MKL1888:Anthropologie

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 1 (1885), Seite 628631
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Anthropologie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 628–631. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Anthropologie (Version vom 19.01.2022)

[628] Anthropologie (griech.), die Lehre vom Menschen im allgemeinen, vom Standpunkt des Naturforschers aus betrachtet und ergründet, und somit die Naturgeschichte des Menschen. Als solche umfaßt sie alle Disziplinen, welche sich mit dem Menschen als Untersuchungsobjekt beschäftigen. Man kann die A. einteilen in: 1) somatische A.; Gegenstand ist der Körper des Menschen, Hilfswissenschaften sind ihr die Anatomie und Physiologie; 2) psychische A.; sie beschäftigt sich mit den geistigen Eigenschaften des Menschen je nach ihren durch Abstammung und Geschlecht bedingten Besonderheiten; 3) historische A.; sie umfaßt alles, was sich auf die Entstehung und Entwickelung des Menschengeschlechts in seiner Gesamtheit wie in seinen einzelnen Rassen und Völkern bezieht; als Hilfswissenschaften dienen ihr alle andern, soweit sie Licht auf ihr Objekt, den Menschen, zu werfen vermögen.

1) Die somatische A. (auch anatomische A. genannt) erörtert die Eigenschaften des menschlichen Körperbaues in seinen verschiedenen durch Rasse, Geschlecht und Abstammung bedingten Eigentümlichkeiten und Abweichungen. Diese Eigentümlichkeiten können in allen Organsystemen ihren Ausdruck finden, vorwiegend aber sind es die die äußere Erscheinung beeinflussenden, am meisten in die Augen springenden, wie Haar-, Augen-, Hautbeschaffenheit und -Farbe sowie der die Gestalt bedingende knöcherne (Skelett-) Bau. Von letzterm steht wieder der Schädel als Sitz des höchsten Organs, des Gehirns, sowie der höhern Sinnesorgane und als Grundlage der charakteristischen Gesichtsbildung obenan. Daher ist die Schädellehre (Kraniologie) der wichtigste Teil der somatischen A., wobei von wesentlichem Einfluß der Umstand ist, daß Rassenschädel noch am leichtesten beschafft werden können. Durch Vergleich und Zusammenstellung der so gewonnenen Einzelbeobachtungen sind die Rasseneigentümlichkeiten, d. h. die naturhistorischen Charaktere, der Völker und Stämme gegeben. Dieses Gebiet deckt sich daher zum Teil mit dem der Ethnologie. Mittel der somatischen A. sind einerseits möglichst zutreffende Beschreibung, anderseits Messung, d. h. die in Zahlen ausgedrückten Größenverhältnisse gewisser Körperteile zu einander oder verschiedener Dimensionen eines Körperteils unter sich. Beide Richtungen werden durch möglichst exakte bildliche Darstellung (besonders sogen. geometrische Zeichenmethode, mit Hilfe des Lucaeschen Zeichenapparats, Anwendung der Photographie, Gipsabgüsse etc.) unterstützt. Gewisse mehr oder weniger allgemein angenommene Bezeichnungen für Haar- und Augenfarbe, Farbenskalen, um danach die verschiedenen Hautfärbungen zu bestimmen, suchen eine möglichste Übereinstimmung in den Grundprinzipien der Einzelbeobachtungen zu erzielen. Demselben Zweck dient für die Körpermessung die Annahme ganz bestimmter und leicht wieder aufzufindender Ausgangspunkte für die einzelnen Maßrichtungen, namentlich am skelettierten Schädel, wie Knochenvorsprünge, Höhlen oder Öffnungen. Auf diesem Gebiet herrscht noch vielfach Willkür und findet sich eine oft verwirrende Menge von verschiedenen Maßen und Durchmessern. Neuerdings hat man sich jedoch bemüht, wenigstens für Deutschland eine Einigung herzustellen, indem durch gemeinsame Thätigkeit einer Anzahl hervorragender Anthropologen ein Maßschema vereinbart wurde. Die Lehre von diesen Schädelmaßen heißt Schädelmessung (Kraniometrie); sie ist an die Stelle der alten oberflächlichen Methode der bloßen Schädelbetrachtung oder Kranioskopie getreten, deren krankhafter Auswuchs die Phrenologie (s. d.) war.

2) Die psychische A. (Menschenseelenkunde) kommt, insofern sie das geistige und gemütliche Wesen des Menschen nach naturwissenschaftlicher Methode behandelt, mit der Psychologie (s. d.) als „Erfahrungsseelenlehre“ überein, unterscheidet sich aber von dieser dem Umfang nach, indem sie sich auf die menschlichen Seelenerscheinungen beschränkt, während letztere z. B. als „Tierpsychologie“ auch die tierischen umfaßt. Dieselbe ist, je nachdem sie das psychische Wesen des Menschen überhaupt oder das des einer besondern Rasse, einem gewissen Stamm oder Volk angehörigen Menschen nach seiner spezifischen Eigentümlichkeit zum Gegenstand wählt, entweder allgemeine (Menschheits-) oder besondere A. (Volksseelenkunde), welche letztere als vergleichende Betrachtung und Beschreibung der psychischen Eigenschaft verschiedener Völkerschaften zur „vergleichenden A.“ (Völkerpsychologie) führt, von welcher, je nachdem die Mannigfaltigkeit der Äußerungen der Volksseele in Religion, Sprache, Sitte und Lebensweise gesondert im Auge behalten wird, die vergleichende Religions- und vergleichende Sprachwissenschaft sowie die vergleichende Ethnographie Zweige ausmachen. Wird hierbei das Hauptgewicht auf denjenigen Teil der psychischen Menschennatur gelegt, der (wie das Naturell [s. d.] oder Temperament [s. d.]) unmittelbar durch dessen physische Beschaffenheit bedingt [629] ist, so entsteht die von Kant so genannte „physiologische A.“; wird dagegen derjenige betont, welcher (wie der Charakter [s. d.], die gesamte Entwickelung der Denk-, Gefühls- und Handlungsweise) durch den eignen Willen, der selbst schon der geistigen Seite der Menschen angehört, beeinflußt oder hervorgebracht ist, so entsteht die gleichfalls von Kant als „pragmatisch“ bezeichnete A., deren völkerpsychologische Durchführung in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit deren allgemeine geistige und sittliche Kulturgeschichte ergibt.

3) Die historische A. behandelt die Herkunft des Menschen in der Schöpfung, das Alter des Menschengeschlechts, seine verwandtschaftliche Stellung zu den verschiedenen Tieren, namentlich zu den ihm nächststehenden (sogen. menschenähnlichen oder anthropoiden) Affen, weiterhin die Entstehung der verschiedenen Rassen und Völkerstämme, ihre Heimat, Wanderungen, Mischungen und Spaltungen. Als Hilfswissenschaften gelten einerseits die Paläontologie und Archäologie (s. d.), insofern sie die Dokumente vergangener Erd- und Kulturperioden für die Urgeschichte des Geschlechts herbeischaffen, anderseits die vergleichende Anatomie und Embryologie, indem diese die im Bau und der Entwickelung des Menschen niedergelegten Anknüpfungspunkte an frühere und niedere Erscheinungsformen ans Tageslicht fördern (sogen. Anthropogenie nach Häckel, d. h. Lehre von der Entstehung des Menschen). Infolge der Lückenhaftigkeit der Dokumente ist dieses Gebiet noch vielfach der Tummelplatz von Hypothesen und Vermutungen, namentlich soweit es sich um die Anwendung der darwinistischen Naturanschauung auf die Entstehung des Menschen handelt (Häckels Affentheorie). Von großer Bedeutung für die Frage des frühsten Nachweises des Menschengeschlechts sind einerseits die sogen. Diluvialfunde, anderseits die Knochenhöhlen. Erstere bestehen in rohen Steinwaffen, welche man in quaternären Schichten zusammen mit den Knochen zweifellos fossiler Tiere fand (Mammut [Elephas primigenius], wollhaariges Nashorn [Rhinoceros tichorrhinus], Höhlenbär [Ursus spelaeus], Höhlenhyäne [Hyaena spelaea] etc.). Derartige Funde machte zuerst Boucher de Perthes (1847) in dem Diluvium des Sommethals bei Abbeville. Auch der immerhin zweifelhafte Fund des menschlichen Unterkiefers von Moulin-Quignon durch denselben Forscher (1863) gehört hierher. Von den Grotten- und Höhlenfunden steht der durch Lartet zu Aurignac gemachte (1861) obenan. Die hier gefundenen fossilen Tierknochen zeigten die Spuren der Feuereinwirkung, andre besaßen Einkerbungen, scheinbar von Menschenhand herrührend. Namentlich Frankreich, England, Belgien, Italien sind reich an solchen Knochenhöhlen. Auch die Ausgrabungen in den Steinbrüchen von Paris durch Martin (1867–73) sowie die im Lessethal durch Dupont (1864) gehören hierher.

Aus diesen Funden geht mit Bestimmtheit hervor, daß der Mensch in den betreffenden Gegenden Europas bereits in der quaternären Epoche als ein Zeitgenosse teils jetzt ausgestorbener, teils nur noch in nordischen Breitengraden lebender Tiere (Renntier, Moschusochs) auftrat. Ob er auch in der Tertiärzeit existierte, ist nach den bisherigen Funden noch zweifelhaft. Als einen Beweis dafür sieht man die von Capellini (1876) im pliocänen Thon des Monte Aperto bei Siena aufgefundenen Knochen von Balaenotus (Cetacea) mit anscheinend von Menschenhand herrührenden (?) Einschnitten sowie scheinbar bearbeitete Kiesel an, welche Abbé Bourgeois in den miocänen Schichten von Thénay auffand. Nirgends aber fanden sich bisher sichere Anzeichen für die Annahme einer ursprünglich affenartigen (pithekoiden) Körperbildung des ältesten Menschen; die weite Lücke zwischen Mensch und Affe ist, was fossile Funde anbelangt, noch unausgefüllt (s. unten). Ja, es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß der quaternäre Mensch körperlich und geistig niedriger stand als viele jetzt lebende wilde Rassen. Was den Kulturgrad der alten Höhlenbewohner anbelangt, so lebten dieselben, wie die Funde ergeben, von Jagd und Fischfang, wobei sie sich steinerner und knöcherner Waffen und Geräte bedienten; sie kleideten sich in Tierfelle, die sie mit Sehnen und Darmsaiten nähten, und kannten die Wohlthat des Feuers. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß Kannibalismus bestand (Marion, Fund bei St.-Marc unweit Aix en Provence; Capellini, Insel Palmaria). Von großem Interesse als Beweise eines schon damals sich entwickelnden Kunstsinnes sind die fossilen bildlichen Darstellungen, auf Renntier-, Mammut- und Schieferstückchen eingeritzt, welche man an verschiedenen Orten fand (Höhlen von Périgord, von Thayngen in der Schweiz). Dieselben stellen Wisentköpfe, Renntiere, Pferde etc. dar; besonders merkwürdig ist die Abbildung eines Mammuts auf dem Stück eines Stoßzahns dieses Tiers (Grotte von Madelaine in der Dordogne). Sehr auffallend sind endlich die in den letzten Jahren aufgefundenen trepanierten Menschenschädel (Prunières, Höhle von Lozère). Die ausgeschnittenen Knochenscheiben sind zum Durchziehen einer Aufhängeschnur durchbohrt. Die Operation wurde teils an Lebenden, teils an Toten vorgenommen; ihr Zweck ist fraglich, vielleicht liegt ein religiöses Motiv zu Grunde (vgl. Broca, Revue d’Anthropologie, Bd. 2, 1873; Bd. 6, 1877).

Unter den menschlichen Knochenresten, die den Höhlen entstammen, haben einige eine gewisse Berühmtheit erlangt, indem man in ihnen die Vertreter jener ältesten Rassen sah. So der Schädel vom Neanderthal, von Fuhlrott 1857 bei Düsseldorf gefunden und von Schaaffhausen genauer untersucht, dessen typische Bedeutung indes durch den von Virchow geführten Nachweis pathologischer Bildung beeinträchtigt wird; ferner der Schädel von Engis, von Schmerling 1833 bei Lüttich entdeckt, dessen paläolithische Natur indes bezweifelt wird (Boyd Dawkins). Beide Schädel gehören, ebenso wie die Schädel von Cro-Magnon (im Vézèrethal bei Des Eyzies 1858 gefunden), einer dolichokephalen Rasse an. Dagegen brachykephal sind der sogen. Schädel aus den Hünengräbern von Borreby, die Mehrzahl derer des Trou du Frontal in Belgien, ein Teil der Höhlenschädel von Sclaigneaux etc. Auf Grund dieser Funde hat de Quatrefages verschiedene prähistorische Menschenrassen aufgestellt, die er als Kannstatt-, Cro-Magnon- und Furfoozrasse bezeichnet.

Weitere wichtige Funde in anthropologischer Hinsicht liefern die sogen. Torfmoore, Küchenabfälle und die Pfahlbauten. Die Torfmoore, namentlich in Dänemark stark vertreten, lassen erkennen, daß daselbst der Vegetationscharakter dreimal gewechselt hat: auf Nadelhölzer folgten Eichen und schließlich Buchen; bereits zur Zeit ersterer wohnten, wie die zwischen den Stämmen aufgefundenen Steinwaffen zeigen, Menschen in jenen Gegenden, zu einer Zeit, die man mit Hilfe der Dicke jener Torfe auf 10–12,000 Jahre zurück berechnet. Unter Küchenabfällen (dän. Kjökkenmöddings) versteht man vorgeschichtliche Muschelhaufen am Strande des [630] Meers, Reste von Mahlzeiten der Strandbewohner, zwischen denen sich Säugetier-, Vögel- und Fischknochen finden. Die meisten sind in Dänemark an der Ostseeküste bekannt. Rohe Steinwaffen, Hirschhorngeräte, plumpe Topfscherben gestatten in Verbindung mit andern Funden den Schluß, daß jene Menschen sich von Jagd und Fischfang nährten und bereits den Hund als Haustier kannten (Steenstrup). Von großer Bedeutung sind die 1853 und 1854 von F. Keller im Züricher See entdeckten Pfahlbauten (s. d.) oder Seesiedelungen. Dieselben sind sehr reich an prähistorischen Funden, aus denen sich ein ziemlich vollständiges Bild der Lebensweise ihrer Bewohner ergibt. Immerhin bewegen wir uns aber hier wenigstens zum Teil auf bereits historischem Boden, wenn auch vielen Seedörfern ein sehr viel höheres Alter zukommt. Die Tier- und Pflanzenreste beweisen, daß die damalige Fauna und Flora der unsern ziemlich gleich war. Die „Pfahlbauern“ besaßen bereits eine Anzahl von Haustieren: den Hund, das Rind, das Schaf, die Ziege, das Schwein; sie trieben Ackerbau, Jagd und Fischfang, kleideten sich in Felle und grobe Gewebe, verstanden sich auf die Töpferkunst, die Korbflechterei und das Seilerhandwerk. Über die somatischen Charaktere derselben ist nichts Sicheres festgestellt; sicher finden sich vielfach dolichokephale Schädelformen.

Auch die mannigfachen Gräberfunde sind von großer Bedeutung für die historische A. Dieselbe hat namentlich nächst den menschlichen Überresten ihr Augenmerk auf die verschiedenen den Toten beigegebenen Geräte (Waffen, Schmucksachen, Gefäße, Münzen etc.) zu richten. Je nach dem Material, aus dem erstere gefertigt, unterscheiden namentlich nordische Anthropologen ein Stein-, Bronze- und Eisenzeitalter, dessen Kulturträger jedesmal ein andres Volk gewesen sein soll, während von andrer, namentlich deutscher, Seite eine derartige strenge Sonderung der Epochen und Rassen zurückgewiesen wird. Die Bestattungsarten wechselten in den verschiedenen Zeiten: im neolithischen Zeitalter, d. h. dem der polierten Steinwaffen, war die Beerdigung allgemein verbreitet; während der Bronzezeit herrschte Leichenverbrennung. Jene geschah teils und ursprünglich in Höhlen, teils in künstlichen Grabkammern, die aus mächtigen rohen Steinplatten errichtet wurden (sogen. megalithische Bauten: Dolmen, Cromlechs, Menhirs, Ganggräber, Hünengräber, Chulpas in Amerika). Die große Verbreitung der Dolmen (vom bretonischen daul, Tisch, und men, Stein, nach v. Bonstetten) in Europa, Indien und Nordafrika führte zur Hypothese eines vorarischen Urvolks, das dieselben auf seinen Wander- und Eroberungszügen erbaut haben sollte, während de Mortillet, Westropp und Bastian die ethnologische Einheit der Dolmenerbauer mit guten Gründen anzweifeln.

In der Neuen Welt spielen die sogen. Mounds (Hügel) und deren Erbauer eine entsprechende Rolle. Es sind riesige, künstlich errichtete Hügel; ihr Inhalt besteht teils aus rohen, teils aus prächtig polierten Stein- sowie geschmiedeten Kupferwaffen (näheres s. Amerikanische Altertümer). Mit den Hügel- und Reihengräbern in Europa endlich gelangen wir in eine bereits historische Epoche. Letztere sind reihenweise in den Boden gesenkte Grabstätten ohne Hügelbau, die Gerippe liegen darin nach Osten orientiert, bald in freier Erde, bald in Stein- oder Holzbehältern. Waffen, Schmuckgegenstände etc. finden sich als oft reiche Beigaben. Die Mehrzahl dieser Gräber, soweit sie sich in Süddeutschland finden, gehört der Zeit vom 5. bis 8. Jahrh. an, die überwiegende Schädelform ist die dolichokephale. Man schreibt sie den Franken und Alemannen, also Germanen, zu. Andre Gräber mit ebenfalls dolichokephalen Schädelfunden, die in den letzten Jahren in Nordostdeutschland, Polen etc. aufgedeckt wurden, gelten indes als slawolettischen Ursprunges, wofür auch die Beigabe des zweifellos slawischen Schläfenringes spricht (Gräberfund von Slabocěwo bei Mogilno).

Das Fazit der historischen A., in vorsichtiger Weise gezogen, ist vorerst kein für die darwinistische Theorie verwendbares: wir sind bisher noch auf keine sichern Spuren einer prähistorischen Rasse gestoßen, die den Übergang zu den zweifellos nächsten Verwandten des Menschen, den anthropoiden Affen (Gorilla, Schimpanse, Orang), darstellt. „Der Proanthropos (oder Affenmensch) ist noch immer erst zu suchen.“ (Kollmann.) Anderseits finden sich vielfach am menschlichen Skelett gewisse Abweichungen von der Norm, die man als Kennzeichen einer niedern, bez. affenartigen Bildung aufzufassen berechtigt ist (z. B. die Stenokrotaphie). Auch in dieser Beziehung ist eine erfreuliche Ernüchterung eingetreten, namentlich auch in der Frage der sogen. Mikrokephalen-, d. h. Idioten- oder Kretingehirne. Während K. Vogt darin einen Atavismus, einen wieder zum Durchbruch kommenden affenartigen Typus, sah, neigt die Mehrzahl der Anthropologen jetzt zur Auffassung hin, daß man es mit einer rein krankhaften Hemmungsbildung zu thun habe. Eine eigenartige Gestalt des Schienbeins, in einer auffallenden Abplattung desselben bestehend (sogen. Platyknemie), die sich sowohl bei den alten Höhlenbewohnern als bei manchen jetzt lebenden wilden Völkern, z. B. der Südsee, findet, ist, da sie bei keinem Affen vorkommt, keine pithekoide (affenartige) Bildung, sondern steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Muskelentwickelung und -Wirkung.

Litteratur. 1) Somatische A.: Blumenbach, De generis humani varietate nativa (Götting. 1795); Derselbe, Decades craniorum (das. 1790–1828). Außerdem die Schriften von Sömmerring, P. Camper, K. G. Carus; Virchow, Entwickelung des Schädelgrundes (Berl. 1857); Derselbe, Gesammelte Abhandlungen (2. Aufl., das. 1862); Aeby, Neue Methode zur Bestimmung der Schädelform von Menschen u. Säugetieren (Braunschw. 1862); Welcker, Untersuchungen über Wachstum und Bau des menschlichen Schädels (Leipz. 1862); v. Baer und Wagner, Bericht über die Zusammenkunft einiger Anthropologen im September 1861 in Göttingen; Lucae, Zur Morphologie der Rassenschädel (Frankf. 1861); Retzius (in Müllers „Archiv“ 1845, 1848 und 1858); Broca, Instructions craniologiques etc. (Par. 1875); Roberts, A manual of anthropometry etc. (Lond. 1878); Topinard, L’Anthropologie (4. Aufl., Par. 1884). – 2) Psychische A.: Kant, A. in pragmatischer Hinsicht („Sämtliche Werke“, hrsg. von Hartenstein, Bd. 10); Fries, Handbuch der psychischen A. (2. Aufl., Jena 1837–39, 2 Bde.); I. H. Fichte, A., die Lehre von der menschlichen Seele (3. Aufl., Leipz. 1876). – 3) Historische A. und Allgemeines: Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts (deutsch von Wagner, Leipz. 1840–48); Waitz, A. der Naturvölker (das. 1859–64, 4 Bde.; Bd. 5 u. 6 von Gerland, 1870–71; 2. Aufl. des 1. Bandes, von Demselben, 1876); Burdach, A. für das gebildete Publikum (Stuttg. 1846); Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (deutsch, Braunschw. 1863); Vogt, Vorlesungen über den Menschen (Gieß. 1863, 2 Bde.); Bastian, Der Mensch [631] in der Geschichte (Leipz. 1860, 3 Bde.), Das Beständige in den Menschenrassen etc. (Berl. 1868, Beiträge zur vergleichenden Psychologie (das. 1868), Ethnologische Forschungen (Jena 1871), Geographische und ethnologische Bilder (das. 1873); Häckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte (7. Aufl., Berl. 1879); Radenhausen, Isis (2. Aufl., Hamb. 1872); Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (deutsch, 4. Aufl., Stuttg. 1871); F. Müller, Allgemeine Ethnographie (2. Aufl., Wien 1879); Peschel, Völkerkunde (5. Aufl., Leipz. 1881); Gerland, Anthropologische Beiträge (Halle 1875); Dawkins, Die Höhlen und die Ureinwohner Europas (deutsch, Leipz. 1876); Joly, Der Mensch vor der Zeit der Metalle (deutsch, das. 1880); Le Hon, L’homme fossil (2. Aufl., Par. 1868); Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts (deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1873); Tylor, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit (deutsch, das. 1866); Derselbe, Die Anfänge der Kultur (deutsch, das. 1873, 2 Bde.); Nilsson, Die Ureinwohner des skandinavischen Norden; das Bronzealter (2. Aufl., Hamb. 1866); Derselbe, Das Steinalter etc. (deutsch, das. 1868); Lubbock, Die vorgeschichtliche Zeit (deutsch, Jena 1874, 2 Bde.); de Quatrefages, Das Menschengeschlecht (deutsch, Leipz. 1878, 2 Bde.); Bagehot, Der Ursprung der Nationen (deutsch, das. 1874); Tylor, Einleitung in das Studium der A. (deutsch, Braunschw. 1883); Hovelaque, Les races humaines (Par. 1882); „Dictionnaire des sciences anthropologiques“ (hrsg. von Bertillon, das. 1884 ff.).

Zeitschriften: „Archiv für A.“, redigiert von Ecker und Lindenschmit (Braunschw., seit 1866); „Zeitschrift für Ethnologie“, von Virchow, Bastian und R. Hartmann (Berl., seit 1869); „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“, herausgegeben von Lazarus und Steinthal (das., seit 1859); „Korrespondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für A., Ethnologie und Urgeschichte“, redigiert von Kollmann (Braunschw., seit 1874); „Beiträge zur A. und Urgeschichte Bayerns“, redigiert von Ranke und Rüdinger (Münch., seit 1877); „Mitteilungen der Anthropol. Gesellschaft in Wien“ (seit 1878); „Revue d’Anthropologie“, redigiert von Broca (seit 1871); „Bulletins de la Société d’Anthropologie de Paris“ (seit 1866).

Vereinswesen. In Deutschland und Österreich, außer zahlreichen kleinern Lokalvereinen und Gruppen: die Gesellschaften für A. in Berlin, in München und in Wien. Seit 1870 besteht eine „Deutsche Gesellschaft für A., Ethnologie und Urgeschichte“, die alljährlich im August als Wanderversammlung tagt. Ihr Organ ist das oben genannte „Korrespondenzblatt“. Außerdem der „Congrès international d’Anthropologie et d’Archéologie préhistoriques“.