Zum Inhalt springen

Lotti

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Max Bernstein
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Lotti
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 82
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[82]

Lotti.

Skizze von Max Bernstein.

Liebst du die Kinder? Wenn du sie nicht liebst, dann kennst du sie nicht. Dann hast du eine ganz falsche Meinung von ihnen.

Da ist zum Beispiel die kleine Lotti. Ein schönes Kind, mit ihren losen, langen dunklen Haaren, die immer so ungeduldig hin und her geschleudert werden, wenn sie das Trotzköpfchen schüttelt; mit ihren tiefen dunklen Augen, die eine besondere Fähigkeit besitzen, versteckte süße Sachen auszufinden; mit ihrem rosigen Mündchen, dem diese süßen Sachen so gut schmecken, und das sich zum Schmollen und Weinen verzieht, wenn man sie ihm nicht geben will.

Also – wird Einer sagen – ein unartiges, unleidliches Kind!

O nein! Nur ein kindliches Kind; ganz wie sich’s gehört. Der liebe Gott weiß schon, warum er das so eingerichtet hat, daß die Kinder eben – Kinder sind, daß sie manchmal unartig sind und gern naschen und gern fragen …

Das Fragen! Das verstand Lotti. Es machte ihr Spaß. Sie wollte Alles wissen. Sie frug immer. Oft wartete sie die Antwort gar nicht ab. Denn ehe die kam, fiel ihr schon wieder etwas Anderes ein. Dann plapperte sie ... immer zu, immer zu ... aber es hörte sich hübsch an. Sie war lieb und klug.

So klug war sie freilich nicht, daß sie während des Gewitters keine Angst gehabt und allein in der Kinderstube ausgehalten hätte.

Die Mama war gleich nach Tisch ausgegangen, zu Besuch: die Magd war auch nicht da. Es blitzte und donnerte in Einem fort.

Einen Apfel in der linken Hand – den ließ sie trotz aller Augst nicht los – schlich sie aus der Stube, durchs Wohnzimmer, bis zu dem Zimmer, wo der Papa immer schrieb.

Er schrieb auch jetzt. Es war ein Abschiedsbrief – an das Leben. Er war ein reicher junger Kaufmann. Aber damit war es seit einer Stunde vorbei. Er hatte guten Freunden helfen wollen. Die guten Freunde hatten ihn belogen. Sein Reichthum war dahin. Auf dem Tische vor ihm lag das Telegramm, welches ihm sagte, daß er ein Bettler sei. Deßhalb war er, mit seinen dreißig Jahren, nun nicht mehr jung. Seit einer [83] Stunde war er um Jahrzehnte gealtert, gebrochen, fertig mit dem Leben, ein Greis. Wie ein verlorenes Paradies lag die Vergangenheit hinter ihm: sein glückseliges Leben mit Weib und Kind. Sein junges Weib, das nie die Sorge gekannt, dem er ein Dasein voll Sonnenschein verheißen – sie sollte die Nacht des Elends, der Armuth, der Schande kennen lernen!

Der Schande! Denn die Welt verzeiht es nicht, daß ein reicher Mann arm wird, sie stößt ihn aus, sie kennt ihn nicht mehr. Und ihm vollends, der aus gutem Herzen so leichtsinnig Alles hingegeben - wer wird ihm das glauben? Sie werden sagen: Er ist ein Betrüger, er muß ein Betrüger sein. Sie werden ihn verachten.

Und wenn die Welt ihm vergab - konnte er selbst sich vergeben? Konnte er seinem nichts ahnenden Weibe sagen: Darbe, ertrage Alles, um meinetwillen? War er, der sie eben des Glückes beraubt, des Opfers werth?

Das verwirrte seine Gedanken, das trieb ihn in den Tod. Darum schrieb er den Abschiedsbrief. Er marterte sein Gehirn, die rechten Worte zu finden, seinem Weibe auseinanderzusetzen, wie Alles gekommen, und sie um Verzeihung zu bitten. Neben dem Papier, auf das er schrieb, lag die Waffe. Wenn er den Brief beendet hatte, wollte er sie ergreifen, und dann –

Da sah er eine kleine Hand an der Pistole. Er hatte bei dem Tosen des Sturmes das Kind nicht eintreten hören. Nun hielt er erschrocken sein Händchen fest.

„Was willst Du?“ frug er mit rauher Stimme und abgewendetem Gesicht. Er konnte das Kind, das er zur Waise machen wollte, nicht ansehen.

„Ich fürchte mich so,“ sagte sie. „Es blitzt so arg. Ich will bei Dir bleiben.“

Er antwortete nicht, sondern schrieb hastig weiter. Er konnte später immer noch das Kind hinausschicken und dann –

„Papa,“ sagte sie, „was ist denn das?“

„Eine Pistole ... zum Schießen.“

„Wie der Willi vom Christkindl bekommen hat?“ (Der Willi war des Nachbars Kind; seine Holzpistole war ein Weihnachtsgeschenk)

„Ja. Aber sei still, laß mich schreiben.“

Doch es litt sie nicht lange schweigend.

„Papa,“ fing sie wieder an, „hast Du sie auch vom Christkindl bekommen? Thust Du auch schießen damit?“

Er gab keine Antwort. Er schrieb – und schrieb.

„Papa, wer donnert denn immer so?“

„Der liebe Gott,“ sagte er – und schrieb.

„Weißt Du, ich will den lieben Gott bitten, daß er aufhört. Es ist so schrecklich.“

Ihre Lippen bewegten sich leise.

Dann frug sie wieder. „Papa, wann ist denn dem lieben Gott sein Geburtstag? Ich hab’ ihm etwas zum Geburtstag versprochen, wenn er aufhört.“

Er schrieb weiter, schrieb von zerstörtem Leben, Todesqualen und Verzweiflung, während sein Kind neben ihm stand und plauderte.

„Papa, hat der liebe Gott auch Kinder? Die müssen aber schöne Sachen zum Christkindl bekommen! Der liebe Gott hat doch viel schöne Sachen, nicht? Papa, weißt Du nicht, wo der Storch wohnt? Ich hab’ die Mama gefragt, aber sie sagt, er hat mich gebracht und ist gleich wieder fort, ganz weit fort. Ich möcht’ ihn einmal sehen. Der Willi sagt, er hat ihn gesehen. Er weiß aber nicht, ob das auch mein Storch ist.“

Sie wollte endlich in den Apfel beißen. Da fiel ihr ein, daß die Mama ihr verboten hatte, ungeschälte Aepfel zu essen. Sie legte das Händchen auf den Arm des Schreibenden und hielt ihn auf.

„Thu’ mir den Apfel schälen!“

Er wandte sich heftig um und wollte schelten. Als er aber die treuen Augen mit so herzlicher Bitte aufschauen sah, fand er nicht den Muth dazu. Er nahm sein Taschenmesser und begann den Apfel zu schälen. Lotti sah zu.

„Warum haben denn die Aepfel solche Schalen? Erst läßt sie der liebe Gott wachsen und dann soll ich sie doch nicht mitessen. Warum sind sie denn drauf? Gelt, daß sie’s nicht friert?“

„Freilich. wenn’s im Winter kalt ist,“ erwiderte er, ihr den geschälten Apfel zurückgebend.

Nun wollte sie wieder hineinbeißen, besann sich aber anders und frug erst: „Magst was davon?“

Da überkam es ihn; er zog sie an sich, hob sie auf seinen Schoß und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Endlich, endlich konnte er weinen!

Sie glaubte, er fürchte sich vor dem Gewitter, da wurde sie wieder ängstlich, und auch ihre Thränen begannen zu fließen.

„Ach, es ist so schrecklich!“ flüsterte sie. „Du mußt ihm auch was versprechen, daß er aufhört.“

„Was soll ich ihm denn versprechen, Lotti?“

Sie konnte sich nur dessen erinnern, was sie immer versprach, um den Zorn der Eltern zu beschwichtigen:

„Sag ihm nur, Du willst recht brav sein.“

Das traf ihn ins Herz. Brav sein! Aus dem Leben fliehen, Weib und Kind verlassen – war das brav? – Er antwortete nicht.

„Hast Du es ihm gesagt?“ frug sie nach einer kleinen Weile. Und, da eben ein greller Blitz zuckte – „Sag’s ihm doch!“ drängte sie. Und in wachsender Angst begann sie selbst laut zu beten; was ihr eben einfiel ... ihr Nachtgebet ...

„Müde bin ich. geh’ zur Ruh,
Schließe meine Aeuglein zu.
Vater, laß die Augen Dein
Ueber meinem Bette sein.“

Vater! sprach es in seinem Herzen nach. Du bist ein Vater, dieses Kindes Vater, das in vertrauender Zärtlichkeit an deine Brust sich schmiegt, das von dir Schutz und Hilfe erwartet, du aber willst von ihr gehen, nimmer werden deine Augen über ihrem Bette sein, nimmer wirst du wachen über ihren Schlummer, und was auch kommt, Glück oder Unglück, sie wird keinen Vater mehr haben ... doch ist’s nicht besser, als zusehen zu müssen wie sie aufwächst in Armuth und Entbehrung?

Er griff wieder nach der Feder.

„Wenn nur die Mama da wäre!“ seufzte das Kind. „Gelt, Papa. wenn die Mama da ist, fürchtest Du Dich auch nicht?“

„Gewiß nicht,“ sagte er aus tiefster Seele. Was sollte er fürchten, wenn sie da war, sein treues, liebendes Weib, an seiner Seite, mit ihm Alles zu tragen bereit?

Wieder ein Blitz und Donnerschlag. Ein Morgengebet, das sie auswendig gelernt hatte, fiel ihr ein und sie sagte es her, als ob sie ein Gedicht vortrüge, halb singend, die Silben einzeln betonend:

„Lieber Gott, an diesem Morgen
Segne Du die Eltern mein.
Und damit sie ohne Sorgen,
Laß ein gutes Kind mich sein.“

„Und hör’ jetzt auf!“ setzte sie hinzu. Dann legte sie das Köpfchen an des Vaters Brust.

Der aber spann den Gedanken weiter. „Und damit sie ohne Sorgen, laß ein gutes Kind mich sein.“ Bedarf es weiter nichts zum Glücke? Liebende Eltern, ein gutes Kind – ist das alles? Ist das schon das Glück?

Und in seinem Herzen antwortete eine leise Stimme: Das ist das Glück.

Und die Welt? sprach es aus dem unvollendeten Briefe. Armuth und Entbehrung? Kannst du glücklich sein, trotzalledem?

Aber die leise Stimme sagte wieder: Das ist das Glück. – So sprach und stritt es in seinem Herzen.

Lotti war indessen, immer noch den Apfel in der Hand, eingeschlafen. Sie ruhte an seiner Brust. Er konnte sich nicht rühren, ohne sie zu erwecken. So konnte er nicht weiter schreiben.

Eine lange, schwere Stunde verging. Das Gewitter verzog sich; die Sonne kam. Und mit ihr – sein Weib.

Als sie in der Thür erschien, wies er auf Lotti, legte den Finger an die Lippen und reichte ihr schweigend das Telegramm und den Brief. Sie ward bleich und sah ihn fragend an. Da leuchtete es in seinen Augen; sein Mund neigte sich küssend auf Lotti’s Stirn. Sie verstand das heilige Gelöbniß und trat zu ihnen und legte die Hand auf des Kindes Haupt.

So standen sie, muthig und glücklich, zu neuem Leben bereit.