletzenden Worte summten in ihrem Ohr wie ein Bienenschwarm, und hie und da stach eines bitter weh. Aber sie zuckte nicht, es war ja alles so gleichgültig, es würde vorübergehen, und dann kam Stille, ewige Stille – –. Sie wandte sich erst, als die zornige Frau in ein nervöses Schluchzen ausbrach und sich in einen Sessel fallen ließ.

„Verzeihen Sie mir,“ bat Lore, „ich kann mich so schlecht verstellen.“

„Das ist aber doch unerhört!“ schrie aufs neue die alte Dame; „das sagst Du da so selbstverständlich – was? – Der hätte noch andere bekommen können wie so ein Fräulein von Habenichts, deren Brüdern man die Schulden bezahlen muß, damit sie nicht als Strolche in der Welt umherlaufen! Das ist der Dank dafür, daß man sein gutes Geld noch Thaler für Thaler herschenken muß, damit die hochgeborne Frau von Tollen ihre Fleischerrechnung und den Schuster bezahlen kann!“

„Meine Mutter?“ fragte Lore und griff nach einer Stuhllehne, „meiner Mutter schenken Sie Geld?“

„Was soll ich denn machen, wenn sie mich anbettelt?“ gellte die Stimme der aufgebrachten Frau, „seit einigen Tagen ist’s der dritte Bettelbrief – da – hier – wenn Du es nicht glauben willst.“ Und sie wühlte in ihrer Tasche und zog eine Karte hervor mit schwarzem Trauerrand und warf sie vor der jungen Frau auf den Teppich. „Dazu ist bei Euch immer Geld im Kasten, so ein Luxus! Ob Ihr schwarze Ränder um die Karte habt oder nicht – aber das paßt so zu der ganzen Wirthschaft.“

Lore hatte den Brief angenommen und las:

„Liebste Frau Becker, könnten Sie mir nicht bis zum ersten Januar noch einmal zwanzig Mark leihen? Ich bin durch den Tod meines Mannes und durch die Heirath Lores, die auch so manche kleine Ausgabe verlangte, in einige Verlegenheit gerathen. Bitte, entschuldigen Sie, daß ich noch einmal so unbescheiden bin.
  Ihre Marie von Tollen.“

Lore war glühend roth geworden vor Scham. Sie hatte der Mutter abgeschlagen, für sie um Geld zu bitten, nun hatte diese sich offenbar in größter Verlegenheit heimlich an die Schwiegermutter ihrer Tochter gewandt.

„Wie viel haben Sie meiner Mutter geliehen?“ fragte sie.

„Na, vierzig Mark sind’s gut und gern –. Das ist natürlich in den Augen von Leuten, die nicht wissen, wie schwer es ist, einen Groschen zu erwerben, gar nichts – natürlich gar nichts!“ rief sie.

Lore war an das zusammengebrochene Tischchen getreten, hatte einen Schubkasten geöffnet und kam mit vier Zehnmarkstücken zurück. „Hier ist das, was Sie geliehen haben,“ sagte sie und legte es vor der erzürnten Frau auf die Platte eines Mosaiktisches; „ich bedaure, daß ich die Verlegenheit Mamas nicht in ihrem ganzen Umfange kannte.“

Das erboste Gesicht der Frau Elfriede verzog sich zu einem Lachen. „Reizend, wenn man in seinem eigenen Fett gebacken wird!“ schrillte sie, und so hysterisch, wie sie vorhin geweint, kicherte sie jetzt.

„Sie irren,“ sagte Lore kühl, „es ist das letzte Geld, welches ich mir durch meine Arbeit verdiente. Ich habe bis jetzt noch nichts aus den Händen dessen angenommen, dessen Namen ich trage.“

Sie ging an der heftig athmenden Frau vorüber in ihr Schlafzimmer und verschloß die Thür hinter sich. Dann trat sie an das Fenster und sah in den winterlichen Park hinaus. Dort hinter den Bäumen stand ein dicker Wolkendamm; auf einer hohen Pappel im Vordergrund saß ein Schwarm melancholischer Krähen – sonst gab es kein Leben in dem grauen Landschaftsbild, das sich vor ihr ausbreitete, so traurig und öde wie ihr Dasein.

„Nur ihn noch einmal sehen, und dann – dann – –“ Sie war sich bewußt, daß sie nach göttlichem und menschlichem Gesetz im Unrecht sei, aber so tief das religiöse Gefühl auch in ihrer Seele lebte, sie war nicht mehr im stande, sich hinein zu denken in die Pflichten ihrer Ehe. Sie empfand, daß es Rechte gebe, heilige Rechte, die über denen standen, durch welche sie an den Mann gekettet wurde, den sie nicht liebte. Und da ihr diese Rechte nicht mehr werden konnten, hatte sie fest beschlossen, eine Macht zu Hilfe zu rufen, vor der alles weichen mußte, Rechte, Pflichten, Macht – alles, alles. „Und dann – dann!“ flüsterte sie abermals.

Beten konnte sie auch nicht mehr; der Kopf war ihr so vollständig von dem einen ausgefüllt. Sie schlief schon seit langer Zeit nicht mehr ordentlich, sobald sie sich legte, hörte sie das langsame Ziehen und Glucksen des stillen kleinen Flüßchens hinter dem elterlichen Hause. Und an den Tagen, da sie zur Unthätigkeit verdammt war und allein am Kamin saß, malte sie sich aus, wie es sein werde, wenn man erführe, die junge Frau Becker ist todt, ertrunken! Sie malte es sich bis ins kleinste aus, sie wußte genau, was die Leute über sie sagen, wie jedes einzelne ihrer Geschwister sie beurtheilen würde. Sie sah das pomphafte Begräbniß vor sich, das der Gatte ihr weihen und Frau Elfriede im Kreise der Trauergesellschaft, wie sie mit ihrer schrillen Stimme wehklagen würde über das Unglück, das ihr Haus betroffen. Sie vermochte sich sogar vorzustellen, daß er in dem Trauergeleit gehe, nur bei einer stockte ihre Phantasie und ein Frösteln überlief ihren Körper – wenn die Reihe an ihre Mutter kam. Sie dachte immer und immer an das starre verzweifelte Gesicht der alten Frau in jener Nacht, als Rudolf nach Amerika gewollt –. Sie wünschte, sie könnte sie mitnehmen – –.

Den breiten Mittelweg entlang, der den Park durchschnitt, kam jetzt der Gärtner, er trug einen großen Tannenbaum auf der Schulter. Ach richtig, es wollte ja Weihnacht werden, und Frau Elfriede hatte von einem Baum gesprochen und von einer Bescherung in ihrem Salon.

Welch eine Komödie stand ihr da noch bevor! Ach, und wie traut und heimlich waren die gabenarmen heiligen Abende in [167] ihrem Elternhause gewesen! An letzter Weihnacht hatte ihr der Vater Immermanns „Oberhof“ geschenkt und ein Paar Handschuhe für das nächste Tanzfest, und die Mutter hatte für Käthe und sie aus einer langen Goldkette der seligen Großmutter kleine Halskettchen machen lassen; daran trug Lore das dünne Goldmedaillon, das Geschenk einer Pathin zur Konfirmation, und innen lag ein Vergißmeinnicht, das er ihr einst gepflückt hatte auf einer Landpartie. – Die Armuth ihres Vaterhauses erschien ihr als ein unrettbar verlorener goldener Hort. Ach, nur einmal noch – nur um acht Wochen die Zeit zurückwenden können!

Frau Elfriede pochte jetzt mit hartem Finger an die Thür. „Komm heraus, Lore, wir wollen uns ja nicht zanken!“ rief sie.

Die junge Frau ging hinüber und öffnete.

Die Schwiegermutter rauschte herein. „Ich bitte Dich, Kind, schreib Deinem Mann nichts darüber,“ sagte sie sanft. „Es ist ja wahr, ich bin heftig gewesen, – nun, wir sind allzumal keine Engel, und wo Menschen zusammenleben, giebt’s natürlich zuweilen Meinungsverschiedenheiten.“

Lore antwortete nicht.

„Und heute nachmittag begleitest Du mich wohl, um die letzten Weihnachtskommissionen zu machen, wir wollen dann auch die Kiste von Hertzog aus Berlin auspacken; die zurückgesetzten Kleider sind darin, die Geschenke für die Dienstleute.“

„Ich bedaure,“ erwiderte Lore, „ich gehe zu Mama.“

„Ganz recht – ich werde – –“

„Mama und ich haben allein miteinander zu reden; man wird mir doch nicht wohl verweigern können, ein paar Stunden im Hause meiner Mutter zuzubringen?“

„Ach Gott, wie Du alles mißverstehst!“ klagte Frau Elfriede, „ich will Dich nur hinbegleiten.“

„Danke, den Weg finde ich allein.“ Sie grüßte leicht mit dem kleinen goldflimmernden Kopf und schritt in ihr Wohnzimmer und begann dort die Sachen aufzulesen, die von dem mißhandelten Schreibtisch hinunter in alle Ecken des Boudoirs zerstreut waren.

Sie kam am Nachmittage ungehindert aus dem Hause und ging zu Fuß nach dem elterlichen Heim. Die Straßen erschienen ihr so fremd, als sei sie jahrelang abwesend gewesen. Die Leute sahen sie so neugierig an; hinter ihr wurden verschiedene Fenster aufgerissen. Das war ja aber auch, als wäre diese schlanke schwarze Gestalt nur noch das Gespenst von dem blühenden schönen Mädchen. Sie dankte auf die Grüße der Leute, aber sie neigte dabei kaum das Haupt. Sonst war immer so ein freundlicher Blick aus den sonnigen Augen dabei gewesen, jetzt sah das „toll hochmüthig“ aus. Na, die saß ja auch auf einem riesigen Geldsack!

Die Mutter hatte im Eßzimmer Feuer und saß schon bei der Lampe, sie rechnete und etwas Geld lag neben ihr. „Du bist es, Lore?“ fragte sie.

„Ja, Mama! Laß nur, ich setze mich hierher. Bitte, Mama leih’ Dir nie wieder Geld von meiner Schwiegermutter!“

Die alte Dame erschrak sichtlich. „Ach Gott, wenn ich nur andern Rath wüßte,“ stotterte sie.

„Verkaufe, was Du hast; aber leihe Dir dort nichts!“

„Ich hatte mir Lenz bestellt, er sollte Papas Garderobe kaufen; aber er giebt ja nichts.“

„Wir haben doch noch Silber, Mama?“

„Auch das soll ich hergeben?“ klang es schmerzlich.

„Ja! Ja, ehe Du bittest bei – bei –“ sie verschluckte das Letzte.

„Hat sie etwas gesagt?“

„Ja – frage mich nicht, Mama, und erfülle meinen Wunsch!“

„Es ist gut, Lore. Ich hatte nur gedacht – – ich kann ihr übrigens jetzt das Geborgte nicht zurückgeben.“

„Sei ruhig, Mama, ich habe es schon gethan. Wo ist denn Käthe?“

Frau von Tollen wußte es nicht; sie sei noch nicht aus der Klasse zurück. Im Ofen stand die kleine Kanne mit dem dünnen Kaffee, der des jungen Mädchens harrte, und auf dem Tische Butter und Brot.

Lore hatte den Mantel abgeworfen und sich in die Sofaecke gekauert; sprechen that sie nicht. Sie sah nur umher, und dann schnitt sie sich ein Stückchen Brot ab und begann zu essen. Sie hatte nicht theilgenommen an dem Mittagessen zu Hause.

„Wirst Du abgeholt?“ fragte die Mutter endlich.

„Ich weiß es nicht. Sprich doch nicht vom Fortgehen, laß mich doch hier!“

„Ich freue mich ja sehr, Lore, ich dachte nur – versteh’ mich nicht falsch –“

Sie blieben zusammen, bis es sechs Uhr schlug, kaum miteinander sprechend.

„Du bist so sonderbar jetzt, Lore,“ seufzte Frau von Tollen, als die Tochter aufstand und sich zum Gehen anschickte.

Aber Lore hatte es wohl nicht gehört, sie küßte ihre Mutter und verließ das Haus. Käthe war noch immer nicht gekommen.

Die junge Frau ging langsam durch die Straßen und athmete die schwere neblige Luft mit vollen Zügen, sie konnte träumen, sie sei frei in diesem Augenblicke. Das Coupé ihres Mannes rollte an ihr vorüber, sie sollte abgeholt werden; rasch bog sie in eine ganz schmale Gasse ein, in der kein Wagen fahren konnte. Ziellos schritt sie weiter, die Straßen auf und ab; zuletzt wieder hinüber in die Neustadt. Es war, als könnte sie nicht lange genug wandern. Sie sah zu allen Fenstern hinauf, wo Bekannte wohnten, und blieb sogar stehen gegenüber dem Hause einer verheiratheten Freundin, dort oben war Licht in dem traulichen bescheidenen Wohnzimmer der jungen Frau Doktorin, sie sah die Hängelampe schwanken und eine Frauengestalt mit einem Kinde auf dem Arme durch das Zimmer gehen. Dann kam eilig ein Mann auf dem schmalen Trottoir daher, er ging rasch die Stufen hinauf und in das Haus hinein. Bald darauf standen da oben Mann und Weib und herzten gemeinschaftlich das Kleine, das nun auf seinem Arme saß.

Es war achteinhalb Uhr, als Lore endlich ihre Schritte heimwärts lenkte. Aber sie blieb erst noch vor dem Schönbergschen Hause stehen und sah nach dem Giebelfenster hinauf. Sie würde hier selbstvergessen geweilt haben, wäre nicht plötzlich das Licht erloschen dort oben und hätte sich nicht bald darauf die Hausthür geöffnet. Raschen Schrittes ging sie über den Fahrdamm, und dort sah sie sich um. Im blassen Mondschein erkannte sie Ernst, der den Weg zur Stadt einschlug. – In ihren Augen glühte es auf, ihr Fuß hob sich, sie wollte ihm nach, wollte seine Hand fassen und ihn bitten: „Vergieb!“ Aber die alte mädchenhafte Befangenheit, brennende Scham und Angst fesselten ihre Glieder förmlich. Sie sah ihm nur nach mit Augen, in denen die Sehnsucht eines ganzen Menschenlebens lag. Endlich ging sie mit einem Gefühle von Schwäche und Verzweiflung weiter, zurück in das Haus und hinauf in ihr Zimmer. Sie sah so bleich und verstört aus, daß Frau Elfrieden die Bosheit auf den Lippen haften blieb, mit der sie die Heimkehrende im Vestibül zu empfangen gedachte.

Droben setzte sich Lore auf ihr Bett, und so saß sie, bis die Müdigkeit sie übermannte. Das Mädchen weckte sie am andern Morgen, als es zum Heizen kam, mit dem Rufe. „Um Gott, die gnädige Frau sind noch im Mantel und Hut!“




In den Hamburger Schnellzug stieg auf Station Uelzen ein Herr. Er war athemlos vom jenseitigen Perron, wo die hannöverschen Züge halten, herübergeeilt und schaute mit verdrießlicher Miene die Dame an, die bereits in dem Coupé saß, das ihm der Schaffner auf sein Verlangen geöffnet hatte. Das Donner und Wetter – nun konnte er nicht einmal rauchen! Er beugte sich aus dem Fenster und schrie mit mächtiger Stimme dem Kondukteur zu:

„Ich will ja kein Nichtrauchercoupé!“

„Entschuldigen Sie, mein Herr, der Zug ist ungewöhnlich stark besetzt,“ war die Antwort, „es ist eben Weihnachten.“

Der Herr murmelte irgend etwas und setzte sich, nachdem er das Fenster geschlossen, in der Ecke zurecht. Er war ein mittelgroßer Mann zu Ende der sechziger Jahre, mit einem richtigen bärbeißigen Soldatengesicht, aus dem ein Paar wunderbar heller Augen unter buschigen weißen Brauen hervorleuchtete. Er trug Krimmermütze und Pelz, und um den linken Aermel des letzteren einen schwarzen Wollstreifen als Zeichen der Trauer.

Nachdem er sich sorglich den Pelz über die Kniee geschlagen, zog er eine Zeitung hervor und begann zu lesen, während der Zug durch eine einförmige Winterlandschaft dahinjagte. Es war trübes, nebliges Wetter, die Sonne schien erst gar nicht versuchen zu wollen, mit den dichten, niedrig hängenden Wolken zu kämpfen. Der Schnee auf den Feldern war fast ganz hinweg gethaut, nur in den Gräben zur Seite des Schienenstranges lagen noch kleine schmutzige Reste desselben, und die Weiden schimmerten dunkelroth. Dazu wehte es von Westen her, es war ein eintöniges Brausen, das man so recht deutlich hörte, wenn der Zug einmal hielt.

[168] Die Dame in der andern Coupéecke saß regungslos. Ihr gegenüber lag in Decken und Plaids gehüllt ein Kind und schlief. Man sah von dem kleinen Wesen nur einen vollen Schopf goldblonder Knabenhaare. Die Dame, die einen einfachen Radmantel trug und eine kleine Mütze von einer sehr billigen Pelzart, sah starr zum Fenster hinaus, und der alte Herr, dessen Blicke zuweilen dort hinüberschweiften, fand an ihr weiter nichts Bemerkenswerthes, als schönes volles Haar von nußbrauner Farbe, das sie in einem englischen Knoten trug.

Es war merkwürdig, wie furchtbar der Wagen schwankte und stieß. Das Lesen erwies sich schier als unmöglich. Die Zeitung des alten Herrn flog auf den gegenüberliegenden Sitz, und er versuchte nun ein Schläfchen zu machen. Es ist unglaublich, wie sehr einem die Cigarre fehlen kann!

Er mochte wirklich so ein wenig geschlummert haben, als ihn der Klang einer Kinderstimme wieder in die Gegenwart rief.

„Sind wir noch nicht bald bei Papa, dear mama?“ hatte das Kind gefragt ist englischer Sprache.

Die Mutter erwiderte darauf flüsternd, es solle sich ruhig verhalten, der old gentleman da drüben schlafe. Und darauf kletterte ein reizendes Kerlchen von vielleicht vier Jahren auf den Schoß der Dame, die sorglich ihren Mantel um die zierliche Knabengestalt schlug, und nun entspann sich ein leises Gespräch zwischen Mutter und Sohn, von dem gleichwohl dem Lauscher in der Ecke keine Silbe entging. Es war das für den alten Junggesellen so süß zu hören wie das Zwitschern der Schwalben in sonniger Maienzeit. Seine Gedanken gingen zurück, sechzig Jahre und mehr, zurück bis zu der Zeit, wo er als ein ebensolches Bübchen auf dem Schoß der Mutter saß und geherzt und geküßt wurde, und – Donnerwetter – obendrein war Weihnachtsabend heute!

„Und ein Pferd soll Berti bekommen von Papa?“ fragte eben die schmeichelnde Kinderstimme.

„Certainly, my sweet heart."

„Und einen Tannenbaum mit vielen Bonbons?“

„Yes, o yes! Und Papa wird sein Kindchen so lieb haben!“ Und der Junge bekam einen Kuß als Vorgeschmack von vielen andern, die noch nachfolgen sollten heute.

„Mama, Berti ist so müde,“ klagte der Kleine, „und es rumpelt so in dem Wagen, es war besser auf dem Steamer.“

„Yes, darling; aber nun sind wir bald bei Papa.“

„Mama, kennt mich Papa noch?“

„O sicher! Aber kennst Du Papa noch?“

Der Kleine schwieg. „Yes!“ sagte er dann, „Papa hat Berti geschlagen.“

„Da war mein süßer Liebling wohl unartig gewesen?“ klang es um eine Nüance leiser, wie beklommen.

„Berti weiß es nicht,“ war die Antwort.

„Du sollst aber daran nicht denken, mein Liebling, nur wie gut Papa zu Dir war!“

„Ja, Mama! Mama, weinst Du? Mama, soll ich Dir etwas vorsingen? – Soll ich singen: ‚O Glockenklang, wie lieb’ ich Dich!‘?“

„Nein, ich weine nicht; Du sollst aber nicht singen jetzt, Du kannst lieber das deutsche Gedicht sprechen, das Du heute abend Papa aufsagen willst. Nun?“

Und die klare Kinderstimme hub ohne Säumen an:

„Zur Weihnachtszeit, zur Weihnachtszeit,
Da kam wohl von dem Himmel weit
Zu seinen Menschen her der Herr.
In einer Krippe schlummert er –“

Es klang unsagbar süß aus dem Munde des kleinen Ausländers, so schwer, und doch so weich und andächtig.

Der alte Herr saß plötzlich aufrecht; in den hellen blauen Augen schimmerte es feucht. Als das Kind geendet, sprach er seltsam hastig und polternd. „Madame, Sie haben einen reizenden Jungen! Komm’ her, Bursche, und gieb mir die Hand, sag’, wie Du heißt, Du Prachtkerl, Du!“

Mutter und Kind hatten sich umgesehen. Ueber das junge sympathische Gesicht der Frau mit den traurigen Zügen glitt ein Lächeln des Stolzes.

„Geh’, gieb die Hand!“ flüsterte sie.

Der Kleine glitt gehorsam vom Schoße der Mutter und legte seine Rechte ist die fremde Männerhand.

„He? Wie heißt Du?“ polterte der alte Herr.

„Berti!“

„So? Und –“ Der Herr wollte offenbar fragen. „Wie noch?“ – besann sich aber, als er die verlegene Röthe auf den Wangen der Dame sah, und fuhr fort. „Und zum Papa willst Du? Wohin denn, Du Stift?“

„Nach Westenberg,“ klang es eigenthümlich betont, das „We“ wie „Ue“.

„Potz Tausend – da fahren wir ja zusammen, Du Mordsjunge!“

„Sind Sie bekannt – in Westenberg, mein Herr?“ fragte die Dame.

„Na ja, so oberflächlich, Gnädigste, kann ich irgendwie dienen?“

„Wenn Sie mir ein Hotel nennen wollten, nicht so theuer, mein Herr.“

„Ein Hotel? Ich denke – –“ Er brach ab und betrachtete die Fragende mit ungeheucheltem Erstaunen.

„Eine Ueberraschung –“ flüsterte die Frau, roth werdend.

„Ach ja, ich verstehe, Pardon! Nun, da ist die ‚Krone‘, wo Sie gut aufgehoben sind, Gnädigste. Was billig und was theuer ist? – Wenn man von drüben kommt, ist ja alles very cheap hierorts.“

„Ich danke Ihnen,“ flüsterte sie und zog das Kind näher an sich, das noch immer am Knie des alten Herrn lehnte. Sie sah dabei mit scheuen ängstlichen Augen an ihm vorüber.

„Ja, ja!“ nickte der und hielt den Knaben fest, „ich hab’s an Ihrer Sprache gehört, Sie sind Amerikanerin, Madame; ich möchte fast behaupten Sie sind New-Yorkerin – habe ich recht?“

Sie neigte leise den Kopf.

„Na, freut mich! Ich habe also nicht umsonst zwei Jahre drüben in allen großen Städten herum vagabondirt,“ lachte der alte Herr. „Hatten Sie gute Ueberfahrt, Madame?“

„Sehr gute,“ klang es leise, indem sie den Kopf wandte.

Der Fremde ließ sie gewähren und unterhielt sich mit dem Kinde weiter, das er auf den Schoß nahm und dem er in Ermangelung von anderen Leckerbissen ein Stückchen Lakritzen schenkte, den er Hustens halber stets in einer Blechbüchse bei sich führte. Er schien plötzlich ganz wieder mit zum Kinde geworden und lachte herzhaft über jede naive Antwort, die der Kleine gab.

„Du Mordskerl,“ sagte er endlich, „Du mußt mich morgen besuchen. Hör’ zu, ich wohne in dem nämlichen Hotel wie Du; da fragst Du den Kellner: ‚In welcher Stube wohnt der Onkel Tollen?‘“

„0nkel Tollen,“ wiederholte der Kleine.

„Und da holst Du Dir einen heiligen Christ, willst Du? – Was möchtest Du wohl?“

„Ich bekomme ein Pferd von Papa,“ antwortete der Kleine, der augenscheinlich nicht wußte, was er außerdem noch wünschen könnte.

„Donnerhagel!“ schrie jetzt der alte Herr, „da sind ja schon die Thürme von Westenberg!“ Und er setzte den Kleinen zur Erde und nestelte sich den Pelz zu, den er während der Unterhaltung aufgeknöpft hatte.

„Madame, kann ich Ihnen dienen? Hier zu Lande giebt’s Hotelomnibusse, Sie gestatten, daß ich Sie hinüber geleite?“

Nach ungefähr zehn Minuten saßen die Reisenden in dem klappernden Omnibus und fuhren auf dem holperigen Pflaster in das Städtchen ein, dessen Gassen heute mit Küchenduft angefüllt waren, der aus allen Häusern quoll. Im Vorsaal der „Krone“ trennte man sich; die junge Frau schritt, das trippelnde Jungchen an der Hand, in den zweiten Stock hinauf, Excellenz von Tollen nach seinem geheizten Zimmer in der ersten Etage, das er auf telegraphische Ordre bereit fand; er bestellte sich Grog, eine halbe Flasche Rothwein und ein Beefsteak und beauftragte zugleich den Kellner, zu ermitteln, wer die fremde Dame sei, die eben mit ihm angekommen.

Der weißblonde Jüngling erschien bereits nach einigen Minuten wieder mit dem Fremdenbuch. „Belieben, Excellenz –“

Der alte Herr that einen Blick in das Buch und las da, von einer energischen echt englischen Hand geschrieben. „Missis Ellen Becker mit Sohn. New-York.“

„Hm!“ sagte er, indem er das Buch zurückgab, „so klug, als vorher.“ – Becker – was ist Becker? So heißen hundert Menschen, und tausend, sogar sein Liebling, die Lore, jetzt. Ja, zum Millionen Schock noch einmal, wo blieb das Essen?

Er ging nervös in dem kahlen Hotelzimmer umher.

[170] „Ein schrecklicher Gang, ein trauriger Gang; arme Marie! Und wenn ich wenigstens zum Begräbniß dagewesen wäre!“

Als das Beefsteak kam, war ihm der Appetit vergangen. Er nahm nur ein paar Bissen, trank den Grog, machte Toilette und ging dann nach der Wohnung seines verstorbenen Bruders.

„Das Nest ist noch gerade so,“ murmelte er und sah sich um. „Also dort hinunter geht’s?“

Er hatte sich vom Oberkellner die Richtung zeigen lassen, in der die Wohnung seiner Schwägerin lag, und schlug nun den bezeichneten Weg ein.

Es war noch ungewöhnliches Leben auf den Straßen; ganze Reihen grüner Tannenbäume standen an den Häusern entlang und wurden von alten Mütterchen und vierschrötigen Männern verhandelt. Da der Christabend auf einen Sonnabend fiel, drängten sich die Bauernweiber mit ihren Kiepen, noch eifrig feilschend, in den Straßen umher und erschwerten die Passage auf den schmalen Bürgersteigen. Die Leiterwagen standen in langer Reihe auf dem Fahrdamm, hier und da lenkte bereits ein heimkehrender Bauer sein Gespann durch das Gewimmel.

Der alte Herr beobachtete dies Weihnachtstreiben, als habe er noch nie dergleichen gesehen. „Hm!“ murmelte er unter dem weißen Schnurrbart. „Alles wie damals, als wäre es so stehen geblieben; es sind nun acht Jahre. Damals hatte ich beide Krabben mit mir; warte mal – die Lore war gerade fünfzehn, ist nun ’ne Frau, ’ne junge Frau – und der kleine schwarze Dachs, die Käthe – die – famos!“ entfuhr es ihm plötzlich. Ein elegantes Coupé hielt vor einem Laden, ein betreßter Diener wanderte dort auf und ab. Der alte General war ganz Auge für die prächtigen Rappen. Dabei bemerkte er nicht, wie ein junges Mädchen eilig an ihm vorüberschritt. Erst jetzt, im Weitergehen, sah er den zierlichen dunklen Kopf auf schlankem Halse, über all den bunten Tüchern und den Dickköpfen des Marktgewimmels schweben. Nun bog die graziöse, ganz schwarz gekleidete Gestalt, die dieses Köpfchen trug, aus der Menge, wand sich zwischen Wagen und Menschen über den Fahrdamm und lenkte in die stille Straße, die dort drüben mündete, ein.

Der alte Herr folgte ihr. „Sollte denn so etwas möglich sein?“ sagte er halblaut.

Sie war ihm schon weit voraus; er sah sie da unten in ein Haus verschwinden und faßte gleich darauf einen Westenberger Straßenjungen in Holzpantoffeln am Arm.

„Jung, wo wohnt die Frau Majorin von Tollen?“

Der Bengel wies auf jenes Haus.

[181]
Der General kam nach einigen Augenblicken an das bezeichnete Haus und öffnete die lautklingelnde Thür. Darauf trat aus der Küche eine kleine Frauengestalt, die, der Kälte wegen, ein schwarzwollenes Tuch um den Kopf trug und sich an einer großen blauen Leinenschürze eilig die nassen Hände trocknete. Der alte Herr hatte Mühe, in dieser ärmlichen Erscheinung seine Schwägerin zu erkennen.

Aber sie war schon auf ihn zugeeilt. Die Freude, den Bruder ihres Mannes wiederzusehen, der in ihrem Leben, ausgenommen in der letzten Angelegenheit mit Rudolf, immer die Rolle eines hilfreichen Engels gespielt hatte, färbte ihr bleiches Gesicht. Er kam sicher auch diesmal, Trost und Rath zu bringen. „Onkel! Du?“ rief sie und ergriff seine Hand.

„Meine arme Marie!“ antwortete er mild und erwiderte warm den Händedruck. „Ich wäre so gern früher gekommen, um hinter Leos Sarge mitzugehen; aber ich saß da drüben in Cairo. Ja, ja, mein alter guter Leo –“

Sie traten in die kleine finstere Eckstube, und während Frau von Tollen schluchzend auf einen Stuhl sank, zog er seinen Pelz aus und blinzelte mit den Augen und räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen.

„Na, nun fasse Dich, Marie, wir wollen jetzt mal von Deinen Verhältnissen sprechen, darum bin ich hier. Sag, wie es steht, und ob ich Dir irgendwie helfen kann! Erzähle nur los, alte Seele. Was habt Ihr denn noch zum Leben, und wie ist’s mit dem Schlingel, dem Rudolf, geworden? Wie hast Du Dir die Zukunft gedacht?“

Es war trostlos genug, was er nun in stockenden Worten zu hören bekam, so schlimm hatte er sich die Lage der Witwe nicht vorgestellt. Er saß an dem Tische, trommelte mit den Fingern der einen Hand auf der Platte desselben und zwirbelte mit der andern den weißen Schnurrbart. Ein „Hm! hm!“ entfuhr ihm zuweilen, das war alles.

„Na, nur nicht gleich verzagt!“ sagte er endlich, als Frau von Tollen bereits eine ganze Weile schwieg, „da muß man halt ordentlich überlegen, was geschehen kann. Ich werde mal mit dem Aeltesten sprechen und – apropos, die Lore, unsere reiche [182] Frau Lore – da heißt’s: ‚Alle Mann auf Deck!‘ – Wie geht’s dem alten lieben Gör, Du hast kein Wort von ihr gesagt? Ich weiß weiter nichts, als daß sie die Frau eines angesehenen reichen Mannes ist – so schrieb Leo noch, mich selbst hat der Racker seit einem Vierteljahr totalement geschnitten.“

Frau von Tollen schwieg und sah mit scheuem Blick an dem alten Herrn vorüber.

„Na? ’s ist doch wohl alles in Ordnung?“ fragte er mißtrauisch.

„O – ich denke – ja – aber willst Du nicht ein wenig frühstücken?“ Und die alte Dame lief an die Thür und rief trotz des Protestes nach Käthe. Ihr ward auf einmal himmelangst. Die Lore war ja der Liebling des Generals – wenn er sie jetzt wiedersähe in dieser Gemüthsverfassung? Wenn sie ihm Eröffnungen machte von dem Gang dieser ganzen Heirathsgeschichte? Der Alte wäre imstande, sie, die Mutter, zu erwürgen.

„Ich will nicht essen!“ schrie der General. „Kuckuck Sapperlot, ich habe bereits –! He, Marie, wo wohnt die Lore? Und was ist denn das eigentlich für ein Mann, den sie hat? Ist’s Passionsheirath auch von ihrer Seite, oder sollte das Mädel –? Ne, das glaube ich aber nicht.“

„Ach, Wilhelm, Du weißt ja, sie ist so eigenthümlich zuweilen –“

„Nun, davon habe ich bis dato nichts bemerkt, eine alte verständige Deern ist sie, soweit ich sie kenne.“

„Ja, ach ja, Wilhelm, aber – na, Du verstehst das nicht. Uebrigens, daß Tollen gerade an ihrem Hochzeitstag starb, das hat eine schreckliche Wirkung auf ihre Nerven gehabt; Du weißt, wie sie an dem Vater hing. Und nun kommt noch dazu, daß ihr Mann jetzt nach Amerika mußte und sie allein ist. Sie fängt ordentlich Grillen.“

„So? Na, da will ich doch aber nachher gleich ’mal hingehen. Ah, und da ist ja auch das jüngste Fräulein Tochter. Alle Wetter, Du Spatz, bist Du aber flügge geworden!“

Käthe war hereingekommen mit einer der wenigen Flaschen Wein, die noch im Keller vorhanden waren, und einem Tablett, auf dem ein Glas stand. Sie setzte beides rasch auf den Tisch und schlang die Arme um den Nacken des Generals.

„Ach, Onkel, wie schön, daß Du da bist! Nun wird alles gut!“

„Gut, Du Hexe? Was Du schmeicheln kannst! Sage ums Himmels willen, wie alt bist Du denn? Du siehst so aus, als könntest Du alle Tage heirathen!“

Er betrachtete wohlgefällig das frische Mädchengesicht mit dem kecken Näschen und den prachtvollen Augen. Die etwas vollen Lippen waren purpurroth und ließen ein Paar Reihen weißester Zähne sehen.

„I – daß Dich!“ staunte der alte Herr. „Na, komm, kannst mich zu Lore bringen.“

„Ach, Onkelchen, bleib doch noch ein wenig hier, wir sind ja so wie so bei Beckers eingeladen von sechs Uhr ab. Lore besucht uns auch noch möglicherweise im Laufe des Tages; ich habe ihr Coupé fahren sehen. Sie ist wahrscheinlich mit ihrer Schwiegermutter nochmals auf Weihnachtskommissionen.“

„So? So? Dann freilich! Den Wagen habe ich auch gesehen. – Aber das sage ich Dir, vor sechs gehe ich hin, bis Ihr alle mitkommt, warte ich nicht. Nun bring mir mal Feuer für die Cigarre und dann ruf die Mutter wieder, sie soll mir erzählen von Leo, auf den Kirchhof gehe ich morgen.“

Frau von Tollen kam, und der General sagte nach einer Weile Hin- und Herredens. „Höre, Schwägerin, was nun die Verbesserung Deiner Existenzmittel anbetrifft, wie wär’s, wenn Du möblirte Zimmer vermiethetest? Du hast ja doch die Möbel, und es ist schließlich bei Deinem Gesundheitszustand das Angenehmste und Leichteste. He? Was macht Ihr denn für Gesichter? - Ja, Du lieber Gott, Kinderchens, die gebratenen Tauben fliegen einem heutzutage nicht mehr ins Maul, und es ist dem Schicksal sehr egal, ob Ihr Frau und Fräulein von Tollen seid oder nicht. Hier ist die Frage: ‚Leben mit – oder ohne Hunger?‘ Ich kenne noch andere Leute wie die Tollens, die in Berlin auf diese Weise existiren und doch bleiben, was sie sind.“

Er erhielt keine Antwort. Ueber das Gesicht der alten Dame rollten große Thränen.

„Onkel“ sagte Käthe, „wir gehen nicht gern fort von hier, weißt Du, Papa liegt hier begraben und Lore ist hier –“

Sie ward nicht einmal roth bei dieser Lüge: sie dachte an Ernst Schönberg dabei.

„Dummes Zeug! Dann bleibt hier! Westenberg bekommt ja möglicherweise Garnison, da geht’s hier auch schließlich. Wieder nicht recht?“ setzte er ärgerlich hinzu „Ja, meine gute liebe Marie, daß Du von Deiner Pension nicht leben und außerdem noch den Lieutenant in Zulage erhalten kannst, das wissen wir ja, weshalb Du aber meinen Vorschlag so kühl aufnimmst, verstehe ich nicht. Ich – habe kein Vermögen.“

Die Damen sahen ihn ungläubig an und schwiegen.

„Ich habe kein Vermögen,“ wiederholte er und die Röthe eines ehrlichen Aergers schoß ihm ins Gesicht. „Ich – ich – Du meinst wohl, Marie, weil Leo die Heirathskaution stellen konnte, besitze auch ich dieses Kapital, weil wir ja Brüder? Ich –“

Er verstummte, sprang auf und trat ans Fenster; seine Gedanken flogen zurück in die Vergangenheit. Damals – er war ein junger Hauptmann, und er lebte solid wie ein Philister, das heißt er spielte nicht und hatte sonst keine kostspieligen Passionen. Da war eines Tages der Leo, der mit ihm in einem Regiment als Lieutenant stand, in seine Wohnung gekommen und hatte ihm in heller Verzweiflung erzählt, daß er sich von dem Vater seiner heimlich verlobten Braut einen ziemlich hoffnungslosen Korb geholt habe. Grund: das mangelnde Vermögen. Die Braut besaß nichts, Leo nur sechstausend Thaler, soviel wie er.

Er hatte hin und her überlegt, er konnte eine ganze Nacht hindurch das bekümmerte Gesicht des Bruders nicht loswerden und meinte immer, die niedliche Braut schluchzen zu hören um ein verlornes Glück. Da machte er sich am andern Morgen auf, suchte den Bruder auf dem Exerzierplatz und theilte ihm mit, daß er, da er ja Hauptmann sei und doch nicht heirathen werde – nein, sicher nicht, denn die eine, die er gewollt, sei ihm verloren – das kleine väterliche Erbe im Grunde gar nicht brauche. Der Leo möge nur darüber verfügen, dann sei es doch zu was nütze, das bißchen Mammon – nämlich, ein paar Menschen zum sogenannten Glück zu verhelfen, indem es das Kommißvermögen vervollständige. Und Leo hatte es genommen und hatte geheirathet. – Ob die Frau dort eine Ahnung davon besaß? Die Kinder jedenfalls nicht, sonst hätte wohl der Schlingel, der Rudolf, in seiner Geldnoth ihn nicht so unverschämt an Schätze gemahnt, die er auf der Reichsbank liegen haben sollte. Unverschämter Bengel!

„Ich habe thatsächlich kein Vermögen!“ sagte er jetzt zum dritten Male, „ich hätte z. B. dem Rudolf nicht helfen können, selbst wenn ich gewollt, aber – ich hätte es auch nicht gethan. Nein, nein, guckt mich nur nicht so an! Ein Mensch, der so gotteslästerlich leichtsinnig ist wie der Schlingel, der mit Behagen seinen Sekt schlürft und doch genau weiß, mit jedem Schluck entzieht er seinen armen Eltern, seinen Schwestern, einen nothwendigen Groschen – mit so einem habe ich kein Mitleid, keins! Wollte Gott, er hätte das Geld zu seinem Arrangement nirgend geborgt bekommen, es ist doch nur eine Galgenfrist.“

Der alte Herr hatte sich in Hitze gesprochen, nun that es ihm leid, als er die verweinten Augen der Schwägerin sah.

„Na, laß gut sein, Marie!“ sagte er weich, „ich helfe Euch, soviel ich kann, meine Pension ist ja ziemlich reichlich. Aber auch Ihr müßt die Hände rühren, Kinder. Ich sage Euch, Arbeit ist ein Gottessegen, ein wahrer Gottessegen. Aber nun –“ er zog die Uhr – „gehe ich doch zu Lore.“

Frau von Tollen trocknete sich die Augen. „Du weißt nicht, Wilhelm, wie alles so schrecklich war mit dem Rudolf, und Du weißt nicht, wie eine Mutter an ihrem Kinde hängt.“

„Freilich nicht aus Erfahrung,“ antwortete er gutmüthig, kann’s mir aber vorstellen. Ein Mutterherz soll aber nicht bloß an so einem hübschen Bengel hängen, es soll gleicherweise auch der andern Kinder gedenken, die ohnehin schon das Unglück haben, Mädels zu sein, arme Mädels. Na, nichts für ungut, Marie, Ihr seid einmal so. Je wilder und nichtsnutziger so ein Junge ist, desto verliebter seid Ihr in ihn. Käthe hat’s doch nicht gehört? Na, Gott sei Dank! Nein, die hat sich vor meinem Lärm geflüchtet. Adieu, Marie, auf Wiedersehen!“




Lore hatte es abgelehnt, mit ihrer Schwiegermutter auszufahren. Sie saß oben in ihrem Zimmer, blickte in den Garten hinaus und kümmerte sich kaum darum, daß alle Augenblicke Tante Melitta in ihr Boudoir trat und irgend etwas Wichtiges zu melden hatte. Eben erschien sie wieder mit einem Tellerchen voll Gebäck.

[183] „Nein, ich begreife nicht, Lore,“ rief sie, „daß Dir diese Vorbereitungen keinen Spaß machen! Du solltest nur sehen, wie reich die Tafel bedeckt ist mit Gaben für die armen Kinder. Und der Baum! Da sind auch die Makronen aus dem Ofen gekommen, bitte – koste einmal, – nach dem altbewährten Tollenschen Rezept. Denke Dir, wie rührend von Deiner Schwiegermutter. Käthe bekommt einen neuen Wintermantel. Das Mädel sieht auch gar zu spökerig aus in dem alten Jäckchen; na und was für Dich alles da ist, – Lore, ich sage gar nichts, nur soviel – Du hast einen rührenden, einen opulenten Mann. Willst Du nicht eine Makrone nehmen?“

Lore dankte und zog fröstelnd das Tuch fester um die Schultern.

„Na, dann verzeih; ich muß wieder hinunter.“

Die junge Frau holte sich eine Häkelarbeit, aber die lag bald vergessen auf der Fensterbank. Sie nahm eines der Bücher im weißen goldgepreßten Ledereinband aus dem zierlichen Bibliothekschränkchen. Es waren die Gedichte von Burns. Sie blätterte darin und wußte selbst nicht, was sie las. Dann blieben ihre Augen an einer Stelle haften:

Versprich mir Treue, Marie,
Gieb mir Deine weiße Hand,
Und schwöre mir Treue, Marie!

Wir haben’s gelobt, Marie,
Vereinigt ist Geist mit Geist,
Und Fluch sei dem Augenblicke,
Der uns von einander reißt.

Da waren sie wieder so lebendig vor ihren Augen, das Flüßchen, die Birke, der Herbstabend, als auch sie ihm Treue gelobte. Ja – und verflucht war sie gewesen von dem Augenblicke an, da sie sie brach, und sie würde es bleiben, solange sie athmete. Es gab keine andere Hilfe, als – –

Sie stand plötzlich auf, das Buch fiel zur Erde. Es ist ein fürchterliches Gesetz, das zwei Menschen an einander schmiedet wie Galeerensklaven. Es erfaßte sie, die Aristokratin, eine zitternde ohnmächtige Wuth gegen Ordnung und Obrigkeit. Und gleich darauf schlug sie die Hände vor das Gesicht – bis zu welchen irren Gedanken würde ihr krankes Herz sie noch führen? – Vorhin war eine Depesche an sie gekommen mit der Nachricht, daß ihr Gatte bereits am siebenundzwanzigsten Dezember die Rückreise wieder antrete, und daß sie vom achten oder neunten Januar ab in Hamburg seiner warten solle. – –

Er sollte warten, vergeblich warten, immer, immer! Wenn nur erst der heutige Tag vorbei wäre – –.

Die Mittagsstunde rückte näher; Fräulein Melitta lächelte abermals herein. „Ich begreife nicht, wo Deine Schwiegermutter bleibt!“ rief sie, „bist Du nicht auch verwundert? Seit zehn Uhr fährt sie in der Stadt umher; sie hat zwar zwölf arme Familien zu besuchen, aber – –“

Lores Jungfer trat ein. „Gnädige Frau, ein Herr wünscht Sie zu sprechen.“

Lore nahm die dargereichte Karte vom silbernen Teller, dann fuhr sie vom Stuhl empor. „Der Onkel,“ stammelte sie, „Onkel Wilhelm!“ Und im nächsten Augenblick war sie an Tante und Dienerin vorübergeeilt, und ein leiser in Thränen erstickter Aufschrei. „Ach, Onkel, Du?“ scholl zurück.

Als das alte Fräulein ihr nacheilte, fand sie die schlanke Gestalt Lores halb bewußtlos in den Armen ihres ältesten Bruders, der ganz verwirrt über das Aussehen und Gebaren seines Lieblings weiter nichts zu sagen vermochte, als: „Kind – Lore – was ist aus Dir geworden!“

Sie faßte sich gewaltsam und zog ihn mit zitternder Hand nach ihrem kleinen Boudoir. Dort blieb sie vor ihm stehen, seine beiden Hände noch immer festhaltend, und sah ihn an mit den blauen Augen, die so angstvoll aus dem schmalen Gesicht blickten. „Onkel,“ sagte sie, „Du kommst zu spät – –“

„Was denn, mein Lorchen, was denn?“ fragte er verwirrt.

„Ach, laß nur, Onkel, es ist Unsinn, was ich da rede, Du hättest ja auch nicht helfen können. Setze Dich, Onkel, ich bin so dankbar; es ist doch eine Freude, eine, am heutigen Tage.“

Er setzte sich, ohne ein Wort zu erwidern und sah sie unverwandt an. „Lore,“ fragte er endlich, ohne sich um die Gegenwart Tante Melittas zu kümmern, die auf der Chaiselongue saß und schluchzte, „Lore – bist Du – Du bist doch nicht –?“

Tante Melittas Schluchzen verstummte vor dem unruhigen Gebaren des alten Herrn. „Aber Wilhelm,“ sagte sie vorwurfsvoll, „was hast Du denn?“

Die junge Frau reichte ihm die Hand herüber. „Onkel, erzähle, wie es Dir ergangen!“

Er übersetzte es sich: Laß nur, es ist alles gleich. Frage nicht, ich muß mein Schicksal tragen. – Er öffnete den Mund zu einer Frage, aber er verschluckte sie, denn eben rauschte Frau Elfriede, die Wangen blauroth vor Kälte, ins Zimmer, und begrüßte „Seine Excellenz“ mit einem solchen Aufwand von Worten, daß es ihm unmöglich ward, auch seinerseits etwas vorzubringen. Er betrachtete von seiner stattlichen Höhe herunter die aufgeputzte kleine Person, und ein Anflug ironischen Lächelns zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe.

„Und Excellenz verleben den heutigen Tag bei uns?“ Frau Elfriede schmolz fast, als sie dies mit süßestem Lächeln flötete. „Lorchen, Kind, Du mußt es ja wissen – liebt Se. Excellenz ein Sprungfederbette oder eine Roßhaarmatratze? Die Herren Offiziere sind so eigenthümlich mit ihrem Lager. – Es versteht sich von selbst, daß Excellenz mit Lorchens bescheidener Logirstube vorlieb nehmen. Friedrich soll die Effekten Sr. Excellenz sofort aus dem Hotel holen.“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ lehnte der General ab, „es ist ein Grundsatz von mir, ich wohne niemals in einem Privathause.“

„Aber Wilhelm, Du verdirbst Lore die Freude am ersten Gast in ihrer reizenden Häuslichkeit!“ rief Tante Melitta.

„Lore, Du nimmst’s nicht übel, – ich danke, gnädige Frau.“

„Nein, Onkel!“ erwiderte Lore.

„O, wie bedaure ich das,“ klagte Frau Elfriede, „aber ich will eilen, um zu sorgen, daß die Herrschaften bald etwas zu essen bekommen. Auf Wiedersehen! Liebstes Fräulein von Tollen, o bitte, auf einen Augenblick!“

Tante Melitta lief wichtig hinter Frau Becker her. Es herrschte jetzt eine fast beängstigende Stille in dem kleinen Gemach, in dem sich Onkel und Nichte ganz allein gegenüber saßen.

„Gott soll mich schützen!“ dachte der alte Herr. Er war gar nicht imstande, Lore jetzt anzusehen, er meinte, ihr feines Gefühl schäme sich dieser alten ordinären Schachtel, die ihre Schwiegermutter hieß. „Lorchen,“ fragte er endlich, „Du siehst elend aus, und Deine Mutter meinte, Da seist so sonderbar geworden; hab mal Vertrauen zu mir – stimmt hier nicht alles?“

„Doch, Onkel, doch!“

„Hm!“

Sie schwiegen wieder, man hörte nur das leise hastige Ticken der kleinen Uhr. Lore sah so aus, als wollte sie bitten: „Wozu denn, Onkel? Du kannst mir auch nicht helfen.“

Dem General that das alte ehrliche Herz in seiner Brust mächtig wehe. Was war aus dem Mädel geworden? Und er war doch höllisch ungeschickt, er wußte nicht mal, wie er es anfangen sollte, zu erfahren, ob sie unglücklich war über des Vaters Tod, oder gar – hm –. „Es ist hart, Kind, daß Du gleich so Bitteres erfuhrst im Anfang Deiner Ehe.“

Sie nickte. „Wo traf Dich denn die Todesnachricht?“ fragte sie dagegen, und als er sagte. „In Cairo,“ da begann sie hastig zu fragen nach seinen Reisen; er war kaum imstande zu antworten, so forciert, so nervös klang es. Sie dachte dabei ganz anderes; aussprechen möchte sie sich gegen ihn, die Last von ihrer Seele wälzen, aber – würde er sie verstehen?

Sie ging dann an seinem Arm hinunter nach der Beletage in das Speisezimmer der Schwiegermutter.

Die alte Dame hatte der „Excellenz“ zu Ehren alles Silber aufgesetzt, über das sie verfügte. Es war zu der frühen Stunde schon dämmerig in dem mit dunklem Holz getäfelten Raum, deshalb brannten die Flammen an der altdeutschen Messingkrone über dem Tische und entlockten dem Tafelgeräth Funkeln und Blitzen. Im Kamin glühte ein mächtiger Block Eichenholz. Weich und warm breitete sich der Smyrnateppich über den Boden. Es war ein behaglicher, harmonischer Raum, nur einzig und allein zwei schreckliche Oeldruckbilder störten dieses comme il faut, Stillleben nach irgend welchen berühmten Originalen aus der Dresdener Galerie, das eine Wild, Fische und Geflügel, das andere Früchte und ein Kelchglas mit Rheinwein darstellend.

Das Talmi guckt überall durch, dachte der General. Er saß, den Rücken nach dem eichengeschnitzten Kredenztisch gewandt, an der Schmalseite des Tisches, Lore und ihre Schwiegermutter zu beiden Seiten, Tante Melitta gegenüber.

[186] Das Gespräch drehte sich, durch Frau Elfriede angeregt und nicht gerade erhebend für die Familie, um den Tod des Major von Tollen und die Lage, in der Frau und Kinder zurückgeblieben. „Seien Excellenz versichert,“ flötete Frau Becker und führte die Serviette an die Augen, gerade als der Diener mit frischer Platte eintraf „wir werden helfen, wo wir können; wozu wären wir denn verwandt mit einander?“

„Sie sind sehr gütig,“ antwortete Lore, „aber im Namen meiner Mutter danke ich, sie wird Ihre Unterstützung auf keinen Fall annehmen!“ Ihre Hand zitterte so, daß der Wein in dem Glase, welches sie mechanisch erfaßte, über den Rand floß.

Eine Verlegenheitspause entstand; es hatte verächtlich geklungen, und rauh war die Stimme gewesen, die sonst so biegsam. Der in veilchenblauen Plüsch gekleidete Diener bot verstohlen lächelnd ein Ragout an. Lore dankte. Man aß schweigend.

Frau Elfriede saß da, roth und zornig. Tante Melitta versuchte möglichst ungeschickt, ein Gespräch in Fluß zu bringen, aber ihre Mittheilung, daß irgendwo ein Eisenbahnunglück geschehen, erwies sich als wirkungslos. Lore blieb zurückgelehnt in ihrem Stuhl und spielte mit einem Bröckchen Semmel. Sie sah entsetzlich bleich aus.

„Wenn Du angegriffen bist, Lorchen, so zwinge Dich nicht; lege Dich doch!“ schlug Tante Melitta vor.

„In der That – Verzeihung –“ stammelte sie, unfähig sich zu beherrschen, und verließ das Zimmer.

Im hallenartigen Flur lag der letzte Tagesschein. Da, wo die große Treppe mündete, stand augenblicklich der Diener vor einer Dame.

„Ich bedaure sehr, gnädige Frau, der Herr ist verreist und die Damen sind gerade bei Tische,“ hörte Lore ihn sagen.

„Kann ich nicht warten?“ klang es gebrochen deutsch, „ich finde in der Dunkelheit so schlecht den Weg. Oeffnen Sie mir das Empfangszimmer und melden Sie mich nach beendetem Diner.“

Der Diener trat zurück, als Lore jetzt wie ein dunkler Schatten aus der Dämmerung des Korridors hervortrat.

„Die Dame wünscht zur gnädigen Frau,“ meldete er.

„Nicht doch! Frau Becker möchte ich in einer Angelegenheit sprechen,“ sagte die Fremde, die neben sich ein Kind, einen kleinen Jungen hatte, der sich dicht an sie schmiegte.

„Mich? – oder meine Schwiegermutter?“ fragte Lore müde.

„Frau Becker!“ wiederholte die Fremde stockend; und da in diesem Moment der flammende Kandelaber an der Treppe aufleuchtete, sah Lore in ein junges Frauengesicht, dessen Augen sie mit erstauntem Ausdruck anstarrten.

„Ganz recht, da werden Sie meine Schwiegermutter meinen,“ antwortete Lore. „Aber wollen Sie nicht – –“

„Die Mutter von Adalbert Becker –“ stieß die Dame hervor.

„Ja! Aber wollen Sie nicht bei mir oben so lange warten? Meine Schwiegermutter hat Gäste, und –“

„Sie sind – mein Gott, Sie sind –“

Lore fühlte sich am Arm gepackt, wie Eisenklammern hielten die schlanken Finger der Fremden sie fest. „Sie sind die Braut von Adalbert Becker?“ flüsterte es fast versagend neben ihr.

„Die Braut? Nein, seine Frau! … Aber mein Gott!“ schrie Lore erschreckt. Die Fremde wankte plötzlich und faßte nach dem schmiedeeisernen, zierlich mit Laubwerk umgebenen Pfeiler des Treppengeländers und lehnte da wie zusammengebrochen mit einem irren, entsetzten Ausdruck in den Zügen.

„Seine Frau? Seine Frau? Das ist nicht wahr!“ stieß sie hervor, „das ist einfach nicht möglich!“

„Mama, komm!“ bat das Kind.

Lore stand rathlos. Sie strich sich über die schmerzende Stirn. Was sollte das sein? „Kommen Sie mit nach oben, ich bitte Sie!“ flüsterte sie voranschreitend.

Die Fremde raffte sich zusammen und folgte ihr.

[201]
Im Boudoir brannte die rosa verschleierte Lampe. Die beiden Frauen standen sich dort gegenüber. Lore groß, stolz, mit vornehmer Ruhe, erwartend, was sie erfahren sollte. Die andere, das Kind an der Hand, den Kopf gesenkt wie betäubt von einem rohen Schlage.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte Lore und wies auf einen Stuhl.

Die Fremde, unfähig, länger zu stehen, sank darauf nieder und zog das Kind an sich. „Ich bin – Verzeihung, wenn ich Sie tödlich verletze – ich bin Adalberts – ich bin seine Frau und dies ist sein Sohn.“ Anfänglich leise sprechend, schrie sie das Letzte fast und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht.

„Ich bitte Sie,“ sprach Lore kalt und laut, „legitimiren Sie sich, ich kann mir nicht denken, daß man es gewagt hätte, mir – mir –“

Die Fremde nestelte an ihrem Täschchen und übergab Lore einige Papiere. „Hier der Trauschein und der Taufschein des Kindes, in der St. George Church in New-York wurden wir getraut eines Sonntags, Madame. Ich kam hierher, um ihn an die Pflicht des Vaters zu erinnern. – Er giebt mir, seitdem er mich das letzte Mal verließ – es war vor anderthalb Jahren, er hatte zuletzt noch einen Streit vom Zaune gebrochen – keinen Pfennig mehr zum Lebensunterhalt; alle Briefe, die ich ihm schrieb, blieben unbeantwortet. Wäre ich allein – nie, nie hätte ich diesen Schritt unternommen, aber des Kindes Ansprüche – ich darf nicht dulden, daß es lebt mit einem Makel. – Ach, Madame, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen –“

Lores Augen waren indessen auf dem Papier umhergeirrt – Ellen Smith aus Washington mit Mister Adalbert Becker, New-York – flirrte es vor ihren Blicken. „Ich vermag es nicht zu beurtheilen,“ stotterte sie, indem eine brennende Röthe ihr Antlitz färbte, „entschuldigen Sie einen Augenblick –.“

Sie ging in den anstoßenden Salon, klingelte und befahl dem Mädchen, den Herrn General heraufzubitten. Es drehte sich alles mit ihr. Was sie empfand, sie hätte es nicht zu sagen vermocht; es war ein Chaos widersprechendster Empfindungen. Klar rang sich nur eines los und flammte strahlend auf in ihrem armen verdüsterten Gemüth, die Hoffnung auf Freiheit, wenn jene die Wahrheit sprach.

Sie schritt wie im Fieber auf und ab. Besorgt trat der General ein.

„Onkel,“ rief sie ihm entgegen, „da drinnen sitzt eine Frau, die behauptet, sie sei die rechtmäßige Gattin Beckers! Geh hinein, und wenn sie die Wahrheit spricht, dann, Onkel, dann –“

Der alte Herr wußte nicht, wie ihm geschah, er glaubte eine Kranke vor sich zu sehen. „Aber Lore,“ sagte er milde und zog die Bebende an sich, „aber Lore, was fällt Dir ein, Kind?“

„Onkel, wenn sie die Wahrheit spricht,“ begann [202] Lore wieder, „Onkel, ich will es ihr danken, auf den Knieen danken, denn dann, dann –“

Sie zog ihn herüber zu der Thür und schob ihn in das Boudoir; und sie selbst flüchtete in die äußerste Ecke einer der tiefen Fensternischen, legte den brennenden Kopf an die Scheiben und starrte hinaus in den dämmernden Park. Einen Augenblick vermochte sie des Generals Sprechen zu verstehen. „Ei, ei, das sind Sie, Madame?“ – Dann schloß sich die Thür und es war nur noch ein undeutliches Gemurmel, was hier herüber drang. Zuweilen lange Pausen, dann die flehende weiche Frauenstimme.

Barmherziger Gott, wenn sie eine Lügnerin wäre, wenn jene nur seine Geliebte, und ihre eigenen Fesseln doch nicht zerreißbar! – Es gab so wunderliche, verzwickte Gesetze. – Wenn ihr dieser Lichtstrahl nur gezeigt ward, um die Nacht desto finsterer zu machen! „Barmherziger Gott, laß sie die Wahrheit sprechen,“ betete das junge Weib, „laß mich leben, laß mich frei werden!“

An die Schmach, die man ihr angethan, wenn es Wahrheit war, dachte sie nicht.

Die Salonthür nach dem Korridor that sich auf mit kurzen, hastigen Schritten rauschte es durch den Raum – Lores Herz begann stürmisch zu klopfen – Frau Elfriede kam, nachzusehen, was eigentlich los sei hier oben. Die alte Dame klopfte an die Thür des Boudoirs und trat dann rasch ein.

Die Thür blieb offen stehen. Lore hörte den halberstickten Schrei und die zornigen Worte. „Sie wagen es, hierher zu kommen? Herr General, sie ist eine Abenteurerin vom reinsten Wasser! Sie war bei mir als Gesellschafterin, und das kokette Geschöpf hat sich in ein Verhältniß eingelassen mit meinem Sohn – Excellenz, wie junge Leute so sind – und gar einer solch schlauen Dirne gegenüber. – Ich mußte sie entlassen, sie aber thut weiter nichts seit Jahren, als den armen Jungen verfolgen.“

„Gnädige Frau, ich bitte Sie in Ihrem eigensten Interesse“ – des Generals Stimme klang sehr kühl –, „werden Sie ruhiger; in solchen Sachen nur keine Gehässigkeiten und keine Leidenschaften! Ich bin nicht Jurist, ich weiß nicht, wie weit die Ansprüche der Dame hier gehen, wir werden es bald erfahren, wenn sich das Gericht der Sache annimmt. Selbstverständlich habe ich keinen Grund, an Ihren Worten zu zweifeln, mich beirrt nur das eine, daß Madame hier willens ist, die Behörden zu ihrem Schutz anzurufen. Hm – ich meine, die Dame muß festen Boden unter den Füßen fühlen; und – haben Sie eine Ahnung, meine Gnädigste, wie der Strafrichter solche Irrthümer aufzufassen pflegt?“

„Barmherziger Gott, nicht so laut! Sprechen Sie doch nicht so laut!“ kreischte Frau Becker fassungslos, „sie ist eine Betrügerin, bei Gott, eine Betrügerin!“

„Ich bin keine Betrügerin,“ hörte Lore jetzt die Fremde mit zitternder Stimme sprechen, „ich bin auch nicht weggejagt, wie Sie sagen, ich ging freiwillig aus Ihrem Hause, um mich vor den Nachstellungen Ihres Sohnes zu sichern; aber er fand mich auch bei meiner Tante auf, bei der ich eine Zuflucht gesucht. Dort bot er mir, als ich fest blieb, seine Hand – ich –“ sie stockte minutenlang und sprach dann leise weiter: „ich nahm sie an, denn ich war ihm gut, trotzdem er versucht hatte, mich herabzuziehen. – Wir wurden getraut, und ich hatte kein Arg daran, daß unsere Ehe geheim gehalten wurde, daß er mich nicht in sein Haus einführte zu seiner Mutter. – Ich wußte, diese haßte mich; er sagte mir so oft, nur sie sei schuld, daß er nicht längst mir einen Heirathsantrag gemacht. Er vertröstete mich nur immer, er wolle mit mir nach Deutschland gehen. Dann reiste er dorthin – das Kind war just zwei Monate alt – und versprach mir, mich nachzuholen sobald als möglich. Er hat mich jedes Jahr besucht – auch im vorigen Winter noch einmal, dann –“

„Lügnerin!“ rief die alte Dame.

„Madame,“ sagte der General zu Ellen, „gehen Sie in ihr Hotel, ich habe mit Frau Becker zu sprechen. Sie werden morgen früh das Nähere von mir hören. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht begleite, meine nächste Pflicht ist aber jetzt, mich um meine arme Nichte zu bekümmern.“

Lore, die sich nicht regte, hörte jetzt Schritte hinter sich, Frauentritte und die trippelnden Schritte eines Kindes und die des Onkels.

Dann rauschte wieder die Seidenschleppe und die Stimme der Schwiegermutter schrillte. „Erlauben Sie, Herr General, ich habe auch noch ein Wörtchen mit der – Dame zu reden.“

„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber ich muß dringend in unserem Interesse bitten, daß Sie dies unterlassen! Falls diese Dame eine Betrügerin ist, wäre es unter Ihrer Würde, ist sie es nicht, so wäre es sicher nutzlos. Sehen Sie das ein?“

Lore war jetzt hervorgekommen aus ihrem Versteck.

„Onkel,“ rief sie, ihm entgegeneilend, „bring mich zu Mama, ich bitte Dich!“

„Gewiß, mein Herz, ich kann es begreifen, daß Du Dich nach der Mutter sehnst; komm!“

Die junge Frau lief in ihr Schlafzimmer und kam bald zurück, ein Spitzentuch über das blonde Haar gebunden und in ihr altes Mäntelchen gehüllt, das sie neulich schon heimlich mit hergebracht. Sie hielt in der Hand ihr Gesangbuch und des Vaters Photographie in einfachem Morarahmen.

Frau Becker brach bei diesem Anblick plötzlich in ein hysterisches Schluchzen aus. „Lore,“ rief sie, „Du kannst nicht gehen!“

Doch,“ sagte diese mit einem Aufathmen, „ich gehe – und komme niemals wieder!“

„Du kannst das nicht so bestimmt behaupten, mein altes Herz,“ bedeutete der General.

„Ja,“ rief das junge Weib und schien fast zu wachsen, so stolz richtete sie sich empor, „ja, das kann ich! Denn wenn sie auch nicht nach dem Gesetz seine Gattin wurde, sie ist es doch in meinen Augen, und wenn noch etwas die Verachtung, die ich für ihn hege, steigern konnte, so ist es der Anblick dieses Kindes, das er vergessen hat. – Nie, nie setze ich meinen Fuß wieder über diese Schwelle – nie!“

„Es wird sich finden,“ schluchzte Frau Becker.

„Nie!“ wiederholte Lore, und sie nahm die Schleppe des Trauerkleides hoch, als sollte auch das Gewand, das sie trug, nicht mehr den Boden des Hauses streifen, das sie verließ.

„Verzeihen Sie, Gnädigste! Sie ist natürlich furchtbar aufgeregt,“ entschuldigte der General, „ich bin sofort wieder zur Stelle.“

Er eilte Lore nach, die vor der Hausthür auf ihn wartete. „Komm, Kind!“ bat er weich und bot ihr den Arm.

Sie schmiegte sich zutraulich an ihn, aber sie sprach kein Wort mehr. Es war dunkel geworden hier draußen, der Wind hatte sich gelegt, voll und feierlich erklangen die Glocken von den Thürmen der Stadt. Es war Weihnachtsabend!

Ein weiches süßes Gefühl kam über das zitternde Herz Lores, etwas von dem frommen Kinderglauben, das Bewußtsein, es giebt einen Gott des Erbarmens, der Liebe. Sie machte sich los von dem Arm des alten Herrn. „Ich gehe zur Kirche,“ flüsterte sie, und er nickte:

„Ich werde Deine Mutter vorbereiten und kehre dann zu Frau Becker zurück.“

Sie schritt langsam dahin durch die belebten Straßen; aus den Häusern traten Andächtige und gingen unter dem Geläute den nämlichen Weg mit ihr. Sie betrat durch eine Seitenpforte die erhellte Kirche. Am Hochaltar strahlten zwei Christbäume im hellsten Kerzenglanz. Die Thränen schossen ihr plötzlich in die Augen, feierlich ward ihr zu Muth. Dicht vor ihr, halb versteckt hinter einem großen Pfeiler, saß die Fremde, das zarte vergrämte Gesicht sah andächtig zu den brennenden Bäumen hinüber; sie hielt des Kindes kleine Rechte in ihren gefalteten Händen und lauschte dem uralten deutschen Weihnachtsgesang:

„Vom Himmel hoch da komm ich her,
Ich bring’ Euch gute neue Mär –“

Lore trat in den nämlichen Stand, setzte sich neben das Kind und senkte den Kopf im Gebet. Die Augen der Nachbarin richteten sich groß auf ihr Antlitz, über das langsam ein klarer Tropfen nach dem andern rann.

„Um des Kindes willen vergeben Sie mir, daß ich Ihren Frieden störte,“ flüsterte die Amerikanerin nach der Predigt, zu Lore hinüber geneigt.

„Ich Ihnen? Sagen wir: Sie mir! Aber glauben Sie nur, ich bin schuldlos,“ entgegnete Lore. Ihre Hand ruhte einen Augenblick in der der Fremden und ihre Augen forschten in deren Zügen. Nein, sie sah nicht aus wie eine Lügnerin!

Als der Gottesdienst beendet war, ging sie hochgehobenen Kopfes durch die Menge, sie blickte nicht rechts noch links, sie schaute nur in die Zukunft, in die Freiheit.

An der Kirchthür stand der Doktor Schönberg. Seine Blicke hingen an der alten Frau, die neben Käthe von Tollen inmitten [203] der Andächtigen langsam daher kam. Jetzt sah er zur Seite und trat bestürzt einen Schritt zurück.

Lore? Lore, wie er sie einst so oft gesehen in dem dünnen Wintermantel, den er so gut kannte, mit den blonden Löckchen, die so wie hingehaucht über der weißen Stirn schwebten, mit dem alten süßen verschleierten Ausdruck der Augen unter den halbgesenkten Wimpern, so mädchenhaft wie damals, als sie seine Lore ward. Er fühlte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Was kam sie ihm so in den Weg?

Sie ging wie im Traume die Straßen dahin und wußte selbst nicht, wie rasch sie anlangte vor der niedrigen Hausthür daheim. Sie trat in die Eßstube. Die verstörten Augen der Mutter irrten ihr entgegen.

„Lore, um Gott, Lore!“

Lore weinte nicht. Sie knieete vor der alten Dame nieder und flüsterte, sie umfassend:

„Daheim, wieder daheim! Ach, Mama Du weißt nicht, was das heißt für mich!“

Frau von Tollen war still. Sie bückte sich herunter und küßte weinend die schöne klare Stirn der Tochter, es war eine stumme rührende Bitte um Verzeihung. Ihre Lore, ihre schöne stolze Lore, wie furchtbar war an ihr gesündigt worden, und sie, die eigene Mutter, sie hatte die Hand dazu geboten gegen ihr besseres Wissen!

„Mama,“ bat Lore, „weine doch nicht! Mir ist so leicht, so leicht heute – –.“




Der General mußte, als er wieder das Beckersche Haus betrat, zunächst eine Stunde antichambrieren und Tante Melitta leistete ihm Gesellschaft dabei. Die alte Dame war in einem furchtbar aufgeregten Zustande, es konnte ihr ja nichts Schlimmeres begegnen, als irgend etwas nicht zu erfahren, und hier erfuhr sie nun wirklich nichts. Sie wußte nur, daß etwas passirt sei, etwas Ungeheuerliches, Niedagewesenes, aber alle Versuche, Näheres zu erkunden, scheiterten an des Bruders Schweigen. Er ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, langsamen Schrittes in dem veilchenblauen Salon auf und ab und beachtete die Fragen der Schwester absolut nicht.

„Jesus, der Rudolf! Es wird doch nicht wieder der Rudolf sein?“ schluchzte sie endlich, „ach Gott, sag’s mir, Wilhelm – nicht wahr, er will abermals von Beckers Geld haben? Mein Gott, wenn sie auch reich sind – allzu oft darf man –“

„So? Sie haben ihm die Schulden bezahlt?“ fragte der General scheinbar gleichgültig.

„Ja, Wilhelm, er wäre eben sonst – – aber das weißt Du wohl gar nicht?“ Und das alte Fräulein, heilfroh, daß sie sich wichtig machen konnte, kam dicht zu ihm herüber, „er wäre doch im andern Falle mit Schimpf und Schande, weißt Du –“ flüsterte sie, und als der General stehen blieb, haspelte sie die ganze traurige Litanei herunter und drehte ihr Taschentuch dabei in den Händen vor Eifer. „Gottlob,“ schloß sie, „Leo hat’s nicht mehr erfahren, durch Lores Verlobung kam’s noch in die Reihe,“ und sie nickte, daß die Löckchen flogen, „ja, durch die Verlobung!“

„Und die Verlobung kam wohl durch diese erbauliche Geschichte in die Reihe?“ fragte er grollend und folgte ihr bis zu dem Lehnstuhl, in dem sie Platz genommen hatte, und dort blieb er stehen und schaute sie an mit finstern Augen.

Die Schwester antwortete nicht.

„He, Melitta, hat das Mädchen denn aus freien Stücken ja gesagt?“ fragte er.

Die gutmüthige kleine Dame sah in diesem Augenblick so hilflos aus wie ein Kind.

„Aber, Wilhelm, wie Du einen angucken kannst! – Sie hat doch schließlich ja gesagt – es ist doch keine Kleinigkeit, ob ein Tollen als – – ich weiß nicht, Wilhelm, wie ich Rudolfs Vergehen bezeichnen soll – den bunten Rock auszieht – und Du siehst, Lore hat eine gute Partie gemacht und –“

„Schon gut, ich weiß; sie hat also schließlich ja gesagt!“

Er sprach weiter keine Silbe; es war ihm plötzlich alles klar.

Endlich erschien Frau Elfriede. Tante Melitta wurde ersucht, in einem andern Zimmer zu warten.

Sie ging voller Zorn und mußte es erleben, daß die polnischen Karpfen in der Küche verbrodelten, daß der Weihnachtsbaum im Tanzsaal unangezündet blieb, daß die kostbaren Geschenke vergeblich ihrer Empfänger harrten. Wozu hatte sie nun Schlummerrollen und Kissen zu halben Dutzenden gefertigt? Das Aergste aber kam noch. Nach zwei Stunden peinvollen Wartens ging ihr Bruder aus dem Hause, ohne nach ihr zu fragen, und Frau Becker ließ ihr durch den Diener bestellen, sie sei so angegriffen, daß sie Fräulein von Tollen nicht mehr sprechen könne. Tante Melitta hing seufzend ihren Mantel um, warf noch einen Blick in den schwach erhellten Weihnachtssaal mit all den bunten Herrlichkeiten und ging die Treppe hinunter, an Lores schnippischer Jungfer vorüber, die dort flüsternd mit dem Diener stand. Die Leute hatten neugierig freche Gesichter, und sie sahen ihr nach und lachten. – Das war ein Weihnachtsabend!

Als sie durch den Park schritt, schlug es acht Uhr. Aus dem Fenster der Gärtnerswohnung leuchtete ein strahlend heller Weihnachtsbaum. Ja, da gab’s doch noch ein Freuen!

Vor ihrer Hausthür fand sie eine Minute später eine schlanke Gestalt, die unverwandt das Schönbergsche Haus ansah. – Drunten im Wohnzimmer der Frau Pastorin war Licht, und im Hausflur, den man übersehen konnte, da die Thür weit geöffnet stand, hatten die Korrendejungen eben die Lichterpyramide angezündet und sangen ein Weihnachtslied.

„Käthe, Du?“ fragte Tante Melitta erstaunt.

„Ja,“ sagte das Mädchen, ohne den Blick von drüben abzuwenden, „ich warte hier schon eine ganze Weile auf Dich. Man ist ja wie verrathen und verkauft – was ist denn eigentlich passirt? Die projektirte Weihnachtsfamilienfeier ins Wasser gefallen – Lore plötzlich zu Hause – Mama in Thränen und der Onkel wie eine Gewitterwolke – – –! Kann ich mit hinaufkommen, Tante?“

„Meinetwegen, Käthe; aber es ist kalt bei mir und ich hab’ nicht einmal ein Stückchen Pfefferkuchen im Hause, nach Weihnacht schmeckt’s nicht bei mir heute.“

„Als ob’s bei uns danach schmeckte,“ erwiderte Käthe bitter, und als eben der Gesang drüben verstummte, folgte sie der kleinen Tante in das Haus, setzte sich droben im ungeheizten Zimmer ans Fenster und sah mit brennenden Augen auf die dunkeln Giebelfenster da drüben. Er war unten bei seiner Mutter, da roch es nach Tannengrün und Wachskerzen, da war das Glück. – Käthe ballte die Fäuste zusammen und sagte halblaut vor sich hin: „Uebers Jahr will ich da drüben sein, ich will – ich will!“




Der General war indessen Frau Becker gegenüber ganz der alte Soldat. Er entwickelte seine strategischen Talente und begann zunächst zu rekognoscieren.

Die alte Dame saß in unendlich kampfbereiter Haltung auf dem gelben geblümten Damastsofa ihres Boudoirs, sie hatte die Arme untereinander geschlagen und den Kopf in den Nacken zurückgebogen. Ueber ihren vom Weinen verschwommenen plumpen Zügen aber lag im Gegensatz hierzu ein Schein unverschuldeten Gekränktseins und sanfter Wehmuth.

„Gnädige Frau,“ begann der General, „das sind so Sachen – – ja, ja, Sie brauchen mir gar nichts darüber zu sagen, ich bin ein alter Mann, ich kenne die Welt. Freilich: Jugend hat keine Tugend! Sie hatten also die Dame in Ihrem Hause, gnädige Frau?“

„Ja wohl,“ antwortete Frau Becker seufzend, „und Gott weiß, wenn ich bei ihrem Eintritt geahnt, was mit ihr über unsere Schwelle kam, ich hätte sie sofort wieder –.“ Sie machte eine entsprechende Handbewegung.

„Natürlich, gnädige Frau, das läßt sich ja denken. Sie hatten gewiß viel Unbequemlichkeiten und Aerger?“

„Ach, Gott soll es wissen,“ klagte sie. „Erst der Trödel, als Adalbert sich in sie verliebte – ich sagte ihm immerzu: ‚Laß die Dummheiten! Derartige Mädchen machen Ansprüche; Du wirst’s bereuen!‘ Aber die Kinder wissen alles besser! – Nachher, wie er dann seinen Willen durchgesetzt, da fing das Unglück an. Sie schrieb alle Naselang um Geld; diese Damen brauchen ja immer nochmal so viel wie honette Frauen. Sie machte eine förmliche Daumenschraube aus ihren Beziehungen zu Adalbert und des Kindes wegen gab man ja immer!“

„Ach, Sie wußten, daß Sie ein Enkelchen besitzen?“

„Ein Enkelchen? Excellenz, ich muß bitten!“ Die kleine dicke Nase der Dame zog sich empört in die Höhe. „Wir hatten uns [206] übrigens fest vorgenommen, den Jungen erziehen zu lassen,“ fuhr sie fort, „Adalbert ist jetzt eben hinüber, um diese Angelegenheit zu ord – – “ Sie brach plötzlich ab und wurde roth.

„O, ich meinte, Ihr Herr Sohn habe unaufschiebbare Geschäfte drüben. Und deshalb verließ er so kurz nach der Hochzeit meine Nichte – also deshalb –?“

Frau Becker wurde noch purpurner. „Mein Gott, ja, sie hatte mit Herüberkommen gedroht – und – und –. Aber ums Himmels willen, Excellenz werden doch nicht glauben, daß die Person recht hat mit ihrer wahnsinnigen Behauptung? Ich schwöre Euer Excellenz.“ Sie sprang auf in Zorn und Verwirrung. „Ich hole die Briefe der Unverschämten,“ rief sie. „Adalbert gab sie mir zur Verwahrung, als er sich verheirathete; aus irgend einem Grund wollte er sie aufheben. Ich habe sie nicht gelesen, Herr General, auf mein Wort nicht. Ich zog nur einige Photographien hervor, die ich vernichtete, so ärgerte mich das Gesicht dieser Person. Ich weiß, es sind Bettelbriefe, nur Bettelbriefe. Sie sollen dieselben durchsehen, damit Sie sich überzeugen.“ Sie verschwand auf ein Weilchen und kam dann zurück mit einem Packet Briefe. „Hier,“ rief sie und löste die Schleife, welche die einzelnen Blätter zusammenhielt, „nehmen Sie!“ Und sie selbst nahm eines der Schreiben und schaute hinein. „Sehen Sie, eine einfache Bettelei,“ rief sie triumphirend.

Der General sah flüchtig auf das Papier, nahm einige der Briefe und las sie. In der That, immer nur die flehende Bitte kehrte zurück. „Um des Kindes willen!“ – Es war eine rührende Sprache, Töne, die dem alten Soldaten das Herz weich machten. So schreibt keine Verlorene! – – Jetzt zog er einen ziemlich dicken Brief hervor, er hatte dort aus all dem weißen Papier ein blaues hervorgucken sehen.

„Unerhört!“ schrie jetzt Frau Becker. „‚Mein herzlieber Mann,‘ redet sie ihn an! – Na, es mag wohl Mode sein in solchen Fällen.“

Der General entfaltete den blauen Brief und las die Ueberschrift: „Dear Sir“, und die Unterschrift: „M. Haardt, pastor.“ Er legte den Brief auf seine Kniee, zog den Kneifer hervor und begann mit einer gewissen Feierlichkeit zu lesen. „Hm –“ sagte er einmal. Er wandte, am Schluß angekommen, das Blatt noch einmal um und begann von vorn zu lesen, dann griff er nach dem weißen Papier und überflog die wenigen Worte der Frauenhand, die dastanden. „Dear Berti! Ich kann mir vor Angst nicht mehr helfen, ich bitte Dich, schreib! Gestern ging ich zu Pastor Haardt, ich mußte mich zu jemand aussprechen; vergieb mir! Er sagte, er wolle Dir schreiben. Sei nicht böse; ich bin so verzweifelt. Ach, ich bitte, Adalbert, nicht meinetwillen, um des Kindes willen schreibe und komm   zu Deiner Ellen.“

New-York, den 16. Oktober 188 .

Es war ein Datum kurz vor der Verlobung mit Lore.

„Gnädige Frau,“ scholl auf einmal des Generals Stimme, und es war ein merkwürdig harter energischer Klang darin, „daß Sie keine Ahnnug von einer bestehenden Ehe Ihres Sohnes mit Ellen hatten, ist ja klar, aber nichts destoweniger besteht sie. Hier ist der Brief eines Pastors Haardt, der das Paar getraut hat. Er ermahnt auf Ansuchen der jungen Frau Ihren Herrn Sohn, seinen Pflichten gegen Mutter und Kind nachzukommen.“

Die Frau vor ihm that ihm plötzlich leid. Sie legte sich in die Kissen zurück und sah aschfahl aus. „Unmöglich!“ stieß sie hervor, „es ist – es muß ein Irrthum sein –!“

Aber sie wußte jetzt nur zu gut, daß es keiner war. Sie kannte Reverend Haardt, er war ihr specieller Seelsorger drüben gewesen und sie kannte seine Handschrift.

„Nein, gnädige Frau, hier sehen Sie es schwarz auf weiß, und danken wir Gott, daß wir den Brief fanden.“

Aber Frau Elfriede, die in diesem Augenblick einen furchtbaren Schicksalsschlag empfing, vermochte nicht gleich zu begreifen, weshalb sie Gott hierfür danken sollte. Die starke, rasch athmende Gestalt legte sich zur Seite und barg den Kopf ins Sofakissen, und so verharrte sie eine ganze Weile, fast besinnungslos vor Schreck.

Der alte Herr, der um alles in der Welt keinen Zeugen wünschte, wartete geduldig, bis sie sich stöhnend aufrichtete.

„Das ist hart, das ist hart,“ flüsterte sie; dann begann sie zu schluchzen.

„Sie müssen noch heute Ihrem Sohne telegraphieren,“ sagte der General ruhig, als sie eine Pause machte, um laut zu weinen. „Ihr Sohn darf nicht zurückkommen, hören Sie; es steht ihm eine entehrende Freiheitsstrafe bevor, wenn er –“

„Nicht zurückkehren?“ stammelte sie.

[231]
Und Sie, Madame, müssen so bald als möglich zu Ihrem Sohne reisen,“ wandte sich der General wieder an Frau Elfriede.

„Ich?“ Es klang wie ein Schrei.

„Um meiner armen Nichte willen wäre es mir lieb, wenn ein Skandal vermieden würde.“

„Barmherziger! Wenn es möglich wäre! Ich überlebte es nicht, wenn Adalbert – –“

„Ich hoffe es, Madame. Wenn Sie ruhiger geworden, morgen, werde ich mit Ihnen darüber sprechen.“

„Excellenz!“ schrie die Frau und schlug die Hände vor das Gesicht, „ich habe es nicht gewußt, ich habe es nicht geahnt! Verlassen Sie uns nicht, rathen Sie ihm, er liebt Lore zu sehr – deshalb, nur deshalb –! Wie schwer leidet doch das Herz einer Mutter unter der Schuld ihrer Kinder!“

Die aufgeputzte, unfeine Frau jammerte den alten Herrn in diesem Augenblick, wo alles falsche Gethue abfiel, wo sie nur noch den Sünder zu vertheidigen suchte, dessen Mutter sie war.

„Beruhigen Sie sich; und vor allen Dingen: das tiefste Stillschweigen, gnädige Frau, um meiner Nichte willen!“ Er hielt inne und ging langsam in dem Zimmer auf und ab. „Ihr Sohn muß von jetzt ab ‚seiner Geschäfte wegen‘ wieder in New-York leben,“ sprach er, vor die Frau tretend, die noch immer wie verstört auf dem Sofa verharrte.

Sie sah ihn unsicher an. „In New-York leben,“ wiederholte sie.

„Und meine Nichte weigert sich, ihrem Gatten dorthin zu folgen. Verstehen Sie?“

„Ja!“

„Er fordert sie wiederholt auf, er läßt sie durch das Gericht anfordern, zu ihm zu kommen – sie beharrt dabei, hier zu bleiben.“

„Ach Gott, Excellenz!“

„Danach wird Ihr Sohn Scheidung beantragen und meine Nichte wird mit Freuden darauf eingehen. Auf diese Weise erspare ich dem armen Mädchen wenigstens die Schande, vor der Welt als eine Düpirte dazustehen. – Wäre das nicht, Madame, bei Gott –!“ Der Zorn überwältigte ihn; er trat mit geballter Faust vor die zitternde Frau.

Nach einem Weilchen, als er sich durch erneutes Auf- und Abgehen beruhigt hatte, fuhr er fort. „Missis Becker werde ich veranlassen, morgen abzureisen, wenigstens vorläufig nach Hamburg; und Ihnen gebe ich ein paar Tage Frist, um hier noch alles zu ordnen. Und nun die Depesche, bitte, ich werde sie aufsetzen.“

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus und schrieb:

„Bleibe in New-York, ich komme so bald als möglich. E. hier angekommen. Mündlich alles Nähere.
  Elfriede Becker.“

„So; schicken Sie das sofort nach dem Telegraphenamt!“

„Ja!“ sagte sie, gehorsam wie ein Kind.

„Haben Sie sich gemerkt, was ich Ihnen vorschlug, Gnädigste?“

„Ja! Lore will nicht mit meinem Sohn in Amerika leben, deshalb beantragt er Scheidung.“

„Schön! Leben Sie wohl!“ Er griff nach seinem Hut und schritt der Thür zu.

„Excellenz!“ schrie Frau Elfriede, „ich – ich – sagen Sie Lore, daß ich trostlos sei, daß –“

„Leben Sie wohl!“ wiederholte er, dann ging er.

Lore war von Frau von Tollen zur Ruhe gebracht worden; die Mutter hatte ihr das eigene Lager eingeräumt. Sie hätte das arme Ding am liebsten auf ihren alten schwachen Händen hinaufgetragen, wenn sie das Trostlose damit hätte ungeschehen machen können.

Sie saß dann am Bett und hielt der Tochter Hände und fragte einmal über das andere. „Wie geht’s Dir, Lorchen, fühlst Du Dich gut? Du weinst doch nicht?“

„O, so gut, Mama. Es ist so schön daheim!“ war die Antwort. „Und nicht wahr, wenn Onkel kommt, so soll er sich mit Dir hierher setzen, er soll mir erzählen?“

„Ja, mein Kind, und ich denke immer, er bringt gute Nachrichten.“

„Ich hoffe es, Mama.“

Sie hofften es beide, aber sie dachten beide das Entgegengesetzte.

Endlich kam er. Er setzte sich auf den Bettrand und nahm die Hände der jungen Frau in die seinen.

„Na, meine gute Deern?“ Das klang so weich, als schlucke der alte Haudegen an heimlichen Thränen.

„Sage doch, Onkel!“ bat sie.

„Hm, ja! Also, Lorchen, Du bleibst vorläufig bei Deiner Mama, oder sagen wir, bei mir. Sieh, ich habe in Rom in der Nähe des Forum Trajanum eine nette kleine sonnige Wohnung gemiethet für die Wintermonate. Dahin gehst Du mit, und wenn wir müde sind von allem Schauen und Bewundern, dann machst Du es dem alten Onkel gemüthlich daheim; das wird ihm gutthun, zumal wenn er des Abends den Thee zu Hause nehmen kann und nicht noch herumbummeln muß, um in irgend einer Trattorie zu essen. Und wie schön wird es für ihn sein, wenn er die Herrlichkeiten der ewigen Stadt so einem Paar junger Augen zeigen kann und –“

„Onkel!“ – Sie setzte sich aufrecht im Bett – „ich will die Wahrheit wissen – sprich, ist sie getraut mit ihm?“

„Ja, die Wahrheit, Lorchen! Sieh ’mal, das müssen die Gerichte entscheiden. Aber ich denke, es giebt einen ekelhaften Skandal; Dir kann es gleichgültig sein, ob sie ihm angetraut war oder nicht, betrogen hat er das arme Geschöpf auf alle Fälle und gesündigt hat er an dem Kind. Ein Lump ist er so oder so – Pardon – ich meine, Du trennst Dich auf jeden Fall von ihm.“

Sie sank langsam in die Kissen zurück und faltete die Hände.

„Wird er das wollen, Onkel?“ fragte sie enttäuscht.

„Ja!“ erwiderte der alte Herr bestimmt.

„Er hat gesagt, nie, nie würde er seine Ansprüche an mich aufgeben,“ flüsterte sie angstvoll.

Der General wandte sich ab; die Augen wurden ihm feucht. Sie durfte es nicht wissen, daß ihr Bündniß null und nichtig, [232] daß sie das Opfer eines ungeheuren Bubenstreiches geworden war; daß sie vor der Welt nur eine Düpirte blieb, die keinerlei Anspruch auf die Rechte der Gattin, selbst die der geschiedenen besaß, wenn es nach Recht und Gesetz zugehen sollte.

„Ja, er wird sie aufgeben, Lore, wenn Du es willst,“ sagte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, Lore, liebst Du ihn nicht; Du kannst ja so einen Kerl gar nicht lieben, he, alte Maus? Oder sollte ich etwa ein schlechter Herzenskenner geworden sein?“

„Ich, Onkel? Ich hätte die Gemeinschaft mit ihm nicht ertragen, lieber wäre ich –“ Sie verstummte und senkte die Augen.

Ob er sie ganz verstand? Er sah plötzlich mit förmlichem Erschrecken auf ihr Gesicht, das bei diesen Worten einen Ausdruck von Entschlossenheit angenommen hatte. „Nun, dann wird Dir die Trennung nicht schwer werden, Lore,“ sprach er langsam weiter, „und über das bißchen Geträtsche in dem kleinen Neste hier kommst Du auch weg. Später verschaffen wir Dir auch Deinen Mädchennamen wieder.“

„Geht das, Onkel?“

„O ja, durch besondere Gnade wird das genehmigt. Vorerst aber gehen wir nach Rom, gelt? Und zu allererst schlafen wir – dixi. Gute Nacht!“

Sie lag mit großen sanften Augen in den Kissen. „Onkel, wie schön, daß Du hier bist; es ist wie ein Wunder, daß Du heute kommen mußtest. Gute Nacht, Onkel! Gute Nacht! – Wo ist denn Mama?“

„Mama ist hinuntergegangen, ich will sie Dir schicken. Ich bin recht müde, will gleich ins Hotel.“

Drunten im Eßzimmerchen stand der alte Herr noch ein paar Minuten, die Hände in die Seiten gestemmt, vor seiner Schwägerin.

„Es stimmt,“ sagte er nicht allzu freundlich, „der Schuft ist getraut mit der kleinen Amerikanerin. Die alte aufgeputzte Jahrmarktstante dauerte mich schließlich, als sie den Beweis fand von dem Bubenstück. Sie war wie Kartoffelbrei so weich auf einmal und sah jammervoll aus. Aber nun stillschweigen, Marie, um Gottes willen, stillschweigen! Lore muß in dem Glauben gehalten werden, daß sie rechtmäßig verheirathet war und rechtmäßig geschieden wird. – Verstanden?“

Frau von Tollen faßte ihren Kopf mit beiden Händen. „Wilhelm!“ schrie sie auf; „ach Gott, Wilhelm!“

„Ja, ja, hättest Du lieber den Bengel nach Amerika laufen lassen, anstatt das arme Mädel zu beschwatzen zu so einer Heirath,“ wollte er sagen, aber er unterdrückte es, die Frau war zu verzweifelt in ihrem Schmerz.

„Na, Kopf hoch!“ redete er ihr gutmüthig zu, „wollen Gott danken, daß es so abläuft! Wenn nun das Mädel eines Tages aus Verzweiflung über die Gemeinschaft mit dem Kerl ins Wasser gegangen wäre, he?“ Er dachte an Lores Aussehen vorhin.

Die Majorin blickte ihn entsetzt an.

Er nickte ernst; dann sagte er rasch. „Geh jetzt hinauf zu Lore; und nun gute Nacht, Marie! Die Sache hat mich doch verteufelt müde gemacht.“

Im Hotel angekommen, beschied er noch in der zehnten Stunde Missis Becker in das Gastzimmer herunter.

„Madame,“ sagte er, „Sie reisen auf meinen Rath unverzüglich zurück; geht der Dampfer in den nächsten Tagen nicht, so halten Sie sich in Hamburg auf; hier können Sie nicht bleiben. Die Sache wird sich übrigens ordnen; Sie werden Ihren Herrn Gemahl zurückerhalten, meine Nichte macht keinerlei Ansprüche auf ihn.“

„Ah, ich wollen nicht wieder mit ihm leben,“ sagte sie traurig, „nur anerkennen soll er mich und das Kind erziehen lassen als seinen Sohn. Ich will nichts mehr von ihm, ich bin zuwider ihm – lange – lange! Ach, die arme schöne Miß, die er so betrog!“

„Ich bitte Sie ferner, Madame, zu keinem Menschen ein Wort über die Sache zu reden, hier nicht und dort nicht, sonst erleben Sie, daß der Vater Ihres Sohnes ins Gefängniß wandert.“

„O sicher nicht, Herr General!“

Der alte Herr empfahl sich rasch. Armes Weib! dachte er, wie wird dich der Schuft empfangen! – Und im Geiste lud er eine Pistole und zielte auf den dickköpfigen breitspurigen Burschen, dessen Bild er heute in dem Zimmer der Frau Elfriede gesehen. „Wie einen tollen Hund,“ sagte er halblaut, daß der kleine Kellner, der ihm die Lichter in seinem Zimmer angezündet, sich erschreckt umwandte – „wie einen tollen Hund,“ wiederholte er, „es müßte eine Wohlthat sein!“




Der März war in das Land gekommen. Verführerisch blauer Himmel, greller Sonnenschein und eine unendlich weiche warme Luft weckten den Glauben an baldigen Lenz, an Blühen und Grünen.

Der Linde im Tollenschen Garten schwollen die braunen Knospen, und in die Staarkästchen waren die gefiederten Herrschaften wieder eingezogen und erzählten und schwatzten von ihren Reiseerlebnissen im fernen Süden. Möglich, daß sie die Mär mitgebracht hatten, die jetzt in ganz Westenberg umherschwirrte, die Mär, daß Lore von Tollen von ihrem Mann geschieden werde, daß er, ihrer ewigen Vornehmthuerei müde, diese Trennung wünschte. Ach Gott, was wußten die guten Westenberger nicht alles! Man konnte es dem Mann ja nicht verdenken; gleich nach der Hochzeit hatte sie sich geweigert, ihn nach Amerika zu begleiten – sie wollte nicht in das Krämerland, sollte sie erklärt haben. – Liebe Zeit, wenn er doch sein Geschäft einmal drüben hatte! Es mochte freilich sehr viel vornehmer sein, in Rom den Winter zu verbringen mit einem Onkel, der „Excellenz“ ist! Der armen Frau Becker war schließlich nichts weiter übrig geblieben, als zu ihrem Sohne zu gehen, damit er doch wenigstens eine Häuslichkeit habe. – Na, die Tollens überhaupt!!

Heute war nun wirklich an der Beckerschen Villa, dicht am verschlossenen Gitterthor, eine Tafel angebracht, darauf stand: „Diese Besitzung ist sofort zu verkaufen.“

Das war die Folge davon; dem Besitzer dieses schönen Grundstückes mochte wohl die Lust gänzlich vergangen sein, wieder hier zu wohnen.

Frau von Tollen wußte es, was die Leute sich zuraunten, was laut in allen Kaffeekränzchen erörtert wurde. Sie litt furchtbar darunter um ihres Kindes willen, aber einmal mußte es ja verstummen, das alberne Geklatsch und Geträtsch. Und Lore war Gott sei Dank weit von hier und brauchte es nicht zu hören.

Und heute nun mit dem goldenen Sonnenschein fiel auch ein Strahl von Hoffnung auf bessere Zeiten in das kleine Häuschen und in ihr Herz.

Der Briefbote hatte ein Schreiben abgegeben von Rudolf, und die besorgte Miene der Majorin, als sie es öffnete, wich einem freudigen Erschrecken, als sie den Inhalt las:

„Liebe Mutter!

Gestern habe ich mich verlobt mit Lieschen Maikat; die Thränen meiner Braut besiegten endlich den energischen Widerstand ihres Vaters.

Ich komme durch diese Heirath nicht nur in eine sorglose, sondern in eine glänzende Lage; außerdem ist meine künftige Frau liebenswürdig und gut von Herzen. Du siehst, Dein leichtsinniges Sorgenkind hat mehr Glück, als es verdient.

Ich werde nun auch sehr bald imstande sein, meinen Verpflichtungen gegen Becker, sowie gegen Viktor nachzukommen; Heinemann und Levy geben mir auf meine Verlobung hin Kredit. – Es ist doch ein famoses Gefühl, wenn man eines Morgens aufwacht mit dem angenehmen Bewußtsein, kein Bettler mehr zu sein und weder den Herrn Bruder noch Se. Excellenz in Rom um eine milde Gabe ansprechen zu müssen.

Sobald ich verheirathet bin – und ich hoffe, mein Schwiegervater willigt in die Hochzeit nach dem Manöver – werde ich auch suchen, Deine Lage etwas zu bessern, liebe Mutter.

Entschuldige, daß ich schließe. Man hat so seine volle Beschäftigung, wenn man neben dem Dienst der aufmerksame Bräutigam sein will.

Grüße Käthe und sei gegrüßt von
 Deinem treuen Sohn Rudolf.“

Die Brust der alten Dame hob sich wie befreit von einem furchtbaren Druck. Die Prosa in dem Schreiben berührte sie nicht; sie betrachtete schon längst den Reichthum als die Basis jeglichen Glückes. Sie ging zur Thür und rief nach Käthe. Das junge Mädchen, das bald darauf in das Zimmer trat, welches die [234] helle Morgensonne erfüllte, sah bleich aus. Sie sollte in wenigen Tagen das Lehrerinnenexamen machen und hatte wohl daraufhin allzuviel gearbeitet in letzter Zeit, und das war ihr schwer geworden, denn all ihre Gedanken, ihr ganzes Interesse weilte wo anders. Sie hatte Angst vor dem Examen; sie würde glückselig sein, wenn vorher noch etwas einträte, was diese Qual unnöthig machte, was ihrem Leben ein anderes Ziel steckte, als Lehrerin zu werden.

„Gott sei Dank!“ sagte sie kühl ironisch auf die freudige Mittheilung, „der wäre besorgt und aufgehoben, Mama, und wenn ich nächstens Lehrerin werde, dann kannst Du ja mit Lore ganz behaglich hier leben.“ Sie warf dabei einen Brief auf den Nähtisch der Mutter.

„Von Lore?“ fragte die Majorin und griff hastig nach dem Bogen. „Liebe Schwester!“ las sie, „Neulich schrieb ich an Mama, heute sollst Du einen Brief bekommen. Onkel schläft, ermüdet von einer Wanderung durch die Sammlungen des Vatikan, ich sitze in meinem sonnendurchglühten Zimmerchen und höre auf das Geplätscher des Springbrunnens in dem kleinen Hof und sehe die Purpurblüthen des Kamelienbaumes leuchten zwischen dem dunkeln Grün seiner Blätter. In den stillen Stunden, wo ich allein bin, faßt mich, wie auch heute, eine unbezwingliche Sehnsucht nach Euch, nach meinem kleinen trauten Mansardenstübchen daheim.

Käthe, ich habe eine Bitte an Dich, gieb mir das Stübchen wieder, wenn ich zurückkomme, es war jahrelang mein glücklichster Erdenwinkel. Aber ich bin wohl unbescheiden?

Ueber den Stand meiner Angelegenheiten schreibe ich an Mama nächstens. Bald, ach bald werde ich frei sein, werde ich heimkommen zu Euch!“

Frau von Tollen ließ das Blatt sinken. „Ja, Käthe,“ sagte sie mild, „das Stübchen bekommt sie wieder.“

Käthe schwieg, sie hatte funkelnde Thränen in den Augen; die Mutter sah es nicht.

„Du sollst mein Schlafzimmer bekommen,“ fuhr sie fort, „denn wir ziehen ja nach oben, wenn ich hier unten vermiethe. Ich nehme Papas Schlafstube und in seinem Zimmer wohnen wir dann. Nicht wahr, Käthe, Du willigst ein? und wer weiß, wie alles kommt, Käthe, Du gehst am Ende bald einmal von uns fort.“

„Unter fremde Menschen,“ erwiderte das junge Mädchen bitter.

„Der Onkel nimmt Dich vielleicht auch einmal mit auf eine seiner Reisen.“

„Mich?“ klang es verächtlich.

Eine Pause entstand.

„Gehst Du auch heute wieder zu Schönbergs?“ fragte die Mutter.

„Freilich! Was soll ich machen?“ war die Antwort; aber um die Mundwinkel zuckte ein Lächeln.

„Ich bitte Dich, Käthe, bleib nicht so lange,“ bat die Mutter, „Du glaubst nicht, wie bange mir ist, wenn ich so ganz allein sitze. Du bist jetzt fast jeden Abend dort, und nachher suchst Du die verlorene Zeit durch nächtliches Studieren wieder zu gewinnen, Du mußt krank werden!“

Aber die Tochter sagte weiter nichts als: „Ich schicke Dir Tante Melitta zur Gesellschaft, Mama.“ Sie ging wieder zu ihren Büchern in das Stübchen hinauf, aber sie saß, ohne einen Blick hineinzuthun. In ihrem Innern tobte es und glühte es. Lore sollte hier wieder wohnen? – Nimmermehr! – Auf dem Schulplatz drüben schrieen und lärmten eben Quarta und Tertia, während Secunda und Prima würdevoll umherspazierten. Die Gruppe der Lehrer stand im grellsten Sonnenschein vor dem spitzbogigen Mittelportal und unterhielt sich. Er überragte sie alle mit seiner schönen schlanken Gestalt. Käthes glühende Augen meinten, er schaue hier hinauf, unverwandt. Es mochte wohl sein; er war allezeit so freundlich zu ihr, von einer so liebenswürdigen Zuvorkommenheit.

Sie trat gewöhnlich kaum in die Stube seiner Mutter, so erschien auch er, und er las ihnen vor und erzählte und mitunter spielte er vierhändig mit Käthe; sie meistens mit zitternden Fingern und unzähligen Fehlern, die er geduldig übersah, wie er auch geduldig ihre Aufmerksamkeiten über sich ergehen ließ.

Liebte er sie? War er nicht ganz anders gegen Lore gewesen?

Sie warf die Feder weg, an deren Stiel sie herumgebissen.

Wenn doch sein Blick aufglühen möchte in ihrer Nähe, wenn er einmal sagen möchte: „Käthe, meine Käthe!“ Sie wußte genau, wie er das aussprechen konnte. Und nun sollte Lore wiederkommen, frei, ganz frei und mit der alten heißen Liebe im Herzen – Sie würde das nicht ertragen, sie würde einfach verrückt!

„Heute abend!“ sagte sie auf einmal und strich sich die Haare glatt hinter den zierlichen Ohren. Und während sie mit großen offenen Augen auf den jetzt wieder todtenstillen Schulhof starrte, vertiefte sie sich in die herrlichsten Zukunftsträume.

Es war gegen sechs Uhr abends, als sie zu der Mutter trat, um Adieu zu sagen. Frau von Tollen befand sich im Garten; sie ging in der milden Luft auf und ab. Die Verlobung von Rudolf war ein Balsam gewesen auf ihr vergrämtes Herz; sie hatte ein Gefühl der Ruhe, zum ersten Mal wieder seit dem Tode ihres Mannes. Nun blickte sie freudig staunend auf die Tochter; Käthe erschien ihr eigenthümlich schön in diesem rosigen Dämmerschein des Frühlingsabends, sie hatte einen Strauß Schneeglöckchen vor die Brust gesteckt, der kleine einfache Hut mit dem langen Kreppschleier gab ihr etwas Phantastisches – oder lag es in dem glühenden Ausdruck der schwarzen Augen?

„Adieu, Mama!“ sagte sie.

„Adieu, Kind, grüß auch die Frau Pastorin!“ –

Käthe traf bei Schönbergs Mutter und Sohn ebenfalls im Freien. Sie wanderten miteinander durch die buchseingefaßten Gänge des ziemlich langen Gartens und athmeten die warme Luft des sommerlichen Märzabends.

„Da kommt Käthe doch noch,“ bemerkte die Frau Pastorin und bückte sich nach einem Leberblümchen, das unter der Last eines welken Blattes litt. „Guten Abend, Kind,“ rief sie ihr entgegen, „was sagen Sie zu dem Wetter? ’s ist just, als wär’s Mai.“

„Ja!“ erwiderte Käthe und blickte den Doktor an.

„Es ist, als ob einen die Luft trunken machte,“ bemerkte dieser, nachdem er das junge Mädchen begrüßt hatte. „Mutter, ganz gewiß, die Veilchen blühen schon irgendwo, riech doch nur!“

„Gott bewahre,“ sagte die alte Frau, „das sind die schwellenden Knospen an den Bäumen, das ist die Erde, das junge Gras, das Wasser ist’s und die milde Luft. Es will Frühling werden! Weißt Du noch, Ernst,“ fuhr sie fort, „wenn der Vater uns vorsang: ‚Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und wehen Tag und Nacht‘ – und weißt Du noch, wenn der Frühlingssturm über die Wiese fegte hinter unserem Hause und Du mir die ersten Anemonen mit aus dem Wald brachtest?“

„Ja freilich,“ antwortete er und wollte noch etwas hinzusetzen, aber die Mutter eilte plötzlich dem Hause zu. Dort in der Nähe grub das Dienstmädchen in den Gemüsebeeten.

„Aber, Deern!“ schrie sie, „willst Du wohl einhalten, da hab ich ja schon Spinat gesäet!“

Die alte Frau verschwand nach einer kräftigen Strafpredigt im Hause. Käthe und der Doktor schritten langsam dem unteren Theil des Gartens zu. Sie sprachen beide nicht. Am Flüßchen, das Wall und Stadtmauer von dem Garten trennte, stand unter hohen Rüstern eine einfache Holzbank, Käthe setzte sich darauf. Es war ein einsames Plätzchen, weder vom Hause noch vom Wall aus sichtbar. Ein Weilchen blieb er stehen vor ihr, die zu ihm emporsah mit ihren wunderbaren Augen. Dann setzte er sich neben sie – die Blicke des Mädchens hatten etwas Verwirrendes, Sehnsüchtiges und Trauriges.

„Käthe,“ fragte er unsicher, „bekümmert Sie etwas?“

Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet und wandte den Kopf zu ihm. „Ja!“ sagte sie.

„Was denn? Wir sind ja gute Kameraden, Käthe, haben Sie Vertrauen zu mir!“

„Ich fürchte mich,“ flüsterte sie.

„Wovor denn? Vor dem Examen?“

„Nein – vor dem Leben.“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht, aber es erstarb vor ihren wie in Angst erstarrten Blicken.

„Kind,“ fragte er weich, „weshalb denn?“

Sie begann plötzlich zu schluchzen, leidenschaftlich, bitterlich.

Er nahm ihre Hände, rathlos, was er beginnen sollte, ihr ganzer schlanker Körper bebte wie im Krampf. Er wußte selbst nicht wie es kam, daß er den Arm um ihre Taille legte und sie an sich zog. „Käthe, aber Käthe, fassen Sie sich doch!“ bat er. Ihr Kopf lag an seiner Brust, der Hut war zurückgefallen, und in der Frühlingsdämmerung sah er die tausend Fäden des duftigen braunen Haares und die rosige, von Thränen überströmte Wange des jungen Mädchens, das sich vor dem Leben fürchtete.

[235] Eine ganze Fluth von Gedanken, den Erinnerungen, den Hoffnungen, dem Schmerz und der Gegenwart angehörend, stürmte auf ihn ein mit sinnverwirrender Macht.

„Käthe!“ flüsterte er.

Sie schmiegte sich fester an ihn und weinte noch mehr.

„Käthe, würden Sie auch ein Leben fürchten – mit – –“ Er hielt inne. Die Stimme der Mutter scholl durch den Garten wie ein Warnungsruf. „Ernst, Ernst!“

Das Mädchen hatte den Kopf erhoben. Eine heiße, flehende Bitte lag in diesen Augen, die sich in die seinen senkten.

„Sprich,“ sagten diese Augen, „sprich weiter!“

„Ein Leben fürchten mit mir?“ vollendete er kaum verständlich.

„Ernst!“ schrie sie auf und lag an seiner Brust zitternd und weinend.

„Ernst, Ernst, Käthe!“ scholl es abermals. Da riß sie sich los und flog wie ein Reh den Mittelweg entlang. – Er stand allein. Jählings war der rosige Schein am Himmel erloschen, farblose graue Dämmerung hatte sich ausgebreitet. Er lehnte an dem Stamm der alten Rüster und starrte auf den leuchtend weißen Schneeglöckchenstrauß am Boden, den Käthe verloren. Er bückte sich nicht danach; es war, als seien ihm alle Glieder gelähmt.

Er kam erst nach einer ganzen Weile in das Haus und in die Wohnstube, kalkweiß, das Haar thaunaß, die Züge abgespannt wie nach einer furchtbaren Gemüthsbewegung. – –

Käthe saß am gedeckten Tisch mit der Mutter; auch sie war bleich bis in die Lippen. Sie hatte ein zierliches Butterbrötchen in der Hand und fütterte die Katze der Frau Pastorin. Ein tiefer, verheißungsvoller Blick traf ihn.

„Wo bleibst Du denn?“ fragte die ahnungslose Hausfrau ärgerlich. „Aber das hat man davon, wenn man sich quält, dem Kinde das Lieblingsessen vorzusetzen.“ Und sie wies auf die Schüssel mit Speckeierkuchen und grünem Salat. „Und die Käthe nippt auch nur wie ein Vögelchen.“

„Ich danke,“ lehnte er ab, „ich bin nicht imstande –“

Als die Frau Pastorin nach Tisch das Zimmer verließ, um draußen nachzuschauen in der Küche, senkte Käthe den Kopf dunkelerglühend.

Er kam zu ihr herüber und bot ihr die Hand.

„Käthe,“ sprach er, „Sie wissen, wie’s um mein Herz steht; meine erste heiße Liebe wurde getäuscht. Sie wissen auch, durch wen! Sie sind die Samariterin gewesen, die meine Wunde zu heilen kam. Sie wollen noch mehr, Käthe, Sie wollen mir die ersetzen, die ich verlor – oder irre ich mich, Käthe?“

„Nein!“ stieß sie hervor.

„Und ist das nicht zu schwer für Sie?“

„Nein, nein!“

„Lieben Sie mich denn, Käthe?“ fragte er weich.

„Ja!“ sagte sie laut und leidenschaftlich, und als sie seine staunenden, zweifelnden Blicke sah, da schlang sie ungestüm die Arme um ihn. „Ja, ja,“ flüsterte sie, „o, daß Du das nicht längst begriffen hast!“

Er strich wie verwirrt über ihr Haar. „Du bist so jung,“ sagte er leise – wirst Du zufrieden sein mit dem engen Heim, das ich Dir bieten kann, und mit –“ Er stockte.

„Frage nicht so,“ stieß sie ungeduldig hervor, „sonst laufe ich fort.“

„Nein, nein, bleib; es ist so wunderbar, Käthe.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu. „Du irrst Dich ja, Käthe, Dich treibt das Mitleid zu mir.“

Sie lachte hell auf. „O Du Thor!“ sagte sie.

Da schloß er sie fester in die Arme. „Ich danke Dir, Käthe!“ – – – –

Am Abend ging er den nämlichen Weg mit ihr, den er gegangen, als Lore seine Braut geworden. Wie anders war es doch! – Wie damals stand er noch ein Weilchen, nachdem die Thür in der Mauer hinter der, welche er seine Braut nannte, zugefallen war, unter der Birke, und wie damals eilte eine schöne Gestalt wieder zurück. – Und doch wie anders!

„Ich muß Dich noch einmal sehen, Ernst, noch einmal!“ flüsterte Käthe und lag an seiner Brust. „Sag’s, daß Du mich liebst, Ernst; sag’, daß Du alles andere vergessen hast über mich; sag’s, ich bitte Dich!“

„Vergessen?“ fragte er wie betäubt. „Kann denn ein Mensch das vergessen?“

„Ernst!“ Es lag eine förmliche Drohung in dem einen Wort.

„Ja, Käthe, ich hab’ Dich lieb, ja! Denn Du willst mein guter Engel, mein treuer Kamerad sein.“

„Komm bald zu Mama und sag’s ihr,“ forderte sie.

„Ja Käthe, morgen!“

„Morgen!“ wiederholte sie flüsternd und bot ihm den Mund zum Kuß und schlang die Arme um seinen Hals, „morgen und alle Tage, immer, immer. – Aber Ernst –“

„Mein Herz?“

„Das Examen mache ich nun nicht!“

„Ach, Käthe, das wäre schade, weswegen hättest Du gearbeitet alle die Zeit?“

„Aber ich heirathe Dich ja?“ sagte sie verwundert. „Und es ist so schrecklich, dies Examen.“

„Käthe, Du bist ein Kind –“

Sie lachte fröhlich auf und sie küßte seine Hand so heftig, daß er Schmerz empfand. „Gute Nacht,“ flüsterte sie, „gute Nacht! Spürst Du es? Es fängt an zu regnen!“

Sie sah nur eben in die Stube hinein, wo Tante und Mutter saßen, Fräulein Melitta mit einem Spiel Karten vor sich auf dem Tisch. Dann lief sie treppauf in ihr Zimmerchen, warf die Schulbücher vom Tisch, daß es krachte, und holte ihre Briefmappe hervor.

„Lore, liebe Lore,“ schrieb sie, „Du sollst Dein Stübchen wieder haben; ich werde nicht mehr lange bei Euch sein; denn, Lore – sei aber nicht böse – Ernst Schönberg liebt mich und will mich zur Frau. Ich bin so wirr darüber, viel kann ich nicht schreiben heute. Es ist so rasch gekommen. Behüt’ Dich Gott, Lore, kehr’ glücklich heim!

Immer Deine treue Schwester  Käthe.“

Sie adressirte, siegelte und trug das Schreiben hinunter.

„Tante Melitta wirf den Brief an Lore in den Kasten auf dem Heimweg – bitte!“

Das alte Fräulein schob das zierliche Billet in ihren Strickbeutel, der neben ihr auf dem Sofa lag. „Käthe,“ sprach sie, „das bist Du,“ und sie zeigte auf Piquedame. „Höre, Du bekommst einen Mann, einen steinreichen; da liegt das Goldblatt.“

Käthe warf sich jubelnd in den alten Lehnstuhl am Ofen. „Dann brauche ich das Examen nicht zu machen,“ rief sie übermüthig.

„Na, na, doch lieber, für alle Fälle,“ lachte die Tante. „Laß Dir mal den Reichen untreu werden –!“

„Nein,“ lachte sie, „ich will aber nicht, ich will heirathen, ich heirathe den Doktor Schönberg.“

Die alten Damen blickten starr vor Ueberraschung auf das Mädchen.

„Eben haben wir uns verlobt, Mama! Morgen kommt er zu Dir und – ich bin fabelhaft glücklich, Mama!“

Frau von Tollen fand kein Wort. Sie überließ Tante Melitta das Staunen, Wundern und Fragen. Sie ging still aus dem Zimmer und in den dunkeln Garten. „Arme Lore,“ sagte sie, die Hände faltend, als könnte sie durch ein Gebet den Schlag vom Haupt der fernen Tochter zurückhalten. Sie wußte es ja, Lore hat ihn geliebt mit aller Macht ihrer Seele, wußte es, obgleich sie nie ein Wort mit ihr darüber gesprochen. Als sie endlich wieder herantrat, hörte sie gerade, wie Tante Melitta sagte. „Daß Du Dich mit einer so bescheidenen Partie zufrieden geben würdest, hätte ich nie gedacht, Käthe.“

„Warum?“

„Ich weiß nicht, meinte immer, Du wartetest auf einen Baron – so einen mit einem Majorat etwa.“

Frau von Tollen unterbrach das Lachen der Tochter. „Ich werde Dich dem Doktor Schönberg nicht versagen,“ sprach sie, am Tisch stehen bleibend, „aber –“

„Mama!“ rief Käthe drohend und sprang auf.

„Aber in eine öffentliche Verlobung willige ich morgen noch nicht; mögt Ihr, Du und er, Euch erst prüfen.“

Käthe schaute sie lächelnd an und verließ das Zimmer. „Warten? pah! – Eine Kleinigkeit, die gute Mama anderer Meinung zu machen!“

[251]
Nun war Käthe das Glück geworden, das heiß ersehnte Glück! Wunderlich, in diesem Moment fühlte sie weiter nichts als eine seltsame Müdigkeit. Sie stieß die Bücher, die sie sich heimlich aus der Leihbibliothek geholt, zurück – sie hatte jetzt ein Stück Wirklichkeit erlebt, das schönste in einem Mädchenleben; war es wirklich so schön, als es beschrieben wird? Käthe wußte es nicht zu sagen. Sie gähnte auf einmal und nach kaum einer Viertelstunde lag sie im Bett und schlief. – – – –

Ihm ward es nicht so gut. Er suchte, zurückgekommen, die Mutter auf. Sie saß bei der Lampe mit einer Bekannten, der Frau Bürgermeisterin, die etwas „zum Lichten“ gekommen war, wie die abendlichen Besuche der Damen, denen daheim die Zeit zu lang wurde, hierorts genannt werden, denn die Westenberger Hausväter pflegten nach dem Abendessen in das Stammlokal zu gehen. Artigkeitshalber nahm Ernst Platz und hörte die große Neuigkeit mit an, daß zum ersten April jene sehnsüchtig erwarteten Schwadronen eines Ulanenregiments einziehen würden, die Westenberg zur Garnison zu erheben bestimmt waren. „Und denken Sie, liebste Frau Schönberg, die Beckersche Villa kauft die Stadt; da hinter dem Hause errichten sie Kasernen, nächst der Straße wird das Terrain zu Bauplätzen verwerthet, und die Villa selbst, – da miethet der Kommandeur die erste Etage, und die andere einer von den verheiratheten Rittmeistern.“

[252] „Na denn man to,“ sagte lakonisch die Pastorin. „Ja, dann wird’s vorbei sein mit der Stille hier draußen,“ sprach die hübsche rundliche Frau weiter, der die Freude über die Mehrbedeutung ihrer getreuen Stadt aus den Augen leuchtete, „und welche Vortheile bringt es doch! Ein ganz anderes Leben, einen ganz anderen Handel!“

„Das ist sehr richtig,“ gab der Doktor zu.

„Es mag ja wohl sein,“ pflichtete die Mutter bei, die unruhig den Sohn betrachtete. Was scheerten sie Handel und Wandel, Soldaten und Kasernen? Sie sah, daß ihren Jungen etwas drückte, und konnte ihn nicht fragen –.

Endlich ging die Frau Bürgermeisterin, und als die Pastorin von der Gartenthüre zurückkehrte, bis wohin sie respektvoll den Gast begleitet – Ernst hatte sich schon vorher verabschiedet und war nach oben gegangen – da keuchte auch sie die Treppe hinauf und drang in sein Zimmer ein.

Er hatte die Lampe nicht angezündet, aber es war dennoch hell; das Mondlicht quoll blendend durch die Fenster und legte sich in breiten silbernen Streifen auf die weißen Dielen. Er saß im Sofa und rührte sich nicht.

Sie kam herüber und nahm neben ihm Platz.

„Ernst, mit Dir ist’s nicht richtig, es hat was mit der Käthe gegeben?“

„Ja!“

„Hat sie Dir was Schlimmes von der Lore erzählt? Hat es Dir wehgethan? Glaub doch nicht alles, was die Leute sagen; denk doch endlich nicht mehr an die alte Geschichte!“

„Nein, Mutter, es ist anders – ich habe mich mit Käthe verlobt!“

Es war heraus. Er sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Die alte Frau war sprachlos.

„Mutter, so rede doch,“ bat er endlich gepreßt, „Du hast die Kleine doch gern, denk ich?“

„Gern? Ich hab auch die Nachtigall gern, die im Garten singt, aber – –“

Er antwortete nicht.

„Aber fangen wollen hab’ ich sie niemals,“ setzte sie hinzu. Und sie stand ebenfalls auf. „Ist alles complet zwischen Euch beiden?“ fragte sie.

„Ja, Mutter!“

„Dann kann ich das Reden sparen. Gott behüt Dich, Ernst, und schenke Dir Glück!“

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie, dann blieb auch er allein. Aber ihn floh der Schlaf. Er sah Käthes wunderbare heiße Augen vor sich und die Leidenschaft, die ihm daraus entgegengesprüht war. Es dünkte ihm schwül und heiß in dem Raum, und er riß das Fenster auf. Drüben schimmerte hinter den kahlen Bäumen das verlassene weiße Haus, in dem Lore zuletzt gewohnt! Merkwürdig, daß das Herz immer noch wehthat bei einer plötzlichen Erinnerung an sie, die ihm so schnöde die Treue gebrochen. Was würde Lore sagen zu seinem Bund mit Käthe? Nichts vermuthlich! Sie ging in Italien am Arm des Onkels und half die Zahl jener Damen vermehren, die, nachdem sie Schiffbruch in der Ehe gelitten haben, einen so ungeheuer interessanten Nimbus um sich verbreiten. Ach, so jung, so schön, und schon so unglücklich! Er war vielleicht der einzige in ganz Westenberg, der sich nicht wunderte, daß die Eheleute sich trennen wollten. Lore war trotz allem eine zu aristokratische Natur, um es neben dieser Rohheit auszuhalten – das hatte so kommen müssen! Aber daß sie überhaupt den Versuch hierzu gewagt, das erfüllte ihn immer wieder mit Staunen, ja mit Grauen vor den Abgründen eines Frauenherzens. – – Aber was, um alles in der Welt, wollte er noch von Lore? Er, der Bräutigam der Schwester!

Ein Gefühl von Rührung überkam ihn beim Gedanken an Käthe. „Sie ist ein Kind, ein vertrauensvolles Kind, die Kleine,“ sagte er, „sie soll glücklich werden!“




Auf dem Monte Pincio! Und die Abendsonne überstrahlt Rom! Sie nimmt anders Abschied von dieser Stadt als von irgend einer anderen! Nirgends scheint sie sich so schwer zu trennen, hat sie eine solche intensive Goldfarbe. Selbst die Luft erscheint mit Millionen Goldstäubchen erfüllt, und hinter Sankt Peters Riesenkuppel flammt eine Strahlenkrone auf, leuchtend, majestätisch, unsagbar großartig – und umschließt das ewige Rom dort unten wie mit einem Glorienschein. Hundertfältiger Glockenklang zittert durch die Luft; ein weicher Wind kommt herüber von den Bergen und spielt in dem üppigen Laub der Bäume. Und in diesen immergrünen Gängen Tausende von Menschen. Die Menge schiebt und drängt sich, hier blitzende Augen in stolzen römischen Gesichtern, dort das leuchtende Blond einer schönen Engländerin, der rosige Teint einer deutschen Frau. Bunte schimmernde Gewänder, elegante Equipagen; dazwischen die scharlachrothe Livree der Königin. Dort lange bunte Züge junger Priester in grünen, blauen, rothen Gewändern. – Jetzt hebt die Musik an und mischt sich in das Glockengeläute, in das Rauschen der silbernen Wasserstrahlen, in das Schwatzen und Lachen der Menschen, die in allen Zungen der civilisirten Welt reden; und dort drüben, grell sich abhebend vom gelblichen Abendhimmel der ernste Pinienhain der Villa Borghese.

In einem der einsamen Mittelwege geht ein alter Herr in hellem Frühlingsanzug, die Trauerbinde um den Arm; an seiner Seite eine schlanke jugendliche Frauengestalt in einfachem Promenadekostüm, aber in tiefer Trauer. Auf ihren Wangen liegt das feine Roth der Gesundheit, und wenn sie auch just nicht übermüthig fröhlich ist die Art, mit der sie vorwärts schaut in die funkelnde Pracht dieses Frühlingsabends – es liegt doch in diesen Blicken der tiefen Augen eine innige stille Freude über die Schönheit rings um sie her.

„Onkel, wie schwer wird uns der Abschied werden!“ sagte sie eben. –

„Ja, Lorchen, das soll wohl sein, aber wir kommen wieder.“

Sie lachte plötzlich hell und fröhlich. „O, Onkel, ich? Wie sagtest Du doch früher immer – pauvrette!“

„Hm, Lore, Du wolltest ja nicht, daß ich von Deinem nun bald ci-devant Gemahl etwas für Dich herausschlagen sollte!“

Sie sah ihn lächelnd an. „Ja, Du wärst der Richtige gewesen, Onkel, es herauszuschlagen, und ich die Rechte, es anzunehmen.“

„Hast recht, mein Deern!“

„Wie immer, Onkel,“ neckte sie, „und nun bitte, sprich nichts mehr davon; sieh doch, wie wundervoll! Ich sage Dir, Onkel, das Herz wird täglich gesunder, wenn man so etwas schauen darf.“ Und sie wies auf das Bild, das sich vor ihnen ausbreitete – Rom, im Goldflimmer des Abends.

Sie nahm seinen Arm und ging schweigend weiter. Hin und wieder flog ein stolzer Blick von ihm zu ihr, wenn bewundernde Augen die schöne Begleiterin streiften. Gemächlich wanderten sie an der französischen Akademie vorüber und hinunter zu der Piazza del Popolo und schlenderten den Corso entlang. Lore träumte mit offenen Augen; der gute alte Onkel wich dabei in ihren Gedanken einem andern, der ihr der Liebste war auf der Welt.

Das wäre ein Glück ohnegleichen, auf dem Meer dieser Schönheit zu segeln mit ihm, sich belehren zu lassen von ihm, miteinander zu schwärmen, zu genießen – allein mit ihm in dieser wundervollen Fremde, wo kein Mensch sie kannte!

Sie erschrak förmlich, als der General jetzt fragte. „Ob wir Briefe vorfinden?“ Und er kniff ein kleines freches gluthäugiges Ding in die Ohrläppchen, das, ihn verfolgend und unermüdlich seine Veilchensträuße anbietend, jetzt eins davon in seine Rocktasche experimentirt hatte und nun mit zeternder Stimme das Geld dafür verlangte.

„Gottloses Gesindel!“ schalt er, warf ein großes Kupferstück in das Körbchen des Kindes und bot dann Lore den Strauß.

„Ob wir wohl Briefe haben?“ wiederholte er.

„Ich hoffe es, Onkel, hoffe es sehr, von Mama fehlt mir seit acht Tagen jede Nachricht, und ich habe immer Angst, sie könnte krank geworden sein.“

„Wäre kein Wunder! Aber Du darfst nicht daran denken, Kind. Uebrigens der Dachs, die Käthe, muß ihr Examen machen in diesen Tagen; wenn sie durchkommt, schenke ich ihr etwas. He, Lore, willst Du auch fahren, es ist noch weit bis daheim und Deine Füßchen sind sicher so müde wie meine großen Spreekähne.“

Er winkte einer Droschke und sie fuhren durch die belebten Straßen heim.

[254] In dem kleinen Wohnzimmer, das von der Wirthin stolz „Salotto“ genannt wurde, hatte Gemma, das zwar dunkeläugige, aber keineswegs schöne römische Haustöchterlein, Feuer angezündet gegen die rasch hereinbrechende Abendkühle. Auf dem gedeckten Tisch brannte eine Lampe und das Flämmchen unter der Theemaschine. Lore legte Jacke und Hut ab, und der General zog die unterwegs erstandene Zeitung aus der Tasche, und sich behaglich auf eine Art Sofa setzend, fragte er:

„Weißt Du auch, Lore, daß ich gar nicht mehr ohne Dich reisen will? – Herrgott, wie ist das gemüthlich! Mitten in Rom ein deutscher Theetisch!“

Sie blickte ihn freundlich an, nahm ihm gegenüber Platz und den köstlichen Lattuga mit noch köstlicherem Oel mischend, erwiderte sie neckend.

„Wenn Du es willst, ich bin dabei!“

„Ja, Du würdest Dich bedanken,“ lachte er, „nein, nein, keine Versprechungen, Lore, Du würdest wortbrüchig.“

Der lächelnde Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht. Sie fühlte sich heute so frei, so leicht wie der aus dem Käfig entflohene Vogel, wie die Blume, die der erste Sonnenstrahl trifft nach langen Regentagen, wie nur ein junges Menschenherz sich fühlen kann, das leise eine köstliche Hoffnung umschmeichelt nach schwerer Leidenszeit.

Als der alte Herr nach Tisch sein Zimmer aufgesucht hatte, trat sie auf den winzigen Balkon hinaus, der wie ein Schwalbennest über dem kleinen Hof hing. Und willenlos kamen die süßen Träume wieder über sie beim Rauschen des Brunnens dort unten! Weit, weit fort von Rom, im fernen Deuftschland, weilten die Gedanken; sie sah es so deutlich, das Haus mit den hellen Giebelfensterchen. Und er würde ihr verzeihen, er würde es, wenn sie ihm alles erzählte, was sie damals von ihm getrennt. Sie wußte es so genau, ganz genau. Er konnte sie nicht vergessen, wie sie ihn nicht, denn ihre Liebe war zu echt, zu wahr! Ach, Zukunft, was bringst du?

Gemmas tiefe Stimme rief sie zurück in die Gegenwart. Sie habe es ganz vergessen, entschuldigte sie sich, für die Signora wäre so ein Brief gekommen und hier sei er, und ob die Signora vielleicht schon schlafen gehe. Sie, die Gemma, möchte es wissen, denn sie wolle ins Theater, – sie habe ein Billet bekommen von dem Inglese im unteren Stock – und wenn die Signora nichts mehr wünsche heute abend, so –“

„Freilich, gehen Sie!“ antwortete Lore freundlich und trat mit dem Brief zur Lampe.

Das Mädchen nahm rasch das Geschirr ab und betrachtete verstohlen das schöne Gesicht der blonden Dame, die den Brief sinnend in der Hand hielt, und meinte, es sei wohl eine Botschaft von dem fernen „sposo“. – Schade, daß sie sobald schon reisen wollte, die alte „eccellenza“, es waren so ruhige bescheidene Miether, nicht halb so anspruchsvoll wie die Inglesi da unten. Sie verließ das Zimmer mit einem freundlichen „felice notte“.

Lore verschloß die Thür hinter ihr, dann kam sie zum Tisch zurück, kauerte sich auf das Sosa und erbrach den Brief.

Mit einemmale setzte sie sich kerzengerade zurück, todtenblaß war sie geworden. So verharrte sie eine ganze Weile unbeweglich, die Augen ins Leere gerichtet, die Hände auf dem Schoß ineinander gekrallt.

Der Brief lag auf dem Tisch, wenige flüchtige Zeilen standen auf dem Blatt.

Ein Krampf schien Lores Gesicht zu verziehen. Das Lächeln von vorhin lag noch um den Mund, aber damit im Widerspruch standen die schneeweißen Lippen und die Augen, die förmlich zurückgesunken schienen in diesem Moment. Sie erhob sich endlich so schwerfällig wie eine alte Frau, schlich in ihr kleines Kämmerchen und schloß die Thüre hinter sich zu. Die Lampe in dem verlassenen Zimmer flackerte im kühlen Nachtwind, der vom Balkon hereinströmte. Er bewegte die Decke des Tischchens und wehte das Briefblatt herunter, das Briefblatt, das die Nachricht von Käthes Verlobung gebracht, es flatterte bis zu der Thür hinüber, hinter der Lore verschwunden war, als wolle es auch hier eindringen mit dieser Botschaft.

Todtenstille war es. Nur einmal klang es wie Schmerzenslaut aus dem Nebengemach. –

„Alle Wetter, Deern, wie siehst Du aus?“ fragte der General erschreckt am andern Tage, als er zur gewohnten Stunde in den Salotto trat.

Sie sah an ihm vorüber, gab ihm die Hand und erkundigte sich nach seiner Nachtruhe.

„Das wäre – wenn Du das Fieber bekämst! Um alles in der Welt – die Gemma soll den Doktor rufen –“

„Ich danke Dir, Onkel, ich bin ganz gesund.“

„Na, na,“ brummte mißtrauisch der alte Herr; „ich bitte Dich, mach Dich nicht stärker als Du bist, und geh mir nicht etwa krank mit auf die Heimreise.“

„Bis dahin werde ich ganz frisch sein, Onkel.“

„Ja, mein Schatz, wir können aber bald abreisen.“ Der alte Herr lächelte heimlich und zog einen Brief aus der Tasche. „Schau, der lag gestern abend auf dem Tischchen neben meinem Bett. Da hast Du die Bestätigung der Scheidungsakte; Du bist frei, Lorchen!“

Sie nickte leise.

„Es ist gut, Onkel,“ sagte sie müde, „ich danke Dir auch vielmals, Du hast so viel Mühe gehabt.“

Was sollte sie denn noch mit ihrer Freiheit?

Der General ward roth. Er ärgerte sich über diese Gleichgültigkeit. Sie hatte es ja gestern noch kaum erwarten können, bis sie die Bestätigung bekam, daß sie aus den Banden der verhaßten Ehe erlöst sei.

„Wir reisen also nächster Tage,“ brummte er, „ich habe hier ohnehin länger gesessen, als ich wollte. Am Sonnabend gehen wir, dann bin ich über acht Tage in Berlin, just so, daß ich zur ersten Kegelpartie in meinen Klub komme.“

Lore goß ihm Thee ein. „Wie Du willst, Onkel; also reisen wir!“

„Wenn ich nur wüßte, Lore, was Dir fehlt!“

„Mir?“ Sie lachte kurz auf und warf den Kopf zurück. „Was mir fehlt? O Du großer Gott! Wohin sollen wir heute gehen, Onkel?“

„Noch einmal auf den Palatino und ins Kolosseum, wenn Du willst.“

„Sicher!“

Sie trank ihren Thee in kleinen Schlückchen und zerbröckelte das Weißbrot mit den Fingern.

„Aber freust Du Dich denn gar nicht, daß der verdammte Trödel vorüber ist?“ fragte er endlich.

„O ungeheuer, Onkel, und ich wollte Dir nur noch erzählen,“ fuhr sie fort und stand auf, um die Balkonthür zu öffnen, „Käthe hat sich verlobt.“

Dem alten Herrn blieb der Mund offen. „Die Krott? Heiliger Pankratius, mit wem denn?“ stotterte er endlich.

Lore zupfte an den billigen weißen Vorhängen vor der Thür, die in Unordnung schienen. „Doktor Schönberg heißt er; er ist Lehrer am Gymnasium in Westenberg,“ klang es zurück.

„Was ist es denn für einer? Kennst Du ihn?“

„Ja – er – er ist wie alle andern, Onkel.“

„Hm.“

Sie wandte sich um; sie sah fast so entstellt aus wie gestern abend, als sie die Nachricht bekam.

„Na, denn man zu,“ sagte der General, der eifrig in seinem Thee rührte, „hoffentlich hat er etwas Vermögen.“

„Nein“ berichtete Lore.

„Scheint Tollensche Familieneigenthümlichkeit zu sein, dies aufs Gerathewohl Verloben und Verheirathen“ brummte er; „erst wenn sie dann beinahe ertrunken sind, lassen sie den Brunnen zudecken, und dann ist es zu spät.“

Sie hatte den alten Herrn noch nicht so verdrießlich sprechen hören; sie fühlte, der Tadel galt ihr, derentwegen er sich so geplagt hatte; aber es that ihr nicht weh heute, es war ja alles so gleichgültig. Sie machte sich zum Ausgehen fertig und schritt dann mit ihm durch die von einer köstlichen Morgensonne durchflutheten menschenwimmelnden Straßen.

Sie traten endlich in das gewaltige Rund des Kolosseums. Unterwegs hatte keines ein Wort geredet; das war noch nie vorgekommen. Jetzt trennten sie sich; – der alte Herr stieg, von einem Aufseher begleitet, die Treppen hinauf, um noch einmal die Aussicht zu genießen von dieser Höhe. Sie ging unten in der Arena an der Sonnenseite entlang, den Kopf gesenkt, und als sich ihr ein bequemes Plätzchen auf einem der Travertinquadern, die dort umherlagen, bot, setzte sie sich und starrte das uralte Gemäuer an, das sich in gewaltiger Ellipse dehnte. Niemand war [255] hier in der frühen Stunde, eine imponirende Einsamkeit umgab sie. Nur ein Zug schreiender Vögel flog am tiefblauen Himmel hoch da droben, und vor ihr stiegen die Sitzreihen empor, von denen einstens Hunderttausende herniederschauten. Hier unten waren, zum Vergnügen dieser Hunderttausende, zahllose Menschen und Thiere auf entsetzliche Weise hingemordet worden. Sie empfand auch heute wieder staunendes Grauen gegenüber dieser Vergangenheit, und sie fühlte sich so klein, so winzig klein in dieser Welt, nicht größer als ein Sandkorn, das der Wind aufwirbelte. Was war sie mit ihrem Schmerz, mit ihrem kleinen einfachen Menschengeschick? Passirt doch jedem einmal Aehnliches, vielleicht Schlimmeres! – Sie würde leben, ihre Tage leben, und sie würde vergehen, wie Millionen vor ihr vergingen im Strom der Zeit. Und sie wollte auch leben. Wie? nun, das war ihre Sache!

Ihr Kopf hob sich stolz empor; es war ihr wunderbar zu Muthe, als hätte sie starken Wein getrunken, der ihre Nerven angespannt, und der sie doch krank dabei gemacht. Sie fühlte Muth in sich der Zukunft gegenüber und zitterte doch vor der schrecklichen Einöde, die diese Zukunft war.

„Avanti!“ sagte sie laut und stand auf.

Der General dort oben, der wie ein Pünktchen erschien, winkte mit dem Taschentuch. Sie erwiderte seinen Gruß und ging langsam dem Ausgang zu, ihn erwartend.

„Avanti!“ sagte auch er, als er zu ihr trat mit sichtlich besserer Laune, und bot ihr den Arm.

„Ich gehe schon allein,“ erwiderte sie, „muß mich daran gewöhnen, Onkel!“ und ihre Stimme klang hart.

Als sie am andern Morgen die Koffer packte, kam der General mit einem Brief herein. „Na, bei Euch scheint’s epidemisch geworden,“ sagte er und legte eine Tüte feiner Bonbons vor Lore hin, „da ist auch Rudolfs Verlobungskarte; hast Du keine Nachrichten?“

„Ja!“ erwiderte sie und zeigte auf den uneröffneten Brief, der dort lag, „von Mama.“

„Noch nicht gelesen?“

„Nein, Onkel!“

„Na, was sagst Du denn dazu, Deine Mama ist ja auf einmal schön heraus? Und hat natürlich Moos, dieser Maikater oder Katze, oder wie sie heißt, die künftige Frau von Tollen.“

Lore nickte. „Hoffentlich!“

„Da werdet Ihr ja bald allein sein, Du und Deine Mutter, Lorchen.“

„Ja!“ erwiderte sie tonlos.

„Willst Du denn nicht lesen, Kind?“

„Nachher, Onkel; ich möchte nur erst fertig sein, weißt Du.“

„Hör’, Lorchen, Du hast mir doch den dummen Schnack da nicht übelgenommen gestern, daß ich da sagte, Ihr heirathet aufs Gerathewohl? Ich hab es nicht bös gemeint; ich dachte nur, die Käthe – aber nimm es nicht übel, Kind – die passe nicht recht für einen armen Lehrer; verstehst Du mich? Das Mädel kommt mir so wild und so – so – na, mit einem Wort – ich kann sie mir besser auf dem Pferde vorstellen als hinterm Küchenherd oder in der Kinderstube. Ja, wenn Du das wärst, Lorchen, dann hätte ich –“

Sie sah ihn an mit einem Blick, wie ein verwundetes Reh ihn haben mag.

Er hielt betroffen inne und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. „Ich wollte Dich wirklich nicht kränken, meine alte Deern! Es ist ja auch richtig, Lore, ehe der Wildfang Lehrerin wird, lieber einen soliden Mann. Na, es wird sich alles historisch entwickeln, gelt?“

Und er streichelte das blasse Gesichtchen.

Sie nickte freundlich und fuhr in ihrer Beschäftigung fort; dann nahm sie den Brief der Mutter mit in ihr Kämmerchen, und da blieb sie lange. Der General schlief indessen. Er wachte erst auf, als Gemma den Tisch decken wollte; dann kam auch Lore.

„Was schreibt die Mutter?“ fragte er.

Sie wurde roth.

„Mama läßt grüßen,“ log sie. Sie hatte noch nicht den Muth gefunden, den Brief zu lesen.

[270]
Was war aus Westenberg geworden! Die alten Gassen hatten ein ganz anderes Aussehen; das machte nicht allein der neue Anstrich, den die Häuser trugen, das machten die vielen fröhlichen Mädchengesichter, die aus den Fenstern lugten, das machte die Straßenjugend, die mit wahrhafter Begeisterung in ihren Holzpantoffeln über das Pflaster klapperte, daß es das Geräusch der Pferdehufe noch überschallte – das machte die frische, fröhliche Musik, die schon von weither durch die Gassen erklang und Männer und Weiber vor die Thüren lockte.

Hurra! Die Ulanen kommen von der Heide zurück!

Die goldene Morgensonne funkelt in den Lanzenspitzen, die schwarzweißen Fähnchen wehen im warmen Sommerwinde; voran der Stabstrompeter mit seinem Musikcorps, alle auf Isabellen; dann der Kommandeur mit dem Adjutanten, und hinter diesen die lange Linie der Reiter, verstaubt vom heißen Uebungsritt. Aber, wie die Thiere so herrlich im Takt des Walzers schreiten, wie die jungen Kerle so keck im Sattel sitzen, wie die Augen über die Fenster blitzen, und wie sie roth werden, die Mädchenn wenn einer allzu dreist heraufsieht! Jetzt bog der Zug am alten Gymnasium um die Ecke, und auch im Hause der Frau Majorin von Tollen öffnete sich ungestüm ein Fenster, und ein bräunliches Gesichtchen schaute mit zwei strahlenden braunen Augen auf die glitzernde Schlange, die da unten vorbeizog. Käthes Füße traten den Walzertakt, ihre Löckchen wehten im Winde um die schmale Stirn, und die Flügel, des kurzen Näschens bebten vor Lust.

Die Offiziere, sahen alle herauf und grüßten, den Säbel senkend, und sie dankte lächelnd und verschämt, daß ihre weißen Zähne hinter den rothen Lippen blitzten. Ja, das ganze Regiment blickte herauf und freute sich über das reizende Bild. An der Straßenecke da unten ritt das Musikcorps zur Seite, die Schwadronen schwenkten ab zu ihren verschiedenen Ställen, und zwei Offiziere kamen im Trab zurückgesprengt und hielten vor Käthes Fenster.

„Fräulein von Tollen,“ rief der Aeltere, der Kommandeur, „wir fahren heute nachmittag nach Buchenhagen; Sie kommen doch mit? Gusti würde sehr betrübt sein, hielten Sie Ihre Absage von gestern aufrecht.“

„Ach, ich möchte so gern,“ rief das junge Mädchen, „aber es geht nicht, wirklich nicht, Mama erlaubt es nicht.“

„Ich werde einmal mit Tantchen Tollen sprechen,“ erklärte der junge Offizier, der abgesprungen war und dem aus dem Tollenschen Hause herbeieilenden Soldaten das Pferd übergeben hatte; „lassen Sie mich nur machen, Fräulein Katharina!“ Er lachte dabei aus seinen gutmüthigen blauen Augen das Mädchen an.

„Ach ja,“ rief Käthe, „thun Sie es, Herr von Wegstedt, Mama ist im Garten.“

„Sofort!“ klang es zurück. Der Lieutenant verabschiedete sich von seinem Vorgesetzten und rasselte in das Haus hinein.

Der ältere Offizier grüßte, rief ein „auf Wiedersehen“ und wandte das Pferd.

Käthe klirrte das Fenster zu, ohne zu bemerken, daß Doktor Schönberg die Straße daher schritt und schon lange heraufgeblickt hatte, während er ihrer Wohnung zustrebte.

Käthe, die eilig in den Garten wollte, traf mit ihm im Hausflur zusammen, dicht an der neuen Treppenthür, die Frau von Tollen hatte machen lassen, um der obern und untern Wohnung ein mehr getrenntes Ansehen zu geben.

„Guten Morgen,“ sagte sie, seinen Gruß erwidernd, „geh immer hinauf, Ernst, ich will nur Mama etwas fragen.“

„Kann ich nicht mitkommen?“

„Nein, Herr von Wegstedt ist bei ihr.“

„Darin sehe ich kein Hinderniß,“ erklärte er. Aber sie duldete es nicht; sie nahm seinen Arm und führte ihn, ihr Vorhaben aufgebend, nach oben. Dort saß die älteste Schwester Helene und nähte an ihrer kleinen Ausstattung. Die Nähmaschine rasselte betäubend und dazu schrie der Kanarienvogel.

„Ruhe!“ rief Käthe laut mit ihrer klingenden Stimme und bewirkte damit, eine augenblickliche Pause.

Der Doktor nahm die Hand seiner Braut und zog sie an sich. „Kommst Du heute nachmittag zur Mutter?“ fragte er.

„Heute?“ Sie ward roth. „Ich kann es im Augenblick wirklich nicht bestimmen, Ernst. Weißt Du, wenn ich bis zwei Uhr nicht da bin, dann wartet nicht mehr – ja, so wollen wir es verabreden.“

[271] „Gut,“ erwiderte er gelassen, „ich dachte nur, weil Mittwoch ist.“

„Ja, ich weiß.“

„Und weil uns dieser Tag gehört, meiner Mutter und mir, wie der Sonntag Dir.“

„Ach, es ist recht thöricht, sich an bestimmte Zeiten zu binden,“ antwortete Käthe.

„Wie Du darüber denkst, Käthe. – So lassen wir die Verabredung fallen.“

Sie sah ihn einen Augenblick an mit großen, erschreckten Augen. Aber er blickte an ihr vorüber nach der Thür, der sich eben Schritte näherten.

Frau von Tollen kam herein. Sie sah ärgerlich aus, schloß aber den schon zum Sprechen geöffneten Mund wieder, als sie den heimlich Verlobten ihrer jüngsten Tochter erblickte, dem sie jetzt schweigend die Hand reichte.

Er begann über einige gleichgültige Sachen zu sprechen, ließ sich mit den herzlichsten Grüßen für die Frau Mutter beladen und verabschiedete sich dann.

Käthe gab ihm das Geleite bis auf den Flur. Hier bot sie ihm lächelnd den Mund zu einem flüchtigen Kuß, dann legte sie den Finger auf die Lippen und deutete nach unten. Von dort scholl eine Stimme herauf.

„Du Kamel, Du, wenn Du mir noch ein einziges Mal die Kisten so ungeschickt aufmachst, so giebt’s Arrest, verstanden? Zu nachmittag die zweite Ulanka, und die Favorite um zweieinhalb Uhr vor der ‚Krone‘!“

Der Doktor stieg langsam die Treppe hinunter. Just als er in den Flur trat, flog die Thür des Tollenschen Salons, der jetzt an den Herrn Lieutenant von Wegstedt vermiethet war, mit einem riesigen Krach zu, und ein hübscher Ulan in blauer Stallschürze suchte mit verlegenem Gesicht die Fragmente einer kleinen Gipsstatuette auf dem Boden zusammen und warf sie in die Kiste zurück, der er sie eben entnommen.

Ernst Schönberg hätte, wenn ihm überhaupt nach Lachen zu Muthe gewesen wäre, lächeln mögen über das Aussehen des Gescholtenen, so dumm betrachtete dieser eben den zierlich geformten Arm einer Ariadne nach Dannecker.

Er fühlte sich müde, müde von dem ewigen Kampf, den er mit sich selbst führte. Die Füße, die ihn zum Hause seiner Braut getragen an dem Tage nach dem Verlobungsabend, waren schwer wie Blei gewesen, und als er bei der Mutter sein Anliegen vorgebracht mit leiser Stimme, hatte er förmlich aufgeathmet, als ihm ein bedingungsloses Ja! nicht zu theil wurde. Käthe sei noch so jung, und es wäre besser, sie prüfe erst ihr Herz; er möge kommen, so oft er wolle, einem Besseren könne sie ja das Schicksal ihres Kindes nicht anvertrauen, wirklich nicht, und mit Freuden werde sie ja sagen, wenn zu Ende des Jahres noch beide Theile so dächten wie heute. Also bis dahin Geduld! So hatte sie gesprochen, und nachdem er ihr wunderlich gerührt die Hand dafür geküßt, war er gegangen, ohne Käthe gesehen zu haben.

Am Abend desselben Tages aber war Käthe zu seiner Mutter gekommen. Sie hatte ihn immer angesehen mit tränenschwerer Miene, bange Fragen in den großen Augen, und als er ihr beim Abschied draußen in dem Hausflur so ruhig und stillfreundlich, wie es die Natur seines Verhältnisses mit sich brachte, über das Haar strich und die kleine Hand schier väterlich drückte, da warf sie ungestüm die Arme um seinen Hals und rief außer sich, sie betrachte sich seit gestern als seine Braut und werde dies immer thun, und wenn Mama es tausendmal nicht wolle, und Mama habe kein Recht, ihr zu verbieten, ihn zu küssen, und nichts lasse sie sich befehlen, nun gerade nicht!

Er blieb stehen auf der Straße und nahm den Hut von der brennenden Stirn, es war ihm schwül zu Muthe.

„Eine unerträgliche Hitze,“ murmelte er und bog in eine schattige Nebengasse ein. Und während er hier, den Hut in der Hand, langsam weiter ging auf dem schmalen Bürgersteige, drängten sich die letzten Wochen vor seinem Geist vorüber.

Es hatte sich da im Hause der künftigen Schwiegermutter viel verändert. Unten wohnte der kleine blonde Lieutenant von Wegstedt; der Doktor war sich selbst nicht klar, ob ihn das ärgerte oder ihn gleichgültig ließ. Es war ein durchaus bescheidenes Wesen, der junge Offizier, gar nicht dazu angethan, nach irgend einer Richtung hin hervorzustechen. Er hatte nur einen Vorzug, allerdings einen gewaltigen heutzutage, er war der einzige Sohn reicher vornehmer Eltern und besaß als solcher die Anwartschaft auf eines der feudalsten und gesegnetsten Rittergüter in der Mark Brandenburg. Er war der Sohn von Frau von Tollens intimster Jugendfreundin, und diese hatte, als sie die Versetzung des Regiments nach Westenberg erfuhr, ihrer theuren Marie den „Einzigen“, ihren guten wilden Hans, gleichsam ans Herz gelegt.

So kam es, daß er da unten wohnte, und daß mit ihm in das kleine Haus ein Hauch von dem alten frischen, fröhlichen Soldatenleben gezogen war, „das ja“, wie Frau von Tollen lächelnd sagte, „eigentlich unser aller Lebensluft ist“.

„Tantchen Tollen“ nannte der junge Offizier die Majorin. – Tantchen Tollen! Es klang so treuherzig, liebenswürdig, sie mußten alle lachen, die alte Dame, die stille Helene, die heimgekommen war, um ihre kleine Ausstattung zu fertigen, weil sie endlich, endlich zur Königszulage herangekommen waren und heirathen konnten zum Herbst – und Käthe –.

In das magere Speisekämmerchen des Haushaltes flogen jetzt seltene Gäste, Spargel und Geflügel aller Art vom freiherrlichen Gutshof, und zuweilen saß der „gute wilde Hans“ mit den Damen am gedeckten Tisch unter der Linde, die Dogge und den gelben Teckel je auf einer Seite, und aß heimathlichen Schinken und Radieschen, die er eigenhändig aus den Gemüsebeeten der Majorin gezogen, und erzählte Schnurren, daß das glockenhelle Lachen Käthes dem eintretenden Doktor bis in den Hausflur entgegen scholl.

Sie lachte nie in seiner Gegenwart, wie sollte sie auch? Er war der ernsthafteste, der stillste, der nüchternste Bräutigam von der Welt, als sei ihm ein Schloß vor die Lippen gelegt in ihrer Gegenwart. Arme kleine Käthe! Sie hatte ihn so lieb, so leidenschaftlich lieb; – und er wollte sie glücklich machen, sicher, so glücklich, wie ein ehrlicher Wille und ein braves Herz es imstande sind. Und was in diesem Herzen noch immer nicht der Kleinen gehörte, das wollte er bekämpfen, immer wieder zurückreißen von dem verbotenen Wege, denn sie allein hatte Anspruch auf seine Dankbarkeit, auf seine Nachsicht, auf alles.

Er nickte flüchtig zu dem Fenster der Mutter hinüber. In seinem verdüsterten Gesicht blitzte bei dem Anblick des alten Frauenkopfes nicht ein freundlicher Zug auf. Sie erwartete es wohl auch nicht mehr; sie ließ einen Moment das Strickzeug ruhen und horchte nach den Schritten, die jetzt auf dem Flur erklangen. Als sie an ihrer Thür vorüber gingen nickte sie seufzend vor sich hin, als wollte sie sagen: ich weiß schon, und laut fügte sie hinzu: „Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich!“

„Kommt Käthe?“ fragte sie eine Stunde später ihren Sohn, als sie bei Tisache saßen.

„Vielleicht,“ war die Antwort.

„Warum vielleicht?“

„Ich habe keine Ahnung, Mutter.“

„Ich kann es mir denken,“ sagte die Pastorin, „sie fährt wahrscheinlich spazieren mit dem Wildfang von Kommandeurs. Gott im Himmel, das ist die Richtige! Ueber acht Tage raucht Käthe womöglich auch Cigaretten, über vierzehn Tage kutschirt sie schon hoch vom Bock, und über drei Wochen ist sie verrückt geworden.“ –

„Laß sie doch, wenn’s ihr Spaß macht, Mutter!“

„Ei, sie könnte ja meinetwegen Kunstreiterin werden, wenn Du sie nicht zufällig heirathen wolltest“ – die alte Frau war in hellem Zorn.

„Wenn ich sie geheirathet habe, so –“ Er brach ab. Das Dienstmädchen trat ein mit einem Briefe; ein kleiner Junge habe ihn abgegeben und warte auf Antwort.

Er nahm das zierliche Billet und las. Dann legte er die Serviette auf den Tisch, stieg nach oben und schrieb Antwort.

Die Mutter ergriff das Blatt und las ebenfalls.

„Mein Schatz! Ich soll mit Lechbergs nach Buchenhagen fahren. Es ist so herrliches Wetter. Darf ich? Wenn Du es aber nicht willst, so sag’s. Dann komme ich. Tausend Küsse.
  Deine Käthe.“

Er trat wieder ein und sagte zu seiner Mutter. „Ich habe Käthe gebeten, daß sie komme. Willst Du nicht ein wenig Sandkuchen holen lassen? Sie ißt ihn so gern zum Kaffee.“

„Kann ich ja,“ erwiderte sie laut, „wird schwerlich ein Ersatz sein für die Spazierfahrt,“ setzte sie für sich hinzu. –

[272] Im Garten unter der Rüster, wo sie sich verlobt hatten, war der Kaffeetisch gedeckt. Hinter der Bank blühte ein Fliederstrauch, und blaue duftende Dolden berührten fast den braunen Kopf des Doktors, der hier saß und auf seine Braut wartete. Er las, und zuweilen sah er nach der Uhr. Es war nicht gerade die Ungeduld eines zärtlichen Bräutigams, die sich in seinem Gesicht abspiegelte, vielmehr hatte er sich so versenkt in seine Lektüre, daß er ganz überrascht war, wenn wieder eine Viertelstunde von der verabredeten Zeit verstrichen war.

Endlich kamen im Gange hinter ihm leichte Tritte daher, und aufspringend stand er vor Käthe, die eben um das Gesträuch bog.

„Willkommen,“ sagte er und reichte ihr die Hand, „setze Dich, Käthe! Ich denke, Mutter wird Dich bemerkt haben und bald hier sein.“

Das junge Gesicht unter dem breitrandigen Strohhut von leichtem schwarzen Geflecht ward roth. Es war allerdings ein Empfang, wie sie ihn nicht erwartet hatte. Sie hatte gemeint, er müsse ihr in überwallender Zärtlichkeit danken, weil sie, gehorsam seinem Wunsch, ihre Landpartie, dies doch gewiß ganz unschuldige Vergnügen, aufgegeben habe, man hat doch wahrhaftig wenig genug im Leben!

Nichts von alledem; es war ja selbstverständlich nach seiner Idee, daß sie kam. Es spiegelte sich aus jedem Zug seines regelmäßigen, schönen Gesichtes ab: ich kann das verlangen!

Sie setzte sich stumm in einen Gartenstuhl an die entgegengesetzte Ecke des Tisches, holte ihre Handarbeit aus dem seidenen Beutelchen und begann hastig, aber mit einer gewissen Ungeschicklichkeit zu häkeln. Es war sehr drollig. Er betrachtete sie ein Weilchen mit etwas milder Miene, wie wenn man ein Kind betrachtet. Dann nahm er das Buch und sagte. „Soll ich beginnen, Käthe? Ich kann vielleicht, bis Mutter kommt, noch das Kapitel aus der Geschichte der Mark fertig lesen, Käthe, das wir Sonntag begonnen haben. Wo blieben wir doch?“

„O lieber Himmel, ich habe keinen Schimmer mehr,“ antwortete sie, „mich interessirt überhaupt die ganze Geschichte nicht. Was geht es mich an, ob Dietrich von Quitzow vor fünfhundert Jahren einmal Westenberg belagerte und Mord und Brand hinter der alten Stadtmauer gehaust haben? Wir Tollens stammen aus Schlesien und außerdem, ich bin ein Kind meiner Zeit und will von der Gegenwart etwas wissen, und der Himmel ist so blau und die Sonne scheint so hell, ich mag das vermoderte Zeug nicht hören.“

„Aber Du interessirtest Dich doch lebhaft für diese Lektüre?“ fragte er und sah unsicher zu ihr hinüber, „ich dächte, wir hätten oft davon gesprochen, einmal die ‚Quitzows‘ zusammen zu lesen.“

„Wir? Ganz gewiß nicht!“ erklärte Käthe, „Du sprachst nie mit mir über diese Lektüre, das hast Du geträumt, oder Du bist – Du – es wird wohl Lore gewesen sein,“ setzte sie hinzu.

Er legte plötzlich das Buch hin und starrte zu der alten Mauer hinüber, aber er antwortete nicht. Er konnte dem jungen Mund da drüben nicht widersprechen, der unbarmherzig die Wahrheit sagte und ihn erschreckte bis ins tiefste Herz.

„Verzeih,“ brachte er endlich hervor, „ich will Dich nicht quälen. Wollen wir plaudern?“

„Ja,“ erwiderte sie kurz. Aber es ist leicht gesagt, „plaudern wir“, wenn das Herz voll Bitterkeit ist. Plaudern ist der Ausdruck für einen Austausch harmonisch gestimmter Gemüther; es gehört geistiges und körperliches Wohlbefinden, das Gefühl der Behaglichkeit dazu.

Von der Straße her scholl jetzt das Trappeln von Pferdehufen und das Rollen leichter Wagenräder. – Kommandeurs fuhren eben nach Buchenhagen. In Gedanken sah Käthe die blonde Gusti auf dem Kutscherbock in der knapp sitzenden Jacke von dunkelblauem Stoff, aus dessen Täschchen das winzige seidene Tuch schaute; sah die zierliche Krawattennadel in Form eines Hufeisens, den kecken Filzhut auf dem blonden, ganz jungensmäßig geschnittenen Haare, und die mit gelblichen Lederhandschuhen bekleideten Hände, die Leine und Peitsche regierten. Wundervoll, so zu sitzen und hinauszufliegen in den kühlen Waldesschatten, der dort unten weit in der Ferne sich ausbreitete!

„Es ist heiß hier,“ sagte sie.

„Ich finde es nicht,“ erwiderte er, „das Wasser giebt Kühlung. Aber weißt Du, was ich mir ausgedacht habe? Ich lasse dort weiter unten, dort an der freien Stelle, noch einen Platz herrichten, der soll der unsere werden, Käthe, dieser mag für Mutter bleiben; es ist gut, wenn jeder auf eigner Hoheit sitzt; es schließt darum nicht aus, daß wir zusammenkommen. Und im Herbst, Käthe, wollen wir da zusammen eine Linde hinpflanzen!“

„Ich finde eine Edeltanne schöner,“ widersprach sie.

„Aber man kann nicht darunter sitzen, und ich denke, Du magst Linden gern.“

„Nein!“ sagte sie laut und hart, „das ist ja Lores Lieblingsbaum.“

Er stand auf und ging seiner Mutter entgegen. „Du bleibst so lange.“

„Ich wollte nicht stören,“ erwiderte die alte Dame, welche behutsam die mit einem wollenen Kaffeewärmer bedeckte Kanne trug. „Solche, wie Ihr seid, haben sich immer viel zu erzählen – und sieh ’mal, Käthchen was ich gefunden habe.“ Sie hielt einen Brief in die Höhe. „Den solltest Du gewiß in den Kasten stecken, was?“

„Ja, an Lore,“ sprach das Mädchen erschreckt.

„Was heißt denn das? Lore ist doch nicht krank?“ fragte die Pastorin.

„Nein!“ antwortete Käthe.

„Ich bekam einen Schrecken, weil darauf steht: ‚Augustahospital‘.“

„Sie will ja Krankenpflegerin werden,“ erklärte die Schwester leicht.

"So? Ein schwerer Beruf! Gott segne die, die diese Mühsal auf sich nehmen und Energie genug fühlen, es durchzuführen,“ sprach die alte Frau. Es lag etwas wie Rührung in ihrer Stimme. Sie hatte eine Schwester gehabt, die Diakonissin gewesen und bei einer Thyhusepidemie ihrem schweren Beruf erlegen war.

Käthe goß den Kaffee ein. „Ach, ich könnte es nicht,“ sagte sie dabei aus vollstem Herzen.

Die alte Frau ging im Laufe des Nachmittags ab und zu, sie wunderte sich nicht über die Stille zwischen den jungen Leuten. Als die Dämmerung hereinbrach, bot der Doktor dem Mädchen den Arm und sie wanderten schweigend durch die Gartenwege. Das Haus vor ihnen schaute friedlich unter den hohen Rüstern hervor, Käthe kannte jedes Fenster darin, sie kannte den Wetterhahn auf dem Dach und den Hofhund vor der Thür seiner Hütte, und sie kannte die gelbe Henne, die just ihre Kücken zur Nachtruhe lockte. Dort das Waschhaus, in dem sie künftig die große Herbstwäsche dirigiren würde, den Schlüsselbund im Gürtel und die große Schürze vor. Sie blieb stehen wie erschreckt und zog den Arm aus dem des Mannes neben ihr.

Als sei ihr ein rosenfarbenes Glas vor den Augen fortgenommen, so öde und grau erschien ihr die heißbegehrte Seligkeit.

„Woran denkst Du?“ fragte er.

„An nichts,“ erwiderte sie klanglos. –

Gleich nach dem Abendessen wollte sie fort. „Ich muß mich noch entschuldigen bei Gusti, daß ich sie bei der Spazierfahrt im Stich ließ.“

„Das hat nicht Zeit bis morgen?“ fragte die Mutter, die ein altes Kästchen herzugeholt hatte, „Du wolltest ja immer die Brosche sehen, die die Königin Luise meiner Mutter geschenkt hat.“

„Verzeihen Sie, ich versprach es Gusti, als ich absagen ließ.“

„Schön, schön; gute Nacht also!“

Im Hausflur, wo Käthe Ernst sonst immer die Arme um den Hals geschlungen, legte sie heute nur flüchtig die Hand in seine Rechte, und als er sie festhielt, um ihr noch etwas Freundliches zu sagen, in dem Gefühl, daß er es etwas gar zu sehr an der nöthigen Liebenswürdigkeit der Braut, und einer so jungen und leidenschaftlichen gegenüber fehlen ließ, fand er dennoch kein Wort, und nur die alte Schwarzwälderuhr tickte an der Wand neben dem eingelegten Kleiderschrank, denn auch Käthe blieb stumm. Sie stand da mit gesenkten Augen und einem Zug von Trotz und Stolz um den Mund. Er zog ihre Hand an die Lippen, als wolle er sie um Verzeihung bitten. Sie lachte kurz auf. Sie dachte an den Kuß dort draußen unter den Rüstern im Herbstessturm, als er gemeint, sie sei Lore.

Sie wehrte auch heute seiner Begleitung bis zur Gartenthür und lief in der Dämmerung wie ein Wiesel über den Fahrdamm und in die weit geöffnete Pforte des ehemaligen Beckerschen Gartens.

[286]
Der Doktor stieg in seine Stube hinauf, in der Absicht zu arbeiten, und ertappte sich eine halbe Stunde später, am Fenster stehend, in Gedanken an Lore.

Er hatte sich eben ihr stilles, schönes Gesicht unter der Haube der Diakonissinnen vorgestellt. Sie war also doch nicht in Berlin, allein um zu leben; sie wollte, wie es schien, bereuen in guten Werken. Er zuckte die Schultern und zündete sich die Lampe an; es war zu finster, um die feine Schrift zu erkennen in dem Manuskript. Das vor ihm war eine wissenschaftliche Arbeit, die ihm einen Namen in der Welt der Gelehrten schaffen sollte. Es beanspruchte alle seine Kräfte, dieses Werk „Ueber die Reformation in der Altmark“.

Wenn er nur seine Gedanken zu bannen vermöchte! Er war nicht mehr imstande, sich ganz in das Jahr 1540, in das Kloster der Augustinerinnen zu Diesdorf zu versetzen, allwo damals eine der Nonnen – Ursula von Ritzebüttel – das Kloster heimlich verließ, um sich der neuen Lehre zuzuwenden. Immer und immer nahm diese abtrünnige Nonne Lores Gestalt an; er sah sie durch die Kreuzgänge huschen, sah sie zum letztenmale in der schönen Klosterkirche niederknieen und kindlich die Jungfrau anflehen um Vergebung ihrer Sünde; und er sah sie bei dem Rauschen des Gewittersturms durch den Baumgang eilen in Nacht und Finsterniß, dem Licht, der Aufklärung entgegen. Aber es war nicht Ursula, es war Lore, und sie barg sich nicht im Häuslein des lutherischen Geistlichen, sie floh an seine Brust.

Welch ein Wahnsinn, der ihn verfolgte in all seinem Thun und Lassen, in der Schulstube, auf seinen Spaziergängen, überall! Gewaltsam zwang er seine Gedanken zu Käthe hin.

Er warf die eben ergriffene Feder auf das Schreibzeug zurück und schritt auf und ab. Käthe war verletzt gegangen, zum erstenmal verletzt heute; ihr Lebewohl stach seltsam ab gegen sonst und es that ihm leid, ihr wehgethan zu haben.

Er setzte sich abermals an den Tisch und begann an sie zu schreiben. Zuerst stockte die Feder, dann jagte sie förmlich über das Papier, und als er vier Seiten fertig hatte und sie überlas, lachte er und zerknitterte den Bogen in der Hand. Ein schönes Schriftstück! Es war so väterlich, so vernünftig; er hatte darin von seinem Herzen gesprochen, das durch sie zu genesen hoffe, sie gebeten, daß sie Geduld mit ihm haben möge; – von Liebe kein Wort. Wenn sie es las, mußte sie fragen: „Ja, was soll denn das alles, gesteh’ es doch gleich ehrlich, Du liebst mich nicht, Du kannst Lore nicht vergessen! Geh’, hole sie Dir, sie ist ja frei, und laß mich!“ Er sah ihre weinenden schönen Augen, und er hielt sich die geballte Faust vor die Stirn.

„Es wäre schuftig,“ sagte er halblaut, „ein schöner Dank für ihre Liebe! Sie hat mein Wort, ich werde es halten – unglücklich soll sie nicht werden!“ Und abermals zwang er sich dann zu seiner Arbeit. – –

Käthe war inzwischen in der Loggia der Villa drüben jubelnd empfangen worden. Die Herrschaften, von der Spazierfahrt heimgekehrt, saßen in dem schönen Raum bei Tische, der Kommandeur und seine Frau, sowie Rittmeister von Schlieben mit seiner jungen Frau aus dem oberen Stock. Man war eben beim Dessert; eine Schale Erdbeeren duftete auf der elegant ausgestatteten Tafel, und am Nebentischchen brauten Gusti, die junge Tochter des Hauses, und Herr von Wegstedt eine Bowle.

„Wie schade,“ rief Gusti, „daß Du nicht dabei warst, Käthe! Herr von Wegstedt und ich haben einen Wettritt gemacht.“

„Ich denke, Du bist gefahren?“ fragte Käthe.

„Nun, weil Du absagtest, überließ ich Papa den Wagen und ritt mit Schliebens. Du mußt auch reiten lernen, Käthe. – Ist die Bowle gut, Herr von Wegstedt?“

„Famos!“

„Hast Du nicht Lust, Käthe? Papa kann Dir Reitstunde geben.“

„Und ich,“ rief der kleine Lieutenant.

„Mama erlaubt’s nicht,“ sagte Käthe seufzend, die im offenen Bogen lehnte und wie im Traum über das Bild vor sich sah.

Der Diener hatte Windlichter auf den Tisch gestellt, an dem die verheiratheten Herrschaften saßen und plauderten, die stattliche Mutter Gustis, der Kommandeur, der seinen Ueberrock etwas geöffnet hatte und eine kurze Pfeife, der Mücken wegen, rauchte, und der schlanke Rittmeister mit seiner zarten Frau, die so allerliebst [287] zu lachen verstand und eine entzückende Haustoilette aus weißem Flanell trug.

„Tantchen Tollen erlaubt’s nicht?“ fragte Wegstedt. „Tantchen Tollen muß! Wir haben hier großen Mangel an jungen Damen – sie hat kein Recht, uns die einzige noch zu nehmen. Was soll denn aus unserer Quadrille werden, nicht wahr, gnädiges Fräulein, wenn Fräulein von Tollen nicht mitreitet?“

„Eine Quadrille?“ fragte Käthe.

„Famos!“ rief Gusti burschikos und winkte dem Diener, daß er die gefüllten Gläser präsentire. „Haben die Herren schon über die Kostüme gesprochen; ich dachte, die Uniform eines der alten kurbrandenburger Regimenter zum Beispiel müßte sich gut machen – was, Käthe?“

„Kann sein; aber ich – ich mag nicht,“ antwortete diese.

„Mag nicht? Wetten wir, daß Sie sehr bald mögen?“ rief Wegstedt.

„Du kommst morgen mit mir in die Reitbahn!“ entschied Gusti, „ich habe noch ein zweites Reitkleid; der Rock wird Dir wohl passen. Da setzen wir Dich einmal auf den Gaul – Du hast doch nicht etwa Angst?“

Käthes Augen blitzten verächtlich. „Ich werde mich morgen aufsetzen“ sagte sie, „an Courage fehlt es mir nicht; aber nur zum Spaß, denn ich –“

„Schön; also zum Spaß,“ unterbrach sie Wegstedt.

„Aber wollen Sie denn schon wieder fort, Fräulein von Tollen?“ rief die Hausfrau.

„Ach, bleiben Sie doch noch!“ scholl es vom Tisch herüber.

„Freilich bleibt sie,“ erklärte Gusti, „sie wird überhaupt nicht gefragt, ob sie will. Komm, wir gehen durch den Garten!“

Sie zog Käthe mit fort, und als sie durch die dunkeln Gänge streiften, wo hier und da Johanniswürmchen aufflammten, fragte Gusti leise. „Du, wer ist denn eigentlich der junge hübsche Mensch, der da drüben wohnt? Ist es der Sohn von Deiner alten Pastorin, zu der Du so oft gehst?“

„Ja!“

„Er sieht gut aus; er ist doch nicht etwa gefährlich?“

„Wieso?“

„Hm, frag’ nicht so dumm! Wegstedt sagt, er kommt so oft zu Euch; ist das wahr?“

„Ja, er ist – er – weißt Du, ein alter Freund von uns und – mein ehemaliger Lehrer.“

„Weiter nichts?“ fragte Gusti eindringlich.

„Nein!“ Käthe sagte es, ohne zu stocken.

„Nun, da wird sich Wegstedt ja beruhigen.“

„Ich verstehe Dich nicht.“

„Aber bist Du dumm! Verzeih’, Käthe, bist Du denn so ein Bähschäfchen, daß Du nicht merkst, wie Wegstedt bis über beide Ohren in Dich verliebt ist?“

„Ah, Unsinn! – In Dich vermuthlich!“

„In mich?“ Das klang ganz mitleidig. „Du weißt so gut wie ich selber, daß ich nicht an ihn denke und an wen ich denke – nein – allen Ernstes, Käthe, Dich meint er.“

„Denkst Du an einen Bestimmten?“ fragte Käthe ablenkend, aber ihr Herz klopfte stark.

„Freilich! Ich bin schon seit vorigem Jahre heimlich verlobt; Papa will’s zwar nicht zugeben, hat den armen Menschen für ein Jahr auf Reitschule kommandiren lassen, es hilft ihm aber nichts; nebenbei finde ich es ganz reizend, heimlich verlobt zu sein und – aber davon sprechen wir nicht – Wegstedt –“

Käthe hielt sich die Ohren zu. „Hör’ auf!“ rief sie. Es war ihr, als tanzten Feuerfunken vor ihren Augen.

„Auch gut!“ sagte Gusti.

Schweigend schritten sie weiter. Auf der Landstraße jenseit der Hecke ging ein Bursche mit der Ziehharmonika, und ein paar Mädchen sangen die Worte zu dem traurigen Soldatenlied, das zu den Lieblingsweisen des Volkes jener Gegend gehört:

„Die Rosen blühen im Thale,
Soldaten marschiren ins Feld.“

Sie standen still und horchten dem Lied bis zu Ende;

„so geht’s, wenn ein Mädchen zwei Knaben lieb hat,
’s thut wunderselten gut –“

hub klagend der letzte Vers an. Käthe sandte einen dunkeln Blick hinüber, und ihre Rechte, die auf Gustis Arm lag, zitterte leise. „Es ist zu grausig,“ sagte sie scherzend, „daß er sie gleich todt sticht.“

„Was willst Du denn?“ fragte Gusti laut, „ich glaube, Meiner ermordete mich auch kaltblütig, wenn ich – –“ Sie stockte. „Na, den andern schösse er jedenfalls todt – und mich –“

„Dich, Gusti?“

„Strafte er mit Verachtung, wie ich es verdiente.“

Käthe sprach nicht mehr. Sie kamen nach einer langen Weile zu der Gesellschaft zurück.

„Ich muß wirklich heim,“ sagte sie. Sie sah sehr blaß aus.

„Ich begleite Sie,“ rief der kleine blonde Offizier und ging hinaus, um sich Säbel und Mütze zu holen.

Bis zum Thorweg ging Gusti mit, und heimlich zwickte sie Käthe in den Arm. „Der gute Wegstedt,“ flüsterte sie, und laut fügte sie hinzu. „Morgen nachmittag um 4 Uhr in der Reitbahn!“

„Ich weiß noch nicht,“ sagte Käthe unsicher.

Der junge Offizier schritt anfangs schweigend neben Käthe her. „Warum wollen Sie denn nicht reiten?“ fragte er dann.

„Es wäre eine Thorheit von mir,“ erwiderte sie; es klang bitter.

„Wieso?“

„Reiten lernen – ich hätte ja kein Pferd.“

„Kein Pferd? – hm! –“

„Nun also!“

„Aber es wäre doch nett, wenn Sie es gelernt hätten, – für später vielleicht.“

„Vielleicht!“ spottete sie; „lassen wir das, bitte!“

„Nein, ich will, daß Sie reiten lernen, alles andere findet sich.“

„Sie wollen das?“ fragte Käthe athemlos.

„Ja, Sie werden nicht immer in dem Neste hier und bei Ihrer Frau Mutter bleiben; wenn Sie zum Beispiel einmal meine Eltern besuchen, und das hat ja Tantchen Tollen schon versprochen, dann – dann wäre es doch schade, wenn Sie allein zu Hause sitzen müßten, nur weil Sie nicht reiten gelernt haben“

Sie waren während dieser Worte in die einsame Straße gebogen, in der sie wohnten. Am nächtlichen Himmel wetterleuchtete es hinter drohenden Wolken, schwül und dumpf athmete sich die Luft, durchzogen von den Flieder- und Jasmindüften, die aus den Gärten herüberquollen.

„Bei unserem Schlosse ist ein köstlicher Reitplatz,“ fuhr Wegstedt fort, „ganz mit hundertjährigen Linden umstanden. Es ist überhaupt nett da, in Wegstedten; die alte Burg hat Stimmung, wie die Maler sagen; sie ist unverändert, seitdem 1615 der letzte Nagel eingeschlagen wurde. Sie müssen wirklich bald ’mal kommen, Fräulein Käthe; schon der Ahnensaal ist interessant, und, denken Sie sich, just noch zwei Bilder haben da Platz – meines und das meiner künftigen Frau, – dann muß ein neuer etablirt werden. Können Sie sich vorstellen, daß mich manchmal die Neugierde plagt, zu wissen, wie das letzte weibliche Porträt wohl aussehen wird, das da neben dem meinen hängen soll dereinst?“ –

Sie erwiderte kein Wort. Sie standen jetzt vor der Thüre des kleinen Hauses, und Käthes Rechte lag auf dem Drücker; blendend weiß leuchtete die schmale aristokratische Mädchenhand durch die Dunkelheit, dann legte sich eine Männerhand mit leisem Druck über die ihre. Einen Augenblick zuckte sie schreckhaft auf, aber sie machte dennoch keinen Versuch, sich zu befreien.

„Käthe!“ klang es in ihr Ohr.

Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt.

Langsam, ihre Hand noch immer unter der seinen, bog er den Drücker, dann leitete er sie, ohne sie loszulassen in den Hausflur, und dort preßte er die zitternden Finger an seine Lippen. „Auf Wiedersehen!“ sagte er leise, denn von oben kam ein Lichtschimmer und floß dämmernd bis zu ihnen herunter.

Sie sah ihm einen Moment in die Augen und ging dann rasch der Treppenthüre zu, die Helene öffnete.

„Kamst Du denn mit Wegstedt?“ fragte diese, halb besorgt, halb erstaunt.

„Ja!“

„Aber das will Mama doch nicht, Käthe.“

„Ich wollte es auch nicht,“ klang es leise zurück, „aber wer kann dafür?“ Und Käthe lief nach einem hastigen „gute Nacht!“ an der Schwester vorüber in ihr Kämmerchen und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit. Und plötzlich fing sie leidenschaftlich an zu schluchzen, wie immer, wenn sie nicht aus noch ein wußte. Dann, wann sie ausgeweint, wußte sie gewöhnlich, was sie wollte, und als heute der Paroxysmus vorüber war, wußte sie es auch.



[288] „Nicht so eilig!“ sagte der Doktor, der, aus der Schule kommend, Käthe in ihrem schwebenden Schritt vor sich hergehen sah. Von der Achsel flatterte ihr eine schwarze Schleife – sie hatte überhaupt mit besonderer Sorgfalt Toilette gemacht und schien es eilig zu haben.

„Wohin denn?“ fragte er und setzte den Strohhut wieder auf.

„Zu Kommandeurs in die Reitstunde.“

„Wer – Du?“

„Ja!“

Er war roth geworden. „Komm doch einen Augenblick zur Mutter mit herein, Käthe!“

„Ich habe keine Zeit.“

„Ich möchte Dich um etwas bitten, herzlich bitten.“

„Ich kann’s mir denken, ich soll nicht reiten.“

„Nein, das ist es nicht. Ich wollte Dich um Verzeihung bitten wegen gestern, ich war verstimmt, ich hatte Schulärger gehabt. Du sollst mir sagen, daß Du nicht mehr böse bist, Kind!“

„O, es ist nicht der Rede werth; ich will später kommen, Gusti und Wegstedt warten.“

„Nein, jetzt!“

„Warum?“

Sie standen an der Gartenthüre seines Grundstücks unter den Rüstern.

„Weil ich will; wir haben uns gestern abend unverantwortlich benommen, und das verlangt Sühne.“

„Aber jetzt will ich nicht, Wegstedt wartet.“

„Wegstedt – was geht mich Wegstedt an? Du willst mich wohl eifersüchtig machen?“ Er sprach dies alles scherzend und öffnete die Thüre, um sie eintreten zu lassen. „Hast Du Angst, Euer blonder Verzug könnte ein wenig Wartenlassen übelnehmen?“ fuhr er fort. „Sicher nicht, zumal wenn er über kurz oder lang erfährt, daß Du mein Schatz bist und ich ihm nur aus Gnade und Barmherzigkeit erlaube, Dir seine Ritterdienste zu widmen.“

Sie trat hastig ein. „Du willst ihm sagen, daß wir –?“ fragte sie erregt.

„Verlobt sind,“ ergänzte er. „Ja, ich finde, es ist das Richtige. Er ist ja bei Euch wie zur Familie gehörig – kann es also wissen. Es bringt diese Heimlichthuerei auch allerhand Mißverständnisse zustande, und Deine Mama,“ – er sprach das mit veränderter Stimme und einem ernsten Zug im Gesicht – „Deine Mama hoffe ich bald zu erweichen, daß sie die Sache veröffentlicht; es hat wirklich keine Art so, Kind. Ich habe mir das gestern abend überlegt, als Du fort warst.“

Sie sah sehr bleich aus in diesem Augenblick.

„Wir können ja heute abend darüber reden, ich werde zu Euch kommen oder bist Du nicht zu Hause?“ fragte sie.

„Sicher, ich sage dann im Kegelklub ab.“

„Adieu!“ murmelte sie.

„Ohne ein freundliches Wort?“ fragte er. „Soll ich auch damit warten bis heute abend?“

Sie nickte kurz und wie verlegen, dann ging sie. Er sah ihr nach, wie sie hinunter schritt und im Gitterthor verschwand.

Keine Ahnung kam ihm, daß sie ihn schon verrathen hatte.

Er war die ganze Nacht schlaflos gewesen und hatte sich endlich klar gemacht, daß er sie heimholen wolle je eher, je lieber; dann sei sie vorbei, die folternde Unruhe, und er löse sein Wort als Ehrenmann ein. Die andere – war und blieb verloren für ihn. Es vergiebt sich viel im Leben, aber solcher Verrath nicht; es war eine Schwäche gewesen, angesichts der Schwester, der Vertrauenden, auch nur einen Gedanken rückwärts zu senden.

Er rief die Mutter heraus, legte seine Bücher auf einen Gartentisch und begann mit ihr über den Ausbau des Hauses zu sprechen, der noch im Sommer vorgenommen werden sollte. – –

Käthe stand bald darauf in Gustis kleinem Boudoir. Es hatte schwere bunt gestreifte Wollvorhänge, an den Wänden eine Masse englischer Bilder, den Reitsport betreffend, und in einem Winkel einen Ständer mit ausgesucht eleganten Fahr- und Reitpeitschen, Leinen und Hundehalsbändern. Auf dem Kaminteppich lagen drei reizende schwarzbraune Teckel. Der Schreibtisch war besetzt mit Terracottahunden und -pferden und verschiedenen Bildern der Lieblinge. Eine große Photographie, eines jungen Offiziers zu Pferde, hing über dem Sofa, ferner die Porträts der königlichen Familie und einiger berühmter Sportsmänner. Ueberall Sessel und Sesselchen; am Fenster, halb versteckt unter den Vorhängen, als ob er sich schäme, ein Nähtisch, dessen Platte ein rothes Sammetkästchen trug, mit Elfenbeinwappen verziert. Daneben lag wirklich eine weibliche Arbeit, Flanellstreifen, die höchst kunstlos aneinander genäht waren – Binden für die Pferdebeine. Ein einziger Bücherschrank nahm die eine Schmalwand ein; er enthielt eine Bibliothek, die in ihrer Auswahl entschieden einem schneidigen Kavalleristen Ehre gemacht hätte.

Die junge Herrin dieses Zimmers lehnte in einem Schaukelstuhl; schon im Reitkleid, wartete sie ihres Besuchs und rauchte, sich langsam wiegend, eine Cigarette, deren Rauch sie höchst kunstgerecht in Ringeln in die Luft blies. Sie war ein kleines zierliches Geschöpf, wie ein Püppchen gewachsen, hatte ein mageres Gesicht mit etwas sonnengebräuntem Teint, der aber nicht schlecht aussah zu den grauen merkwürdig großen Augensternen, den kirschrothen Lippen und der Fülle dunkelblonder Haare über der Stirn.

„Endlich kommst Du!“ rief sie Käthe zu und sprang aus dem Stuhl; „nun rasch in das Reitkleid, Hans Wegstedt wartet schon.“

Sie schob Käthe in das anstoßende Schlafzimmer und half ihr bei der Reittoilette.

„Da nimm die Jokeymütze; ich setze den Hut auf – so! famos siehst Du aus, und nun komm! Was, gewebte Handschuhe? Die kannst Du nicht anziehen. Passen Dir welche von mir? Versuch’s.“

„Ist das Dein Bräutigam?“ fragte Käthe, das Bild des Offiziers über dem Sofa ansehend, indem sie mühelos in die Handschuhe fuhr mit ihren schlanken Händen.

„Errathen! – Das Pferd ist ‚Caressa‘, das fünfmal im Derby gesiegt hat; einmal in Hamburg, dreimal in Berlin und einmal in Baden-Baden. Das letzte Mal sogar gegen Wegstedts berühmten ‚Pompoer‘ um eine halbe Nasenlänge.“

„Wegstedt hält Rennpferde?“

„Warum sollte er’s nicht? Der kann’s doch aushalten?“

„Kennst Du seine Eltern?“ forschte Käthe und wurde roth.

„Ob! Letzten Winter in Berlin war ich auf zwei Bällen bei ihnen. Sie machen ein brillantes Haus. Die Mutter vom Hans ist enfant gâtée bei Hofe, eine liebenswürdige Dame und echt vornehm. Der kleine Hans sieht seinem Vater ähnlich, er hat gar nichts von der stattlichen Mutter; aber ein netter Junge ist er, was, Käthe? Und so der einzige,“ fuhr sie fort, „der ganze Verzug der Eltern. Sie thun einfach alles, was er will, damit ihr Herzblatt zufrieden ist – übrigens wirklich ein guter Kerl.“

„Haben sie denn auch in Berlin ein Haus?“ Käthes Augen waren immer größer geworden.

„Nein; aber eine Wohnung in der Nähe des Pariser Platzes, eine prachtvolle Etage. Was meinst Du, Schatz, was die kostet? Mehr als ein General Gehalt bekommt. Und entzückende Equipagen haben sie! Na, mit einem Wort, Schatz, der Hans ist eine Partie! Aber nun komm!“

Sie liefen eilig die Treppe hinunter und aus dem Hause, denn Gusti mahnte, Papa warte nicht gern und sei auch schon in der Bahn.

„Ist er reich, Dein Bräutigam?“ fragte Käthe während des eiligen Gehens.

„Bah, reich – ja – nein; er könnte mehr brauchen wegen der Pferde – Aber wir werden schon durchkommen; Papa giebt mir eine anständige Zulage. Was heißt reich? Wir haben eben außer Wegstedt keinen wirklich Reichen beim Regiment.“

Sie waren am Eingang eines großen Fachwerkgebäudes, das der Rath der Stadt als Reitbahn hatte aufführen lassen, angelangt. Der Oberstlieutenant stand vor der Pforte neben Wegstedt und wartete.

„Ist ‚Lillith‘ da?“ rief Gusti, „denn Käthe soll ‚Lillith‘ bekommen, ich nehme Deinen ‚Goldjungen‘, Papa.“

„Aber keine Mätzchen machen, bitte!“ rief der Vater.

Sie lachte hell auf und lief voran in den großen, trotz des draußen herrschenden Sonnenlichtes leicht dämmerigen Raum. Dort standen die Thiere, drei an der Zahl, Wegstedts ‚Bella‘, der ‚Goldjunge‘ und die ‚Lillith‘.

Mit einem leisen Wiehern begrüßte letztere ihre Herrin, die den schlanken Hals klopfte und ihr einen Kuß auf das weiße Fleckchen oberhalb der Augen gab.

„Sei gut, Du trägst eine Anfängerin heute,“ schmeichelte sie, „keine Sprüngelchen machen, dear Lillith.“

Sie saß bald darauf auf des Vaters Goldfuchs, der heute einen Damensattel trug, und amüsierte sich über den Eifer Wegstedts, der Käthe nach ein paar verunglückten Versuchen in den [290] Sattel gehoben hatte und ihr nun einen Vortrag über Zügelhilfen und Sitz im Sattel in für Laien unverständlichen Ausdrücken hielt.

„Das Gleichgewicht im Sattel ist der Kernpunkt für die Reiterin,“ rief der Kommandeur dazwischen.

Käthes Gesicht, das allerliebst unter der kecken Mütze aussah, strahlte vor stolzer Freude.

„Himmlisch!“ jubelte sie, „o, ich fürchte mich gar nicht! Ist es so recht? Danke tausendmal! Es ist ja ganz einfach.“

Die Herren lachten.

„Alle Achtung!“ rief der Kommandeur, als ‚Lillith‘ dem ‚Goldfuchs‘ an der Bande entlang nachging im Schritt und die tannenschlanke Gestalt des Mädchens davontrug.

„Ist auch Talent, Herr Oberstlieutenant,“ rief entzückt der kleine Ulan zurück.

„Das stimmt, das Mädel sitzt wie ein Alter.“

Käthe war ganz schwindlig vor Entzücken. Sie sah zu Wegstedt hinunter und fing einen langen, ernsthaften Blick von ihm auf.

Mit spielender Geschicklichkeit begriff sie, was man ihr zeigte, und als ihre erste Lektion beendet war, stand sie herzklopfend, überselig neben dem Kommandeur und sah zu, wie Gusti und Wegstedt über rasch herzugestellte Bretter sprangen. Sie war einfach Feuer und Flamme. Sie fühlte sich gehoben, begeistert, in ihrem wahren Lebenselement.

„Nun?“ fragte der kleine Offizier, als er dicht vor ihr absprang und, das Pferd am Zügel, zu ihr trat.

„Ach, es ist wonnig!“ sagte sie.

„Also der Unterricht geht fort?“

„Ja!“ rief sie stürmisch.

Er sah ihr lächelnd in die Augen. Sie standen abseits in dem weiten Raum. – Der Kommandeur war am andern Ende der Bahn neben Gusti, die jetzt, auf ‚Lillith‘ sitzend, spanischen Tritt reiten wollte und sich mit dem Thier im Kampf darüber befand.

„Wart, Du Faulpelz!“ scholl ihre klingende Stimme herüber.

„Wie gefällt Ihnen meine ‚Bella‘?“ fragte Wegstedt jetzt; „sie geht brillant als Damenpferd, es ist keine falsche Ader an ihr,“ setzte er hinzu und kraute die Stirn des zierlichen Rappen.

„Ach, sehr schön!“

„Gut, dann reiten Sie sie! Mama hat noch Damensättel in Fülle, sie soll einen schicken. Sie können sich sehr bald ins Freie hinaus wagen.“

Sie antwortete nicht, sie sah wie träumend in eine herrliche Perspektive hinein. Da stand im Hintergrunde ein stolzes Schloß, und darin hohe Säle, und in dem einen hing ganz am Ende ein Bild, ein dunkles Köpfchen mit braunen glänzenden Augen – ach, wer ist denn das?

Freifrau Katharina von Wegstedt, geborne von Tollen – ah!

Sie lächelte und bog die Reitgerte. – Entzückend war sie in diesem Augenblick!

In der Seele des jungen Offiziers stand in diesem Moment genau das nämliche Bild. So, so wie sie da eben sei, wolle er sie malen lassen, dachte er, und sein ehrliches, verliebtes Herz war von der Freude geschwellt, diesem armen kleinen Mädchen seine fast fürstlichen Reichthümer zu Füßen legen zu können. Gusti hatte recht, er war ein so guter kleiner Mensch, der Hans Wegstedt, und wie im Taumel bei dem Gedanken, daß dieses zigeunerhaft reizende Geschöpf ihn liebte; und daß sie das that, das wußte er seit gestern abend.

„Käthe!“ sagte er leise.

Sie hob die Wimpern und sah ihn an. Wenn noch etwas gefehlt hätte, um ihn ganz in Fesseln zu schlagen, so war es dieser scheue und doch glühende Blick – er traf wie Funken in ein Pulverfaß.

„Käthe, ich habe Sie so unsinnig lieb,“ sagte er halblaut und rückte die Mütze noch schiefer auf dem blonden Kopfe, „und Sie müssen – Käthe, zum Kuckuck, ich kann keine Worte machen – Sie müssen mich heirathen!“

Sie lehnte an der Bande, rosig, verschämt, erstaunt ob des stolzen Glückes, das sie plötzlich in die Arme nahm, um sie hinwegzutragen aus der Armseligkeit ihres jetzigen Lebens. – Langsam senkten sich die dunklen Wimperm über den durstigen, verlangenden Augen; sie war das Urbild eines süß verschämten glückseligen Mädchens, das zum erstenmale von Liebe hört.

„Käthe, sagen Sie ‚ja‘!“ flüsterte er.

Er war dunkelroth geworden vor Entzücken.

„Ich halt’s nicht mehr aus, Käthe,“ flüsterte er, „ich kann Sie nicht sehen so, ohne Ihnen um den Hals zu fallen“ stieß er hervor, „auf Wiedersehen! Ich mache jetzt einen Ritt – ich –“ Er war im nächsten Moment auf der ‚Bella‘, nahm mit einem prächtigen Sprunge die Barriere des Eingangs und war verschwunden.

Sie sah auf einmal völlig verändert aus, bleich wie zum Tode erschreckt.

„Gusti,“ rief sie der Reiterin entgegen, die eben im eleganten Trab daherkam, „ich möchte heim.“

„Genier’ Dich nicht! – Bist Du sehr müde? Es strengt anfänglich kolossal an. – Wo ist denn Wegstedt?“ rief Gusti.

„Fortgeritten!“

„Ah, geh nur, zieh Dich um, laß Dir von der Jungfer helfen. ‚Lillith‘ ist eigensinnig, das darf ich ihr nicht durchgehen lassen, entschuldige mich!“

Käthe ging und vergaß, sich von dem Vater der Freundin zu verabschieden; sie war in einem unbeschreiblichen Seelenzustand. Sie wußte hinterher nicht mehr, wie sie in ihre Kleider und auf die Straße und von da in Tante Melittas Wohnzimmerchen gelangt war. Nicht wie eine Dame hatte sie den Weg zurückgelegt, sie war gelaufen wie ein Schulkind, das zu spät zu kommen fürchtet, und athmete auf, daß sie unangehalten an dem Schönbergschen Hause vorübergeschlüpft war.

Sie warf sich, ohne anders guten Tag zu sagen als mit einem stummen Kopfnicken, in die Sofaecke und ließ Tante Melitta sich über ihr echauffiertes Aussehen wundern, so viel sie wollte.

„Bist Du ein launisches Ding,“ schalt die alte Dame endlich ärgerlich, „hast Du Dich etwa mit Deinem geliebten Ernst gezankt? Aber dann suche Dir künftig einen andern Trotzwinkel; weißt Du, wenn man hierherkommt, so spricht man wenigstens.“

„Ja, gleich, Tante, laß mich nur, ich habe Kopfweh.“

„Vielleicht hast Du Hunger,“ sagte das kleine gutmüthige Fräulein, das blasse verstörte Gesicht der Nichte betrachtend, „bist Du etwa weit gegangen?“

„Nein, ich hatte die erste Reitstunde, mir zittern alle Glieder.“

„Nu, das ist kein Wunder; na warte nur!“ Und Tante Melitta ließ in dem winzigen Stübchen nebenan, das die Stelle des Eßzimmers bei ihr vertrat, noch ein Couvert auf den sauber gedeckten Tisch legen und servierte Käthe ein zierliches Glasschälchen mit saurer Milch.

Da saß nun das Mädchen mit ihr und rührte die Speisen nicht an. Ihr ekelte vor dem Essen; sie fühlte sich so merkwürdig schwach.

„Ja, ja,“ sagte eben das alte Fräulein, dem es prächtig schmeckte, „sehr entzückend das Reiten, aber – es paßt eben nicht recht für den Lebensweg, den Du Dir ausgesucht hast; – Du mußt hübsch zu Fuße gehen. Hättest Du doch gewartet! Wozu bist Du so eilig gewesen mit Deinen achtzehn Jahren? Und in den Karten lag so etwas Brillantes für Dich – der Wegstedt, Käthe, der –“

Es war so dunkel jetzt, daß Tante Melitta die Röthe auf des Mädchens Wange nicht mehr sah.

Käthe erhob sich plötzlich, rief ein „Gute Nacht!“ zurück und lief davon. Eine furchtbare Angst jagte sie heim. – Wenn Wegstedt nach Hause gekommen wäre und hätte schon Tantchen Tollen Mittheilung gemacht, daß – –? Das durfte nicht sein, um Gottes willen nicht. Sie wußte, daß er sie mit keinem Blick wieder streifen würde, wenn er von der Mutter erfuhr: „Aber lieber Hans, Käthe ist ja schon gebunden.“ –

Sie riß die Hausthür auf; stockdunkel war es im Flur, nur die geöffnete Gartenthüre gegenüber zeichnete sich als ein dämmergraues Viereck ab, und von da draußen herein schollen Stimmen. Sie schlich auf den Zehen bis hinüber zu der Thüre. Unter der Linde schimmerte ein weißes Tischtuch, und mehrere Personen saßen dort. Sie hatten sich im Garten zusammengefunden, die Mutter, Helene, Hans Wegstedt – sie sah ihn jetzt deutlich trotz der tiefen Dunkelheit; schattenhaft hob sich seine Gestalt ab, er saß rittlings auf dem niedrigen Gartenschemel, die Arme auf der Rücklehne desselben. Alles andere verschwamm im tiefen Schwarz der Sommernacht.

[291] Eben sprach Frau von Tollen, und es antwortete ihr eine Männerstimme.

Käthe sank unwillkürlich auf die Schwelle nieder und blieb da auf den Knieen liegen, den schwindelnden Kopf an die steinerne Einfassung der Thüre gelehnt. Auch er? Beide! Mein Gott, was sollte das werden? In wirrem Durcheinander jagte es sich hinter ihrer Stirn. Eine erdrückende Furcht lähmte sie förmlich; zum ersten Mal kam ihr eine brennende Scham, das Gefühl ihres Unrechtes, Todesangst vor der Entwicklung der Dinge, die sie frevelhaft ins Dasein gerufen.

Die Herren sprachen jetzt ausschließlich. Die Stimme des einen und des andern scholl abwechselnd in ihr Ohr – einmal auch ihr Name.

„Wo bleibt nur Fräulein Käthe?“ Das war Wegstedt.

„Ich denke, sie wird bei meiner Mutter sein,“ erwiderte Ernst.

„Ich glaube, sie sitzt mit Fräulein Gusti zusammen und hält Pferdegespräche,“ meinte Wegstedt. „Apropos, heute ist ja Kegelabend, warum sind Sie nicht da, Herr Doktor?“

„Und warum Sie nicht, Herr Lieutenant?“

„Ich? Mir war der Abend zu schön für den Petroleumqualm und den Cigarrendampf in dem dumpfen Lokal, und es ist doch eigentlich ein ödes Vergnügen.“

„Ich hatte ähnliche Betrachtungen,“ bemerkte der Doktor.

„Merkwürdig,“ entgegnete Wegstedt nachlässig, „und Sie sind doch einer der besten Spieler!“

Frau von Tollen mischte sich mit leiser Stimme ins Gespräch. Helene fragte, ob es nicht zu kühl sei für die Mutter.

Dann sprach Wegstedt wieder. „Tantchen Tollen, ich schreibe heute noch an Mama. Haben Sie etwas zu bestellen? Ich versprach nämlich Fräulein Käthe einen Damensattel.“

„Das ist ja Unsinn, Hans,“ wehrte die Majorin verstimmt.

„Gar kein Unsinn, Pardon, – warum?“ Er sprach das sehr ungeduldig. „Wenn Sie sie nur gesehen hätten auf dem Gaul; ich wollte, sie käme erst, damit sie –“ Er brach ab.

„Ich glaube nicht, daß sie vor zehn Uhr kommt,“ hatte Helene gesagt.

„Und allein geht sie so spät?“ fragte der junge Offizier.

„Tantchen, das dürfen Sie doch nicht leiden!“ – Und plötzlich erhob er sich. „Ich gehe vielleicht doch noch in den Kegelklub.“

Käthe flog empor, ins Haus zurück und die Treppe hinan. Auf der obersten Stufe blieb sie sitzen. Sie hörte, wie er sporenklirrend über den Hausflur schritt, dann war er fort. „Gott sei Dank, heute abend spricht er nicht mehr mit Mama – aber Ernst –“. Sie kehrte wieder zurück auf ihren Lauscherposten.

Richtig! Ernst sprach. es sei doch besser, gerade unter den obwaltenden Verhältnissen, daß die Verlobung veröffentlicht werde. „Ich kam deshalb her, gnädige Frau, aber die Gegenwart Herrn von Wegstedts hielt mich ab, zu sprechen. Lange möchte ich Sie heute auch nicht mehr aufhalten, es wird feucht; nur bitten möchte ich, daß Sie meinen Vorschlag überlegen.“

„Lieber Schönberg, ich will es überlegen. Sie können wohl recht haben,“ klang es traurig.

„Freilich, Mama, es wäre das Beste für Käthe,“ sagte Helene, „es ist das Richtige; sie wird trotzig und unberechenbar durch den Zwang der Heimlichkeit. Sie hat den Herrn Doktor sehr lieb, und Du weißt ja, Mamachen, wenn wir Tollensmädel einmal einen gern haben, dann haben wir ihn ordentlich gern, und wenn wir zehn Jahre auf ihn warten sollen. Also verkürze dem armen Ding die Qual.“

Zum zweiten Male ergriff Käthe die Flucht. Des Doktors freundliches „Gute Nacht!“ an Mutter und Schwester scholl herüber. Diesmal flüchtete sie am Hause entlang hinter die Himbeerstauden an der Mauer. Sie kam erst hervor, als sie alle den Garten verlassen hatten, und setzte sich wieder auf die Schwelle. Sie wollte warten auf Hans Wegstedt. Gott mochte geben, daß er vor zehn Uhr kam, er durfte morgen noch nicht mit Mama sprechen, erst müßte der andere – der andere erfahren, daß – sie preßte die Hände ineinander – daß sie sich geirrt, als sie ihn zu lieben geglaubt, daß sie erst jetzt wisse, was eigentlich Neigung bedeute.

Und sie wartete da in der weichen duftenden Nacht, angstvoll zum Verzweifeln und doch selig ob dieses neuen Sieges über Hans Wegstedts Herz; schwelgend in der goldigen Zukunft, die ihr winkte, und durch dies alles in einen fieberhaften, halb besinnungslosen Zustand versetzt. Die Uhr des Gymnasiums schlug Zehn; sie zählte halblaut mit. „Nur noch eine Viertelstunde will ich warten,“ sagte sie. Merkwürdig, es fror sie auf einmal so, trotz der Schwüle, die Zähne schlugen ihr ordentlich leise aneinander und die Stirne ward ihr feucht.

In der ehemaligen Küche, jetzt Burschenstube, rührte es sich. Der junge Soldat ging pfeifend über den Flur, um in des Lieutenants Zimmer die Lampe anzustecken. Dann kam er zurück mit einer Wasserflasche, strich dicht an Käthe vorüber und verschwand in dem dunkeln Garten. Käthe hörte die Pumpe gehen und den Burschen dazu pfeifen:

„Die Rosen blühen im Thale,
Soldaten marschieren ins Feld.“

Ihr gestriges Gespräch, als sie das Lied mit angehört, fiel ihr ein, und plötzlich wollte ihr das Herz stillstehen vor eiskalter Gewissensangst! Oben ward jetzt ein Fenster aufgemacht.

„Käthe, bist Du da?“ rief die Stimme der Schwester.

Sie wandte sich ins Haus und stieg die Treppe empor; es war ihr, als habe sie Blei in den Füßen, so schwer wurden ihr die paar Stufen, und mitten auf der Treppe mußte sie sich halten, denn wieder schüttelte sie der Frost, und der Kopf begann heftiger zu schmerzen.

„Aber mein Gott, wo steckst Du denn?“ fragte Helene, „Du weißt doch, Mama ängstigt sich, wenn Du nicht pünktlich kommst. Warst Du bei Deiner Schwiegermutter?“

„Nein, bei Tante Melitta. Gute Nacht!“

Sie saß noch stundenlang und schrieb. Mitunter weinte sie, dann flog wieder ein stolzer Zug um ihren Mund und ein Lächeln. Jetzt wieder mußte sie aufhören, so elend fühlte sie sich, so schmerzte sie der Kopf. Endlich war sie fertig. „Bewahre ein freundliches Andenken Deiner Käthe von Tollen,“ hatte sie geendet. Sie konnte sich nicht entschließen es noch einmal durchzulesen, dieses Stammeln um Verzeihung, dieses Schuldgeständniß und diese Anklagen.

Sie schob die engbeschriebenen Seiten in ein Couvert und adressirte dasselbe. Als sie den Brief mit dem goldgesprenkelten Siegellack siegeln wollte und dazu den Wappenring, ein Konfirmationsgeschenk der Eltern, vom Finger zog, sah sie zufällig auf und in den kleinen Spiegel, der über dem Tischchen hing, an dem sie saß. Ein blasses, erschrecktes Gesicht blickte ihr mit einem Paar großer, flackernder Augen, unstet, wie die Schuld sie hat, entgegen; die Stirn lag halb verschattet vom zerwühlten Haar. – Unheimlich war das Bild. Und droben, in der Ecke des Glases, schimmerte wie bei einem alten Gemälde der Tollensche Wappenhund auf silberner Mauer, den sie gemalt; „Treu und fest“ stand darunter. Sie starrte wie gebannt in den Spiegel, ein furchtbares Grauen beschlich sie. Ihr war, als sähe sie des Vaters Gesicht hinter sich – zürnend, drohend.

„Was ist aus Dir geworden, Käthe?“ meinte sie zu hören. „Du bist aus der Art geschlagen, Käthe, aus der ehrlichen, vornehmen Art der Tollens; Du bist eine – Betrügerin!“

Wie eine Verfolgte sprang sie auf und barg den Brief in der Kleidertasche, und sie flüchtete sich in ihr Bett und zog die Decke über sich. Wieder schüttelte sie ein kurzer Frost, dem eine glühende Hitze folgte.

„Lieber Gott, hilf mir nur noch dies einzige Mal!“ flehte sie. Es war ihr, als säße sie auf dem Pferde, und das rase mit ihr im Kreise herum, immer herum, immer herum, bis sie schwindlig wurde und alles vor ihr versank.

Dann ertappte sie sich dabei, daß sie sprach; sie erschrak darüber. Wie kam sie dazu, nach Lore zu rufen? Lore war doch nicht hier, Lore war in dem Krankenhause zu Berlin, und ihr stilles Gesicht bog sich vielleicht eben über ein fieberndes sterbendes Menschenkind.

„Bleib bei mir, Lore,“ sagte sie, denn sie sah greifbar deutlich die Schwester vor sich, „bleib bei mir, ich will anders werden, Lore, ich will vernünftig sein, ich will alles an Ernst bestellen; sei mir nur nicht böse und laß mir den Hans. O mein Kopf, mein Kopf!“ Und sie streckte die Arme nach der Thür aus und saß aufrecht im Bett mit wahnsinniger Angst. „Ich will noch nicht sterben, ich will’s ja wieder gutmachen, was ich gethan. Singt nur das schreckliche Lied nicht mehr!“ Und als sie wieder zurückfiel in die Kissen, flüsterte sie. „’s thut wunderselten gut, wunderselten, Gusti, er darf ihn nicht todtschießen!“

[302]
Indessen hatten sich Wegstedt und der Doktor auf der Straße getroffen. Der kleine Offizier war in aller Eile an der Thür der Residenz seines Kommandeurs gewesen und hatte erkundet, daß Käthe dort nicht sei; nun war er ärgerlich wieder auf dem Wege nach Hause. Weshalb um alles in der Welt saß Käthe denn ewig bei der Mutter dieses Doktors? Und gar heute abend? Und plötzlich standen sich die beiden Herren gegenüber in der dunkeln, schlecht erleuchteten Straße, auf dem schmalen, nur für eine Person berechneten Fußsteig.

Der Offizier wollte mit einem raschen Gruß vorüber, da redete ihn der andere an. „Ist wohl ausgefallen, der Kegelklub heute abend, Herr von Wegstedt?“

„Weiß nicht!“ schnarrte der Kleine.

„Ah, Pardon, ich glaubte, Sie wollten – Apropos, Herr Lieutenant, gestatten Sie mir eine Bitte – nein, ich will Sie nicht aufhalten, ich komme die kurze Strecke wieder mit zurück.“ – Und der Doktor nahm, der Schwüle wegen den Hut ab und ging, ihn in der Hand haltend, auf dem Fahrdamm neben Wegstedt her. – „Die Bitte mag Ihnen zunächst sonderbar klingen,“ fuhr er fort, „sie lautet nämlich folgendermaßen: Animiren Sie Fräulein von Tollen nicht zum Reitsport, Herr Lieutenant!“

Wegstedt blieb stehen. „Was geht Sie das an?“ scholl es hochmüthig durch die Dunkelheit.

Es geht mich an, Herr von Wegstedt, verlassen Sie sich darauf! Wie so? weshalb? kann ich Ihnen heute noch nicht sagen, vielleicht sehr bald, aber –“

„Ich frage, was gehen Fräulein von Tollens Passionen Sie an?“ wiederholte Wegstedt eine Nuance gereizter.

„Nun denn, Herr Lieutenant, die Frage könnte ich mit Fug und Recht an Sie stellen. Haben Sie die Güte, etwas zu warten; ich bin heute noch nicht imstande, zu beweisen, daß die Passionen Fräulein von Tollens mich allerdings angehen.“

„Herr, Sie sind ein elender Renommist!“ schrie der kleine Offizier.

„Herr von Wegstedt!“ scholl es drohend zurück.

„Mein Herr, Sie lügen, wenn Sie behaupten, daß Sie auch nur ein Atom von Zugehörigkeit zu dieser Familie besitzen.“

„Und Sie, mein Herr, sind momentan nicht in der geistigen Verfassung, ein vernünftiges Wort zu verstehen, ich werde mir erlauben Ihnen morgen eine Erwiderung zukommen zu lassen.“

„Sehr angenehm!“

Der Doktor wandte sich jäh um. Wegstedt rasselte weiter.

„Alle Donnerwetter noch ’mal!“ fluchte er vor sich hin, „so ein verdammter –“ Die Hausthür flog krachend hinter ihm ins Schloß, daß Frau von Tollen aus dem ersten Schlummer aufschrak. In seinem Zimmer brannte die Lampe. Die Läden waren angeschlagen. Er warf die Mütze auf den Tisch und die Handschuhe dazu, den Säbel stieß er in eine Ecke, daß er das Gleichgewicht verlor, rasselnd längs der Wand hinschurrte und klirrend zur Erde fiel.

Alle Wetter noch ’mal! Weiß Gott, er war nicht hochmüthig, er war kein verstockter Junker, er achtete jeden, wes Standes er sei, wenn er seine Pflichten treu erfüllte; aber daß dieser Kathederheld es wagte, auch nur einen Gedanken zu der zu erheben, die er, Levin Hans von Wegstedt, zu seiner Ehefrau machen wollte, da schlag der Teufel drein, das war zu viel!

Er war, während er dieses halb gedacht, halb gesprochen, im Zimmer auf und ab gelaufen und warf sich nun mit verstörter Miene in einen der rothen Plüschfauteuils der Frau Majorin. Er war ganz unsinnig verliebt, der kleine Hans von Wegstedt, in dies feine schlanke Geschöpf mit dem kecken Gesicht und den prachtvollen Augen. Und er war ihr so dankbar, daß sie ihn, den kleinen Hans von Wegstedt, wollte; er hätte schon viele haben können, aber was waren sie alle gegen dieses Mädchen! Seit drei Wochen hatte er nicht mehr an sein Elternhaus denken können, ohne daß er dort in den Zimmern und Sälen sie umhergehen gesehen hätte. Verfluchter Unsinn, der Kerl mußte verrückt sein!

Auch er schrieb, er schrieb an seine Mutter, an der er all sein Lebtag eine Freundin gehabt, und bat sie, Käthe von Tollen einzuladen. „In solchem jammervollen Neste wie Westenberg, liebste Mama, vermengen sich die Elemente gar zu sehr, und dadurch, daß Tollens immer in mißlichen Verhältnissen waren, ist es eben gekommen, daß die sogenannte Hautevolée der Bürger sie als völlig zu sich gehörig betrachtet und meine Käthe sich der höchst ernsthaften Huldigungen eines sonst sehr charmanten Menschen, eines jungen Doktors vom Gymnasium hier, erfreut. Ich bin wenig entzückt davon, wenn auch ganz und gar keine Gefahr vorhanden ist. Bitte, komme womöglich selbst und hole Dein künftiges Schwiegertöchterlein. Bereite Papa langsam vor.“

Von dem ernsthaften Rencontre verrieth er kein Wort; so was schreibt man nicht, das mochte sich ja nun regelrecht entwickeln. – Der Doktor würde natürlich auf Studentenrapiere losgehen. – Apropos – er war ja wohl gar Reserveoffizier? Hans Wegstedt holte die Rangliste. – Richtig – um so besser! – Er ging endlich schlafen, nahm ein Buch und die Lampe mit ans Bett und trank die ganze Wasserflasche aus, aber sein empörtes Blut wollte sich nicht beruhigen, er that kein Auge zu.

Der andere Morgen brachte ein frühes, heftiges Gewitter, nach welchem der Himmel sich nicht wieder aufklärte; leise regnete es weiter auf die durstige Erde, die ihren Dank in Gestalt von wunderbaren Düften zu den wohlthätigen Wolken hinauf sandte.

Es plätscherte und rieselte in allen Dachrinnen und in allen Rinnsteinen, und in allen Häusern standen Thüren und Fenster offen um die ersehnte Kühlung einzulassen.

Hans von Wegstedt kam völlig durchnäßt von der Heide zurück und nahm sich kaum Zeit zum Umziehen, um den jungen Referendar, der ihn bereits seit einer Viertelstunde erwartet hatte, nicht allzu lange antichambrieren zu lassen.

Er wußte natürlich, was der wollte.

Der Referendar stand vor dem prachtvoll ausgestatteten Gewehrschrank, als Hans in sein Wohnzimmer trat, und ging nun gemessen auf diesen zu.

„Ich komme im Auftrag des Doktor Schönberg, Wegstedt.“

„Nehmen Sie Platz, Röder, ich erwartete das.“

Die Herren setzten sich.

„Schönberg läßt Sie um Genugthuung bitten; er erklärt sich zufriedengestellt, wenn Sie in meiner Gegenwart und in der eines Ihrer Kameraden Ihr Bedauern äußern, gestern abend so – so beleidigende Ausdrücke gebraucht zu haben. Sie waren vermuthlich schlechter Laune, Wegstedt, oder Sie unterschätzten die Eröffnungen Schönbergs.“

„Ich bedaure kolossal, aber ich kann nicht den Ipunkt von dem zurücknehmen, was ich gesagt habe; ich denke in diesem Augenblick noch genau so wie gestern abend,“ erklärte Wegstedt kühl.

„Dann habe ich Ihnen eine Forderung zu überbringen.“

„Ich bin vollkommen damit einverstanden. Natürlich Pistolen!“ sagte Wegstedt und erhob sich. „In einer Stunde wird mein Sekundant bei Ihnen sein.“

„Adieu, Wegstedt!“

„Habe die Ehre,“ sagte dieser und klingelte dem Burschen. Er mußte erst zweimal Sturm läuten, ehe der erschien.

„Zum Donnerwetter, wo steckst Du denn?“ fuhr er den armen Menschen an, der außer Athem war, „bist ja noch immer wie eine Made naß!“

„Zu Befehl, ich war für die gnädige Frau oben beim Doktor.“

„Was?“

„Das gnädige Fräulein ist krank geworden über Nacht.“ Hans Wegstedt wurde ganz blaß. Er stürmte wie er war in der Hausjoppe die Treppe hinauf.

Helene stand auf dem Flur mit besorgtem Gesicht.

„Gnädiges Fräulein, es ist doch nicht schlimm?“ fragte er.

„Der Doktor erklärt, noch könne er nicht sagen, was es sei; aber sehr krank ist sie sicher, wir fanden sie heute früh bewußtlos in ihrem Bett, noch in den Kleidern, die sie gestern getragen.“

Er stand ein Weilchen da wie vor den Kopf geschlagen und ging langsam wieder nach unten. Nach einer halben Stunde besann er sich, daß er ein wichtiges Geschäft habe, zog sich um und ging zum Frühschoppen, wo er einen Kameraden bat, ihm bei dem Rencontre mit Doktor Schönberg zu sekundieren.

[303] In tiefster Bekümmerniß über Käthens Erkrankung trank er sein Bier aus und kehrte wieder heim, um sich abermals zu erkundigen, wie es mit Käthe stehe. Dann saß er den ganzen Tag in seinem Zimmer, schrieb, verbrannte Papiere und machte unzähligemale den Weg die Stufen empor, und jedesmal kam er kraftloser zurück, denn Käthe war in der That sehr krank geworden.

Auch Ernst Schönberg kam. Er sprach ebenfalls nur Helene. „Sagen Sie mir um Gottes willen, Fräulein Helene,“ bat er, indem er seinem Bedauern Ausdruck gab, „hat Käthe irgendwie dem Lieutenant von Wegstedt einen Beweis von besonderem Wohlwollen erzeigt?“

„Aber Doktor, Sie sind wirklich grundlos eifersüchtig,“ antwortete die Schwester mit Thränen in den Augen, „sie hat sich geneckt mit ihm wie mit einem Bruder.“

„Sicher?“

„Schämen Sie sich, Schönberg; sie kann sich jetzt nicht selbst vertheidigen das arme Ding!“

Er ging wieder. Es war ja auch absolut nichts zu wollen, wie die Sachen lagen; selbst wenn Käthe gesund wäre, wenn man Wegstedt, der unfehlbar bis über die Ohren in Käthe verliebt war, die Verlobungsanzeige heute noch hätte schwarz auf weiß zeigen können, das Duell war ja doch nicht zu vermeiden.

Am Abend wußte es ganz Westenberg, Käthe von Tollen sei schwer erkrankt. Tante Melitta saß in der Wohnstube von Tollens wie die unheimlichste der Parzen selbst und schüttelte den Kopf über das neue Unglück, das in das Haus gekommen. Die Majorin war am Bette der Tochter; es herrachte das geschäftige lautlose Treiben, wie es sich in der Nähe von Schwerkranken zu entwickeln pflegt. In ihrem kleinen Stübchen empfing Helene die Frau Pastorin und ein paar Minuten später Gusti.

„Was wird es sein?“ sprach Frau Schönberg, „sie hat sich beim Reiten allzusehr erhitzt. Warum muß sie denn auch auf das Pferd hinauf wie ein Junge!“

Gusti zog eine schnippische Miene. „Wenn etwas der Gesundheit zuträglich ist, so ist es das Reiten,“ entgegnete sie und empfahl sich sehr bald mit dem Versprechen, morgen früh wieder zu kommen, um nachzufragen.

Auch die Pastorin trat mit besorgter Miene den Rückzug an, unter ihrem riesigen Regendach, das sich einst über ein paar glückselige Menschenkinder gespannt hatte. Was war seitdem alles geschehen!

Die alte Frau hatte eine sonderbare Unruhe. „Es droht etwas, es droht etwas!“ sagte sie vor sich hin „Mir hat schlecht geträumt, ich hab so viel Wasser gesehen, lauter schlammiges gelbes Wasser –.“

Ihrem Sohn begegnete sie unterwegs. Sie blieben stehen voreinander und sprachen ein paar Worte. „Gehirnentzündung! sagt der Doktor,“ berichtete die Mutter. „Es sieht sich schlecht an, min oll leiw Jung – na, Kopf hoch!“

Er nickte ernsthaft und ging weiter.

Die alte Frau sah ihm nach, wie er so rasch und sicher dahinschritt. Liebe Zeit, sie war nicht hochmüthig, aber was recht ist, muß recht bleiben, er war der hübscheste Mensch in ganz Westenberg, war ihr ganzes Glück, ihr Stolz, ihr Alles. Gott mochte ihn vor Leid bewahren!

Und derweil ging ein Soldat an ihr vorüber, der trug in elegantem Kasten ein Paar Pistolen, die hatte sich der Sekundant Wegstedts von einem Rittmeister geborgt für den andern Morgen.

Und die alte Frau ahnte gar nicht, was dieser Soldat mit dem Kasten für sie bedeute; sie war nur ärgerlich, daß der große Kerl mit seinem breiten Rücken ihr die Aussicht auf den Sohn einen Augenblick verdeckte.

Und während sie weiter trippelte über die nasse Straße in ihrem schwarzen Hut, dessen weiße, duftige Tüllrüsche das alte liebe Gesicht umschloß, mit dem schwarzen, dreizipfligen Umschlagetuch, das sie trug, seitdem ihr Mann gestorben, und dem Regenschirm, auf dem lustig der Regen trommelte, da ging ihr ein altes Gebet durch den Sinn, das sie oftmals, am Krankenbette sitzend, den dörflichen Patienten vorgesprochen, als ihr Mann schon kränklich war und die Leute baten, „wenn de Herr Pastor nich Tid hätt, sall de Fru kamen!“ –

„In Noth und Leid und viel Unruh,
Der beste Arzt, o Herr, bist du,“

schloß sie, just als sie vor ihrer Hausthür stand.




Es war am folgenden Abend, da saß sie an des Sohnes Bett, aber jetzt war sie nicht fähig zum Beten.

Die alte Frau begriff noch immer nicht, wie es gekommen, daß ihr „Jung“, der gestern noch so stolz und aufrecht ging, hier lag wie ein Baum, den jählings der Blitz gefällt.

So gegen acht Uhr heute früh hatte man ihn aus der Kutsche gehoben, die wie ein Gespenst vor der Gartenthür erschienen war, und ihn hier heraufgetragen. Ein „Duell“, hatte man ihr gesagt. Was wußte sie von einem Duell – und das, was sie dunkel von der Bedeutung des Zweikampfes gehört, hatte sie immer mit Verachtung und Abscheu erfüllt. „Gotteslästerlich“ war es ihr erschienen. Und nun ihr einziger Sohn! Warum? Gott mochte es wissen. Sie hatte fast verständnißlos dagestanden und zugeschaut, wie zwei Aerzte, der alte Kreisphysikus und der junge Militärarzt, den Kranken untersuchten und verbanden. Sie hatte auch Wasser gebracht und Leinwand herzugeholt mit zitternden Händen, aber sprechen konnte sie nicht. Nur als der Physikus sich an sie wandte und ihr Anweisungen gab wegen der Pflege, murmelte sie. „Muß er sterben?“

„Nein, nein, Frau Pastorin. I bewahre!“ war die Antwort gewesen; aber sie kannte den alten Herrn, er war roth geworden bei der Lüge.

„Nun weiß ich all!“ antwortete sie halb plattdeutsch und setzte sich an das Bett, darin er bewußtlos lag, bleich wie das Linnen der Kissen.

„O die Tollens – die Tollens!“ murmelte er.

„Ja ja,“ nickte sie; und sie sah ihn immerfort an, „das wird’s wohl sein, aber Du hast nicht hören wollen, Du armer Jung, Du hast Din oll Mutter immer ausgelacht.“

Und so starr und still that sie alles, was zur Pflege nöthig war. Der Kranke ward am späten Abend unruhig; sie rief das Dienstmädchen und befahl, den Arzt noch einmal zu holen.

Die frische Dirne blieb an der Thür stehen mit rothgeweinten Augen. „Ach, Fru Pastorn, weeten’s, wer unsern jungen Herrn dat than hadd?“

„Is ja gleich,“ war die Antwort.

„De Leutnant Wegstedt is’t wesen; er hat aber auch was abgekriegt, und bein Koopmann vertellten se, he sei all rut ut Westenberg. Und Fru Pastorn, unser Frölen Käthe – de Lüd seggen ja, sei möt starven.“

„Geh doch, Deern und hol den Doktor!“ sagte die alte Frau. –

Die Sekundanten hatten, als die Betheiligten auf dem Platz angekommen waren, noch einmal nach der üblichen Vorschrift versucht, die Parteien zu versöhnen, und selbstverständlich war von beiden ein kurzes Ablehnen erfolgt.

Sie waren beide hinaus gefahren, ohne daß ihnen eine Ahnung von der Wahrheit der Dinge aufgedämmert war; keiner von ihnen suchte die Schuld bei der, die ein jeder von ihnen seine Braut nannte. Der Doktor war in der langen, schlaflosen Nacht, die diesem Morgen voranging, des düstern Gefühls nicht Herr geworden, daß es doch am besten sei für Käthe, wenn eine mitleidige Kugel sie vor dem Zusammenleben mit ihm bewahre, der mit allen Fasern seines Herzens einer andern gehörte, und daß es noch das Beste für ihn sei, wenn er nicht verurtheilt werde, der, die ihn so herzlich liebte, Komödie vorspielen zu müssen ein ganzes langes Leben hindurch.

Er blieb ruhig, als er auf dem Rendezvousplatz anlangte; die Vorbereitungen nahmen nur wenig Zeit in Anspruch. Ein einziger Blick des Doktors hatte das kalkweiße Gesicht des kleinen Offiziers gestreift, dessen helle Augen heute wie schwarz erschienen; dann hatte er immer in das Laub des alten Eichbaumes hinaufsehen müssen, das sich so köstlich frisch von dem lichten Morgenhimmel abhob; und auch den Gesang unzähliger Lerchen droben im Blau hatte er gehört, aber denken konnte er nicht mehr. Man hatte ihm eine der Waffen übergeben, die Distanz war abgeschritten, und nun wurden die Gegner mit dem Rücken gegeneinander gestellt, der Unparteiische begann zu zählen – „eins“ scholl es – „zwei“ – „drei“ –.

Beide wandten sich, und im selben Moment fielen zwei Schüsse.

Der Doktor sank sofort zu Boden. Wegstedt stand, nur der linke Arm hing merkwürdig schlaff herab. Sein Sekundant trat zu ihm, während der Arzt nach der andern Seite eilte.

Noch hatte Schönberg Besinnung. Er machte ein Zeichen, daß Wegstedt näher kommen solle.

[304] „Pardon, Herr von Wegstedt,“ sagte er, obgleich ihm das Blut aus dem Munde quoll, „Pardon – ich –. Aber sehen Sie, Käthe Tollen ist meine Braut!“ Er sah nicht mehr, daß der junge Offizier wie außer sich den Boden stampfte; er war schon bewußtlos. –

Wegstedt, der nur einen leichten Streifschuß erhalten hatte, fuhr in seine Wohnung. Der Arzt sollte nachkommen, sobald Schönberg versorgt sei. Hans Wegstedt mit seinem schmerzenden blutenden Arm stieg geradeswegs in die Tollensche Wohnung hinauf; Helene stand in der kleinen Küche und zerschlug Eis für die Kranke, die im höchsten Delirium lag, – Sie hatte rothgeweinte Augen.

„Sagen Sie mir, seit wann ist Käthe mit Doktor Schönberg verlobt?“ begann er unvermittelt.

Das stille blonde Mädchen starrte ihn erschreckt an, wie er so plötzlich dastand auf der Schwelle, blaß, mit schmerzverzerrtem Gesicht, den Aermel der Ulanka angeschnitten und Blut in dem Tuch, das ihm eilig um den verletzten Arm gebunden worden war.

„Um Gottes willen!“ stammelte sie.

„Seit wann ist Käthe verlobt mit Doktor Schönberg?“ wiederholte er. „Reden Sie, gnädiges Fräulein!“

„Seit –“ stotterte sie, „ja schon seit ein paar Monaten. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?“

Er wandte sich kurz um und ging die Treppe hinunter. Dort verschloß er die Thür seiner Stube hinter sich, warf sich in einen Sessel und begann zu weinen, zu weinen wie ein kleiner Junge! Eben noch hatte er dem Tod ins Auge geschaut und mit keiner Wimper gezuckt, aber lieber hätte er sein Leben eingebüßt, als diese Enttäuschung zu erfahren.

Als der Sekundant mit dem Arzt endlich kam, verlangte er, sofort zu Schönberg gefahren zu werden.

„Er würde Sie doch nicht kennen, er ist ganz bewußtlos,“ wehrte der Arzt.

„Ist es sehr gefährlich?“ forschte er.

„Eh – hoffen wir das Beste – Schuß durch die Lunge.“

„Wenn Du reisen kannst, Hans, sollst Du abfahren, läßt Dir der Kommandeur sagen,“ fiel der Kamerad ein, „es ist auch das Rechte für Dich, denn Verhandlungen können doch nicht stattfinden jetzt.“

„Ja!“ sagte er, „in diesem Hause kann ich auch nicht bleiben.“ Er nahm eine Karte, schrieb p. p. c. darauf unter seinen Namen und schickte sie an Frau von Tollen.

„Es steht sehr schlecht da droben,“ meldete der Bursche, als er zurückkam.

„Doktor, glauben Sie, daß eine solch schwere Krankheit schon Tage lang, bevor sie ausbricht, ein richtiges Denken beeinflussen kann?“ fragte er.

„Sicher!“ war die Antwort.

Er drückte dem Arzt die Hand, dankbar ob dieses Milderungsgrundes für das Thun und Handeln des Mädchens, das er geliebt, wie ein treues ehrliches Herz nur einmal lieben kann.

Er wandte sich hastig um. „Packe den kleinen Koffer!“ befahl er dem Burschen. Am Nachmittag reiste er ab.




Als der Doktor am kränksten war, ward Käthe von Tollen begraben.

Die Rosen standen gerade in voller Blüthe. Sie verdeckten den schmalen Sarg fast, der die junge Todte barg. Neben dem Vater ward sie eingesenkt, und die Rosenkränze häuften sich auf dem Hügel. Ganz oben lag die Myrthenkrone, die ihr Gusti gebracht als letzte Liebesgabe.

Die jungen Freundinnen hatten vorhin alle mit blassen befremdeten Gesichtern im Halbkreise um den Sarg im Trauerhause gestanden – die Jugend faßt es so schwer, daß eine Gefährtin ihr genommen sein soll, die noch vor kurzem so rosig und lachend unter ihr geweilt; und um diesen Tod schwebte noch ein Geheimniß! Wie sie schon auf dem Sterbebette lag, hatten sich zwei ihretwegen geschossen! Wer wußte, wie das alles zusammenhing? Es war von einem undurchdringlichen Dunkel verhüllt – vielleicht war Käthe an gebrochenem Herzen gestorben! –

Die Majorin saß daheim in der kleinen Wohnstube; sie hatte kaum noch einen klaren Gedanken – der Kampf, der da nebenan in dem Stübchen getobt, um das blühende Leben, das sich dem Tod nicht ergeben wollte – er war gar zu schrecklich gewesen.

Viel Schweres hatte dieses Jahr gebracht, aber dies war das Allerschwerste.

Ihr gegenüber saß Lore. Sie hatte getreulich die Schwester mitgepflegt, Tag und Nacht, ohne zu ermüden. Nun lastete die erste furchtbare Stunde der Ruhe wie ein Alp auf ihr.

Sie stand auf und schmiegte sich näher an die alte gebrochene Frau. Dann brachte die Ausgeherin einen verspäteten Kranz in die Stube. „Eine schöne Empfehlung von Frau Pastorin und sie wäre gern selbst gekommen, aber dem Herrn Doktor gehe es heut so schlecht.“

Lore nahm das Gewinde aus weißen Rosen und Myrthenblättern und ging damit hinaus. Sie legte es in Käthes kleine Kammer auf das leere Bett und stieg hinauf in ihre Giebelstube.

Da war wieder alles wie sonst. Man konnte meinen, es sei gestern gewesen, als sie hier gestanden hatte mit rosigen Wangen, um hinüber zu spähen nach dem alten Gymnasium. Aber dort ging er heute nicht, würde vielleicht nie wieder dort gehen. – Drunten fehlten zwei im Familienkreise, und in ihrem Herzen rührte sich gar nichts mehr. Nicht einmal eine Thräne hatte sie weinen können um die Hingegangene, und Helenens unvollständiger Bericht über das Duell war zu ihr herübergeklungen wie aus unbekannten Fernen.

Nur das begriff sie, daß er um Käthes willen elend lag, und daß sie die Todte beneidete – um seine Liebe, noch im Grabe.

Warum war sie nicht gestorben? Es wäre viel, viel besser gewesen!

Sie ging nach ein paar Minuten wieder hinunter. In der Stube bei der Mutter saß ein junger Offizier; er war in voller Uniform und trug den Arm in der Binde. „Von Wegstedt,“ murmelte er, sich Lore vorstellend. Dann wandte er sich und ging zur Thür, das Taschentuch hastig hervorziehend.

Lore sah ihm nach. Also der schoß ihn krank, weil auch er Käthe liebte. Arme Käthe, glückliche Käthe, die mitten im Rosenmonat sterben durfte.

Zwei Tage später stand die Majorin vor dem Kleiderspind der Verstorbenen; sie holte die einfachen Kleidchen heraus, und die Thränen tropften ihr dabei auf die alten Hände.

„Sage doch, Helene, welches Kleid war es, das sie anhatte, als wir sie krank fanden?“

„Das leichte wollene mit dem kleinen Muster, Mama, was willst Du damit?“

„O nichts, nichts; nur mit hinüber nehmen in meine Stube.“

„Hier, Mama!“

Die Majorin drückte ihr Gesicht in den Stoff, wie sie es sonst gethan mit dem dunkeln seidigen Haar der nun Todten.

„Da steckt auch noch etwas in der Tasche – ein Brief, Mama.“

„Gieb!“

Ein dickes Schreiben hielt sie darauf in der Hand. „Herrn Doktor Schönberg sogleich abzugeben!“ las sie.

„Ich will es aufbewahren für ihn, Helene.“

„Das dürfte wohl Aufklärung geben über das Duell,“ sagte diese.

„Der Brief ist nicht an uns und – was brauchen wir das auch noch zu wissen, sie ist ja todt.“

„Ja, Mama, ich meinte auch nur –“

Die Majorin ging mit dem Kleid, dem Brief und einer schwarzen Sammetschleife, die Käthe im Haar getragen, in ihr Stübchen und legte die einfachen Garderobestücke in die alte Truhe, an der das Wappen der Tollens geschnitzt war, neben die Uniform des Majors, die er an seinem letzten Tage getragen zu Lores Hochzeit. Da stand auch die Schachtel, darin sie ihren Brautkranz, die Taufmützchen der Kinder und die winzigen Erstlingsschuhchen aufbewahrte.

So – Gott mochte wissen, was sie noch hinzuthun mußte in diesem Leben voll Jammer und Elend.

Lore packte eben ihren Koffer. Sie wollte wieder zurück in Thätigkeit, das einzige Heilmittel für kranke Herzen. Von der Zukunft redeten sie alle nicht; nur das versprach Lore, daß sie kommen werde, wenn Helene die Mutter verlassen habe.

Sie wollte mit dem Zehnuhrzug am andern Morgen fahren, und dieser Morgen kam. Es war höchste Zeit, auf den Bahnhof zu gehen, aber sie stand noch immer da und bastelte an ihrem Plaidbündel

„Kind, so schwer es mir wird, Du mußt gehen,“ mahnte die Majorin, deren Taschentuch schon wieder feucht war von Thränen.

[306] Doch Lore hörte nicht. Sie verharrte da, die Augen auf die Uhr geheftet, völlig bereit; aber es war, als könne sie sich nicht vom Fleck bewegen. Dann keuchte etwas die Treppe herauf und die alte Aufwärterin des Hauses trat ein.

„Schönen Gruß von Frau Pastorin und sie läßt vielmals danken. Er sei heut zum erstenmal ‚was besser‘ und hätt ein wenig gegessen.“

„Adieu, Mama!“ sagte Lore, und dann zog sie den Kreppschleier vor die Augen und ging.




Und wieder einmal war es Herbst geworden, regnerischer trübseliger November. In des Doktors Stübchen brannte das Feuer im Kachelofen, und er selbst saß auf dem Sofa, ein Schreiben in der Hand.

Zum zwanzigsten Male wohl schon las er die beiden Briefbogen, seitdem sie ihm gestern eingehändigt worden waren. Frau von Tollen hatte ihn besucht; sie hatte still und gedrückt auf dem Sofa gesessen neben ihm und ihn gefragt nach seinem Ergehen, und wie ihm denn der erste Ausgang nach seiner Krankheit bekommen sei, der ihn vorgestern in seine alte Klasse geführt habe.

„Danke!“ war seine Antwort gewesen, „ein bißchen mehr Husten gestern abend; und nun will der Arzt durchaus, daß ich fortgehe und den Winter im Süden zubringe! Es ist recht hart. – Ich war so froh, daß ich wieder einmal meine Jungen sah! Es kam etwas wie frischer Lebensmuth über mich, als ich alle die blitzenden, fröhlichen Augen erblickte und die Freude auf den Gesichtern, den alten Tyrannen wieder zu haben, den sie schon beinahe verloren gegeben hatten. Nachher ging ich auf den Kirchhof,“ setzte er leise hinzu, und seine von langem Kranksein abgemagerte Rechte griff nach der Hand der Majorin.

„Ich habe Ihnen auch noch etwas zu geben, lieber Doktor, was Käthe für Sie zurückließ. Ich habe den Muth bis jetzt nicht gefunden, ich fürchtete Aufregung für Sie; aber nun –“ und sie legte den Brief, den Käthe in der Nacht ihrer Erkrankung geschrieben, vor ihn hin, und seine Hand drückend, erhob sie sich rasch und ging aus der Thür.

Er betrachtete mit eigenem Gefühl diesen etwas zerknitterten Brief, der in flüchtigen Buchstaben seine Adresse trug. Die kleine schlanke Hand, die das geschrieben, moderte nun schon längst unter der Erde. Es muthete ihn wunderbar an, dieses letzte Zeichen ihres Gedenkens, wie Botschaft aus einer andern Welt.

Wochenlang hatte ihn die Kunde von Käthes Tod, die man ihm so schonend als möglich beizubringen gesucht hatte, wieder zurückgeworfen in der Genesung. Ueberwältigend war sie ihm gekommen, die Nachricht, daß das junge frische Leben dahingerafft sei.

Arme kleine Käthe! Er bereute jede Minute, in der er ihr ein ernstes strenges Gesicht gezeigt hatte. Sie war so ein Sonnenkind gewesen und sie hatte ihn so lieb gehabt, so lieb!

Mit fast scheuer Ehrerbietung öffnete er jetzt den Brief, ein starkes Herzklopfen machte ihn einen Augenblick unfähig zu lesen. Es ist eigen, Stimmen zu vernehmen, die gleichsam aus dem Grabe kommen. Er mußte sich ordentlich zum Lesen zwingen. Da stand:

„Lieber Ernst!

Ich weiß kaum, wie ich beginnen soll mit dem Vielen das ich Dir sagen möchte auf diesem Papier.

Zuerst bitte ich Dich um Verzeihung für alles, was ich Dir gethan, was Du als Unrecht von mir empfunden hast und weißt, und für das, was Du noch nicht weißt, und das ist das Meiste und Schlimmste. Lieber Ernst, es ist sehr schwer, Dir das zu gestehen, aber ich denke, Du wirst Dich trösten, denn Du liebst mich nicht, Du liebst Lore. Schüttle nicht den Kopf, Ernst – ich weiß es so genau, wie Du es weißt. Du hast Lore nicht vergessen, so wenig wie sie Dich vergessen hat. Ich bildete mir allen Ernstes einmal ein, Dich zu lieben, und deshalb habe ich Lores Aufträge an Dich nicht bestellt, habe die Briefe, die sie mir für Dich übergab, zerrissen, habe Lore in Deinen Augen herabgesetzt und, als sie sich verzweifelt weigerte, Becker zu heirathen, da habe ich ihr noch zugeredet und habe ihr gesagt, daß die Pflicht gegen ihre Familie vor der eigenen Neigung stehen müsse. Und als sie sich geopfert hatte, da sollte ich ihr Deine Verzeihung erbitten und habe es nicht gethan. Ich weiß gar nicht, wie das mir in die Feder kommt, ich will es nicht schreiben, aber ich muß, es ist mir, als ob jemand hinter mir stehe und sage: Bekenne, bekenne, ehe es zu spät ist! Vergieb mir auch, daß ich Dir heute Dein Wort zurückgebe. Ich weiß nämlich seit gestern, daß das, was mich zu Dir zog, keine Liebe war, sondern Laune, Eifersucht, Eigensinn – ich wollte Dich haben und bekam Dich. Ich liebe Hans Wegstedt und gab ihm gestern in der Reitstunde mein Wort, das eigentlich gar nicht mir gehört. Ich nehme es mir hierdurch wieder, lieber Ernst, und bitte Dich um Verzeihung, wenn ich Dir wehthat. Ich liebe Dich wirklich nicht – gar nicht – nur so als guten Freund und alten Lehrer liebe ich Dich. Ich erkenne es deutlich, ich kann mich nur in solcher Lebensstellung wohl fühlen, wie sie mir Hans zu bieten vermag, und ich müßte vergehen in engen kleinlichen Verhältnissen.

Ich weiß, ich bin so sehr schlecht, und ich möchte besser werden. Wenn ich Hans Wegstedts Frau bin, dann will ich gegen alle Arme mild sein und Gutes thun, soviel ich kann. Vergieb mir nur, Ernst, und verachte mich nicht. Wenn Du mich verachtest, werde ich nie wieder froh, auch als Wegstedts Frau nicht; aber ich kann doch nichts dafür, daß ich Hans liebe! – Wenn doch Lore noch glücklich würde, Ernst! – Bitte für mich bei Deiner Mutter, daß sie mir verzeihe; vergieb auch Du mir, Ernst, und bewahre ein freundlich Gedenken Deiner
 Käthe von Tollen.“

Er ließ die Blätter sinken und barg den Kopf in der Hand.

Und um dieses Kind, dieses tändelnde, leichtlebige, jeden Ernstes bare Kind – all das Furchtbare! Er warf den Brief auf den Tisch und ballte die Faust vor Zorn und Weh. So verharrte er lange, und die Dämmerung begann allmählich das stille Zimmer zu füllen. War es ihm nicht plötzlich, als säße sie neben ihm in ihrer ganzen morgenfrischen Lieblichkeit? Der süße Veilchenduft, der aus den Briefblättern quoll, machte diese Illusion fast greifbar. Ihm dünkte, es knisterte da neben ihm wie der Stoff ihres Kleides, und er meinte die großen sprühenden Augen zu sehen, die ihn lächelnd betrogen hatten und die süße schmeichelnde Stimme zu hören. „Du liebst mich nicht, Ernst, Du liebst Lore; Du konntest sie nicht vergessen, wie sie Dich nicht vergaß.“

Menschenherz, welche Räthsel birgst du! Der Groll, der beim Lesen ihrer Zeilen sich in ihm bäumte, daß er der Todten noch zürnte, schmolz vor diesen Worten. Eine große Thräne rollte unter der Hand hervor, mit der er die Augen bedeckte, in seinen Bart.

„Um dieses Wortes willen sei Dir verziehen!“ sagte er leise vor sich hin. Und er nahm den Brief, um ihn nochmals und noch einmal zu lesen.

Ja, nun war Wegstedts Zorn erklärbar. Armer Mann! Wer in diese Augen geschaut hatte, ohne gefeit zu sein – –

Wegstedt war nicht wieder nach Westenberg gekommen – nur einmal, als Käthe begraben wurde; und da war er auch hier im Hause Schönbergs gewesen und hatte ihn zu sehen verlangt. Aber die Mutter hatte ihn abweisen lassen in ihrem Schmerze; nun, der Doktor war ja auch schwer krank und hätte nicht begriffen, was der kleine Offizier gewollt. Dann hatte Wegstedt seine Versetzung auf dem väterlichen Gute abgewartet; er war jetzt, so glaubte der Doktor in der Zeitung gelesen zu haben, nach einer ostpreußischen Garnison versetzt – weit von der Stätte, wo er sich eine ganz gehörige Herzenswunde geholt. Vorher hatte er auch seine Strafe für das Duell in Magdeburg auf der Festung verbüßt; das stand ihm, dem Doktor, noch bevor, wenn er gesundete.

Ja, die Tollens, die Tollens!

Die Mutter kam herauf und fragte, ob sie störe.

„Nein, nein, Mutter.“ Es klang freier, frischer als seit langer Zeit.

„Vorhin ist Dein Koffer gekommen vom Sattler, und der Bürgermeister hat Deinen Paß geschickt, Ernst, Du kannst nun jeden Tag reisen, wenn Du willst; sag’s nur.“

„Es wird mir schwer, Mutter.“

„Ja, aber man muß alles thun, um seine Gesundheit wieder zu erlangen. Ich meine auch, es ist ein Entschluß, nach dem Mittelmeer hinunter zu gehen; was man von da so alles hört – ich will froh sein, wenn Du wieder hier bist, Ernst.“

„Ach, der Süden schreckt mich nicht,“ sagte er lächelnd, „weiß Gott, es war lebenslang ein Wunsch von mir, ihn einmal aufzusuchen; aber eigentlich ist er doch nur schön, wenn man gesund ist an Seele und Leib.“

„Ja freilich, in der Fremde ist gut wanken, aber nicht gut kranken.“

[307] „Und wie wirst Du denn hier allein fertig werden, Mutter?“

„Ich? Ei, ich bin nicht besser wie andere; die arme Majorin bleibt ja auch ganz allein. Aber ich wollte Dir ja erzählen: vorhin ist Helene getraut worden mit ihrem dauerhaften Bräutigam; ich habe in unserem Stuhl gesessen und die Trauung mit angesehen. Keine Seele war weiter in der Kirche als das Paar, die Mutter, der alte Onkel, was die Excellenz ist, und Lore.“

Er zuckte zusammen und hörte den Bericht der Mutter nur noch verworren vor seinen Ohren: wie schaurig die schwarzgekleidete Gesellschaft vor dem Altar ausgesehen habe; aber freilich, das arme lang gequälte Brautpaar habe doch füglich nicht noch ein ganzes Trauerjahr warten sollen zu all der Verlobungszeit. „Ja und was ich sagen wollte, ich habe dann nach der Trauung dem jungen Paar gratulirt und der Majorin auch; – nur ganz rasch – denn man ist doch nun mal in viel Leid miteinander zusammengekommen –. Und dabei streift’ ich auch so die Lore und,“ fuhr sie mit schwerem tiefen Seufzer fort „hör’, Ernst, schön ist sie noch immer, vielleicht noch schöner wie früher, und es sieht aus, als wäre sie gewachsen so hoch und schlank stand sie neben dem alten General – Aber –“

„Aber?“

„Je nun, es hat was Aengstliches; das ist ja jetzt als sei ihr Gesichtel aus Marmor, und als habe sie sich blau angestrichen unter den Augen; wäre ich die Majorin, ich würde mich sorgen, sie könnte krank werden.“

„Bleibt sie hier, Mutter?“

„Nein; die Majorin sagte, der alte General lasse sie nicht los und habe sie sich mit aller Gewalt aus dem Diakonissenhaus geholt; er sei selbst krank, habe er erklärt, und brauche eine Pflegerin, die Familie gehe vor. Den Winter bleibt sie noch bei ihm, erzählte die Majorin. Sie sind vorhin schon wieder fort nach Berlin. Das alte Fräulein drüben will nun so lange zu der Schwägerin ziehen. Wir haben uns versprochen, daß ich bisweilen zu ihr kommen will und sie zu mir – der Winter wird wohl vergehen.“

[318]
Die nämliche kleine Wohnung am Forum Trajanum hatte der General wieder gemiethet. Der alte Herr war trotz seines Rheumatismus länger in Berlin geblieben, als er beabsichtigt hatte. Er wollte erstlich der tiefgebeugten Schwägerin helfen, die älteste Tochter unter die Haube zu bringen, und dann – er wollte nicht ohne Lore fort, durchaus nicht! Jeden Nachmittag setzte er sich auf die Pferdebahn und fuhr in das Augustahospital, wo ihm „seine alte Deern“ täglich mit blasseren Wangen entgegentrat. Und jeden Tag sprach sie ihr „laß mich hier, Onkel, ich bin wirklich ganz gesund!“ mit klangloserer Stimme.

Erst als er mit einem recht flotten rheumatischen Fieber zu Bett lag, das ihm der Herbstübergang gebracht hatte, erst da ward sie schwankend; und als er in der That „höllisch knickebeinig“ zu Helenens Hochzeit fuhr und Lore, die ihn begleitete, sich mit eigenen Augen überzeugen mußte, daß er wirklich nicht gut allein reisen könne, gab sie nach und willigte ein, ihm nach seinem geliebten Rom zu folgen.

Ob der alte Schalk sich nicht ein wenig kränker angestellt hatte, als es wirklich der Fall war, das konnte sie nicht ergründen. Er war nämlich, sobald der Zug jenseit des Gotthardtunnels in [319] rasender Eile dem Lago Maggiore entgegensauste, ein ganz anderer Mensch geworden, ganz der alte stramme Soldat, der aufmerksame Kavalier. „Das macht die Luftveränderung, Kindchen,“ sagte er ernsthaft, als sie ihn mit erstaunten Augen ansah.

Nun waren sie bis Weihnachten in Neapel gewesen und hatten das Fest selber auf Capri gefeiert, in Paganos gemüthlichem palmenumrauschten Gasthause; sie waren an Neujahr nach Pompeji gegangen und hatten mit seltsamen Gefühlen zurückgedacht an das, was der letzte Jahresabschnitt für sie bedeute. Dreihundertfünfundsechzig Tage – was bedeuteten die gegenüber diesen Jahrtausende alten Trümmern, und doch, was hatten sie gebracht an Leid und Weh!

Sie hatten auf den Stufen des Forums gesessen und ein Telegramm verfaßt an Mutter und Tante und es auf der Station Pompeji befördern lassen. „Ein Wunsch für die Gegenwart, kommend aus uralter Vergangenheit!“ – Ein seltsamer Gedanke und doch so beruhigend. „Es fliegt die Zeit, wir mit ihr, und mit uns all unser winzig Freud und Leid, das uns in unserem verblendeten Größenwahn so wichtig dünkt!“ So sagte Lore zu sich, während der alte Herr schmunzelnd meinte. „Was wohl so ein alter Römer, der hier auf Sommerfrische saß, für Augen gemacht haben würde zu Eisenbahn und Telegraph!“

Sie waren dann nach Rom zurückgekehrt gegen Ende des Januars, von Formen- und Farbenschönheit gesättigt, von einer wunderbaren Natur überwältigt und gehoben, um nun ihr stilles, fleißiges Leben wieder aufzunehmen, in dem alten und doch ewig jungen Rom, dessen Reiz niemand auszukosten vermag.

Dort unten im Höfchen rauschte wieder der silberne Wasserstrahl aus dem antiken Löwenmaul; die Gemma sah just noch ebenso wenig appetitlich aus, und der Teppich und die Gardinen hatten vielleicht ein paar Löcherchen mehr. Sonst war alles beim alten. Und nach dem Frühstück ging die Eccellenza mit der schönen Signora nach wie vor spazieren, bewaffnet mit Plänen und Reisehandbüchern, und gegen Dunkelwerden kamen sie zurück, nahmen ihr Pranzo und saßen am Kaminfeuer, an dem sich die Signora die Füßchen wärmte, nachdem sie dem alten Herrn sorglich die Decke über die Kniee gebreitet hatte; denn eine römische Stube, gar ein Salotto, ist im Februar kalt, selbst wenn ein Teppich die Steinfliesen bedeckt.

Heute rüsteten sie sich für den Besuch einiger Kirchen; Lore wollte die Raphaelschen Sibyllen in Santa Maria della Pace sehen.

Es war heller Sonnenglanz in den Straßen und blauer Himmel drüber, und so milde frühlingsgleiche Luft.

Auf der Piazza Navona plätscherten die Brunnen. Der General und Lore gingen zwischen spielenden Kindern und müßigen Spaziergängern hindurch und bogen in die enge dunkle Gasse ein, die zu der Kirche führt. Das Portal war geschlossen, und ein diensteifriger, aber erbärmlich krüppeliger Knabe führte sie um die „Chiesa“ herum in einen niedrigen Kreuzgang und begann dort wie wahnsinnig an einer Seitenpforte zu hämmern. Endlich ward aufgethan; der kleine Krüppel erhielt sein Trinkgeld und Lore trat mit dem Onkel über die Schwelle der Kirche, in der durch die Glasmalereien der Fenster eine magische Dämmerung herrschte. Ein leiser Duft von Weihrauch erfüllte den feierlichen Raum und zerfloß oben unter der achteckigen Kuppel in kleinen Wölkchen.

Völlig leer war dies mit alten Bildern und kunftvollen Holzschnitzereien ausgestattete Gotteshaus, nur ein Herr stand vor der Seitenkapelle und sah empor zu den Gemälden.

Schweigend winkte der Sagrestano der jungen Frau herüber, wo der Fremde stand. „Ecco,“ sagte er dann und wies hinauf zu den Sibyllen

Sie stand da mit der stillen Andacht, die ihr schönes Gesicht immer zeigte, wenn sie sich in einem Gotteshause befand; und jetzt war dieser Ausdruck noch erhöht durch die Bewunderung des Werkes eines gottbegnadeten Künstlers.

Dicht neben den Herrn war sie getreten, so dicht, daß ihre Schulter fast seinen grauen Touristenanzug berührte, aber sie merkte es nicht, so fest hingen ihre Augen an den schönen Frauengestalten da oben. Sie wandte nicht einmal den Blick nach ihm, als er jetzt hastig einen Schritt von ihr zurücktrat.

„Lore!“ klang es in ihr Ohr, zweifelnd, fragend; da schaute sie sich hastig um nach ihm, und ihre Hand griff nach dem Betschemel, der ihr zunächst stand, als suche sie einen Halt. Aber sie war keines Wortes mächtig.

Wohl wußte sie durch ihre Mutter, daß Ernst seiner Gesundheit wegen im Süden sei, aber man hatte ihr von Nizza und Mentone geschrieben. Nun war er in Rom, nun standen sie hier, von denselben Mauern umschlossen, in der feierlichen Stille der kleinen Kirche, allein, ganz allein.

Der General war mit dem Küster in einer Seitenkapelle nahe dem Altar verschwunden.

Verwundert lugten die Engelsköpfe Raphaels herunter; sie mochten schon manches junge Paar hier nebeneinander gesehen haben, denn in Santa Maria dell Pace hörten alle jungen Eheleute Roms die erste Messe nach der Vermählung. So ein Paar wunderlicher blasser Menschenkinder war ihnen aber sicher noch nicht vorgekommen!

Lore hatte sich zuerst gefaßt und hielt ihm die Hand hin. „Ich sah Sie noch nicht nach dem Tode meiner Schwester,“ sagte sie, ohne ihn anzuschauen, „nehmen Sie die Versicherung, daß ich herzlich mit Ihnen trauere um den Verlust Ihrer Braut.“

Sie athmete auf. Sie hatte ihn mit wenigen Worten auf den einzigen Weg gelenkt, den sie miteinander gehen durften.

Sie fühlte flüchtig ihre Hand gedrückt und hörte, wie er sprach: „Ich danke Ihnen, Lo –, gnädige Frau.“

So blaß sie vorhin war, so purpurn erglühte sie jetzt. „Onkel,“ rief sie, sich umwendend, und als der alte Herr seine Schritte zu ihr herüber lenkte, fügte sie, auf Ernst deutend, hinzu. „Der Bräutigam unserer armen Käthe.“

Die Herren schüttelten sich die Hände. Der General murmelte irgend etwas zwischen den Zähnen, das wie eine Beileidsphrase klang. Und dabei betrachtete er verwundert den auffallend hübschen Mann, dessen feines, noch die Spuren der Krankheit tragendes Gesicht mit den intelligenten Augen ihn fast betroffen machte.

Lore ging indessen von Bild zu Bild, aber sie sah nichts. In ihr tobte ein förmlicher Sturm.

Sie stand auf den Stufen des Hochaltars und hörte eine lange Rede des Küsters, der das alte Madonnabild pries; aber sie begriff nichts. Sie lauschte nur immer auf jene Stimme, die in ihr Ohr scholl, von dort unten her, die sie nie mehr zu hören gehofft hatte.

Eifrig sprechend schritten die Herren dem Ausgang zu. Erst in der geöffneten Thür schaute sich der alte Herr nach Lore um. Sie kam nun auch eilig daher und ging ihnen voran durch die engen Straßen; langsam folgten die beiden. Der Doktor ohne ein Auge zu verwenden von dieser vornehmen schlanken Frauengestalt, als könne er nicht genug schauen, als müsse er nachholen, was er versäumt hatte.

Es war ihr, als fühle sie diesen Blick, und sie spannte den Schirm auf und legte ihn über die Schulter, obgleich ihr die Sonne ins Gesicht schien.

Sie stand endlich still vor dem Palazzo Madama. „Ich bin sehr müde, Onkel,“ sagte sie.

„Ei, da fahre nach Hause; ich bummle noch,“ erwiderte der alte Herr, besorgt ihr blasses Gesicht betrachtend. „Hab’ ja Gesellschaft; leg Dich, ruh’ Dich aus!“ Und er rief nach einem Wagen.

„Ja! Adieu!“ Sie grüßte freundlich ernst durch ein Neigen des Kopfes, dann rollte das Gefährt mit ihr von dannen.

Sie legte sich daheim gehorsam auf ihr Bett und schloß die Augen, die ihr merkwürdig brannten. Sie sehnte sich so nach Ruhe, aber ihr Herz klopfte und hämmerte entsetzlich. Hätte sie ihn doch nie wiedergesehen!

„Wenn ihn nur der Onkel nicht zum Essen mitbringt,“ dachte sie, „ich kann es nicht ertragen!“ Und dann wünschte sie es wieder.

Nein, der alte Herr kam allein. Indeß für den folgenden Tag hatten sie sich verabredet, das Museo Lateranense zu sehen.

Aber Lore wollte am andern Morgen nicht mit. Was war ihr nur? – sie hatte doch sonst nie Launen gehabt! Der General ging brummend allein. Er hatte verabredet, sich mit Schönberg in einem Restaurant auf dem Korso zu treffen; dahin lenkte er seine Schritte.

Lore setzte sich an die geöffnete Thür des Balkons, denn draußen schien die Sonne und erfüllte den kleinen Hof mit köstlicher Wärme. Sie hatte irgend eine Handarbeit ergriffen, und während sie Masche an Masche schlang, dachte sie nach über ihr Schicksal und über das ihres Hauses, um wieder dahin zu kommen, wo sie immer anlangte, daß ja doch alles Glück für sie dahin sei; [320] denn außer ihm gab es keines für sie, und er stand jenseits an Käthes Grab, und dieser stille grüne Hügel baute sich zwischen ihnen auf – gewaltig und unübersteigbar. Sie war so tief in Gedanken, daß sie Gemmas Sprechen auf dem Flur überhörte. „Die Signora ist zu Hause geblieben.“

Und einen Moment später stand er vor ihr in dem schlichten grauen Reiseanzug, groß und stattlich; und das Sonnenlicht, das den ganzen Raum durchstrahlte, funkelte über seinem braunen Haar und machte seine Augen noch leuchtender, mit denen er sie ansah.

„Ich habe Ihren Onkel verfehlt,“ sagte er und zog einen Stuhl herzu. „Gestatten Sie mir, daß ich mich ausruhe, der Gang hat mich müde gemacht; dieses Rom, es wirkt fast betäubend. Wie kommt es denn, daß Sie nicht mit hinaus sind in Luft und Sonne?“

Sie saß ihm rathlos und überrascht gegenüber. „Ich fühlte mich auch müde,“ antwortete sie.

„Ich störe Sie doch nicht, Lore?“ fragte er leise, sie beim Namen nennend, was er in der Anrede vermieden. „Gestehen Sie, Sie wünschen mich tausend Meilen von hier – ist’s nicht so? Soll ich gehen?“

„Ja!“ sagte sie ehrlich und laut, „gehen Sie!“ Und sie athmete auf.

„Nur ein paar Worte noch, Lore; wer weiß, wann wir uns einmal wieder allein sehen. – Ich wollte Sie bitten, lassen Sie uns das Vergangene vergessen!“

Sie sah ihn zornig an. Leichtfertig dünkte sie sein Reden, als ob man imstande sei – eins – zwei – drei! die Truhe der Erinnerung zuzuklappen. Abgemacht!

„O,“ sagte sie langsam, und es klang bitter, anstatt ironisch, „wozu diese Wiederholung? Sie haben mir längst gesagt, daß Sie vergaßen, wenn auch just nicht mit Worten.“ Und sie dachte, wie sie hier, an der nämlichen Stelle, die Anzeige seiner Verlobung empfangen hatte.

„Nun, so habe ich mich falsch ausgedrückt, ich meinte vergeben statt vergessen! Und bei Gott, Lore,“ setzte er hinzu. „ich trage Ihnen nicht nach, daß Sie –“

Sie wandte stolz den Kopf. „Es ist sehr gütig von Ihnen! Sie meinen also, daß ich aus purem Uebermuth, aus Laune, aus Lust, eine reiche Frau zu werden, oder aus – Gott weiß – etwas Unbegreiflichem Sie verließ; – daß –“

„Ich meine nichts, denn ich weiß, daß Sie – – ich habe vergeben, darf gar nicht mehr zürnen; aber auch Sie sollen mir verzeihen, Lore.“

„Nehmen Sie die Versicherung meiner völligen Verzeihung, wenn ich auch nicht weiß für was!“

„Für was?“ Er sah sie traurig an. „Ist es nicht eine schwere Schuld, daß ich Ihrer Schwester meine Hand geboten habe – ohne eine Spur von Liebe? Ich hatte nicht einmal die Entschuldigung, damit etwas Gutes zu bezwecken, wie –“

„Kein Wort mehr!“ rief sie zitternd. „Es ist wahrlich leicht, einer Todten abzustreiten, daß Sie ihr einst Ihr Herz schenkten. – Käthes Mund ist stumm –“

Er wurde roth, aber er ließ die Augen nicht von ihr. „Ich wiederhole es,“ sagte er laut, „ich liebte Ihre Schwester nicht.“

„Brechen wir das Gespräch ab!“ sagte sie kurz.

Er schwieg gehorsam. Sie war aufgesprungen und ging hastig bis zu dem Kamin hinüber, in dem die letzten Kohlen verglimmten. Sie stieß zwecklos mit der Zange darin umher und nahm den kleinen Blasebalg zur Hand, ohne ihn zu gebrauchen. Endlich kam sie zurück, und vor ihm stehen bleibend in dem grellen Sonnenlicht, das ihm so deutlich die feinen Linien zeigte, die der Gram in ihrem Gesichte gezogen, sagte sie leise:

„Wir wollen uns nicht zanken über diese alten Geschichten, es hätte keinen Zweck und – es ist mir recht, was Sie vorgeschlagen: wir wollen gute Freunde werden. Wir haben uns gegenseitig wehgethan, nur mit dem Unterschied, daß ich nicht Herr meines Willens war, daß ich beinahe gestorben wäre, um – aber lassen wir das! Nur wollen Sie mich nicht mehr trösten mit Märchen, die ich doch nicht glaube! Lassen Sie doch der Todten ihr Recht!“

„Lore, Sie thun mir unrecht! Ich wußte damals nicht, daß Sie gezwungen ‚Ja‘ gesprochen hatten; und tödlich beleidigt durch Ihre Untreue, stürzte ich mich Hals über Kopf – Ach, fragen Sie mich nicht!“

„Also gute Freundschaft!“ sagte sie, seine Worte überhörend.

„Gute Freundschaft,“ wiederholte er, und ein trauriges Lächeln flog, ungesehen von ihr, um seinen Mund.

Und nun saßen sie beisammen und sprachen von Sachen, die weit ab lagen von dem, was sie dachten, und dabei fanden sich immer ihre Augen mit fragendem, forschendem Blick, als suchten sie nach einem einzigen Strahl jenes Glückes, das ihnen einst daraus geleuchtet. Es war so mäuschenstill hier oben, nichts störte sie in den Fragen und Antworten, die zuerst rasch und dann immer langsamer gethan und gegeben wurden.

Der General schien heute die Stunde des Essens versäumen zu wollen. Gemma hatte, auf den Zehen trippelnd, leise den Tisch gedeckt und brachte die Zuppa im übervollen Metallnapf herein.

Lore bat Ernst mit ein paar hastigen Worten, zu Tisch zu bleiben, und füllte die braune Brühe auf die Teller. Sie war dabei verlegen und etwas ungeschickt. Sie saßen sich gegenüber wie ein junges Ehepaar beim ersten Mittagessen; möglich, daß sie beide Aehnliches dachten. Einen Moment, just als er die Hände nach dem Teller ausstreckte, den sie ihm gefüllt, tauchten ihre Augen in die seinen mit dem vollen Ausdruck der alten treuen Liebe; dann senkte sie rasch das Gesicht, und während sie zitternd zu dem Löffel griff, liefen ihr ein paar große Thränen aus den Augen.

Sie sprachen nicht viel mehr bei ihrem kleinen Mahl. Gemma trug die goldgelb gebackenen Fischchen kopfschüttelnd wieder ab, ohne daß davon gekostet war, und ebenso den gebratenen Hahn; nur eine Orange schälte Lore, und er aß davon ein Stückchen nach dem andern und trank dazu von dem dunkelrothen Wein.

„Auf gute Freundschaft!“ sagte er einmal und rührte mit dem Glas an das ihre. Dann fragte er, ob sie nicht spazieren gehen wolle; und als sie bejahte, führte er sie am Arm durch die Straßen Roms, und sie dachte, wie sie es einst geträumt, so mit ihm zu wandern, und daß es nun Wirklichkeit geworden sei, und doch wie anders – –

Die Dämmerung sank herunter, als er sich an ihrer Hausthüre von ihr verabschiedete. „Gute Nacht, Lore!“ sagte er, „und habe Dank!“

Sie erschrak über das „Du“. „Gute Nacht!“ sprach auch sie. „Auf Wiedersehen?“ fragte er.

„Ja!“

„Morgen?“

„Ja!“

Droben murrte der Onkel verdrießlich in seiner Einsamkeit. „Alle Wetter, Deern, so läßt Du warten!“

Sie stand vor ihm und sah ihn an, und vor diesem Blick verstummte er, so thränenschimmernd waren ihre Augen.

„Ei, was ist Dir denn begegnet?“ fragte er. „Du siehst aus, als –“ Er wußte nicht gleich weiter.

„Nichts Besonderes, Onkel. Ich war ganz solid spazieren mit meinem guten Freunde aus der Heimath.“

„Mit dem Doktor da?“

„Ja, Onkel!“

„Eh, das mag wohl kurzweiliger sein als mit dem alten Onkel, das glaube ich,“ neckte der General, „so einer hat alle die Klassiker am Schnürchen und kann Dir sagen, wo Nero seine Schuhe besohlen ließ und die schöne Agrippina ihren Kopfputz kaufte!“

„Ach, Onkel, wir haben nicht an die kaiserliche Roma gedacht,“ antwortete sie.

„Um so schlimmer! Was habt Ihr dann gedacht? Heißt das mit Nutzen reisen?“ – – – –

Ein paar Tage verstrichen und der Doktor verlebte sie mit ihnen. Sie gingen zusammen aus und aßen zusammen, aber sie sprachen kein Wort mehr von alten Zeiten. – Nun kam er eines Abends, um Abschied zu nehmen.

Der General hatte sich bei einem Ausflug nach Tivoli, den sie Tags zuvor unternommen hatten, erkältet und lag zu Bett mit geschwollenen Füßen. Lore saß im dämmerigen Salotto, in das der Mond einen breiten Streifen bläulichen Silberlichtes durch das Fenster sandte; ihr gegenüber der Doktor.

„Grüßen Sie viel tausendmal die Heimath!“ sagte sie und legte ihre Hand in die seine. „Grüßen Sie meine gute Mutter und auch die Ihre – wenn sie noch etwas von mir wissen will.“

„Ach, Lore,“ sprach er weich, „sie vergab Dir Deine –“

„Untreue“ – ergänzte sie, und leise und hastig fügte sie hinzu: „Und ich war Dir doch treu, Ernst, mit jeder Faser meines Herzens.“

[322] Sie hatte ihn noch nie wieder beim Vornamen genannt und noch nie wieder „Du“!

„Lore!“ sagte er athemlos. –

Da stand sie auf und trat an das Fenster, und er folgte ihr. „Ich war Dir treu,“ wiederholte sie noch leiser, „tausendmal habe ich Gott gebeten, er möge mir Gelegenheit geben, es Dir zu sagen.“

Er ergriff ihre beiden Hände und zog sie an sich, und bei dem hellen Mondenlicht sah er ihr in die Augen mit banger Frage, und sie fühlte, wie seine Hände zitterten, aber ihre Augen blickten groß zu ihm empor, so rein und klar wie die eines Kindes.

„Auch ich war Dir treu, Lore!“ flüsterte er.

Da wand sie sich los. „Nein“ sagte sie, „sprich davon nicht, denn Käthe ist todt und – ich habe ja auch kein Recht, Dir um ihretwillen einen Vorwurf zu machen, denn Du wußtest mich verloren für Dich –“

„Vielleicht glaubst Du Käthe mehr wie mir, Lore,“ und er nahm einen Brief aus seiner Brieftasche, den er ihr hinreichte. „Lies, lies, ich bitte, und dann richte milde und laß es unser Geheimniß bleiben.“ – –

Der Mondenschein war so hell, daß sie ohne Mühe die bekannten Schriftzüge entziffern konnte; sie trat näher an das Fenster und las. Endlich sank die Hand herunter, die die Briefblätter hielt, und leise weinend legte sie ihren Kopf an die Scheibe.

Er stand hinter ihr, wartend, bis sie sich umwenden würde, damit er sie an seine Brust ziehen könne, um sie nie wieder zu lassen. Aber als sie in ihrer Stellung verharrte, mahnte er leise: „Lore!“

Und nun wandte sich ihr verweintes Gesicht zu ihm. „Nein, nein, nicht jetzt, Ernst!“ Und sie hielt den Brief in fest verschlungenen Händen, die sich leuchtend weiß von dem tiefen Schwarz ihres Kleides abhoben.

Ja, sie trug noch schwarze Kleider!

Er trat zurück. „Leb wohl, Lore, auf Wiedersehen! Komm bald!“

„Auf Wiedersehen!“ flüsterte sie.

„Bald! Und bleibe bei mir!“

Sie neigte stumm bejahend den Kopf und winkte zugleich, er möge gehen.

Und er ging gehorsam. Er wußte, es war eine letzte Trennung, ein letztes Entbehren.




Es war einmal wieder Herbst; es war neblig und regnete, ein echter deutscher Novembertag. Die Frau Pastorin hatte Kaffeebesuch in ihrer gemüthlichen alten Wohnstube; die Majorin und Tante Melitta von Tollen saßen da in der Dämmerung und schwatzten. Zuerst Familienneuigkeiten natürlich. Die Excellenz wurde erwartet; der alte Herr wollte seine Lore als junge Frau Doktorin in ihrer Häuslichkeit sehen.

Helene hatte auch geschrieben, glückselig sei sie in ihrer kleinen Wirthschaft, und Rudolf hatte sich auf Wunsch seiner jungen Frau zur Kavallerie versetzen lassen.

Die Frau Pastorin sah recht ungeduldig nach der Uhr. „Das läuft nun da herum in dem Nebel und vergißt hören und sehen,“ sagte sie ungeduldig, und sie ging ans Fenster, um in den sinkenden Abend zu spähen. Da kamen sie eben den Gartensteig entlang, Arm in Arm, unter einem riesigen altmodischen Regenschirm.

Die alte Frau trippelte an die Thür.

„Nun kommt aber erst einmal herein, ehe Ihr nach oben geht,“ rief sie, „und das muß ich mir sehr verbitten, daß Ihr immer meinen Regenschirm nehmt; ich habe dem Jungen doch einen ganz neuen seidenen geschenkt zur Aussteuer.“ Und dabei leuchteten ihre Augen.

Lore küßte die Stirn der Schwiegermutter.

„Laß uns nur,“ sagte sie einfach, „unter dem alten Dach haben wir uns ja verlobt.“

„Wo wart Ihr denn?“ fragte Frau von Tollen.

„Auf dem Kirchhof, Mama, wir waren zusammen noch nicht an den Gräbern.“

Die Majorin nickte still.

Sie waren lange spazieren gewesen – der erste gemeinsame Spaziergang als junge Eheleute. Vor acht Tagen waren sie in Berlin in der Matthäikirche von einem Freunde des Onkels getraut worden.

„Er hat sich nun ’mal auf eine Tollen kapriziert,“ sagte Tante Melitta zu sich, als sie von Lores Verlobung erfuhr. Die alte Dame war ganz hinfällig und nervös geworden; sie litt unter den unaufgeklärten Verhältnissen. Wie es kam, daß Lores erste Ehe getrennt wurde, wie es zuging, daß ein Mensch, der sich für Käthe duellirt hatte, nun nach so kurzer Frist die Lore heirathete, das war ihr und vielen andernu verschleiert geblieben.

Lore hatte am Abend zuvor, als sie von Berlin zurückkamen, ihrem Mann die Geschichte ihres kurzen Verheirathetseins erzählt. Sie saßen dicht nebeneinander in einem Coupé zweiter Klasse, und er hielt ihre Hand, und wenn sie stockte vor Zorn und Weh, küßte er sie und bat: „Laß, laß, das ist vorbei!“

Und heute gleich waren sie an Käthes Grabe gewesen und hatten ihr einen Kranz hingetragen, ein stilles Zeichen herzlichen Vergebens. –

Sie mußten erst Kaffee mit trinken bei den alten Damen, und Lore saß neben der Mutter und strich ihr über den weißen Scheitel und die eingefallenen Wangen. „Du mußt sehr oft zu uns kommen, Mamachen.“

„Ja, Kind, denn es ist mein einziger Trost, daß Du noch glücklich geworden bist –.“

Später sind sie droben allein in der gemüthlichen Wohnung.

Dicht neben Ernsts Arbeitszimmer liegt Lores Stübchen. An der Decke schaukelt eine Hängelampe und wirft ihre Strahlen über den darunter stehenden Sofatisch. Neben der Handarbeit liegt ein Buch. Ein dunkelfarbiger Teppich breitet sich über die Dielen, behaglich knistert das Feuer im olivgrünen Kachelofen, und fest zugezogen sind die Vorhänge von einfachem rothen Wollenstoff.

Sie sitzen am Tisch, und der junge Mann ergreift das Buch – es ist ein Werk über Rom – und schickt sich zum Vorlesen an.

„Weißt Du noch,“ fragt sie rasch, „wie wir in Gemmas Salotto miteinander zu Mittag aßen?“

„Ach,“ sagt er und sieht so ernsthaft und gerührt dabei aus, „was sind Rom und alle seine großen und kleinen Salons gegen unser Westenberg und unser kleines Heim!“

Sie lachte fröhlich auf. Es ist das erste Mal, daß sie wieder lacht, und er sieht sie ganz entzückt an; sie ist in dem Lächeln wieder seine alte reizende Lore!

Und der Regen klopft an die Scheiben, und der Wind fährt heulend um das Haus und durch die Aeste der Bäume und nimmt ihnen die letzten Blätter.

Was thut es? Hier innen ist’s traut und behaglich, denn die Liebe wohnt hier, und mit ihr das Glück.