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MKL1888:Psychologīe

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Psychologīe“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 443445
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Psychologīe. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 443–445. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Psycholog%C4%ABe (Version vom 03.04.2024)

[443] Psychologīe (griech.), wörtlich s. v. w. Wissenschaft von der Seele, verhält sich zu dieser als Substrat der psychischen wie die Physik zur Materie als Substrat der physischen Erscheinungen. Beide sind einerseits beschreibende, ihre bezüglichen Erscheinungen nach deren Ähnlichkeit zusammenfassende, nach deren Verschiedenheit sondernde, anderseits erklärende, deren Gang und Entwickelung auf allgemeine Gesetze (Naturgesetze) zurückführende Wissenschaften. Um dieser methodischen Ähnlichkeit mit der Physik als Naturwissenschaft willen wird die P. häufig auch Naturwissenschaft in dem Sinn genannt, als ob das Substrat ihrer (psychischen) und jenes der physischen Erscheinungen eins und dasselbe wären (P. des Materialismus). Dieser Schluß ist so lange unberechtigt, als nicht erwiesen ist, daß die psychischen Vorgänge (Vorstellen, Fühlen, Begehren), die nur dem sogen. innern, und die physischen (Nerven- und Muskelreize, elektrische Strömungen), die nur dem äußern Sinn zugänglich sind, nicht bloß einander korrespondierende Zustände, sondern eins und dasselbe seien, was zu erweisen der Physiologie bisher keineswegs gelungen ist. Auch die von Fechner als Zwischengebiet zwischen P. und Physik eingeschobene Psychophysik hat nur gezeigt, daß die Beziehungen zwischen den äußersten Grenzen der physischen (Nervenreize) und den niedersten Stufen der psychischen Vorgänge (elementare Sinnesempfindungen) sich auf exakte Formeln (Webersches Gesetz) bringen lassen, keineswegs aber die Identität des Nervenvorganges (Bewegung) mit der Empfindung dargethan. So lange, als jener Beweis nicht erbracht ist, muß es daher unverwehrt bleiben, von den psychischen Phänomenen als einem von den physikalischen und physiologischen abgesonderten Kreis von Erscheinungen zu handeln und rücksichtlich sowohl ihres Substrats als ihrer Gesetze diejenigen Folgerungen zu ziehen, welche durch die besondere Natur der psychischen Erscheinungen unvermeidlich gemacht werden. P. in diesem Sinn ist daher zwar eine empirische Wissenschaft insofern, als sie von den durch Erfahrung (an sich und andern) gegebenen psychischen [444] Erscheinungen ausgeht und weiter schließt; es ist aber keineswegs notwendig, daß dasjenige, zu dem sie auf diesem Weg mit Notwendigkeit gelangt, selbst innerhalb der Grenzen sichtbarer Erfahrung gelegen sei. Lassen sich sämtliche erfahrungsgemäß gegebene psychische Phänomene ohne Voraussetzung einer (körperlichen oder unkörperlichen) Seele überhaupt oder doch wenigstens einer unkörperlichen Seele befriedigend erklären, so ist im erstern Fall die Annahme eines Seelenwesens überhaupt, im letztern wenigstens die eines unkörperlichen überflüssig. Gibt es dagegen auch nur ein einziges thatsächliches Seelenphänomen, das sich ohne die Annahme eines atomistischen Seelenwesens schlechterdings nicht erklären läßt, so ist die letztere Annahme (wenigstens als Hypothese) notwendig. Neuere Psychologen (Herbart und dessen Schule, Lotze) haben als ein solches Phänomen die Einheit des Bewußtseins und Kants entgegenstehende Behauptung, daß die Annahme einer Seele ein (übrigens unvermeidlicher) Paralogismus der reinen Vernunft sei, selbst für einen Fehlschluß (quaternio terminorum) erklärt. Infolgedessen stehen einander in der P. sehr verschiedene philosophische Richtungen gegenüber. Der Materialismus und (Comtesche) Positivismus, welcher (unbewiesenerweise) nur eine Gattung von Phänomenen (die physikalischen) anerkennt, betrachtet die sogen. psychischen Phänomene als physische (Nervenschwingungen) und die sogen. Seele als ein körperliches Organ (Gehirn), zu dessen Funktionen das Denken gehört, wie zu jenen des Magens die Verdauung. Die P. fällt beiden sonach mit der Physiologie zusammen und ist von A. Comte folgerichtig der Biologie einverleibt worden. Die kritische Schule Kants hält zwar an der Nichtidentität psychischer und physischer Phänomene fest; aber sie läßt den Schluß von der Einheit des Bewußtseins auf die Existenz der Seele nicht gelten und gelangt dazu, eine Wissenschaft von den Seelenerscheinungen ohne Substrat, eine „P. ohne Seele“ (Lange) zu konstruieren. Die idealistischen Nachfolger Kants sehen (nach dem Vorgang Spinozas) Physisches und Psychisches als verschiedene Seiten desselben identischen Wesens an und sprechen demgemäß der Seele als „Idee des Leibes“ jede von diesem abgesonderte Existenzweise als Einzelwesen ab. Die realistischen Nachfolger Kants (Herbart und seine Schule, Lotze) schließen von der Thatsache der Einheit des Bewußtseins, die keine „itio in partes“ erlaubt, auf die unteilbare Natur des Seelenatoms (Monade, einfaches Reale) als Trägers derselben und leiten aus dieser gewisse (sonst unverständliche) Fundamentalgesetze des Seelenlebens, wie die (Lockesche) „Enge des Bewußtseins“ und die innige Verbindung (Ideenassociation) der gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander in der Seele gegenwärtigen Vorstellungen, ab. Als beschreibende Wissenschaft unterscheidet die P. mindestens drei Gattungen verschiedener Seelenvorgänge, die sie als Vorstellungen (s. d.), Gefühle (s. d.) und Strebungen (Begierden, Willensakte, s. Wille) bezeichnet; als erklärende nimmt sie entweder (wie die ältere Physik zu der Annahme von Kräften) zu der Annahme besonderer Vermögen (Vorstellungsvermögen, Gefühlsvermögen, Begehrungsvermögen, Einbildungskraft, Gedächtnis etc.) behufs Erklärung besonderer Erscheinungen ihre Zuflucht, oder sie leitet (wie die neuere Physik aus den elementaren Bestandteilen des Stoffes und deren Bewegungen) nicht nur auch die höchsten und verwickeltsten psychischen Gebilde (die Ichvorstellung, den sittlichen Charakter etc.) aus den elementaren Bestandteilen des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) und deren (durch Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung herbeigeführten) Verbindungen ab, sondern betrachtet selbst die verschiedenen Arten der psychischen Phänomene als Umbildungen einer einzigen (ursprünglichen) Art (Gefühle und Strebungen als bloße „Zustände der Vorstellungen“, Darwinismus in der P.). Je nachdem die psychischen Phänomene mit den physiologischen für identisch (wie in der P. des Materialismus) oder nicht identisch erklärt werden, nehmen auch die Naturgesetze, durch welche der Gang und Ablauf derselben geregelt wird, spezifisch physiologischen oder allgemeinern Charakter an. In letzterm Sinn spricht die Herbartsche Schule von einer „Statik“ und „Mechanik“ der psychischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) außerhalb (in modifizierter Gestalt) auf die in Wechselwirkung befindlichen elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) innerhalb des Bewußtseins an (exakte oder mathematische P.). Wird dagegen von der Ansicht ausgegangen, daß die psychischen Phänomene überhaupt nicht, wie andre Vorgänge der natürlichen Welt, durch „Naturgesetze“ geregelt werden, sondern entweder völlig gesetzlos (willkürlich, transcendental frei) oder nach Normen einer „übernatürlichen“ (mystischen) Welt erfolgen, so nimmt die P. selbst „übernatürlichen“ (mystischen) Charakter an und geht in Spiritismus und Mystizismus über. Letztere Gestalt der P. umfaßt alle diejenigen (angeblichen) Thatsachen des Seelenlebens, welche (wie Kants transcendentale Willensfreiheit) das die erfahrungsmäßig gegebene Natur beherrschende Kausalgesetz gänzlich oder (wie die räumlich und zeitlich unvermittelten Einwirkungen der Geister- und Hellseher, Somnambulen etc.) teilweise aufheben und (seit Schubert) als „Nachtseite der Seele“ zusammengefaßt zu werden pflegen.

Anfänge der P. finden sich schon in der Philosophie des Altertums, insbesondere bei Platon, welcher die Seele aus einem vernünftigen und einem vernunftwidrigen „Teil“ zusammengesetzt dachte, zwischen welchen ein dritter vernunftloser, aber für Vernunft empfänglicher das „Band“ darstelle, und deren „Harmonie“ die Vollkommenheit des psychischen (wie die Harmonie zwischen den drei Ständen des Staats: Lehr-, Wehr- und Nährstand, die Vollkommenheit des politischen) Lebens ausmache. Aristoteles, bei welchem die Keime aller spätern P. zu finden sind, bezeichnete die Seele als „Entelechie des organischen Leibes“ und unterschied eine vegetative (der Ernährung und dem Wachstum vorstehende: Pflanzenseele), empfindende (sinnlich wahrnehmende und sinnlich begehrende: Tierseele) und erkennende (denkende und wollende) Seele: Geist. Seine Zurückführung der psychischen Vorgänge auf Arten und Vermögen ist von den Spätern fast unverändert beibehalten und nur von den einen (den Neuplatonikern) die P. als Lehre von der sinnlichen Seele von der Pneumatologie als Lehre vom Geist unterschieden, von den andern (den materialistischen Physikern) auch der Geist bloß als ein feinerer Körper angesehen worden. Beide letztere Anschauungen pflanzten sich durch das Mittelalter auf die neuere Zeit fort, wo die erstere bei Descartes, die letztere bei Hobbes wieder zum Vorschein kam. Leibniz, welcher die Seele als Monade, d. h. als spiritualistisches Atom, auffaßte, suchte alle Erscheinungen in derselben auf ein Vermögen, zu erkennen, und ein solches, zu begehren, zurückzuführen, während Locke den Versuch machte, [445] dieselben aus einem ursprünglichen Vermögen, zu empfinden (sensation), und einem, auf das Empfundene zu reflektieren (reflection), abzuleiten. Aus ersterm Bemühen ist die systematische Seelenvermögenstheorie der Wolfschen Schule, aus letzterm die genetische (die zusammengesetzten und reichern aus einfachen und elementaren Seelenvorgängen ableitende) P. der englischen, schottischen und französischen Empiristen und Sensualisten (Locke, Hume, Condillac) hervorgegangen. Die materialistische P. des Hobbes haben die französischen und englischen Encyklopädisten und Ärzte sowie die neuern französischen und deutschen Materialisten und Positivisten (Holbach, Lamettrie, Priestley, Cabanis, Comte, L. Feuerbach, Moleschott, Büchner u. v. a.) erneuert. Die P. Wolfs wurde von Kant seiner Kritik zu Grunde gelegt und deren Nomenklatur von seinen idealistischen Nachfolgern fast unverändert beibehalten, die Annahme der Seele aber als Folge eines angeblichen (obgleich unvermeidlichen) Fehlschlusses entweder ganz fallen gelassen, oder doch deren vom Leib, dessen „Idee“ sie sein soll, abgesonderte Existenz in Frage gestellt. Unter den realistischen Nachfolgern Kants gingen die einen mit Beseitigung der „mythologischen“ Seelenvermögen auf Leibniz und Locke zurück und gestalteten die P. als genetische Entwickelung des Seelenlebens aus elementaren Bewußtseinsvorgängen im Innern eines atomistischen Seelenwesens (Herbart und seine Schule, Lotze), während die andern den leeren Platz der von Kant aus dem Bereich der Erfahrung und Erkenntnis ausgewiesenen Seele entweder durch ein „Hirngespinst“ (Schopenhauer) im materialistischen oder durch „das Gespenst einer Seele“ (Mystiker und Spiritisten) im supranaturalistischen Sinn (Schubert, Eschenmayer, Just. Kerner u. a.) ausfüllten. Die seit alters her zur P. gerechneten und von derselben als „Einfluß des Leibes auf die Seele und dieser auf den Leib“ (Naturell, Temperament im gesunden, Seelenstörung, Geisteskrankheit im kranken Zustand) abgehandelten Wechselbeziehungen psychischer (Bewußtseins-) und somatischer (körperlicher) Vorgänge sind in jüngster Zeit zum Gegenstand einer von derselben sich absondernden, ihre Wurzeln einerseits in der P., anderseits in der Physiologie schlagenden Wissenschaft, der sogen. physiologischen P., gemacht worden, die sich die Aufgabe stellt, die organischen und physiologischen Bedingungen der mentalen Vermögen und Fähigkeiten, sei es am gesunden („eigentliche“), sei es am kranken Menschen („pathologische, physiologische P.“), zu studieren. Als Vorläufer derselben können im vorigen Jahrhundert Bonnet, Hartley, insbesondere Cabanis („Rapports du physique et du moral“) u. der Kranioskop Gall, als ihre wissenschaftlichen Begründer und Ausbildner müssen, außer dem Psychophysiker Fechner, die Physiologen E. H. Weber und Helmholtz und in systematischer Form der von der Physiologie zur (induktiven) Philosophie übergegangene Wundt in Deutschland, Broca und Chorcot in Frankreich, Huxley, Maudsley und Carpenter in England genannt werden. Die wichtigsten von ihr bisher in exakter, auf dem Weg des Experiments (experimentelle P.) am lebenden (tierischen) u. der pathologischen Sektion am toten Organismus erfolgreich durchgeführter Weise erforschten Thatsachen gehören dem Gebiet der Sinnesfunktionen („Lehre von den Tastempfindungen“: Weber; „Theorie des Sehens und Lehre von den Tonempfindungen“: Helmholtz; „Tonpsychologie“: Stumpf), ferner der Theorie der cerebralen Lokalisation (d. h. der Verteilung vereinbarer geistiger oder durch solche bedingter Fähigkeiten, wie der des Sprechens, Schreibens, Lesens und Verstehens, an gewisse Hirnpartien, so daß die Zerstörung oder der Mangel der letztern das Aufhören jener zur Folge hat: Aphasie, Agraphie, Wortblindheit und -Taubheit), endlich des sogen. Muskelsinns (Bain), der Vererbung (vgl. Ribot, L’hérédité psychologique, 2. Aufl., Par. 1882), der Suggestion, der Verdoppelung des Bewußtseins etc. an. Vgl. zur P. außer den Hauptwerken fast aller Philosophen insbesondere die Schriften der Herbartschen und der neuern englischen (an Locke anknüpfenden) Psychologenschule (A. Bain u. a.), zu welch ersterer trotz prinzipieller Abweichungen auch Lotzes, zu welch letzterer (in Deutschland) auch Brentanos Darstellungen der P. zu zählen sind. Unter jenen sind Drobisch, Empirische P. (Leipz. 1842), Volkmann, Lehrbuch der P. vom Standpunkt des Realismus (3. Aufl., Köth. 1884, 2 Bde.), Rob. Zimmermann, Empirische P. (in dessen „Philosophischer Propädeutik“, 3. Aufl., Wien 1867), und vor allen Lotze, Medizinische P. (Leipz. 1852), und Wundt, Grundzüge der physiologischen P. (3. Aufl., das. 1887, 2 Bde.), sowie Lazarus, Das Leben der Seele (3. Aufl., Berl. 1883 ff., 3 Bde.), und dessen „Zeitschrift für Völkerpsychologie“, unter diesen ist nebst J. Mill, Analysis of human mind (neue Ausg., Lond. 1878, 2 Bde.), und Alex. Bain, Psychology (2. Aufl., das. 1872), insbesondere Brentano, P. vom empirischen Standpunkt (Leipz. 1874, Bd. 1), und als bedeutendste Erscheinung der theosophischen und spiritualistischen Herm. v. Fichte, P. (das. 1864–73, 2 Bde.), zu nennen. Zur Geschichte der P. ist außer dem (veralteten) Werk von F. A. Carus (Leipz. 1808) und den reichhaltigen Notizen in Volkmanns oben genanntem „Lehrbuch der P.“ insbesondere Ribot, „La psychologie anglaise contemporaine“ (2. Aufl., Par. 1875), u. dessen „La psychologie allemande“ (deutsch, Braunschw. 1881) anzuführen.


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 747751
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[747] Psychologie. Der gewaltige Aufschwung, welchen die Naturwissenschaften etwa seit den 40er Jahren dieses Jahrhunderts nahmen, bezeichnet in der P. den Beginn einer neuen Epoche. Die genauere Kenntnis des Menschenkörpers im gesunden und kranken Zustand, die ausgedehnte Erforschung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Vervollkommnung sowohl der exakt-naturwissenschaftlichen als auch der historischen Methoden trugen von da ab reiche Früchte für das Studium des Seelenlebens. Indessen hat die P. noch schwer an ihrer vornehmlich philosophischen Vergangenheit zu leiden und mit dem Umstand zu kämpfen, daß man von den verschiedensten Seiten her ihre Probleme in Angriff nimmt, ohne sie als das zu verstehen und zu behandeln, was sie in der That jetzt geworden ist: als eine selbständige Wissenschaft. Will man sich über den gegenwärtig arg zersplitterten Betrieb einen Überblick verschaffen, so dürfte eine Einteilung nach den jetzt üblichen Methoden einerseits, nach den Forschungsgebieten anderseits sich als zweckmäßig empfehlen.

Methoden der Psychologie.

Unter dem Vorbehalt, daß die nachfolgende Aufzählung verschiedener Verfahrungsweisen nicht als gleichbedeutend mit einer Isolierung derselben voneinander aufzufassen ist, lassen sich acht Methoden nennen.

1) Die spekulative Methode. Sie benutzt die Ergebnisse der Metaphysik für deduktive Betrachtungen über die höchsten Probleme einer Seele; aber [748] Metaphysik als Wissenschaft besteht nicht, und Deduktion führt niemals zu einer Thatsachenkenntnis und Gesetzeserkenntnis. So hat denn diese Methode und mit ihr die ganze sogen. rationale P. allmählich viel von ihrem einstigen Ansehen eingebüßt.

2) Die introspektive Methode. Sie sucht die psychischen Thatsachen in der innern Wahrnehmung aufzufassen und ist zuerst von Maine de Biran, nicht von Locke, der auch ethnographische Daten verwertet, angewendet worden. Auf sie haben dann Cousin und Jouffroy eine völlig subjektive P. aufzubauen versucht. Ihre Mängel ruhen darin, daß a) das Gebiet der eignen Beobachtung mit dem Bewußtseinsumkreis zusammenfällt, also sehr eng ist; b) der Ablauf innerer Zustände durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit gestört und getrübt wird. Comte hat sogar die Unmöglichkeit dieser Methode behauptet, weil es unmöglich sei, sich in ein Beobachtendes und Beobachtetes zu zerspalten; in Wirklichkeit jedoch lassen sich gewisse Vorgänge, z. B. Schmerzen, ohne Beeinträchtigung ihrer Stärke und Beschaffenheit auffassen, und in der Erinnerung besitzen wir ein zweites, ganz brauchbares Hilfsmittel. Die innere Erfahrung überhaupt, nicht als besondere Methode, sondern als allgemeine Thatsache verstanden, bildet die Voraussetzung der gesamten P.

3) Die beobachtende Methode, unter welcher wir die Beobachtung andrer mit Ausschluß der Selbstbeobachtung verstehen. Sie gründet sich auf den Analogieschluß, daß die bei mir mit bestimmten innern Vorgängen verknüpften Äußerungen, wenn sie bei andern auftreten, ähnliche psychische Zustande bei jenen zur Grundlage haben werden. Sie ist demnach abhängig a) von der Beschaffenheit des eignen Seelenlebens, b) von der richtigen Auffassung der bei andern auftretenden Zeichen, c) von der Größe der Verwandtschaft des andern (erwachsener normaler Mensch, Geisteskranker, Naturmensch, Kind, Tier) mit uns. Indirekt wird sie angewendet, wenn an Stelle der eignen Wahrnehmung das Zeugnis von Mittelspersonen tritt, und so ermöglicht sie die höhere historische Kritik und die Biographie.

4) Die genetische Methode. Da die psychischen Prozesse, soweit sie sich in uns und unsersgleichen abspielen, das zusammengesetzte Produkt einer sehr langen Entwickelung darstellen, entsteht die Aufgabe, diese Entwickelung in ihren einzelnen Stadien aufzuzeigen. Anfangend von dem ersten Auftreten des Psychischen auf der Erde, muß die genetische Methode die Steigerung der Seelenthätigkeit durch die gesamte Tier- (Pflanzen-?) und Menschenwelt hindurch verfolgen, oder anderseits für die Individualpsychologie die analytisch gefundenen einfachen Elemente als solche herausstellen und synthetisch so lange zusammensetzen, bis wiederum die unmittelbar gegebene Komplikation vorliegt. Die genetische Methode ist auch in der P. ebenso wie in vielen Naturwissenschaften die am wenigsten durchgebildete, dem Darwinismus zum Trotz. Mit ihr unlöslich verbunden ist

5) die vergleichende Methode. Nur durch ausgedehnte Vergleichung wird ein Überblick über die Gesamtheit des Seelenlebens ermöglicht und ein Verständnis für die Stellung der einzelnen psychischen Funktionen zu einander angebahnt. Ganz zweckmäßig bedient man sich daher neuerdings auch

6) der statistischen Methode. Die Frage z. B. nach dem Umfang, in welchem diese oder jene Charaktereigentümlichkeiten sich vererben, oder die Frage nach der Häufigkeit, mit der bestimmte Halluzinationen auftreten, läßt sich nur auf Grund einer Statistik annähernd beantworten. Von verhältnismäßig geringer Brauchbarkeit ist

7) die mathematische Methode. Unter der Voraussetzung, daß die psychischen Phänomene wie alles in der Welt den Naturgesetzen unterliegen und daher auch mathematisch ausgedrückt (nicht bloß gemessen) werden können, spricht die Herbartsche Schule von einer Statik und Mechanik der seelischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) in modifizierter Gestalt auf die in Wechselwirkung befindlichen elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhaltes (Empfindungen) an. Unter den Jetztlebenden versuchen namentlich Steinthal und Glogau in der P., ähnlich wie in der Algebra, mathematische Gesetzmäßigkeiten, losgelöst von jedem individuellen Inhalt und dadurch zugleich in allgemeiner Gültigkeit darzustellen, wobei sie die apperzeptive Freithätigkeit des Geistes teilweise ausscheiden. (Vgl. Glogau, Steinthals psychologische Formeln, Berl. 1876.)

8) Die experimentelle Methode macht es sich zur Aufgabe, den Kreis des Gegebenen dadurch zu erweitern, daß sie künstlich gewisse Bedingungen wandelt und die abweichende Wirkung beobachtet. Sie registriert nicht bloß, was die Natur uns gerade bietet, sondern sie greift selbständig ein. Ihre höchsten Triumphe feiert diese Methode in der Psychophysik (s. d.); indessen umspannt sie ein viel weiteres Gebiet, denn schon der einfachste Versuch mit sich selbst oder irgend einem andern gehört ihr an. Man kann nun zwei Unterarten innerhalb der experimentellen Methode unterscheiden: a) die rein experimentelle. Sie beschränkt sich auf die planmäßige Abänderung der Bedingungen, unter denen ein psychischer Akt sich vollzieht, indem sie beispielsweise einen und denselben Schmerz zu Zeiten der Ermüdung, Erregtheit etc. hervorruft und seine Abhängigkeit von den genannten und andern Faktoren feststellt. Ihre Grenze liegt in der Schwierigkeit, einen einzelnen Empfindungskomplex beim Wechsel aller übrigen unverändert fortbestehen zu lassen, oder umgekehrt ein einzelnes Aggregat aus dem lebendigen Seelenzusammenhang herauszulösen, zu variieren und in die gleiche Umgebung zurückzusetzen. Immerhin vermag sie, besonders mittels der in der Hypnose gegebenen Dissociation des Bewußtseins, in ähnlicher Weise Versuche einer, man möchte sagen seelischen Vivisektion vorzunehmen, wie sie der Physiolog am lebendigen Körper anstellt. Das Wesen positiver und negativer Halluzinationen, das Erwirken großer psychischer Komplexe durch eine eingepflanzte (suggerierte) Vorstellung, das Ineinandergreifen verschiedener Bewußtseinssphären, das schwierige Problem der Persönlichkeit u. dgl. ist solcherart experimentell untersucht worden. b) Die numerische Experimentalmethode. Sie fügt zu dem reinen Experiment ein ursprünglich und notwendigerweise nicht in ihm liegendes Moment, nämlich die zahlenmäßige Messung, hinzu, erhebt aber durch diese mathematische Legitimation den Versuch zu einem exakt fixierbaren. Die öfters geltend gemachten Bedenken: daß es kein festes Maß für psychische Vorgänge (z. B. eine Schmerzeinheit) in demselben Sinne gebe, wie das Meter ein Maß für Längen sei, daß man ein etwa gefundenes Maß nicht anlegen, und daß man seelische Zuständlichkeiten nicht deponieren könne, um sie später mit andern numerisch zu vergleichen, diese Bedenken beziehen sich bloß auf ein Messen des Seelischen am Seelischen. Jedoch unterliegt es keinem [749] Zweifel, daß auch ein Messen innerer Akte an den parallel gehenden äußern Ereignissen dem Psychologen erlaubt und wertvoll ist. Ebenso wie der Physiker mit dem Thermometer Wärmegrade an Längenverschiedenheiten und mit dem Galvanometer Stromstärken an Winkelgrößen mißt, ebenso mißt der Psycholog Zeit oder Stärke psychischer Prozesse an dem äußern und andersartigen Phänomen des Zwischenraums zwischen zwei Bewegungen oder der objektiven Intensität von Helligkeiten. Ein solches Verfahren wird wesentlich durch zwei Grundeigenschaften der Seele ermöglicht, nämlich durch die eine, daß innere Geschehnisse sich in Bewegungen äußern, und durch die andre, daß wir unmittelbar zwischen Gleich und Ungleich unterscheiden. Auf jene führen die Reaktionsversuche zurück, auf diese sämtliche Messungen in der Sphäre der Sinnesempfindungen. Ergänzend treten seelische Eigenschaften hinzu, welche nur einem besondern Komplex (z. B. dem Gedächtnis) angehören, und die gedeihliche Fortentwickelung der numerischen Methode dürfte von der Auffindung weiterer solcher Sondereigenschaften abhängen. So oft die Methode nicht bloß geistige Geschehnisse in Zahlen einfängt, sondern direkt mißt, darf sie den Namen Psychometrie beanspruchen. Zu den aufgezählten Untersuchungsweisen treten namentlich noch viele Hilfsmethoden, z. B. die speziell anatomische oder die sprachwissenschaftliche.

Forschungsgebiete der Psychologie.

Die folgende Übersicht beansprucht nicht den Wert einer systematischen oder gar erschöpfenden Darstellung. Sie wünscht nur diejenigen Felder zu umgrenzen, auf denen augenblicklich mit Erfolg gearbeitet wird. Daß darunter die sogen. physiologische P. fehlt, hat seinen Grund. Die von ihr versuchte Vermischung zweier gänzlich heterogener Reihen ist schlechterdings unmöglich; was in ihrem Bereich geleistet worden ist, gehört entweder der P. oder der Physiologie oder der Psychophysik an oder beschränkt sich endlich auf eine Förderung der Methodik.

1) Psychogenesis, d. h. Erforschung der Entstehung psychischen Lebens in der Urzeit. Eng verknüpft mit den Grundfragen der Anthropologie und des Darwinismus, hat sie bisher mehr Probleme als Lösungen zu Tage gefördert. (Häckel, „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, 8. Aufl., Berl. 1889).

2) Individualpsychologie. Ihr Gegenstand ist ein normaler, erwachsener Kulturmensch und zwar sowohl seine Funktionen (z. B. Stumpf, „Tonpsychologie“, Leipz. 1883–90, 2 Bde.) als seine Arten (Simmel, „Die P. der Frau“ in der „Zeitschrift für Völkerpsychologie“, 1889; Dilthey, „Dichterische Einbildungskraft“, Leipz. 1886). Eins ihrer wesentlichsten Hilfsmittel liegt in Selbstzeugnissen und Biographien abgeschlossener Individualitäten, ja sogar in poetischen Darstellungen (die „psychologische Schule“ unter den französischen Romanschriftstellern).

3) Psychophysik (s. d.). Eigentlich eine ebenso selbständige Wissenschaft wie P. und wie Physik, dadurch indessen, daß die durch den Wechsel der äußern Einflüsse herbeigeführten Veränderungen im innern Geschehen eben über dieses innere Geschehen selbst Aufschlüsse enthalten, von besonderer Bedeutung für den Psychologen. Die Psychophysik untersucht mittels exakter Wertzeichen: a) die Empfindung, eine psychologische Thatsache, welche unmittelbar von gewissen äußern Grundbedingungen abhängt, und b) die Bewegung aus innerm Antrieb, einen physiologischen Vorgang, dessen Ursachen sich im allgemeinen nur in der Selbstbeobachtung zu erkennen geben.

4)–6) Sozialpsychologie, die Wissenschaft vom seelischen Menschen als von einem gesellschaftlichen Wesen. 4) Ethnologische P., besonders durch Adolf Bastian vertreten. Ihre Hauptgedanken sind die folgenden: a) Das Individuum, für sich als etwas Selbständiges betrachtet, existiert in der sozialen Wirklichkeit nicht, ist eine Abstraktion. Die Menschheit, ein Begriff, der kein Höheres neben sich kennt, ist für die umfassende P. zum Ausgangspunkt zu nehmen, als das einheitliche Ganze, innerhalb dessen der Einzelmensch (das „politische Tier“) nur als integrierender Bruchteil figuriert. b) Diese seelische Menschheit findet sich gewissermaßen niedergeschlagen in den Völkergedanken, d. h. in den ursprünglichsten und eigentümlichsten menschheitlichen Gedanken; in ihnen, nicht in den subjektiv individuellen Empfindungen, offenbart sich das Wesen des Psychischen. c) So entsteht die Aufgabe einer Gedankenstatistik, die Aufgabe, ein Inventar über die Machtsphäre des innern Lebens aufzunehmen. Alle Zeiten und alle Völker müssen berücksichtigt werden, nicht bloß, wie üblich, die Kulturvölker, denn das wäre ebenso, als ob man die Botanik auf die Kulturpflanzen beschränken sollte. Es gilt demnach, alles zu sammeln, zu vergleichen, nach höhern Einheiten zusammenzuordnen und in einer Entwickelung darzustellen; denn es wird vorausgesetzt, daß im Bereich der Ideen der Völker oder des menschheitlichen Geisteslebens nicht minder ein organisches Wachstum statthat wie auf dem Gebiete des körperlichen Lebens. d) Die Buntheit der Lokaldifferenzen stört diese Arbeit nicht, im Gegenteil, sie läßt sich nützlich verwerten, da, den abgeschlossenen Kreisen einer bestimmten Fauna oder Flora entsprechend, eine geographische Provinz auch für den psychischen Menschen existiert und als solche beschrieben werden kann. Dagegen fehlt der Völkerkunde ebenso wie etwa der Zoologie zunächst jede Berührung mit der Chronologie.

5) Völkerpsychologie, von Lazarus und Steinthal begründet und in der von beiden seit 1860 herausgegebenen „Zeitschrift für Völkerpsychologie“ gepflegt. Sie sucht aus den einfachsten Erzeugnissen der menschlichen Geselligkeit den umfassenden Organismus des Volksgeistes zu erklären, so daß wir allmählich alle wesentlichen Formen und Erzeugnisse des Zusammenlebens der Menschheit, wie Familie, Staat, Stände, Religion, Litteratur etc. nach- und nebeneinander entstehen, sich gegenseitig fördern und hemmen sehen. Es soll eine neue Beziehung geschaffen werden zwischen der Geschichte als einer Art beschreibender Naturgeschichte des Geistes und der Völkerpsychologie als einer Art erklärender Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit. Gegen dieses Programm haben Einwände erhoben E. v. Hartmann, H. Paul und W. Wundt; letzterer begrenzt ihre Aufgabe auf Sprache, Mythus und Sitte.

6) Sprachpsychologie. Sie untersucht die psychologische Entstehung und Wirkung der Sprache. Die Entwickelung des Gefühls und das Verhältnis zwischen Fühlen und Denken läßt sich an den Sprachen sehr schön verfolgen, denn sie entstehen aus Gefühlen, werden zum Ausdruck des Wissens und kehren gelegentlich wieder zu ihrem Ursprung zurück. Dabei zeigt sich die Bedeutung des Prinzips des kleinsten Kraftmaßes: eine zweckmäßig arbeitende Organisation löst eine ihr obliegende Aufgabe mit den relativ geringsten Mitteln. Das kraftersparende Mittel der Seele ist aber die Gewohnheit, wie sie sich z. B. in der Analogiebildung aller Sprachen äußert, also etwa darin, daß wir von dem Alter als von dem [750] Lebensabend sprechen. Vgl. Avenarius, Philosophie als das Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes (Leipz. 1876); Steinthal, Grammatik, Logik und P. (Berl. 1855); Bruchmann, Psychologische Studien zur Sprachgeschichte (Leipz. 1888).

7) Kinderpsychologie. Die Erforschung des kindlichen Seelenlebens in seiner allmählichen Ausbildung hat zu wertvollen Ergebnissen über die Elemente unsrer psychischen Struktur geführt und unter anderm gezeigt, daß logisches Denken bereits in der Zeit vor dem Sprechenlernen sich vollzieht, aber wesentlich durch Bildungsvorgänge in der Gefühls- und Triebsphäre bedingt ist. Beobachtung und reines Experiment, welche beide bisher fast ausschließlich angewendet worden sind (vgl. Preyer, Die Seele des Kindes, 3. Aufl., Leipz. 1890), müßten freilich durch das numerische Experiment so ergänzt werden, daß über das Gedächtnis etc. in den verschiedenen Lebensaltern des lernenden Kindes genaue Daten vorliegen, wodurch wir natürlich noch nicht zu einer ebensolchen genauen Bestimmung der geistigen Fähigkeiten wie der Körperlänge und -Schwere gelangen. Im übrigen hat sich bereits Erforschung, Erweiterung und Verwertung der kindlichen Erfahrung sowohl für den Gang der gesamten Erziehung als auch im einzelnen für Auswahl und Anordnung des Lehrstoffes von Nutzen erwiesen. Vgl. Baumann, Pädagogische P. (Leipz. 1890); Lange, Über Apperzeption (3. Aufl., Plauen 1889); L. Strümpell, Pädagogische Pathologie (Leipz. 1890).

8) Tierpsychologie. Insoweit sie nicht mit der Psychogenesis (Nr. 1) zusammenfällt, hat sie einerseits mit dem ungenügenden, meist anekdotenhaften Material, anderseits mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die einfachen Thatsachen möglichst wenig nach Analogie des Menschen aufzufassen. Aus letzterm Grunde wird z. B. gewöhnlich der Schmerz der Tiere in sentimentaler Weise überschätzt. Die beiden Hauptprobleme der Tierpsychologie sind: a) der Instinkt. Begriffsbestimmung und Erklärung desselben sind noch durchaus nicht zur Klarheit gelangt (vgl. Forel, Les fourmis de la Suisse, Genf 1874; Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich, Leipz. 1885). b) Ausdehnung des Bewußtseins. Haben alle, oder welche Tiere haben Bewußtsein? (s. d.) Ein Teil von Forschern ist geneigt, in der willkürlichen Hemmung der Reflexbewegungen das Zeichen des Bewußtseins zu sehen; ihnen zufolge stellt der Reflex die Grundfunktion der Nervenzentra dar, ist nur gelegentlich von dem Epiphenomenon des Bewußtseins begleitet und nur dann mit Sicherheit, wenn er willkürlich verlangsamt oder gehemmt wird. Erst da, wo in der Tierreihe psychische Reflexe und Reflexhemmungen auftreten, soll das Seelenleben beginnen (vgl. Richet, Les réflexes psychiques in der „Revue philosophique“, 1889). Diesem panzoologischen Standpunkt tritt die pananthropologische Auffassung gegenüber, welche den bewußtseinsfreien Reflex gar nicht gelten lassen will, sondern sogar bei den untersten Tieren (Binet, The psychic life of microorganisms, Chicago 1890) oder selbst schon bei der biologisch als einseitig entwickeltes Tier anzusehenden Pflanze eine Art Seelenleben finden will. Das Bewußtsein sei nicht ausschließlich an die obersten Teile des Gehirns oder überhaupt an ein Gehirn gebunden. Wir müssen dem Protoplasma sowie allen, doch nichts wie Protoplasma darstellenden Nervenzellen Bewußtseinsfähigkeit zusprechen, deren aktuelles Bewußtsein einesteils von der Erweckung durch äußere Reize abhängt, andernteils durch ein Hemmungsvermögen der obern Hirnteile in seinen Erscheinungen unterdrückt werden kann (vgl. Meynert, Gehirn und Gesittung, Wien 1889; Schneider, Der tierische Wille, Leipz. 1880).

9) Rechtspsychologie. Sie gehört halb zur Völkerpsychologie, nämlich insofern sie sich mit der psychologischen Entstehung und Bedeutung des Rechtes und der Rechtsbegriffe beschäftigt. Willenserklärung, Irrtum, Handlungsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und ähnliche Begriffe werden von ihr untersucht. Zur andern Hälfte kann sie als eine selbständige Disziplin betrachtet werden, nämlich insofern sie in das Strafrecht eintritt; die Kriminalpsychologie erforscht Komplexe wie Schuld, Sühne, Strafe, Zurechnung (Zurechenbarkeit der Handlung, Zurechnungsfähigkeit der Person), kurz, das Wollen in allen seinen konstitutiven Bedingungen und in seinen Ausstrahlungen bis zur Verneinung und Aufhebung. Neuerdings hat sich hier eine Richtung entwickelt, welche sich selbst die kriminal-anthropologische Schule nennt und ein neues Strafrechtssystem verlangt, von dem die bedeutendsten deutschen Theoretiker und Praktiker indessen noch nichts wissen wollen. Danach existiert eine Gruppe geborner, durch erbliche Degeneration verkümmerter Defektmenschen, bei welchen die Entwickelungshemmung vornehmlich durch den Mangel aller sittlichen Vorstellungen und durch das ausschließliche Vorwalten rohester egoistischer Gefühlsthätigkeit sich kundgibt. Das sind die Gewohnheitsverbrecher, und ihre wichtigsten Zeichen auf psychischer Seite sind: a) unmotivierter plötzlicher Stimmungswechsel, b) schwere Krampfzustände, c) Bewußtseinsstörungen mit darin auftretenden unsinnigen und Gewalthandlungen. Vgl. Lombroso (s. d.), Der Verbrecher (Hamb. 1889–90, 2 Bde.); „Archives d’anthropologie criminelle“, 1890.

10) Pathopsychologie. Das pathologische Experiment, welches die Natur anstellt, indem sie eine geistige Krankheit hervorruft, bietet ein wichtiges Erfahrungsmaterial für die P., denn die Geisteskrankheiten bedeuten meistens eine Dissociation der psychischen Funktionen durch Herabsetzung oder Übertreibung gewisser normaler Prozesse. Daher bildet die Pathopsychologie die Grundlage der Psychiatrie, abgesehen davon, daß letztere als klinische Wissenschaft auch die körperlichen Vorgänge im Gehirn zu berücksichtigen hat (pathologische Hirnanatomie). So hat z. B. die Widerlegung der Seelenvermögenslehre dazu geführt, daß man die Vorstellung einzelner Manien (Pyromanie etc.) bei sonst unversehrter Geisteskraft aufgeben mußte. Vgl. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie (4. Aufl., Stuttg. 1890).

11) Okkultismus. Mit diesem sehr schlechten, aber durch keinen bessern zu ersetzenden Namen soll das Gebiet derjenigen psychischen Erscheinungen bezeichnet werden, welche aus dem gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens heraustreten, ohne doch schon der Pathologie anheimzufallen. Gemeint sind (Traum), Hypnose, Ekstase, (Gedankenübertragung, Hellsehen) etc. In der Untersuchung dieser erst seit kurzem dem Aberglauben entrissenen Phänomene stehen sich zwei Parteien gegenüber. Die eine (Moll, Dessoir u. a.) versucht durch schärfste Prüfung die wirklichen Thatsachen auszumitteln, sie in Verbindung mit den übrigen von der wissenschaftlichen P. behandelten Vorgängen zu bringen und ihre Gesetze festzustellen (vgl. Moll, Der Hypnotismus, 2. Aufl., Berl. 1890). Die andre Richtung (Hellenbach, du Prel u. a.) ist wesentlich von metaphysisch-religiösen Gesichtspunkten geleitet; sie will aus den erstaunlichsten [751] Vorkommnissen des Spiritismus u. dgl. die transcendentale Freiheit der Seele vom Kausalgesetz, ihre organisatorische (den Leib bildende) Kraft und ihre individuelle Unsterblichkeit ableiten (hierzu vgl. die Zeitschrift „Sphinx“; die Schriften von du Prel: „Philosophie der Mystik“, Leipz. 1885; „Monistische Seelenlehre“, das. 1888; „Studien aus dem Gebiete der Geheimwissenschaften“, das. 1890). Solche, einem Glaubensbedürfnis entsprungene Spekulationen gehören kaum mehr der Erfahrungswissenschaft P., sondern vielmehr einer

12) Philosophie der P. an. Ebenso nämlich wie alle Erfahrungswissenschaften schließlich auf einen Punkt angelangen, wo das philosophische Nachdenken in Hypothesen, welche über die Erfahrung hinausgehen, einen systematischen Zusammenschluß wagt, ebenso setzt sich an die P., nachdem sie die psychischen Vorgänge beschrieben und auf Gesetze zurückgeführt hat, eine Erwägung über die tiefern Gründe dieser Gesetze an. Es gibt keine rationale oder spekulative P., sondern nur eine Philosophie der P. In Verkennung dieses einfachen Thatbestandes wähnen noch heute die Hegelianer, daß sie P. treiben, wenn sie das Wesen der Seele aus dem Verhältnis des Geistes (Ideenwelt) zur eigentlich auch geistigen Materie (Erfahrungswelt) herausdefinieren oder eine Geschichte der Seele schreiben, d. h. die Geschichte einer allmählichen Selbstbefreiung der geistigen Substanz aus den Fesseln der unorganischen Natur, zunächst zu organischen Trieben, hernach zu Empfindungen und Begehrungen, endlich zu intellektueller, moralischer und ästhetischer Thätigkeit (vgl. Rosenkranz, Psychologie, 3. Aufl., Leipz. 1863; Michelet, Anthropologie und P., das. 1840; Schaller, Psychologie, das. 1860). In Wirklichkeit dürfen erst am Schluß der empirischen P. die Fragen nach Existenz, Einheit, Immaterialität und Fortdauer einer Seele erhoben werden (über diese Fragen vgl. Lotze, Mikrokosmos, 4. Aufl., Leipz. 1885). Dann kann auch, wie bereits Fries ahnte, die P. als Wissenschaft aller Wissenschaften nachgewiesen werden, indem die äußern Objekte und ihre philosophischen Ergänzungen lediglich als innere Zuständlichkeiten betrachtet werden, die aus bestimmten psychologischen Gesetzen entstanden sind. Vgl. Ballauff, Die Grundlehren der P. (2. Aufl., Köthen 1890); Strümpell, Grundriß der P. (Leipz. 1884); Spencer, Prinzipien der P. (deutsch, Stuttg. 1882); Taine, Der Verstand (deutsch, Bonn 1880, 2 Bde.); Wundt, Grundzüge der physiologischen P. (3. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.); Windelband, Über den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung (das. 1876); Martius, Ziele und Ergebnisse der experimentellen P. (Bonn 1888); Spitta, Die psychologische Forschung und ihre Aufgabe (Freiburg 1889); Jerusalem, Lehrbuch der empirischen P. (2. Aufl., Wien 1890); Sully, Outlines of psychology (6. Aufl., Lond. 1889); Brentano, P. vom empirischen Standpunkt (Wien 1874); Siebeck, Geschichte der P. (Gotha 1880 ff.). Zeitschriften: Mind, „American Journal of psychology“; „Bulletins de la Société de P. physiologique“; „Proceedings of the Society for psychical research“; Schriften der Gesellschaft für Experimentalpsychologie zu Berlin; „Zeitschrift für P. und Physiologie der Sinnesorgane“.


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 752753
korrigiert
Indexseite

[752] Psychologie. Münsterberg unterscheidet zwischen einer engern und weitern Aufgabe der P. Erstere besteht darin, daß die psychischen Phänomene des individuellen Bewußtseins ohne Rücksicht auf ihre Übereinstimmung mit den Bewußtseinsinhalten andrer Individuen untersucht werden. Für die erweiterte Aufgabe gilt es, die Gesamtheit der Bewußtseinsinhalte in ihre Elemente zu zerlegen, die Verbindungsgesetze dieser Elemente festzustellen und für jeden elementaren psychischen Inhalt empirisch die begleitende physiologische Erregung aufzusuchen, um aus dem als ursachlich verständlichen Nebeneinandersein und Aufeinanderfolgen jener physiologischen Erregungen die rein psychologisch nicht erklärbaren Verbindungsgesetze der einzelnen seelischen Inhalte mittelbar zu erklären. Für die Erfüllung beider Aufgaben kann nun der Psycholog sich einer größern Anzahl von Methoden bedienen. Während ein spekulatives Verfahren heutzutage überwunden ist, behauptet die mathematische Forschungsweise innerhalb gewisser Grenzen und bei einzelnen Gelehrtenschulen (besonders bei der Herbartischen) noch jetzt eine gewisse Lebensfähigkeit. Zwei Parteien stehen sich im allgemeinen gegenüber. Die eine sieht alles Messen und Zählen in der P. mit größtem Mißtrauen an: numerische Feststellungen seien in der Welt der innern Erfahrung nicht möglich. Die andre Partei behauptet dagegen, Messungen und Zählungen seelischer Erscheinungen seien schon häufig mit wissenschaftlicher Genauigkeit, gleichviel ob unmittelbar oder mittelbar, ausgeführt; es sei also bewiesen, daß Mathematik auf die P. angewandt werden kann. Beide Parteien scheinen nun im Unrecht zu sein; Münsterberg wenigstens meint, daß numerische Feststellungen bei der Beobachtung psychischer Phänomene in der That möglich, ja geradezu unentbehrlich sind, daß aber aus diesen zahlenmäßigen Feststellungen keinerlei die Beobachtung überschreitende neue Thatsachen zahlenmäßig berechnet werden können und eben deshalb von einer Anwendung der Mathematik auf die P. keine Rede sein kann. Als mathematisch darf denn auch nicht die Methode statistischer Erhebungen über irgend welche innere Vorgänge, z. B. über Halluzinationen (s. d.), bezeichnet werden. Sie ist im großen und ganzen zulässig, aber im einzelnen nach zwei Richtungen hin begrenzt. Die Resultate der Selbstbeobachtungsstatistik werden hinfällig, sobald die Einzelergebnisse keinen glaubwürdigen Quellen entstammen; diese Glaubwürdigkeit wird um so weniger wahrscheinlich sein, je mehr die Antworten auf die gestellten Fragen durch Erinnerungstäuschungen oder durch vorgefaßte falsche Associationen oder vor allem durch Gefühlsmomente beeinflußt werden können. Eine zweite Grenze liegt in dem Umstande, daß die individuellen Unterschiede der seelischen Ereignisse sich ja im wesentlichen auf quantitative Verschiedenheiten beziehen oder, wo sie qualitativ doch so gering sind, daß erst bei Zuhilfenahme äußerer Hilfsmittel eine genauere Feststellung möglich wird.

Von unbestrittenem Werte ist dem Psychologen das Experiment. Er wendet es mit Erfolg für die Erforschung des kindlichen Seelenlebens an. Schon mit dem ersten Atemzug des Säuglings beginnt die Zeit, in der psychologische Experimente möglich sind. Kußmaul brachte dem Neugebornen sofort mittels eines Pinsels schwefelsaures Chinin, resp. Zuckerlösung in den Mund, um die Ausdrucksbewegung bei der bittern, bez. süßen Geschmacksempfindung zu prüfen; Preyer untersuchte 5 Minuten nach der Geburt seines Kindes die Lichtempfindlichkeit desselben, und Kroner prüfte den Geruchssinn, indem er ein Kind am ersten Tage an eine Brust legte, die mit schlecht riechenden Stoffen behandelt war. In sehr ausgedehntem Maße verwenden französische Gelehrte das Experiment bei Nervenkranken. Hier stellen Hysterische mit ihren „eingebildeten“ Lähmungen, ihrer Unempfindlichkeit an gewissen Hautpartien und ihrer Hypnotisierbarkeit das Material. Überhaupt erfreut sich jetzt das Experiment in der Hypnose einer größern Anerkennung als früher. Der Experimentator vermag bekanntlich einen künstlichen Eingriff in den psychischen Mechanismus des Hypnotisierten derart vorzunehmen, daß er, ohne nach der positiven Richtung des Vorstellens, Urteilens, Fühlens und Wollens etwas hinzuzufügen, negativ beliebige Komplexe des Bewußtseinsinhaltes ausschalten kann. Der Hypnotisierte, dem man sagt, daß er im Garten ist, thut nichts andres, als was er im wachen Zustande auch thäte, wenn die gegenwirkende Vorstellung, daß er im Zimmer sitzt, für ihn nicht vorhanden wäre. Es ist also eine Anzahl von Vorstellungen bei ihm außer Thätigkeit gesetzt worden; nur daß dies möglich ist, sichert der Methode des hypnotischen Experimentes eine große Vielseitigkeit in der Verwendbarkeit. Auch für die Tierpsychologie und zwar namentlich für die Erforschung des Seelenlebens niederer Tiere ist im vergangenen Jahre die Experimentalmethode nutzbar gemacht worden. Verworn untersuchte, wie die Rhizopoden, Flagellaten, Diatomeen etc. auf mechanische, thermische, optische, akustische, chemische und galvanische Reize reagierten; Grabers neueste Studien bezogen sich auf den Wärmesinn. Überall kann hier das Experiment zu feinster Prüfung der Sinne führen; wenn etwa 100 Käfer in einem Kasten sind, dessen zwei getrennte Teile von verschieden hellem Lichte erleuchtet oder auf verschiedene Temperatur erwärmt sind, so kann die Prozentzahl der Tiere, welche in der hellern oder in der wärmern Abteilung sich nach gewisser Zeit angesammelt haben, zu einem Maß der Bevorzugung bestimmter Wärme oder Helligkeit werden, und die Licht- oder Temperaturdifferenz, bei welcher die Verteilung eine gleiche, also vom Reizunterschied nicht beeinflußte ist, wird die Grenze der eben nicht mehr merklichen Unterschiedsempfindung darstellen. Als letztes Beispiel zur Methodologie der P. sei der Gang bei der Untersuchung der seelischen Fähigkeiten gesunder wie kranker Personen skizziert. Nachdem schon früher von Rieger ein Prüfungsschema aufgestellt worden war, ist kürzlich von Münsterberg ein verbessertes angegeben worden. Die Untersuchung soll beginnen mit der Feststellung, ob überhaupt Wahrnehmungen stattfinden, und zwar solche des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens etc., aktiver und passiver Bewegungen; dann wird ebenso für alle Sinne das Gedächtnis geprüft und zwar für frische Eindrücke sowohl als für ältere Erfahrungen. Es schließt sich die unmittelbare Nachahmung, wie Nachsprechen, Nachsingen, Nachschreiben, Nachzeichnen etc., an. Dann folgt eine Gruppe, die Rieger als Äußerungen der durch rein innere Associationen ablaufenden intellektuellen Vorgänge bezeichnet; er rechnet dahin sprachliche Äußerungen, wie Hersagen geläufiger Wortreihen, Antworten auf Fragen, spontanes Sprechen, Niederschreiben innerer Associationen, Singen früher bekannter Tonfolgen, Zeichnen und ähnliches. Endlich folgt als höchste Leistung dieser Art die Umsetzung von Sinneseindrücken in sprachliche Begriffe. Vgl. [753] Münsterberg, Über Aufgaben und Methoden der P. (Leipz. 1891).