Magdalena
Ein feiner Sprühregen, der Vorbote des nahen Frühlings, übergoß die nächtliche Landschaft, die Thürme und Dächer der Residenz. Die Gasflammen spiegelten sich auf den breiten durchnäßten Asphalttrottoirs der aristokratischen Friedrichsstraße, die an jenem Abend nicht in der gewohnten abgeschlossenen Stille lag. Sonst bewegten sich in den späteren Stunden nur einzelne Fußgänger in diesem an das Parkende der Stadt grenzenden Quartier; hin und wieder auch hörte man kurze Hufschläge und sah eine lautlos rollende Equipage an dem Portal eines der stillen vornehmen Häuser vorfahren. Dann war es eine flüchtige Erscheinung von eleganten Damen- oder stattlichen Männergestalten, die an den Dienern vorüber in die geöffnete Vorhalle entschwanden, und einen Augenblick später lag diese wieder so feierlich exklusiv in dem Licht der von der Decke niederhängenden großen Laterne, daß kein Unberufener auf den Gedanken kommen konnte, hier den Eintritt zu wagen.
Neuerdings aber hatte der seit Langem bestehende Charakter dieser Straße eine Aenderung erfahren. Mitten zwischen den Wohnungen der Geburtsaristokratie erhob sich ein großes neues Gebäude, prachtvoller als die anderen, mit dekorativem Schmucke aller Art überladen, von den barocken Giebelskulpturen und Pfeilerreliefs bis herunter zu den vergoldeten Balkongittern und dem mächtigen karyatidengetragenen Hauptportal, welches mitten in die schweigsame Straße einen Lichtstrom ergoß und seine Arme dem allgemeinen Besuch weit zu öffnen schien. Besonders auffallend war dies heute Abend: das Trottoir klapperte von geschäftigen Schritten, Konditorjungen und eiligst hineinstrebende Ausläufer mit Austernkörben, unbestimmte, aber nicht eben aristokratische Gestalten aller Art verschwanden rasch durch die Seitenthür des taghell beleuchteten Vestibüls mit seinen aus Palmengruppen empor tauchenden Lampenbüscheln, mit den verschwenderisch angebrachten Spiegeln und Teppichen und dem von Pflanzen umrahmten Springbrunnen, zu dessen beiden Seiten die große Treppe emporführte. Diener liefen hin und her, dann und wann drangen befehlende und scheltende Stimmen aus der Küchenregion bis auf die Straße heraus, und der Portier des Ministerhôtels gegenüber schüttelte, im Auf- und Abgehen stehen bleibend, mit geringschätziger Miene das Haupt.
Man war offenbar etwas spät mit den Vorbereitungen zu dem „einfachen Abendessen“ fertig geworden, zu welchem Herr Konsul Felsing, einer der reichsten Großindustriellen der Residenz, am Schlusse der Saison eine stattliche Anzahl von Gästen mittelst großer lithographirter Karten geladen hatte. Aber allmählich verstummte doch die Aufregung, das Rennen hörte auf, und eine anständige Ruhe verbreitete sich im Vestibüle, nur oben mußten die Diener noch geschäftig eilen, um in den Salons die letzten Anordnungen des Haushofmeisters auszuführen, Spieltische zu stellen, Lampen und Blumenvasen in bessere Wirkung zu setzen, überhaupt an das ganze Arrangement die letzte Hand anzulegen. Die Empfangsräume des Felsing’schen Hauses nahmen den ganzen ersten Stock in Anspruch, und man übersah ihre Reihe von dem großen Mittelsalon aus, dessen gelbseidene Möbel, Tapeten und Gardinen bei dem Uebermaß von Vergoldung, welche überall bis hinauf zu dem hohen Stuckplafond mit seinen Guirlanden von Blumen, Früchten und Amoretten angebracht war, einen mehr kostbaren als geschmackvollen Eindruck machten. Der Geist des Tapezierers schien noch in dem Raum zu schweben, der keine Charakter- oder Geschmackseigenthümlichkeit seines Besitzers verrieth. Und eben so frostig wie dieser große Mittelsalon sahen auch die daran stoßenden Räume aus, die in feierlicher Stille der Gäste harrten. In dem länglichen Speisesaale am Ende stand der Haushofmeister in Frack und weißer Kravatte und überschaute prüfend die Tafel, ob nicht irgendwo ein Glas oder eine Karaffe aus der Reihe heraustrete. Aber es war Alles tadellos, die Kouverts mit den hochgefalteten Servietten standen schnurgerade auf dem prachtvollen Damasttuch, im Lichte des großen Gaslüsters blitzten die Silber- und Krystallreflexe des Tafelzeugs, und reizend hoben sich davon die frischen Blumen der Aufsätze ab. Der Schöpfer dieser Herrlichkeiten war gerade im Begriff, sich befriedigt mit leisen Tritten zu entfernen, als die Mittelthür aufging und der Herr des Hauses auf der Schwelle erschien. Eine vornehme Erscheinung war er nicht, der kurz und derb gebaute Fünfziger mit dem dicht gekrausten, an den Schläfen schon ergrauten Haar, auch sah man der Art, wie er sich im Frack bewegte, an, daß er sich nicht besonders behaglich darin fühlte. Heiterkeit und Anmuth des Lebens schienen diesem Manne fern geblieben zu sein; sein scharfgeschnittenes, energisches Gesicht hatte einen kalten und harten Ausdruck, auch sein Lächeln erhellte die düsteren Züge nur flüchtig, und die Augen behielten stets einen scharf beobachtenden Blick, auch wenn er sie nicht, wie in diesem Augenblick, zum Zweck einer raschen Musterung umherschweifen ließ.
Flüchtig nur erwiederte er den respektvollen Gruß des alten Dieners, trat dann an die Tafel und betrachtete aufmerksam, daran hinuntergehend, die Einzelnheiten; voll ruhiger Hoheit folgte ihm der Majordomus, alle die kurzen Fragen: ob die Austern parat, ob der Chablis und die richtigen Gläser besorgt seien, ob [410] die hinlängliche Quantität Spargel vorhanden, mit genußvoller Ueberlegenheit bejahend. Nur als Felsing eines der zierlichen Bouquetts von Veilchen und Maiblumen vor den Kouverts aus dem geschliffenen Halter zog und sagte: „Sie hätten wohl größere Bouquetts vor die Damen stellen können, das sieht ja miserabel aus –“ da richtete sich der frühere fürstliche Kammerdiener zu seiner ganzen stattlichen Höhe empor, und der Ton klang etwas animirt, in dem er erwiederte: „Der Herr Konsul wollen mir die Bemerkung gestatten, daß diese lose zusammengebundenen Branchen von nur wenigen Blumen entschieden feiner sind als größere Bouquetts.“
Felsing zuckte etmas geringschätzig die Achseln, ließ aber den Gegenstand auf sich beruhen und wandte sich zum Gehen, nachdem er vorher nur noch die bereitstehenden Weine und das Büffett mit einem flüchtigen Blick gemustert hatte. In diesem Augenblick öffnete sich die Mittelthür, und ein schwammiges Gesicht mit rother Nase sah herein, das so wenig in diese Umgebung paßte, wie der abgeschabte Cylinderhut, welchen weiter unten seine Hände hin und her bewegten.
„Sie sind es, Treiber?“ fragte Felsing unangenehm überrascht. „Was wollen Sie? Ich habe jetzt keine Zeit zu Geschäften, das sehen Sie doch!“
„Erlauben der Herr Konsul nur zwei Worte,“ sagte der mittlerweile unter devoten Bücklingen Eingetretene und blinzelte dabei bedeutungsvoll mit den gekniffenen Augen, „ich war so frei, noch heute Abend zu kommen –“
„Nein, ich will jetzt nichts von Geschäften hören,“ unterbrach ihn Felsing unwirsch. „Kommen Sie morgen wieder, es wird dann auch noch Zeit sein.“
„Zeit ist immer,“ erwiederte Herr Treiber philosophisch, „Zeit ist morgen, Zeit ist heute, aber die rechte Zeit, das wissen der Herr Konsul selbst, ist nur manchmal.“
„Verschonen Sie mich mit Ihren allgemeinen Betrachtungen,“ rief dieser, rasch aus dem Sessel aufstehend, in den er sich geworfen. „Lieber will ich anhören, was Sie mir zu sagen haben, es wird kürzer sein. Kommen Sie herüber. Aber ohne Umschweife, denn meine Gäste können jeden Augenblick erscheinen.“
Herr Treiber warf im Abgehen einen verlangenden Blick nach den silberköpfigen Flaschen im Hintergrunde und wand sich dann in schlängelnder Bewegung dem Voranschreitenden nach, der die am Ende des Korridors befindliche Thür seines Arbeitszimmers öffnete. Seines wirklichen Arbeitszimmers, denn der gegenüberliegende, im Renaissancestil möblirte Raum mit dem prachtvoll geschnitzten Schreibtisch und der Merkurbüste darüber, mit den schweren Möbeln und eleganten Bücherschränken diente nur zum Empfang von Besuchen, das monumentale Tintenzeug von Bronze wurde niemals benützt, und die vielen Dokumente, welche die Fächer des Schreibtisches füllten, bestanden aus Rechenschaftsberichten und Gesellschaftsstatuten.
Die Zimmereinrichtung aber, in welcher der nach vorn so prunkend zur Schau gestellte Reichthum erworben war und welche ihr Besitzer unverändert aus dem alten schmutzigen Vorstadthaus in das neue übertragen hatte, sah ganz anders aus: an der Hauptwand ein äußerst vernutzter und abgeschabter Divan von ehemals schwarzem Leder mit einer seit Jahren hineingelegenen Vertiefung, davor ein tannener Tisch mit bedrucktem Wollteppich – daneben der massive eiserne Kassenschrank und an der zweiten Längenwand ein ungeheurer Schreibtisch mit vielen verschlossenen Thüren und Schubladen, welchen keines der eleganten Schreibutensilien zierte, wie jenen im vordern Zimmer, nur ein altes eisernes Tintenfaß, Siegellackstangen und Bindfaden, Papierscheere und Federn gewöhnlichster Sorte standen und lagen auf der weißgeriebenen Lederplatte. Man konnte glauben, im Nebenzimmer eines kleinen Kramladens zu stehen.
„Nun,“ sagte Felsing zu seinem Agenten, als dieser die Thür hinter sich geschlossen hatte, „was giebt es, daß Sie mir zu dieser Stunde ins Haus fallen? Reden Sie schnell!“
„Gott, werde ich doch reden so schnell wie möglich, um den Herrn Konsul nicht aufzuhalten,“ hob Treiber an, und auf eine ungeduldige Bewegung Felsing’s sprudelte er eiligst weiter: „Es ist ja nur zu sagen, daß ich die Herrschaft für Sie gekauft habe!“
Die Wirkung dieser Worte war eine ganz außerordentliche. Wie von einem Stoß getroffen fuhr Felsing herum, sein bis jetzt gleichgültiges Gesicht röthete sich lebhaft und die dunkeln Augen funkelten plötzlich auf. „Was sagen Sie? Sie meinen doch Eckartshausen? Und das erfahre ich erst jetzt?“
„Der Herr Konsul ließen mich ja nicht früher zu Worte kommen,“ entgegnete Treiber in klagendem Ton. „Ich laufe und renne von der Bahn hierher, denn Treiber, sage ich mir, es wird dem Herrn Konsul viel daran liegen, heute Abend noch –“
„Genug, genug,“ wehrte dieser ab. „Sparen Sie Alles, was nicht zur Sache gehört.“ Die momentane Erregung war bereits vorüber, sein Gesicht sah wieder kalt und ruhig aus. Er trat einen Schritt näher und fragte leise. „Wie viel?“
Der Agent lächelte voll plötzlicher Vertraulichkeit seinen Auftraggeber an. „Billig, Herr Konsul, billig! Dreimalhunderttausend Thaler. Ein wahres Spottgeld.“
„Na, na!“ protestirte Felsing.
„Aber, Herr Konsul, es ist ja halb geschenkt,“ ereiferte sich der Agent mit gekränkter Miene. „Sie können ja das Geld in drei Jahren aus den prächtigen Waldungen herausschlagen lassen. Gaben der Herr Konsul mir nicht die Vollmacht, aufs Doppelte zu gehen? Und aufs Doppelte wäre die Herrschaft auch gekommen, wenn ein Anderer als der Treiber das Geschäft besorgt hätte.“
„Nun, es ist gut; hoffentlich weiß noch Niemand, daß Sie für mich gekauft haben?“
„Wie soll man’s wissen?“ entgegnete der bewegliche Mann kopfschüttelnd. „Gaben der Herr Konsul mir nicht Ordre, daß Sie wollten bleiben vorläufig im Hintergrund? Verschwiegenheit ist Ehrensache, Herr Konsul. Wie auf einen Fels können Sie sich auf den Treiber verlassen!“ Und die dicke Hand ruhte betheuernd auf der schmierigen Weste.
„Schon gut,“ sagte Felsing ungerührt. „Bringen Sie morgen alle Papiere und halten Sie ferner reinen Mund, vor Allem gegen den Grafen. Verstanden?“
„Seien Sie ganz ruhig, Herr Konsul, der Graf ließ mich schon rufen und wollte von mir wissen, wer der neue Besitzer von Eckartshausen sei? Herr Graf hab’ ich gesagt, wer hat die Herrschaft gekauft? Ich habe sie gekauft. Was ich weiter damit machen werde, weiß ich selbst noch nicht, kann ich Ihnen also auch nicht sagen. – Der Herr Graf machte ein bitterböses Gesicht, da er aber sonst ein guter Herr ist, wurde er gleich wieder freundlich und meinte, der Verkauf zu diesem Preise mache ihn nun doch nicht ganz flott, ich sollte ihm weiteres Geld schaffen!“
Die Züge Felsing’s drückten das lebhafteste Interesse aus.
„Herr Konsul,“ fuhr der Redselige dadurch ermuntert fort, „Sie glauben nicht, was das für ein Mann ist! Es ist grausig, wie er mit dem Gelde umgeht! Wer das Geld kennt, was es ist, was es bedeutet“ – sein Ton nahm bei diesen Worten einen beinahe feierlichen Charakter an – „dem dreht sich das Herz im Leibe dabei herum! Und sein Herr Sohn bei den Husaren in Berlin, der treibt’s womöglich noch ärger! Ich sage Ihnen, Herr Konsul, wenn der Graf und sein Sohn so fortmachen mit Verschwenden, so müssen die Leute zu Grunde gehen, trotz ihres Reichthums. Kommt ja doch das Andere auch noch hinzu.“
„Das Andere? Was?“
„Ich bitte Sie, Herr Konsul, Sie kennen doch die Spekulationen des Grafen an der Börse! Nun hat er sich gar das Präsidium der Bau- und Bodengesellschaft und fünfhundert Stück Aktien der Gesellschaft pari aufschwatzen lassen. Heute stehen sie dreißig und –“
„Bleiben Sie bei der Sache, Treiber,“ unterbrach Felsing ungeduldig den Sprecher, „Sie sagten, der Graf sei noch nicht flott, er brauche weiteres Geld?“
„Ob er’s braucht, Herr Konsul!“ erwiederte grinsend der Agent, während seine fleischigen Hände wieder zärtlich den Cylinderhut streichelten. „Hat mir schon Auftrag gegeben, es ihm zu schaffen – um jeden Preis! Ueberlege mir’s eben, hätte das Pöstchen zur Hand, und gegen ein Ehrenwechselchen dächte ich –“
„Ihre schmutzigen Geldgeschäfte gehen mich nichts an,“ fiel ihm Felsing hochmüthig ins Wort, indem er sich von seinem Sitze erhob, während Treiber mit einem zwischen Grimm und Devotion wechselnden Gesichtsausdruck zu Boden blickte und dabei immer krampfhafter seinen Hut glättete – „aber behalten Sie mir den Grafen im Auge! Er hat noch die Herrschaft Hochberg –“
„O, Hochberg will er unter keinen Umständen veräußern,“ erwiederte Treiber.
[411] „So, das will er nicht?“ Felsing schlug ein kurzes häßliches Lachen auf. „Er wird wohl so fortmachen, dann kommt der Tag, wo man ihn von Haus und Hof jagt, wie einen Bettler, diesen vortrefflichen Herrn Grafen.“
Der Agent stand erstaunt über den plötzlichen Ausdruck von wildem Haß in Blick und Ton des sonst so kalten Mannes. So hatte er ihn noch niemals gesehen. Er rückte näher und fragte in unterwürfig schmeichelndem Ton. „Wie meinen der Herr Konsul?“
Allein dieser erwiederte schroff: „Nichts! Machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen, und bringen Sie mir morgen die Papiere.“ Er trat an den Schreibtisch, während Treiber sich zur Thür hinaus wand und in seinen stillen Gedanken die plötzliche Aufregung seines Patrons als wohl zu beachtendes und sehr merkwürdiges Moment in Erinnerung zu behalten beschloß. Aber noch ein Anderer fragte sich befremdet, was hier eigentlich verhandelt worden sei? Während der letzten Reden hatte sich leise die Thür von Felsing’s nebenan liegendem Schlafzimmer geöffnet und ein blonder, schlankgebauter junger Mann im Gesellschaftsanzug war auf der Schwelle erschienen, aber stehen geblieben, als er den Agenten sah. Nach dessen Weggang trat er einen Schritt näher: „Vater!“
Felsing fuhr aus seinem Brüten auf. „Du, Emil – was willst Du?“
„Dich herüber holen, Vater, wir müssen auf den Posten. Aber vorher – Du erlaubst, daß ich die Luft von der Anwesenheit dieses Mannes reinige.“ Und er öffnete ruhig einen der Fensterflügel.
„Du bist komisch mit Deinen Antipathien, Emil,“ sagte Felsing, indem seine Augen doch mit großer Genugthuung auf der hohen Gestalt und den feinen, regelmäßigen Zügen des ihm so unähnlichen Sohnes ruhten. „Das Geschäft erfordert mancherlei Werkzeuge, und dieser Treiber ist ein sehr brauchbares.“
„Aber auch ein sehr schmutziges,“ entgegnete Emil mit lebhafter Verachtung. „Nimm es mir nicht übel, Vater, aber ich gäbe viel darum, wenn ich diese Kreatur nicht mehr in unser Haus schleichen sähe. Ich habe allen möglichen Respekt vor dem Geschäft, wenn es Macht aus Ehrenhaftigkeit und Intelligenz gewinnt, aber eben darum ist mir der Anblick dieses sogenannten Geschäftsmannes und notorischen Wucherers hier äußerst fatal. Warum duldest Du ihn? Nöthig kannst Du ihn doch nicht haben!“
Felsing pfiff durch die Zähne. „Das verstehst Du nicht. Man hat Allerhand nöthig und muß Vielerlei wissen, auch das, was Einem die andern Ehrenhaften und Intelligenten nicht sagen!“
„Auch die Anstalten zum Ruin eines Mannes, den man selbst in sein Haus einladet?“ fragte der junge Mann scharf und bitter.
„Was soll das heißen?“
„Nur, daß ich vorhin Eure letzten Reden mit anhörte und daß es mir einen Augenblick vorkam – aber nein, es ist ja nicht möglich, daß Du, Vater, ein Interesse daran haben könntest, den Grafen Hochberg bankerott zu sehen, den Mann, der heute Abend Dein Gast sein wird!“
Die Stimme des jungen Mannes bebte vor Erregung, und seine klaren Augen hefteten sich durchdringend auf das Gesicht seines Vaters, der diesen Blick nicht auszuhalten vermochte.
„Dummes Zeug,“ sagte Felsing, unwillig sich abwendend, „was gehen mich Graf Hochberg und seine schlechten Geschäfte an? Wenn ich davon sprach, so that ich das wie jeder Andere auch, der einen Einblick hat. Und warum soll denn das nicht erlaubt sein? Bin ich denn sein Busenfreund? Er würde sich schön dafür bedanken, der hohe Herr, für den Du Dich ja sehr zu interessiren scheinst!“ Es lag etwas wie Schreck in dem langen Blick, welchen Felsing auf seinen Sohn warf, während er die letzten Worte leise, beinahe zischend hervorstieß. Bald aber schien er sich wieder zu fassen und ein sarkastisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er fortfuhr: „Daß ich ihn für heute Abend eingeladen habe, geschah, weil Breda mir sagte, er wünsche in näheren Verkehr mit mir zu treten. Er sucht also den Umgang, nicht ich!“
„Du solltest ihn warnen, Vater, das wäre offen und freundschaftlich gehandelt.“
„Um den bekannten Teufelsdank zu ernten!“ versetzte Felsing spöttisch. „Was bist Du doch für ein unpraktischer Idealist!“
„Die Idealisten behalten schließlich Recht, Vater.“
„In der Studirstube vielleicht. Im Leben mißhandelt man sie und tritt sie so lange mit Füßen, bis sie hart werden – oder untergehen. Jeder gegen Alle! Das ist die Losung, seit die Welt steht; man muß mitzumachen wissen.“
„Sprich nicht so!“ rief Emil empört, „Du selbst denkst ja innerlich ganz anders.“
„Ich denke nicht anders, mein Junge,“ sagte der Vater langsam und bedeutungsvoll, „aber allerdings – ich fühle für Dich etwas, das ich für die Andern nicht fühle. Ich möchte Dich nicht anders haben, als Du bist, bleibe bei Deinen Studien, mache Deine Reisen und brauche dafür, was Du Lust hast. Aber ums Geschäft kümmere Dich nicht; denn dafür hättest Du nicht getaugt.“
„Nein, das weiß der Himmel!“ sagte Emil, „ich kann überhaupt den Gelderwerb als Zweck gar nicht verstehen. Man muß ja wohl die Mittel zu seiner Existenz gewinnen, aber was hat man denn von dieser, wenn man sie nicht zum Lernen und Genießen anwendet? Ich kann mir auch allenfalls das wissenschaftliche Interesse an Deinen großen Maschinen draußen, obwohl es persönlich meine Sache nicht wäre, vorstellen; aber was darunter gewalzt und geschnitten und gar zu welchem Preise es verkauft wird, das ist mir, offen gestanden, vollkommen gleichgültig.“
„Das Endresultat davon in Gestalt eines schönen Hauses und einer behaglichen Existenz lassen wir uns aber doch recht gern gefallen,“ sagte Felsing sarkastisch.
„Nein, wahrhaftig,“ protestirte der junge Mann lebhaft. „Das Alles wäre zu meiner Zufriedenheit nicht nöthig. Ich war unter meinem Zelt in der Wüste seelenvergnügt und aß wochenlang zähes Hammelfleisch, ohne etwas Anderes zu vermissen. Ja, die materielle Lebensgleichheit mit meinen braungesichtigen Berberinern war mir sogar erfreulicher als hier der Blick auf unsere Arbeiter, die durch eine so enorme Kluft von unseren Genüssen getrennt sind.“
„Fange mir nur so an!“ rief Felsing jetzt ernstlich erbost, „das hat mir gerade noch gefehlt, den Unsinn in meinem eigenen Hause zu hören! Als ob nicht heut zu Tage Jeder, der Kraft und Willen besitzt, sich heraufarbeiten könnte! Dafür stehe ich als redendes Beispiel da. Aber freilich, es hat Anstrengung gekostet, harte Mühe und bitteren Schweiß – und den möchten sich alle Diejenigen ersparen, die nach der Staatshilfe schreien! Strenge Dich mit keiner Rechtfertigung an,“ wehrte er unmuthig ab, als Emil den Mund öffnen wollte, „ich glaube selbst nicht, daß es mehr als eine Redensart von Dir war, und das Beste ist,“ fügte er halb im Selbstgespräch hinzu, „daß derartige sentimentale Anwandlungen sofort aufhören, sobald Einer selbst in den Besitz tritt. Da gewinnt die Sache plötzlich ein ganz anderes Ansehen!“
Emil zuckte statt zu antworten nur leicht die Achseln; der Moment war nicht günstig für eine der hitzigen Kontroversen, wie sie zuweilen zwischen Vater und Sohn über ähnliche Fragen zu entstehen pflegten. In die momentane Stille tönte das erste Wagenrollen von unten – schnell öffnete Emil die Thür und schritt hinter seinem Vater in den gegenüberliegenden großen Salon.
[428] Herr und Frau Baronin von Breda!“ meldete der Diener, und unmittelbar darauf erschienen die Beiden auf der Schwelle des Salons. Es war das Paar, welches überall zu finden ist, wo die „Gesellschaft“ sich versammelt: der Lebemann in sehr beschränkten Verhältnissen mit der eleganten Frau, welche ohne zahlreiche Diner- und Soupereinladungen im eigentlichen Sinne nicht leben könnten und deßhalb die Kunst, eingeladen zu werden, bis zur Virtuosität ausgebildet haben. Der Baron war von altem Adel und hatte außer den tadellosesten Formen eine sehr bedeutende Kenntniß von Allem, was in den vornehmen Kreisen vorging: lauter sehr werthvolle Eigenschaften in einem Salon neuesten Datums; er war sowohl beim Hausbau als auch bei der inneren Einrichtung der unentbehrliche Rathgeber gewesen; er hatte außerdem die ersten Schritte des reich gewordenen Industriellen in die Kreise der höheren Finanz und später sogar der Aristokratie geleitet, während seine Frau, die immer noch hübsche, gesellschaftlich sehr gewandte Baronin, bereitwilligst, so oft der verwittwete Konsul es bedurfte, in seinen Salons ihre banale Grazie entfaltete und die Honneurs machte. Es war ein Freundschaftsverhältniß, in dem beide Theile in ausgezeichneter Weise ihre Rechnung fanden.
„Felsing ist ein ungewöhnlicher Mensch,“ pflegte Frau von Breda jede etwas skeptische Bemerkung niederzuschlagen. „Diese feinen Aufmerksamkeiten, diese Zartheit der Empfindungen – ja, meine Liebe, es giebt Ausnahmen und unser Freund Felsing ist eine solche.“
Sie schwebte ihm jetzt lächelnd, beide Hände ausgestreckt, entgegen, während er, sich verbeugend, sagte. „Sehr erfreut, Frau Baronin, daß Sie es doch noch möglich gemacht haben, zu kommen!“
„Für Sie, lieber Konsul, thut man das Unmögliche. Ich hatte heute eine sehr heftige Migräne; zu keinem andern Menschen würde ich gegangen sein. Aber ich mußte Ihnen doch danken – nein, wie reizend war es wieder, meinen Wunsch so zu errathen! Sehen Sie einmal her, wie stehen mir die Spitzen? Ich habe sie noch schnell arrangiren lassen Ihnen zu Ehren!“
Und die Baronin entfaltete, sich halb zur Seite wendend, die reich garnirte, resedafarbige Schleppe.
„Ausgezeichnet!“ sagte Felsing mit einem flüchtigen Blick auf die elegante Gestalt. „Guten Abend, Breda!“ Er schüttelte dem Baron die Hand, und die Beiden standen bereits im Gespräch vertieft, als die Baronin mit der langsam prüfenden Umdrehung vor dem bis zum Boden reichenden Spiegel zu Ende war. Es blieb also noch Emil, der bisher zur Seite gestanden hatte und nun mit holdseligem Lächeln angeredet wurde. Allein dieser empfand innerlich eine unüberwindliche Abneigung gegen die intimen Freunde seines Vaters und gab nur kurze und zerstreute Antworten. Da klang aus dem Gespräche der Anderen herüber der Name Hochberg, und Emil begann scharf aufzumerken.
„Graf Erich hat verkaufen müssen?“ fragte eben Breda.
„Es scheint so,“ erwiederte Felsing.
„Und Sie wissen nicht, für wen der Agent es erworben hat?“
Ein kaum bemerkbares höhnisches Lächeln bewegte die Mundwinkel Felsing’s. Aber Breda hatte es doch bemerkt.
„Ah, eine Idee – am Ende Sie? Ja, ja, gewiß, Sie haben Eckartshausen gekauft! Charmant! Gratulire!“
Der Baron drückte dem schon wieder kalt, beinahe finster dreinschauenden Felsing trotz dessen Weigerung mit freundschaftlicher Theilnahme die Hand, und auch die entzückte Baronin flötete mit zärtlichem Ausdruck: „Aber liebster, bester Konsnl, das ist ja reizend! Warum sagten Sie uns das nicht früher? Wir besuchen Sie im Sommer dort; nicht wahr, Breda?“
Felsing schien von den Theilnahms- und Freudenbezeigungen des Paares nicht sonderlich erbaut zu sein; er erwiederte in kühlem Tone: „Wird mir eine Ehre sein. Aber ich bitte, behandeln Sie die Sache noch als Geheimniß, heute Abend noch; ich möchte nicht, daß der Graf es hier in meinem Hause erführe.“
„Aber warum nicht?“ eiferte die Baronin. „Was ist dabei? Es kann ihm doch nur angenehm sein, daß sein Gut in die Hände eines Gentleman wie Sie übergeht.“
Der Eintritt mehrerer Gäste, welche der Hausherr und sein Sohn begrüßen mußten, unterbrach das Gespräch.
„Es geht stark abwärts mit dem Grafen,“ sagte Breda leise zu seiner Frau. „Ich glaube, wir brauchen uns nicht weiter um diesen Umgang zu bemühen.“
„Das habe ich ohnedies längst satt,“ erwiederte sie spitz, „die hochmüthige Person wußte ja nie, ob sie mich kennen sollte oder nicht. Nun bin ich doch sehr begierig, was für ein Gesicht sie zu diesen Neuigkeiten macht!“
Durch die große Mittelthür traten jetzt rasch nach einander die Gäste ein. Beide Flügel wurden zurückgelehnt und ließen den Blick frei auf das mit blühenden Pflanzen reich dekorirte Entréezimmer, in dem immer neue Gruppen auftauchten. Bald drängten sich in bunter Menge die Uniformen und schwarzen Fräcke der Herren, die hellen, seideglänzenden und spitzenüberrieselten Damentoiletten. Ein guter Theil der hohen Finanz und Aristokratie war erschienen, auch ein Fürst Schmettingen und sogar Seine Excellenz der Kriegsminister krönten durch ihre Gegenwart die ehrgeizigen Wünsche des reichen Mannes, der sich nach allen Seiten verneigte, beflissene Höflichkeitsphrasen ausgab und ganz im Glück aufzugehen schien, eine so glänzende Gesellschaft in seinen Räumen zu versammeln.
Aber nebenbei strichen seine scharfen Augen unablässig nach der Thür hin, und jetzt, plötzlich, erblaßte er bis zu den Lippen herunter und verstummte mitten in dem Kompliment, welches er gerade an die alte redselige Gräfin Sternau richtete. Durch das Vorzimmer schritt ein stattlicher Mann, dessen schönes und freimüthiges Gesicht auf der hohen Gestalt einen äußerst angenehmen Eindruck machte; an seinem Arme hing eine elegante und graziöse Frauengestalt von noch sehr bemerkenswerther Schönheit, selbst im Kontrast mit dem blonden sechzehnjährigen Kind, der einzigen Tochter des Paares, die zur Linken des Papa schritt, hochaufgeschossen und schmal im weißen einfachen Kleid, aber sehr reizend durch den lichten Teint. die Fülle des hochaufgesteckten Haares, von dem sich einzelne Löckchen überall loskrausten, und durch den Blick ihrer hellen blauen Augen, die voll Vergnügen die erste „große Gesellschaft“ ihres Lebens musterten.
Die alte Gräfin Sternau schwatzte, nach ihrer Gewohnheit Deutsch, Französisch und Englisch durch einander werfend, weiter; Felsing hörte sie nicht, seine Augen hingen starr an der Gruppe, die nun auf der Saalschwelle erschien; seine blassen Lippen bebten und fast unhörbar entfloh ihnen ein gemurmelter Name: „Magdalene!“ … Die seltsame Anwandlung ging indessen rasch vorüber und blieb unbemerkt, weil der Eintritt der noch so jugendlich schönen Gräfin Hochberg und ihrer reizenden Tochter für einen Augenblick Aller Augen auf sich zog. Auch Emil, der sich, wie wartend. immer in der Nähe der Thür gehalten, trat rasch vor, die Ankommenden zu begrüßen. Seine Augen, die sonst etwas kühl zu blicken pflegten, glänzten lebhaft; im Uebrigen aber war seine Haltung eine so tadellose, daß die Gräfin sich in ihren Voraussetzungen über die unvermeidlichen Verstöße in einem solchen Hause angenehm enttäuscht sah und sofort ein lebhaftes Gespräch mit dem so auffallend gentil aussehenden jungen Mann anknüpfte. Und der Ton vollkommener, liebenswürdiger Natürlichkeit, welcher die feinste Kunst der Hochgestellten ist und eine so schmeichelhafte Gleichberechtigung einzuschließen scheint, er bezauberte den sonst gegen aristokratische Herablassung sehr mißtrauischen Emil auf die angenehmste Weise. Er bat, der Komtesse vorgestellt zu werden, und blickte während der ersten Worte, die sie frisch und lebhaft sprach, mit einer so unverhohlenen Bewunderung in ihr jugendfrohes Gesichtchen, daß die Gräfin ein leises Lächeln unterdrücken mußte. Auch versäumte er seine Pflichten als Sohn des Hauses, ließ ein Dutzend Gäste unbegrüßt eintreten und kehrte, nachdem er sich dieser Sünde bewußt geworden war und versucht hatte, sie zu sühnen, rasch wieder zu Komtesse Gabriele zurück, um sich an ihrem herzlichen Kinderlachen und ihren lustigen Einfällen zu erquicken. „Sollte man es für möglich halten,“ dachte er, „in diesen Kreisen einer so unverfälschten und unverzagten Natur zu begegnen? Sie ist köstlich, ein ganz entzückendes Geschöpfchen!“
Und wieder beugte er sich über ihre Stuhllehne herab und sah tief in die lachenden blauen Augen, die sich so lebhaft zu ihm emporwandten.
[430] Mittlerweile hatte sich Felsing energisch durch die Menge geschoben, um zu dem Grafen Hochberg zu gelangen.
„Es ist mir eine große Ehre, Herr Graf,“ sagte er, sich verbeugend, „um so mehr, als auch die Frau Gräfin und die Komtesse die Güte haben wollen, mein kleines Fest zu verherrlichen.“
„Aber, lieber Herr Konsul,“ unterbrach ihn der Graf, indem er ihm freundlich die Hand entgegenstreckte und die kurze, widerwillige Berührung derselben nicht zu bemerken schien, „Sie haben uns ja durch Ihre liebenswürdige Einladung eine große Freude bereitet. Breda wird mich hoffentlich bei Ihnen entschuldigt haben, daß ich nicht noch vorher meinen Besuch machte – ich bin gestern Abend erst von der Jagd heimgekommen. Aber was haben Sie für einen charmanten Sohn – er ist mir schon öfter bei unsern Morgenspazierritten im Park aufgefallen – ein vorzüglicher Reiter und scheint auch außerdem ein prächtiger junger Mann zu sein. Sie selbst reiten nicht, Herr Konsul?“
„Ich? Nein, ich habe niemals Zeit dazu gefunden,“ erwiederte Felsing, und ein eigenthümlich bitteres Lächeln flog dabei über seine Züge.
„Schade,“ meinte der Graf, „Sie haben ja die prächtigsten Pferde in Ihrem Stalle, besonders Ihre Fuchsstute ist ein brillantes Thier.“
Die beiden Herren bewegten sich langsam weiter, der Graf war jetzt, nachdem er sich von dem Hausherrn einigen Herren und Damen hatte vorstellen lassen, bei dem Fürsten Schmettingen angekommen, und ein längeres Gespräch, welches er mit diesem anknüpfte, gab Felsing die erwünschte Gelegenheit, ihn zu verlassen. Seine breite Brust hob sich, als ob er erleichtert aufathmete.
Mit gesteigertem Interesse schien er jetzt seinen Sohn zu beobachten, der noch immer in lebhaftem Gespräche mit der Gräfin und ihrer Tochter begriffen war.
„Und Sie wußten nicht,“ sagte eben die kleine Komtesse, deren lebhafte Augen in jener unverhüllten Freude glänzten, mit welcher nur die erste Jugend den geselligen Vergnügungen entgegengeht, „Sie wußten nicht, daß Doktor Reiter seit drei Monaten unser Erzieher ist?“
„Der Erzieher Deines Bruders, mein liebes Kind,“ verbesserte lächelnd die Gräfin.
„Richard Reiter seit drei Monaten hier? Mein liebster Universitätsfreund! Und hat mich noch nicht aufgesucht! Das ist mir doch ganz unbegreiflich!“ wiederholte Emil Felsing mehrmals im Tone größten Erstaunens.
„Er ist ein Stubenhocker, Ihr Herr Universitätsfreund,“ erwiederte Gabriele Hochberg. „Nicht einmal zu einem Spazierritt hat ihn Papa bringen können. War er immer so?“
Die kleine Gräfin hatte, wenn sie lebhaft sprach oder eine Frage stellte, eine reizende Art, ihren Kopf mit der lichten Haarkrone vorzuneigen und die Leute von unten mit einer gewissen unschuldigen Kühnheit anzublicken.
„O nein, Komtesse,“ erwiederte Emil, welchen die Frage amüsirte, heiter lachend, „im Gegentheil, er war ein flotter Student!“
„Also jetzt blasirt! Das sieht man auch!“
Damit wandte sich die kleine Gräfin, indem sie ihre Lippen etwas verächtlich aufwarf, kurz ab und eilte, da ihre Mutter inzwischen von dem Minister angesprochen worden war, auf ihren Vater zu.
Entzückt sah ihr Emil Felsing nach, und es dauerte auch nicht lange, so war er wieder an ihrer Seite, um ihr auf einem Tische im Hintergrunde des Salons die Bilder eines Albums zu zeigen und zu erläutern.
Ein Theil der Gäste hatte sich nach und nach in die Nebengemächer zerstreut und unterzog ihre Einrichtung der sorgfältigen Kritik, welche Jeder herausfordert, der es sich einfallen läßt, Geselligkeit im großen Stil bieten zu wollen. Und hier hatte man den doppelten Genuß, neben dem „Parvenü“ auch noch dem lieben Freund Breda Etwas am Zeuge zu flicken.
„Immer Renaissance,“ sagte ein dicker Gutsbesitzer, indem er sich mißbilligend in dem nächsten getäfelten Raum umsah, „es wird wahrhaftig nachgerade langweilig. Sitzt man auf so einem harten Sofa, so drückt Einem die geschnitzte Rücklehne das Muster in die Kopfhaut; steht man auf so reißt man einen Weihwasserkessel vom Schaft herunter oder spießt sich an den Hirschgeweihenden des Lüstres –“
„Und für ein paar anständige Bilder hat es, scheint’s, doch nicht mehr gelangt,“ bemerkte der Maler Teufenbach. „Was für elendes Zeug hängt da herum!“
„Die sind immer noch besser am Platz, als das wirkliche große Kunstwerk da drinnen in dem geschmacklosen gelben Salon,“ nahm ein Assessor das Wort, welcher als Kunstdilettant eines gewissen Ansehens genoß. „Sehen Sie doch nur den ‚gestürzten Phaëthon‘ an, der auf der Ausstellung vor zwei Jahren so wundervoll in der Mitte des großen belgischen Saales stand. Jetzt müßte er eigentlich noch einmal sterben aus Verzweiflung, daß er nirgends anders hingestürzt ist, als in dieses Möbelmagazin!“
„St! Der Konsul,“ flüsterte eine der Damen dem kecken Sprecher zu.
„Wir bewundern gerade Ihre reizende Einrichtung, Herr Konsul!“ rief dem Eintretenden das Fräulein von Lieven entgegen.
„Haben Sie das kleine Kabinet schon gesehen? Nein? Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen; das ist meine neueste Acquisition.“
Er öffnete eine mit kunstvoller Eisenarbeit beschlagene Thür, und die sämmtlichen bösen Zungen konnten ein: Ah! der Ueberraschung nicht unterdrücken beim Eintritt in den wunderbar ausgestatteten Raum, welcher der Phantasie eines großen Künstlers sein Dasein verdankte und genau nach seinen Angaben ausgeführt war. Orientalische Teppiche und Draperien bekleideten die Wände des kleinen Gemachs, eine farbenprächtige persische Decke breitete sich über den niederen Divan einer auf Stufen erhöhten Zimmerecke, welche halb von zartblauen Atlasvorhängen und großen Palmenwedeln verdeckt wurde. Kostbare Metall- und Glasgeräthe wirkten mit sanftem Leuchten in dem allgemeinen Farbenkoncert, ein phantastischer Lüstre aus buntem Glas goß sein Licht über den geschnitzten Tisch im Vordergrund und die darum her stehenden Stühle, das sorgsam ausgewählte Kleingeräth – hier war der Ort, wo auch verwöhnte Kenneraugen sich rückhaltlos dem Genuß des Schauens überlassen konnten. Ueber die Stufen des kleinen Erkers floß wie dichter Schnee silberglänzend ein riesenhaftes Eisbärenfell bis herunter vor die Füße der Beschauer.
„Wundervoll, ganz wundervoll!“ rief der mittlerweile nachgekommene Fürst Schmettingen. „Das ist ja ein beneidenswerther Besitz, lieber Konsul.“
„Für den, der ihn zu genießen versteht, Durchlaucht,“ erwiederte Felsing trocken. „Ich bin nicht dafür organisirt, aber ich unterstütze gern Kunstfleiß und Talent, indem ich Derartiges kaufe.“
„Wann werden endlich Diejenigen, die Millionen haben, sie zu genießen verstehen!“ flüsterte der Assessor wehmüthig Fräulein von Lieven ins Ohr.
Mittlerweile hatten sich im großen Salon einzelne Gruppen gebildet; der Hauptkreis aber versammelte sich um die Gräfin Hochberg, welche mit der Fürstin Schmettingen einen Divan einnahm und dort „Hof hielt“, wie die Baronin Breda im Vorübergehen ihrem Manne zuflüsterte. In der That waren alle Großwürdenträger der Gesellschaft dort in einem kleinen exklusiven Cirkel versammelt, Graf Hochberg an den Kamin gelehnt mit dem Kriegsminister, die übrigen Herren in lebhafter Unterhaltung um die Damen. Die Baronin Breda stand nicht weit davon, gleichfalls plaudernd, aber ihre Augen fixirten unablässig durch den Spiegel den Kreis am Kamin; sie klappte heftig ihren Fächer auf und zu und gab sich Mühe zu hören, was hinter ihr gesprochen wurde, während immer wieder ein malitiöses Lächeln ihr Gesicht überflog.
Quer über den Salon kam der alte Baron Karkow etwas schwerfällig auf die Gräfin zu und antwortete auf ihre freundliche Erkundigung nach seinem Befinden: „Taugt nichts mehr, die alte Maschine, abgenutzt, miserabel. Muß so bald wie möglich nach Karlsbad. Was thun Sie denn diesen Sommer, Gräfin?“
„Was wir jeden Sommer thun, wir gehen nach unserem Eckartshausen,“ erwiederte diese. Einen Augenblick später trat die Baronin Breda ebenfalls hinzu, und das Gespräch vom Landaufenthalt wurde allgemein. Endlich fragte man auch sie nach ihren Sommerplänen, und sie erwiederte mit sehr lauter Stimme, daß es alle Umstehenden hören mußten: „Wir gehen dieses Jahr nach Eckartshausen, es wird mir ein großes Vergnügen sein, dieses berühmte Schloß einmal kennen zu lernen, ich freue mich schon unendlich darauf.“
Das allgemeine Gespräch verstummte plötzlich; die Gräfin blickte im höchsten Erstaunen auf Frau von Breda, die jetzt unschuldig, als spräche sie nur mit ihrem Nachbar, hinzusetzte: „Der gute Konsul hat uns eingeladen!“
Aller Augen richteten sich auf den Grafen und die Gräfin. Der Erstere machte ein unbehagliches Gesicht; die Letztere aber, [431] obgleich sie vor Erregung innerlich zitterte, bewahrte äußerlich die Ruhe und sagte nur verächtlich, im kältesten Tone:
„Ich verstehe Ihren Scherz nicht, Baronin Breda.“
„Scherz?“ fragte diese im höchsten Triumphgenuß. „Aber wie können Sie denken, ich scherze, Gräfin? Oder – mein Himmel, sollten Sie am Ende noch gar nicht wissen, daß der Konsul Eckartshausen gekauft hat?“
Eine peinliche Stille folgte diesen Worten. Die Gräfin zuckte zusammen; der Stich hatte gut getroffen, aber es war nur ein Augenblick, schon im nächsten beherrschte sie ihre Züge wieder vollkommen. Sie wandte einen fragenden Blick nach ihrem Gemahl, der schnell herzutrat.
„Ach ja,“ begann er gegen die Gräfin gewendet, indem er seinem Tone etwas Gleichgültiges zu geben suchte, „ich fand noch nicht einmal Gelegenheit, Dir davon zu sprechen, daß ich heute die Nachricht von dem Verkaufe erhielt, und wußte selbst nicht, daß Herr Konsul Felsing der neue Besitzer ist, was mich außerordentlich freut. Ich entschloß mich, Eckartshausen zu verkaufen,“ setzte er, gegen Karkow gewandt, hinzu, „weil meiner Frau die neugebauten Fabriken in der Nachbarschaft unangenehm wurden.“
„In der That,“ fiel die Gräfin rasch ein, und dabei vermochte sie es über sich, wieder vollständig unbefangen auszusehen, „diese Fabriken mit ihrem Rauch und den vielen Fabrikarbeitern wurden sehr lästig. Der Aufenthalt verlor viel dadurch. Nun, Gabriele, Du freust Dich wohl am meisten über den Verkauf, da jetzt Dein Lieblingswunsch einer Reise nach Schweden und Norwegen in Erfüllung gehen wird?“
Der Ausdruck trotzigen Erstaunens, welchen das hübsche Gesicht der kleinen Gräfin während der letzten Minuten gezeigt hatte, wich einem sonnigen Lächeln. „Wirklich, Papa? Wir reisen nach Norwegen?“
Der Graf nickte freundlich zustimmend.
„Alle mit einander? O, wie ich mich freue!“
In diesem Augenblick meldete der Haushofmeister, daß das Souper servirt sei. Rasch ordneten sich die Paare, um unter Voraustritt des Konsuls, welcher die Gräfin führte, nach dem Speisesaal zu gehen, dessen glänzende Pracht selbst den verwöhntesten Gästen einen Ausruf der Bewunderung entlockte.
Breda und Karkow waren die Letzten, welche, da sie keine Damen mehr gefunden, den Salon verließen.
„Was war das für eine seltsame Geschichte mit dem Verkauf von Eckartshausen?“ fragte Karkow den Baron. „Ich habe da, wie es scheint, in Gemeinschaft mit Ihrer Gemahlin einen gehörigen faux-pas gemacht!“
„Wie so?“ erwiederte Breda.
„Sahen Sie denn nicht, wie der Graf erröthete und die Gräfin erblaßte? Ich dachte anfangs, der Konsul habe es für seinen Sohn auf die kleine Gräfin abgesehen – seine Geldsäcke und ihr alter Adel würden gut zusammenpassen, aber nun scheint es ja fast, als ob er mit dem Kauf irgend einen Koup gegen den Grafen ausführen wollte?“
„Pah, es wird nicht so schlimm sein,“ entgegnete Breda achselzuckend.
„Nun, ich muß sagen,“ fuhr Karkow fort, „daß ich dem Konsul nicht zwischen die Finger kommen möchte. Sehen Sie nur diese Augen an, diesen Stiernacken und – diese Fäuste!“
„Ja,“ lachte Breda, „noch immer die Fäuste des ehemaligen Messerschmieds!“
Damit traten sie in den Speisesaal.
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Das Souper und der darauf folgende kleine Ball waren glänzend verlaufen. In später Nachtstunde fuhr die gräfliche Familie nach Hause, und Komtesse Gabriele erzählte lebhaft alle die kleinen Ereignisse des Abends und wie himmlisch sie sich amüsirt hatte.
„Und ich versichere Dich, Mama, dieser junge Felsing ist ein ganz allerliebster Mensch, so gelehrt und klug und dabei gar nicht eingebildet. Er hat schon große Reisen gemacht nach Amerika und Gott weiß wo sonst noch hin und hat Waffen und Pelze und eine ganze Menge solches Zeug mitgebracht, das er mir nächstens einmal zeigen will. Aber an den Nordpol oder weit nach Afrika hinein darf er nicht, weil sein Papa nicht will, daß er dort auch umkommt, wie die vielen Andern, und das ist ihm nun schrecklich, denn er ginge so gern. Und unsern Doktor Reiter kennt er auch, denkt Euch nur; ja, er war mit ihm zusammen auf der Universität und erzählte mir heute während des Soupers, daß es der Herr Doktor dort recht bunt getrieben habe und der beste Reiter und Tänzer und Schläger gewesen sei. Sollte man ihm das heute ansehen! Ich fragte ihn, ob er denn das gewiß wisse. ,Natürlich,‘ sagte er, ,man nannte ihn nur den Brückenreiter, weil er einmal Nachts, als wir etwas – nun, etwas erheitert heimgingen, den Weg über das schmale steinerne Brückengeländer nahm, hoch über dem unten rauschenden Fluß. Er kam glücklich hinüber, wir Anderen waren bei dem Anblick ganz nüchtern geworden. Aber den Spitznamen behielt er.‘ Ist das nun nicht merkwürdig, Papa?“
„Merkwürdig? Was?“ fragte der Graf, aus den Gedanken auffahrend, die seine Stirn furchten und seine sonst so heiteren Augen starr vor sich hin blicken ließen.
„Aber ich glaube, Du hast gar nicht gehört, was ich sagte!“ schmollte das Töchterchen.
„Aufrichtig, nein, meine kleine Gabi,“ erwiederte der Papa nun wieder sehr freundlich. „Wenn Du sprichst, ist es mir oft, als höre ich ein kleines Vögelchen zwitschern; der Ton thut meinem Herzen wohl, wenn ich auch der Worte nicht achte. Aber Du bist nun eine junge Dame, und ich verspreche Dir, daß dies anders werden soll. Nur heute geht mir nach all’ dem Schwirren und Lärm der Gesellschaft noch allerhand Anderes im Kopfe herum.“
Er wandte jetzt zum ersten Male und mit einer gewissen Anstrengung die Augen nach der Seite der Gräfin und suchte, sich vorbeugend, im tiefen Zwielicht den Ausdruck ihrer Züge zu lesen. Da fiel ein kurzer Laternenblitz herein und zeigte naßschimmernde Spuren auf ihrer Wange. Daraufhin drückte er sich unmuthig von Neuem in seine Wagenecke: Thränen waren ihm unter allen Umständen fatal. Als der Wagen hielt, verabschiedete er sich mit einem kurzen „Gute Nacht!“ von Frau und Tochter, um sein Zimmer aufzusuchen und sich schlafen zu legen. Die widerwärtigen Eindrücke des Abends gingen ihm wohl noch eine Zeit lang im Kopfe herum, aber es dauerte nicht lange, so hatte die Müdigkeit den Sieg davon getragen; ein friedlich Schlafender ruhte er in den Kissen und seine Brust hob und senkte sich in tiefen Athemzügen.
Im Hause des Konsuls dagegen war im Hinterzimmer die ganze Nacht hindurch Licht. Ruhelos, wie ein unstäter Geist, ging der finstere Mann darin auf und ab oder saß mit aufgestütztem Kopfe vor dem alten Schreibtisch, über alte, vergilbte Papiere gebeugt, in tiefe Gedanken verloren. Das Zimmer lag im Schatten des großen Schirms, der die Gasflammen deckte; nur ein scharfer Lichtkreis fiel auf den Schreibtisch und das offen stehende geheime Fach, aus dessen hinterstem Grunde endlich Felsing zögernd eine kleine verstaubte Schachtel nahm. Er öffnete sie behutsam und legte ihren Inhalt vor sich hin: auf einem Flöckchen vergilbter Watte ein paar vertrocknete Blumen, eine blonde Haarlocke und ein kleines Granatkreuzchen an einer abgerissenen Schnur. Lange starrte er darauf nieder, und sein sonst so hartes Gesicht nahm einen Ausdruck tiefer Wehmuth an. Endlich ergriff er das Kreuzchen und sagte leise mit einem unendlich bittern Ausdruck: „Das erhält sich und bleibt unverändert, wenn rings umher Alles stürzt und zerfällt, wenn Liebe und Treue im Schmutz versinken und die Brutalität triumphirt!“ … Seine Augen hafteten unverwandt auf dem ärmlichen kleinen Schmuckstück, dessen rothe Steinchen im Lichte glänzten, während er es langsam und mechanisch hin und her drehte, und allmählich gruben sich wieder die gewohnten scharfen Furchen in sein dunkles Gesicht.
„Ungestraft wenigstens nicht!“ brach es endlich rachsüchtig von seinen Lippen. „Ich bin auch unverändert und –“ setzte er plötzlich leise hinzu, während seine sprühenden Blicke, in die Dunkelheit zurückgewandt, einen unsichtbaren Gegner zu durchbohren schienen – „diese Steine haben einen theuren Preis, Herr Graf!“
Er versank wieder in sein stummes Brüten und achtete nicht auf den Gang der Viertelstunden, welche die alte Schwarzwälderuhr mit leisen Schlägen anzeigte. Endlich fuhr er auf – die erste Tageshelle drang zwischen den Fenstervorhängen herein. Hastig legte er die Gegenstände wieder in die Schachtel und verschloß dieselbe mit den Papieren; dann löschte er das Licht und warf sich angekleidet auf seinen alten Divan.
Als eine Stunde später der Diener nach gewohnter Weise bei ihm eintrat, erschrak er über das blasse, verstörte Aussehen seines Herrn.
[446]
Zwei Tage waren seit dem Balle bei Felsing verflossen; dem beharrlichen Regen folgte nun jene erste Frühlingssonne, die mit blauem Himmel und schwellender Knospenfülle wie eine süße Verheißung in das Menschengemüth hereinleuchtet und alles ausgestandene Winterleid vergessen läßt. Allenthalben in den Gärten rührte sich frisches Leben; auch in dem Garten des Hochberg’schen Palais waren die Arbeiter eifrig beschäftigt, das trockene Laub der Alleen auf Haufen zu rechen, Gebüsche und Rasen in Ordnung zu bringen. Von dem schwarzen Grund der Beete leuchteten die kleinen gelben und weißen Krokus, und die glänzenden, harzigen Kastanienknospen schwollen zusehends unter der plötzlichen Wärme der Sonnenstrahlen. Es war einer jener lieblichen Nachmittage, wo die Jugend sich mit Herumschwärmen im Freien nicht genug thun kann und eben so wenig an nachfolgende Kälte oder gar Schneefall glauben mag, wie an den baldigen Niedergang der Sonne, die doch dem Horizont schon so nahe steht.
Einstweilen glänzten ihre Strahlen noch hell über den breiten Kieswegen und dem Geschwisterpaar Hans und Gabriele, das sich schon geraume Zeit spielend und laufend darin umhertrieb. Der Garten zog sich weit nach rückwärts mit Rasenpartien und Kastatanienalleen, bis ihn ein Gitterthor an der vorüberführenden Chaussee abschloß. Im Sommer, wenn die weißen Marmorvasen aus dunklem Grün leuchteten, der Springbrunnen leise plätscherte und die in großen Kübeln den Rasenplatz umgebenden Orangenbäume ihren Duft weithin ausströmte, war dieser Garten ein herrlicher Aufenthalt. Keines der umliegenden Herrschaftshäuser besaß einen ähnlich großen; überall hatte die neue Zeit den kostbaren Baugrund mehr und mehr beschnitten. Graf Hochberg aber, obgleich er den Sommer niemals in der Stadt zubrachte, hielt Etwas darauf, so lange er anwesend war, seinen Morgengang bis zu demselben kleinen Pavillon ausdehnen zu können, in welchem sein Ururältervater im Jahre 1720 dem Prinzen Eugen den Kaffee serviren ließ. „Es muß ja nicht Alles zu Gelde gemacht werden,“ pflegte er scherzend, mit einem leisen Anflug von Hochmuth zu erwidern, wenn man ihm den Kapitalwerth des Grundstücks vorstellte.
Auf der Freitreppe dieses kleinen, zopfigen Pavillons stand der junge Hauslehrer, Doktor Richard Reiter, und betrachtete durch die blattleeren Kastanienzweige den Rasenplatz und die junge Komtesse, welche sich dort einer ungewohnten, aber offenbar höchst vergnüglichen Thätigkeit hingab. Sie hatte sich Latten und Stangen geholt und war eben im Begriff, mit Hilfe des Gärtners mitten auf dem Rasen Etwas zu errichten, was eine entfernte Aehnlichkeit mit einer zukünftigen Laube besaß. Vier Stangen waren eingerammt, die Querleisten wurden eben befestigt; der Bruder Hans sollte Nägel reichen und versah dieses Geschäft äußerst faul und widerwillig, der Gärtner Friedrich stützte nach Leibeskräften den schwanken Bau, und Gabriele schlug mit Feuereifer Nägel ein. Ihr blaues Jäckchen mit den blanken Metallknöpfen hatte sie einer nebenstehenden Flora über den Arm geworfen, und nun stand sie im halbkurzen Kleid, das die zierlichen Stiefelchen sehen ließ, auf einer Bank, behende den Arm hebend und scharfe Schläge führend. Das Mündchen hatte sie ernsthaft zusammengezogen, die Augen so nahe auf das Ziel gerichtet, daß sie ein klein wenig schielten – ein entzückend kindlicher Ausdruck, wie sich der junge Beobachter im Stillen sagte, lag noch über der bereits jungfräulichen Form dieser schlanken Gestalt ausgegossen.
Er stand völlig verloren in der Wonne einer Betrachtung, die er sich während der Unterrichtsstunden niemals erlaubt haben würde. Es waren deren nicht viele, die Gabriele noch mit dem Bruder theilte, aber während derselben hütete Richard Reiter sorgfältig Blick und Ton, seine Worte klangen ernsthaft und gemessen, oft sogar leise tadelnd, wenn der flüchtige Blondkopf tausend nicht zur Sache gehörige Fragen stellte, in der Naturgeschichte bei Gelegenheit der Eisbären auf einen ganz weißen King Charles zu sprechen kam, den sie sich zum nächsten Geburtstage wünschte, oder im Geschichtsaufsatz über Alexander’s Zug nach Indien den großen König unmittelbar von Arbela nach dem Fünfstromlande springen ließ und die Lücke nur durch die Bemerkung ausfüllte: Alexander müsse doch ein reizender Mensch gewesen sein.
„Ich könnte mich gar nicht für ihn interessiren, wenn ich mir ihn nicht so vorstellte,“ war ihre hartnäckige Antwort auf Doktor Reiter’s Ermahnungen zu größerer Objektivität, und er mußte im Stillen über den Instinkt einer so glücklichen Natur lächeln. „Ein liebenswürdiges Kind,“ dachte er bei solchen Gelegenheiten, und bis heute war es ihm nie eingefallen, darüber nachzudenken, was ihm eigentlich den Aufenthalt hier im Hause so lieb machte und die Geduld mit dem wenig begabten, aber um so ungezogeneren Hans verlieh. Heute aber stand es auf einmal klar vor seiner Seele: das liebliche Geschöpfchen dort mit den lachenden Augen und dem sonnigen Goldhaar gehörte bereits zu seinem Leben, wie das Tageslicht und der Lufthauch, deren sich ja auch Niemand bewußt ist … daß er dies aber heute erst merkte!
Das Lächeln verschwand von den Lippen des jungen Mannes; sein Blick wurde düster, und mit augenblicklichem Entschluß unterdrückte er das heiße Wallen, das ihm vom Herzen zum Kopf steigen wollte. „Dies muß schweigend getödtet werden,“ sprach er leise vor sich hin, „wir wollen nicht die alte abgedroschene Geschichte vom Hofmeister und der jungen Schülerin neu aufführen. Welche Armseligkeit – ein argloses junges Herz kirre machen – nein, tausendmal nein, ich wäre es nicht im Stande. Und wohin sollte es führen … der verdorbene Theologe und absichtslose Zoologe und die reiche schöne Gräfin Hochberg! Ein solcher Unsinn ist selbst für Jemand zu arg, der schon auf eine so respektable Anzahl von dummen Streichen zurücksieht, wie ich. Kopf in die Höhe, Zähne zusammengebissen, verliebter Thor, damit Niemand merke, welche Schwachheit Dich soeben angewandelt hat!“
„Friedrich,“ hörte er jetzt die junge Gräfin zum Gärtner sagen, als die Hand mit dem schweren Hammer ein wenig ruhte; „ich hätte nicht gedacht, daß es mit dem Nägeleinschlagen so famos ginge.“
„Freilich,“ erwiederte der Mann, der sich gerade auf der andern Seite bemühte, einen besonders krumm gerathenen wieder zurecht zu biegen, „die gnädige Komtesse können arbeiten wie Unsereins.“
Hans ließ ein spöttisches Lachen ertönen. Er kam sich mit seinen dreizehn Jahren bereits sehr vornehm und wichtig vor, und die Beschäftigung seiner Schwester in Gesellschaft des Gärtners erschien ihm nichts weniger als standesgemäß. Ueberdies fing die Sache an, ihn zu langweilen.
„Du, Gabi,“ spöttelte er, „es ist doch schade, daß Du nicht als Taglöhnerkind auf die Welt gekommen bist. Dann könntest Du den ganzen Tag graben und scheuern und dergleichen feine Geschäfte thun.“
Gabriele warf ihm einen entrüsteten Blick zu, doch sagte sie möglichst ruhig:
„Du bist ein einfältiger Junge, Hans.“ Dann, sich zum Gärtner wendend, fuhr sie mit dem freundlichsten Ausdruck fort: „Nun, Friedrich, die Stangen hätten wir jetzt, und auch die Querleisten. Aber das Dach!“ fuhr sie kleinlauter fort, „wo nehmen wir das Dach her? Das dauert ja wohl länger?“
„Länger dauert das allerdings,“ bestätigte Friedrich, dem offenbar nicht wohl bei der Sache war, wenn er auch dem allgemeinen Liebling Nichts abzuschlagen vermochte. „Die gehobelten Bretter werden auch recht stark weiß glänzen. Brauchen denn die gnädige Gräfin die Laube so nothwendig?“
„Sehen Sie, Friedrich, das verstehen Sie nicht,“ versetzte Gabriele mit großer Bestimmtheit, „die Laube müssen wir unbedingt haben, weil wir einen Sitz im Freien brauchen, wo uns Herr Doktor Reiter an Blumen und Käfern und solchen Dingen Naturgeschichte lehren kann und wo man auf einen einfachen Holztisch Wassergläser und Behälter mit Thieren setzt. In der Stube droben mit den polirten Möbeln geht das Alles nicht so gut: das hat er neulich selbst gesagt, als er meinte, in dem [447] großen Garten sollten irgendwo ein paar einfache Bänke und ein fester Holztisch stehen. Sehen Sie vielleicht einen solchen Tisch?“ Und sie streifte mit mißbilligenden Blicken die breiten geschweiften Bänke unter den Kastanien sowie die halbrunde marmorne Sitzgelegenheit um das Springbrunnenbassin. Einen Tisch sah Friedrich nun wohl nicht, aber er schüttelte dennoch den Kopf.
„Wenn nur der Herr Graf nicht recht böse werden, wenn sie herunter kommen“ wagte er neuerdings einzuwenden.
„Ja,“ schrie Hans schadenfroh, „das wird Papa gewiß. Ihr habt ja den ganzen Rasen verdorben, und dann sage ich auch, Gabi, daß Du die ganze Geschichte angegeben hast. Und ich sage ihm auch noch, daß Du heute bei Rothenburgs abgesagt hast, um das Ding da aufzubauen und dem lieben Herrn Doktor damit eine Freude zu machen …“
Hier fühlte der kleine Unhold einen festen Griff an seiner Schulter, und die gebietende Stimme, welcher er, wenn auch äußerst ungern zu folgen pflegte, sagte in scharfem Tone: „Das läßt Du bleiben, wenn Du nicht als ein elender Feigling angesehen sein willst!“
Hans warf seinem Lehrer einen bösen Blick zu und rannte dann ins Haus. Indem er sich nun zu dem tief erröthenden Mädchen wandte, sagte Doktor Reiter ruhig und unbefangen: „Es ist sehr freundlich von Ihnen, Komtesse Gabriele, den Gedanken, den ich neulich einmal flüchtig aussprach, gleich ins Leben setzen zu wollen. Aber ich glaube auch, die angefangene Laube kann hier nicht stehen bleiben.“
,O,“ rief Gabriele mit aufgeworfenen Lippen, „und warum nicht?“
„Weil der Grundeigentümer nicht gefragt wurde,“ entgegnete scherzend der junge Mann, „und weil die marmornen Tanten hier wirklich entsetzt scheinen über solchen Frevel. Wollen wir nicht rasch die Stangen und Latten abnehmen? Vielleicht erlangen wir die Erlaubniß, sie am untern Gartenende wieder aufzurichten oder wenigstens einen Tisch unter den Kastanien …“
Gabriele hatte Hammer und Nägel bei Seite gelegt und sah unverwandt in die hellen braunen Augen des Redners, die so freundlich zu blicken verstanden; sie folgte dann seinen Bewegungen, als er gewandt und kräftig zugriff und in wenigen Augenblicken ihr Werk von einer Stunde zerstörte. Als aber Friedrich sich offenbar sehr erleichtert mit der Last entfernte, zuckte die kleine Gräfin die Achseln, nahm der Flora ihr Jäckchen ab und sagte, indem sie sich zum Gehen wandte und dem großen Strohhut einen entschlossenen Ruck gab.
„Wissen Sie auch, daß Sie ein rechter Pedant sind?“
„Nein, das wußte ich bis heute nicht,“ entgegnete er heiter; „woraus ziehen Sie denn diesen plötzlichen Schluß?“
„Aus Ihrer Unzufriedenheit, daß ich da mit Friedrich herum hantirte!“
„Sie täuschen sich völlig, Komtesse; ich freute mich im Gegentheil Ihrer Freundlichkeit gegen den Mann und seiner verklärten Miene. Meine Furcht war wirklich nur, daß der Herr Graf ärgerlich werden könne –“
„Ach, der Papa,“ lachte der junge Leichtsinn, „der ist nicht halb so gefährlich wie Sie. Und neulich –“ sie stellte sich entschlossen quer über den Weg, „warum durfte ich da nicht mit, als Sie bei dem herrlichen Wind mit Hans im Segelboot fuhren, und warum wollen Sie nie mit uns ausreiten und sehen allemal unzufrieden aus, wenn ich mir Othello satteln lasse? Solche Dinge sind ja wohl ganz unweiblich, wie?“
Doktor Reiter machte ein erstauntes Gesicht. Ein Gelehrter braucht immer einige Momente, um sich in einem unvorhergesehenen Platzregen weiblicher Vorwürfe, und kämen sie aus einem sechzehnjährigen Munde, einigermaßen zurechtzufinden.
Seine kleine Gegnerin bemerkte dies mit vieler Genugthuung. „Ja, ja, leugnen Sie nur nicht!“ beharrte sie. „Mademoiselle Renard sagte mir gestern und noch dazu französisch in ihrer langweiligen Konversationsstunde, daß der Herr Doktor sich so geäußert hätte.“
Diesem blitzte eine Erleuchtung auf. Bis dahin hatte er die kleine schwarzgelbe Französin und ihre angelegentlichen Blicke kaum bemerkt. „Ach so,“ sagte er gedehnt, „nun, Mademoiselle Renard hat sich da keiner großen historischen Treue beflissen. Ich nannte Ihre Spazierritte nicht unweiblich, sondern bedenklich, weil ich neulich sah, zu welch’ rasendem Galopp Sie Ihren Othello spornten, und ich nehme keinen Anstand, Ihnen selbst zu sagen, daß ich es unvernünftig finde, sich einer solchen Gefahr auszusetzen!“
„Also doch unvernünftig! Nun,“ der Schelm blitzte bereits wieder lebhaft aus den blauen Augen, „Sie müssen da eben etwas Nachsicht haben mit der Jugend. Die meisten Leute sind in ihren jüngeren Jahren noch nicht so sehr vernünftig, wie sie es später werden können. Das bitte ich Sie ergebenst zu bedenken, Herr Doktor – Brückenreiter!“
Und mit lautem Lachen glücklich über den gelungenen Kernschuß, lief das übermüthige Mädchen davon und war bald im Hause verschwunden.
Der Doktor blieb in sprachlosem Erstaunen zurück. Woher in aller Welt hatte sie diesen ihm selbst verklungenen Spitznamen seiner Studentenzeit erfahren? Er konnte nicht einmal zu einer Vermuthung darüber kommen, kehrte endlich um und schritt langsam die Allee hinunter, ganz in Gedanken verloren. Wo war denn nun die Vernunft, die er sich vorhin noch so feierlich angelobt? Verflogen und zerschmolzen unter dem Blick der hellen Augen, dem Klang ihres fröhlichen Lachens! Konnte man denn eine solche Schwachheit für möglich halten? Und nun … nach dieser Erfahrung – was weiter? Eine feste Stimme in dem ehrlichen Herzen sprach. „Fortgehen!“ Aber sie mußte es mehrmals sagen, bis sie gehört wurde, und auch dann folgte heftiges Widerstreben. War es denn wirklich Pflicht, sich von hier zu lösen, das liebgewordene Haus aufzugeben und den ahnungslosen Menschen auch noch falsche Gründe vorzuspiegeln? „Ja, es muß sein,“ wiederholte die unerbittliche Stimme, „du könntest dem Grafen nicht mehr in die Augen sehen. Lächerlich – oder schlecht! Eins so schlimm wie das Andere. Entschließe dich schnell, es ist nicht anders …“
Mitten in diese Ueberlegungen klang ein eiliger Schritt, und aufblickend sah der junge Mann einen der Lakaien, der ihm eine Visitenkarte überbrachte. „Der Herr wartet oben.“
„Emil Felsing!“ Doktor Reiter wandte sich eilends um, und mit ein paar Sprüngen eilte er die Treppe hinauf in sein Zimmer.
„Emil, Du! Wie freue ich mich, Dich zu sehen, alter Junge!“
„Nun, die Freude hast Du Dir ziemlich lange zu versagen gewußt,“ erwiederte etwas ironisch der junge Felsing, „was fällt Dir denn ein, Mensch, hier als Veilchen im Verborgenen zu blühen und kein Lebenszeichen zu geben? Daß ich hier in der Stadt bin, hast Du doch sicher gewußt!“
„Ja, das wußte ich,“ erwiederte Reiter, indem er den Freund zum Sitzen nöthigte, mit einer leichten Verlegenheit.
„Nun, – und?“
„Und – Du kannst Dir das vermuthlich nicht vorstellen – mein Leben ist hier ein so ganz anderes, als es meine Freunde von früher kennen, ich muß so angestrengt arbeiten, um im Gleichgewicht zu bleiben, daß ich nicht über meinen engen Kreis hinausblicken darf. Ich hatte wohl immer vor, Dich einmal aufzusuchen, es kam aber nicht dazu. Meine gegenwärtige Stellung legt mir eine gewisse Reserve auf. Du wirst mich verstehen –“
„Nein, das verstehe ich wirklich nicht,“ sagte Emil und streckte sich im Schaukelstuhl aus. „Und Dir hätte ich so etwas am allerletzten zugetraut! Was ist das für eine Kleinlichkeit! Weil Du im Augenblick die wenig imposante Stellung eines Hauslehrers bekleidest, fühlst Du Dich im Gemüthe bedrückt und vermeidest alte Freunde? Laß Dir sagen, daß das Einem komisch vorkommt, der vor Jahresfrist in Amerika mit einem Manne zusammen wohnte, welcher erst Schreiner gewesen war, dann später Staatssekretär wurde – allerdings noch später wieder einmal Versicherungsagent, und der jedes Stadium seiner Laufbahn mit der vollkommensten Gemüthsruhe ausfüllte. Von diesen Leuten könnt ihr empfindlichen Kategorie-Menschen noch viel lernen!“
Richard’s Stirn hatte sich geröthet. „Du hältst mich wohl nicht im Ernste für einen solchen Einfaltspinsel,“ sagte er rasch; „wenn ich mich der Stellung hier im Hause schämte, würde ich sie nicht angenommen haben. Etwas halb zu thun, war niemals meine Sache.“
„Das weiß ich, mein Alter,“ versetzte Emil gemüthlich. „Heidelberg kann davon erzählen.“
„Nur wußte ich damals noch nicht,“ ergänzte Richard, „wie die Freiheit des Menschen vom Gelde abhängt, das ich so freigebig verthat und so gründlich verachtete. Die Konsequenz davon ist meine heutige Hauslehrerstelle. Ich beklage mich nicht darüber; [448] aber Du wirst begreifen, daß es nicht Lebensziel für mich sein kann, einen albernen Jungen zu unterrichten, der ebenso gut wild aufwachsen könnte, und …“ Er hielt inne, wie von der plötzlichen Erinnerung an etwas ganz Anderes ergriffen, fuhr dann aber in ruhigerem Tone fort:
„Für einen Zoologen giebt es kaum eine andere, als die akademische Karriere, für sie habe ich Neigung und Fähigkeit, ich mußte mich also einrichten, um Fühlung mit der Universität zu behalten, ohne die kostspieligen Privatdocentenjahre zu leben. Das konnte ich hier. Der Graf ist ein ebenso gescheiter wie vortrefflicher Mensch –“
„Er hat mir vorgestern den angenehmsten Eindruck gemacht,“ sagte Emil, „auch die Gräfin.“
,Sie ist eine vorzügliche Frau,“ erwiederte Richard lebhaft; „ich bin Beiden großen Dank schuldig und bemühe mich, ihn an dem Jungen abzutragen, dessen Fassungsgabe meine Geduld oft auf harte Proben stellt. Der Graf, der meine Situation vollkommen versteht, giebt mir ein reichliches Gehalt und beansprucht nur meine halbe Zeit, so daß ich jeden Nachmittag bis spät am Abend draußen im physiologischen Institut zubringe und dort eine Arbeit mache, die schwierig und zeitraubend ist, aber, wie ich sicher hoffe, meinen Namen bekannt machen wird. Du siehst also, meine Zeit ist besetzt, ich darf nicht rechts noch links sehen. Um diesen Weg gehen zu können, habe ich ein anderes Anerbieten ausgeschlagen, das viel verlockender aussah als die Stelle eines gräflich Hochberg’schen Hauslehrers. Ich sollte Sammler für ein großartiges Aquarium werden, das sie in Petersburg errichten wollen, hätte meinen Wohnsitz etwa an der Riviera oder in der Nähe von Venedig nehmen können mit einer eigenen Wohnung dicht an der Küste, und dafür lag mir nur die Verpflichtung ob, die Herren Russen mit immer neuen Meeresschaustücken zu versehen. Natürlich wäre mir daneben reichlich Muße zu eigenen Arbeiten geblieben, ich zog aber den Aufenthalt hier vor, die Möglichkeit, selbst noch mehr zu lernen, und den Anschluß an unsern genialen Zoologen Volkmann, dessen Umgang und Beistand für mich geradezu unschätzbar sind.“
Emil drückte dem Freunde kräftig die Hand. „Du bist noch der alte Prachtkerl: die Augen fest aufs Ziel und vorwärts! Einer solchen Arbeit fehlt der Erfolg nicht. Noch ein paar Jahre und Du stehst an einer tüchtigen Stelle, während ich, der es leider nicht nöthig hat, Felsing’scher Haussohn bleibe, geborenes Mitglied der geographischen Gesellschaft, mit der Erlaubniß, alle zwei Jahre einmal eine zahme Reise nach wohlbekannten Küsten zu machen, aber ohne jede Aussicht, dorthin zu kommen, wo Neues zu finden wäre und man sich einen Namen machen könnte …“
„Und wo wäre das etwa?“ fragte Richard.
„In den Gletscherthälern des Kuen-Luen zum Beispiel oder mit einer unserer Polarexpeditionen, oder wenigstens nach Uganda zu König Mtesa, um diesen interessanten Völkerhirten aus der Nähe kennen zu lernen – aber daran ist ja kein Gedanke! Ich könnte es vielleicht durchsetzen, wenn ich alle Minen springen ließe, aber es würde ein solches Herzeleid für meinen Vater sein, daß ich nicht daran denken darf. Später einmal vielleicht – einstweilen muß ich mich an die Beförderung durch Eisenbahn und Postdampfer haltent und auf die vermittelst Hundeschlitten und Büffelkarren verzichten …“
„Erzähle mir,“ sagte Richard, sich wieder zu ihm setzend, „wo bist Du bis jetzt herumgekommen?“
„Was ist da viel zu erzählen?“ erwiederte Emil, indem er nach dem Feuerzeug griff und eine Cigarre anbrannte, „ich kam gerade weit genug, um zu sehen, daß die Welt überall ziemlich dieselbe ist. Im Atlas glotzten mich die Amazirghbauern mit denselben Gesichtern an, wie unsere Hansjörgel hier, in Algier klagten mir die Händler über die Noth ihrer Kunstindustrie im Gedränge mit der Pforzheimer Konkurrenz; die Palmen sind dort struppiger als die unsern in den Gewächshäusern, und der Himmel nicht so blau, wie man ihn ausschreit. Und wie klein ist doch die Welt! Man kann auch in Afrika keine drei Schritte machen, ohne auf Bekannte zu stoßen – ich habe dort die merkwürdigsten Leute in den merkwürdigsten Situationen wiedergefunden und mir dabei allerhand Vorurtheile abgewöhnt. Nun, und so weiter. Wenn Du mich besuchst, wozu Du Dich nun doch hoffentlich verstehen wirst, erzähle ich Dir mehr davon.“
„Eins mußt Du mir aber doch noch sagen: woher weißt Du denn, daß ich überhaupt hier bin?“
„Sehr einfach, durch Deine Schülerin, Komtesse Gabriele.“
„Ach so,“ lachte Richard, „nun verstehe ich auch den Brückenreiter, den sie mir vorhin an den Kopf warf.“
„Natürlich,“ erwiederte Emil ebenfalls lachend, „sie forschte so eifrig nach der Vergangenheit ihres ehrfurchtgebietenden Lehrers, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte. Uebrigens ist sie ein wirklich reizendes Geschöpf! Wie viel natürliche Anmuth in Linien und Bewegung, welch eine Frische in Gedanken und Ausdruck! Sie war mir schon lange im Park beim Spazierenreiten aufgefallen mit ihren strahlenden Kinderaugen aus allem aristokratischen Toilettenschick heraus. Die Art, wie sie im Reiten einem Gruße dankt, ist geradezu entzückend: so ein gewisses vornehmes Kopfnicken mit einem kleinen aufblitzenden Schalk um die Mundwinkel. Ich beneide Dich, Du Glückspilz, um eine solche Schülerin. Aber mir scheint, daß Dir die Augen fehlen für dieses kleine Schöpfungswunder. Dreifaches Erz um die Brust sitzest Du hinter dem Mikroskop!“
Richard wandte sich halb ab und räumte ein paar Bücher zur Seite, wie um mehr Platz auf dem Tischchen zu machen. Dabei sagte er ruhig: „Jedenfalls ist es für einen armen Teufel klüger, ins Mikroskop zu sehen, als in die blauen Augen einer jungen Gräfin, die für ihn unerreichbar ist, wie die Sterne am Himmel.“
Emil betrachtete prüfend die schlanke Gestalt seines Freundes und das jugendschöne Gesicht, welches jetzt einen so andern Ausdruck hatte, als in den frohen Studententagen. Der bräunliche Teint, die dunklen Haare waren noch dieselben; aus dem Flaum der Oberlippe aber war ein hübscher, weicher Bart geworden, der die energischen Linien des Mundes halb verdeckte. Dafür hatten sich alle andern Züge gefestigt und vertieft; sie waren nicht weniger anziehend, aber viel bedeutender geworden, und Emil fühlte heute wie ehemals den bestimmten Herzenszug, welcher der Freundschaft zu Grunde liegt, wie der Liebe … Aber in seine Bewunderung von Richard’s männlicher Schönheit mischte sich plötzlich ein anderer Gedanke: war es denn nicht nur zu wahrscheinlich, daß der kleinen Komtesse dieser interessante Lehrer gefährlich war? Solche junge Mädchen – und mit welcher Angelegentlichkeit hatte sie von ihm gesprochen! Ein Rival, auch wenn es der beste Freund ist, bleibt ein Rival …
„Richard!“ sagte er plötzlich; „es scheint mir, daß Deine schöne Schülerin etwas hellere Augen hat als ihr stoischer Lehrer. Sie sprach neulich sehr warm über Dich – und im Grunde bist auch Du in sie verliebt, gestehe es nur!“
„Was fällt Dir ein!“ fuhr Richard so entrüstet auf, daß Emil sich vollständig erleichtert fühlte. „Weder sie noch ich haben einen solchen Gedanken. Wenn hier überhaupt Jemand verliebt ist, so wirst Du es wohl sein, der für seine Bewunderung nicht genug Worte finden kann!“
Es sollte ein Pariren aus Nothwehr sein, was er sagte. Aber alles Blut schoß ihm jäh zum Herzen, als Emil seine Hand faßte und ausbrechend rief:
„Nun denn, ja, ich bin verliebt, und zwar so, daß ich seit vorgestern herumgehe wie ein verwandelter Mensch. Sie hat es mir vollständig angethan – es ist ein schrecklicher Unsinn, so für eine Sechzehnjährige zu entbrennen, aber was will ich machen? Ueberall sehe ich die blonden Haare mit den goldenen Lichtern. höre ihre Stimme, sehne mich nach ihrer Gegenwart, und wenn das nicht bald anders wird, so bleibt mir Nichts übrig, als die große Thorheit wirklich zu begehen und vor den gräflichen Papa hinzutreten, um ihre Hand zu bitten – und mir höchst wahrscheinlich einen Korb zu holen.“
„Warum?“ entgegnete Richard mit mühsamer Ruhe. „Deine Persönlichkeit und Stellung geben Dir doch alle Aussicht auf Erfolg, und wenn sie Dich liebt –“
„Wenn sie mich liebt! – Aber das ist es eben – das zu hoffen habe ich vorläufig nicht den mindesten Grund, und wie soll ich es anfangen bei dem entfernten gesellschaftlichen Verhältniß zwischen unseren beiden Häusern, um ihr näher zu treten?“
Emil durchmaß rasch das Zimmer ein paar Mal, dann blieb er vor Richard stehen und sagte: „Du allein könntest mir helfen!“
„Ich? Ich soll Dir helfen?!“ erwiederte Richard, indem er aufsprang und ans Fenster trat. Er fühlte eine bittere [450] Empfindung in sich aufsteigen: also darum der Besuch! Aber er zwang sie sofort nieder und fragte ruhig: „Wie meinst Du das?“
„Sprich ihr von mir, suche die Gräfin günstig zu stimmen und treibe ein wenig, daß sie Wort halten und kommen, um meine ,Raritätenkammer’ anzusehen, wie die Komtesse sagte. Nur muß ich es einen Tag vorher wissen; ich möchte ihnen ein kleines Fest veranstalten, welches ihrer würdig wäre – ein arabisches Fest, mit Hilfe meiner schönen Teppiche, Kostüme und Waffen.“
„Fort!“ schrie es von Neuem in Richard’s Seele, „so schnell wie möglich fort!“ Dazu sprachen seine Lippen: „Du hast Recht, das kann sehr hübsch werden, und ich glaube, Komtesse Gabriele wird daran großen Spaß haben!“
„Ich sollte es denken,“ erwiederte Emil, schon in der Erwartung glücklich. „Sie schien sich sehr für meine Sammlungen zu interessiren, war überhaupt sehr liebenswürdig gegen mich. Aber man wird so verzagt, wenn man ernsthaft hofft und fürchtet, und muß sich manchmal mit Gewalt an Dies und Jenes erinnern, was Einem ungesucht geworden ist, um Kourage zu behalten!“
Er hatte, während er das sagte, einen Ausdruck von so bescheidener Liebenswürdigkeit, daß Richard im Innersten nicht mehr an seinem Erfolge zweifelte. Und warum, wenn für ihn selbst keine Hoffnung war, sollte er nicht dem Freunde alles Glück gönnen? Es war ein harter innerer Kampf, aber er stritt ihn mit Ehren und sagte nach einer kurzen Frist, mit aller Ueberzeugung in Blick und Ton:
„Ich glaube sicher, Du wirst reussiren, Emil. Auch der Graf ist, trotz eines gewissen Standeshochmuths, doch ein gebildeter und vernünftiger Mann, und er steckt neuerdings selbst so tief in finanziellen und industriellen Unternehmungen, daß ihm der Gedanke, mit Eueren Kreisen in nähere Verbindung zu treten, kaum abstoßend sein wird.“
„Ja,“ sagte Emil leiser, indem er einen raschen Blick ringsum warf, „das hätte ich beinahe über meinen Angelegenheiten vergessen – darüber wollte ich noch mit Dir reden, ganz abgesehen von meinen eigenen Hoffnungen und Wünschen.“ Er drehte ein paar Augenblicke die Cigarre zwischen den Fingern und sagte dann: „Es kommt mir vor, als ob sich allerlei Wolken über dem Grafen zusammenzögen!“
„Wieso?“ fragte Richard erstaunt.
„Ich kann es Dir auch nicht genau sagen; nur so viel weiß ich, er macht schlechte Geschäfte, und kann auf die Länge den bisherigen Train nicht fortführen. Eckartshausen ist bereits verkauft –“
„Eckartshausen, der Lieblingsaufenthalt der Gräfin?“
Emil nickte. „In den letzten Tagen. Anderes wird, fürchte ich, nachfolgen.“
„Aber um Gotteswillen, woher weißt Du denn –“
„Durch einen Zufall,“ sagte Emil aufstehend, indem er nach seinem Paletot griff. „Höre, verkehrt hier nicht ein gewisser Treiber öfter in Geschäften mit dem Grafen?“
„Ein Galgengesicht mit devoten Bücklingen und unterthänigen Redensarten?“
„Derselbe. Ihn sollte der Graf je eher, je lieber kopfüber zum Hause hinauswerfen; ich fürchte, er wird mit diesem Rathgeber bei seinen neuen industriellen Unternehmungen die schlechtesten Erfahrungen machen; ich habe Grund, ihn für einen gewissenlosen Schurken zu halten; ja, ich vermuthe sogar, daß er es direkt auf den Ruin des Grafen abgesehen hat.“
Richard war ziemlich betreten. Er erinnerte sich, daß noch vor einigen Tagen der Graf lobend von der „Gewandtheit“ des Menschen gesprochen hatte.
„Darf ich von Deinen Worten Gebrauch machen?“ fragte er endlich.
„Aber ohne meinen Namen zu nennen,“ erwiederte Emil. „Wenn der Graf ihn erführe, müßte er doch zunächst an den Einfluß meines Vaters denken, und da dieser gar nicht betheiligt ist, steht es mir nicht zu, ihn zu kompromittiren. Aber die Sache verhält sich so. Warne den Grafen, warne ihn nachdrücklich, es ist Ursache dazu.“
Er drückte dem Freunde die Hand zum Abschied und sagte, indem er sich zum Gehen wandte:
„Ich möchte der Gräfin noch meine Aufwartung machen. Finde ich Jemand draußen, um mich zu melden?“
„Ich will gleich nachsehen,“ erwiederte Richard; „komm nur einstweilen mit hinüber.“
Dann kehrte er, während Emil dem voraneilenden Diener in den Seitenflügel folgte, nach seinem Zimmer zurück. Die neue Abhandlung, von einem bedeutenden Zoologen geschrieben, in der er heute nach Tisch eine Stunde lang mit großem Interesse gelesen, lag noch an derselben Stelle aufgeschlagen, und mechanisch setzte er sich wieder daran. Aber eine Viertelstunde um die andere verging, ohne daß er eins der engbedruckten Blätter umwandte; seine Augen hafteten an den Zeilen; aber es war ihm unmöglich, auch nur den Sinn einer einzigen zu erfassen. Vergebens versuchte er, seine Gedanken mit Gewalt auf die Lektüre zu lenken; sie kehrten augenblicklich zu ihrem Ausgangspunkt zurück und zergliederten rastlos alles heut Erlebte in selbstquälerischer Schärfe. Er wollte soweit kommen, das „natürliche Ende“, Gabrielens und Emil’s Verbindung, mit ganz ruhigen Augen anzusehen. Aber, er kam nur soweit, mit einem unwillkürlichen Aufseufzen endlich halblaut zu sagen: „Es muß sein. Ich melde mich sofort um die Stelle für das Aquarium, hoffentlich ist sie noch frei.“
Der gefaßte Entschluß hat immer eine erlösende Kraft. Ruhig und ohne weiteres Grübeln holte sich Richard Papier und Feder, und bald war seine Aufmerksamkeit vollständig von dem Schreiben in Anspruch genommen, das er mit festen Zügen begann.
[462]
Das Vorzimmer, durch welches Doktor Reiter seinen Freund hinausbegleitet, hatte kurze Zeit leer gestanden; dann öffnete sich die Thür wieder, und in der Spalte erschien erst ein dunkler Kopf, welcher sich vorsichtig mit lebhaften Augen umsah, ehe der zu demselben gehörige Körper mit schlängelnder Bewegung nachfolgte.
Es war der Mann, dessen eben noch der junge Felsing so verachtungsvoll gedacht hatte: der Agent Treiber.
„Niemand da!“ begann er verdrießlich; „der Diener sagte mir doch, ich werde den Herrn Grafen hier treffen. Nun, ich kann warten.“
Wohl um die Zeit des Wartens abzukürzen, begab sich Treiber an das offene Fenster und schaute aufmerksam nach dem Parke hinunter. Er berechnete dabei im Kopfe, wie viele Bauplätze etwa aus demselben „herauszuschneiden“ wären und was dieselben [463] wohl werth sein könnten, ohne zu vergessen, was überdies noch aus dem Holz der prächtigen Bäume zu lösen wäre. Dann ging er zu einer genauen Musterung des Zimmers über. Er betrachtete und taxirte die Pendule über dem Kamin, die Bilder an den Wänden, betastete die Stoffe der Möbel und Gardinen und war so in seine Untersuchungen vertieft, daß er erschrocken zusammenfuhr, als hinter ihm plötzlich die Worte ertönten: „Nun, Herr Treiber, was machen Sie hier?“
Es war ein Bureaudiener, welcher einige Wechsel der Bau- und Bodengesellschaft dem kürzlich gewählten Vorsitzenden des Verwaltungsraths, Grafen Erich, zur Genehmigung und Unterschrift gebracht hatte und dies nun dem neugierigen Agenten auf sein Befragen auseinandersetzte.
„Lassen Sie doch einmal die Wechselchen sehen, lieber Herr Maier! Richtig, ja: der Gesellschaftsstempel – allgemeine Bau- und Bodengesellschaft – ein hübsches Stempelchen – und darunter: Graf Erich Hochberg-Eckartshausen. Hm! Merkwürdig, was jetzt für vornehme Herren bei den Geschäftchen mitmachen!“
Die Wechsel schienen den Agenten ausnehmend zu interessiren; er schaute sie lange unverwandt an, und ein angenehmer Gedanke schien ihm dabei zu kommen; denn er schmunzelte mit einem Male ganz vergnügt.
„Nun ist’s aber genug,“ meinte der Diener und nahm sie ihm aus der Hand, „hätte die Papiere eigentlich gar nicht zeigen sollen. Guten Tag, Herr Treiber! Gute Geschäfte!“
Damit ging er fort und ließ den Agenten wieder allein mit seinen Betrachtungen. Es dauerte aber nicht lange, so erschien unter der Thür des Nebenzimmers Graf Erich.
„Nun, was bringen Sie, Treiber?“ redete er den plötzlich in die lebhafteste Bewegung gerathenen und sich unaufhörlich verbeugenden Agenten an.
„Unterthänigster Diener, Herr Graf! Da Eure Excellenz neulich meinten, Sie könnten unter Umständen brauchen einen kleinen Posten –“
„Kommen Sie herein,“ unterbrach Graf Erich den Wortschwall des Agenten. Und kaum hatte sich die Thür geschlossen, so fragte er hastig: „Haben Sie das Geld?
„Gott,“ erwiederte dieser, „wenn ich das Geld hätte! Aber ich hab’s nicht, Herr Graf! Schwere Zeiten! Die Papiere gehen immer weiter herunter, und man wird so viel betrogen von schlechten Leuten!“
„Nun,“ erwiederte der Graf mit einer ungeduldigen Bewegung, „wenn Sie nichts haben –“
„Erlauben Excellenz,“ beeilte sich Treiber zu versichern, „wenn ich auch das Geld nicht habe, und ich hab’s wahrhaftig nicht, –“ er legte dabei betheuernd die Hand aufs Herz – „so kenn’ ich doch einen Mann, ’s ist ein braver, ein rechtlicher Mann, der Excellenz könnte das Geld verschaffen.“
„Was verlangt er?“ frug der Graf kurz.
„Verlangen? Gott, Herr Graf, er verlangt gar nichts; der Mann behält ja lieber seine Papiere, die er müßte verkaufen mit großem Verlust. Aber wenn Excellenz den Posten von sechzigtausend Thalern nothwendig haben müssen auf drei Monate, muß er berechnen dreißigtausend Thälerchen Provision!“
„Aber das ist ja enorm!“ rief der Graf aus.
„Es ist viel, Herr Graf,“ erwiederte Treiber, seinen Hut streichelnd, „und es ist nicht viel, wie man’s nimmt. Der Herr Graf könnten das Geld wohl billiger haben, wenn –“
„Nun?“
„Wenn der Herr Graf die Herrschaft Hochberg verkaufen wollten –“
„Nein,“ erwiederte Graf Erich bestimmt, „davon kann keine Rede sein.“
„Oder wenn der Herr Graf wollten errichten lassen eine Hypothek auf dieses Haus.“
„Nein, auch daran ist nicht zu denken. Das Haus gehört überdies der Gräfin. Wenn Sie mir das Geld nicht ohne Wechsel schaffen können –“
„Ohne Bürgen, Herr Graf?“ warf Treiber mit weinerlichem Tone ein.
Graf Erich nickte bejahend.
„Nun, sehen Sie, Herr Graf,“ fuhr Treiber fort, „ohne Bürgen, das ist so ’ne Sache! Wir sind Alle sterblich – man weiß nie, was passiren kann, und sechzigtausend Thaler ist ein Wort – und das Geld ist rar! Aber mein Mann – es ist ein rechtlicher Mann – würde dem Herrn Grafen auf seine Unterschrift das Geld schaffen, wenn – wenn der Herr Graf auf dem Wechsel über seinem Namen das Stempelchen der Baugesellschaft abdrucken würden!“
Der Agent sah den Grafen mit listigem Lächeln an.
„Was fällt Ihnen ein? Die Gesellschaft braucht ja kein Geld durch Ihre Vermittlung. Ich will das Geld für mich persönlich.“
„Weiß ich, Herr Graf, weiß ich; aber was schadt’s, wenn Sie das Stempelchen doch aufdrucken auf dem Wechsel! Wenn mein Mann das Stempelchen sieht, giebt er das Geld her, und ich behalte den Wechsel in Verwahrung, bis ihn der Herr Graf wieder einlösen am Verfalltage.“
Graf Erich stand eine Weile sprachlos über die Frechheit des Agenten, der ihm einen solchen, auf offenbare Fälschung hinauslaufenden Vorschlag zu machen wagte. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, dann aber erhob er seinen Stock und rief: „Hinaus! Hinaus!“ Und er rief es mit solcher Heftigkeit, daß Treiber, blaß vor Schrecken, mit einigen verzweifelten Sätzen, die jeden unbefangenen Zuschauer in die heiterste Stimmung versetzt hätten, seine rundlichen Glieder zur Thür hinaus in Sicherheit brachte.
„Elender Schuft!“ murmelte der Graf halblaut zwischen den Zähnen, während er in heftiger Aufregung auf- und abschritt. Es war viel, was heute dem sonst so gelassenen und heiteren Manne drohend vor der Seele stand und keinen Augenblick mehr weichen wollte. Seine Blicke wanderten unruhig in dem eleganten, behaglich eingerichteten Raum umher, als suche er in seinem gesicherten Frieden Beistand gegen die Gewalten, die ihn bedrängten. Es schien ja fast unmöglich, sich nach langen Jahren des ruhig vornehmen Besitzes nun mit einem Male in einer so peinlichen Situation zu befinden. Alles um ihn her war unverändert; wie gestern sank sein Fuß in den weichen Teppich ein; dort glänzten die goldgepreßten Bücherrücken aus den Mahagonischränken heraus; gegenüber hing der große Ruysdael, den er so oft und gern von seinem Rauchsessel aus betrachtete – Alles das war sein, gehörte ihm wie Hand und Auge – und konnte ihm doch möglicherweise entrissen werden, wenn Schlimmes zum Schlimmen kam!
„Pah, so weit sind wir noch nicht,“ tröstete er sich selbst. „Aber – wenn ich nun auch die Summe für Eckartshausen habe, so reicht das eben nur für meine und Hugo’s Schulden. Der verdammte Junge! Muß das auch schon Geld verlieren! Und dann –“ die Hand des Grafen preßte sich gegen seine Stirn, als er ruhlos weiter schritt, „dann kommen die neuen Verpflichtungen; es ist ja unglaublich, wie rasch so ein Stoß Rechnungen wächst. Wir brauchen hier jetzt das Doppelte wie früher, und noch ist Gabriele nicht einmal bei Hofe vorgestellt; wo soll das hinaus? Aber das ginge ja Alles noch, wenn nicht –“ der Graf warf sich unmuthig in seinen Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und starrte vor sich hin. Er sah ihn wieder, den schlimmen Abend im Klub, wo er sich einem „kleinen Jeu“ nicht hatte entziehen können und wo es vom Gewinn zum Verlust, zum großen Verlust gegangen war … sechzigtausend Thaler, zahlbar in den nächsten Tagen an Karkow …
Er fuhr wieder empor und begann die rastlose Wanderung von Neuem. Jeder peinliche Gedanke wurde von einem noch peinlicheren abgelöst. In seiner Verlegenheit hatte er sich gestern – wenn auch bitter ungern – an Felsing gewandt und bis jetzt keine Antwort erhalten. Er empfand neben aller Angst über die Entscheidung diese Rücksichtslosigkeit sehr scharf.
„Im Nothfalle muß auch Hochberg verkauft werden,“ gingen jetzt die unerfreulichen Gedanken weiter. „Freilich geht so eine Besitzung um die andere in fremde Hände, aber – was will ich denn? – Die Zeiten des Adels sind nun einmal vorüber! Den Gründern und Spekulanten gehört heute die Welt!“
Er lachte bitter auf, hielt aber plötzlich in seinem Lauf inne und richtete sich stramm empor, als die Thür geöffnet wurde und der Diener unter der Portiere erschien: „Es sind zwei Herren aus Hochberg hier, welche bitten, dem Herrn Grafen ihre Aufwartung machen zu dürfen.“
„Aus Hochberg?“ wiederholte dieser erstaunt. „Mögen sie eintreten!“
Im nächsten Augenblicke standen ihm die wohlbekannten Figuren seines Schultheißen und Pfarrers gegenüber, und auch [464] der schärfste Beobachter hätte keine Spur von Aufregung mehr in der Art finden können, mit welcher der Graf auf die Beiden zuging und ihnen freundschaftlich die Hand entgegenstreckte.
„Nun, das ist hübsch, Hochwürden, daß wir Sie auch einmal in der Residenz sehen. Legen Sie den Hut ab, Herr Bürgermeister, und lassen Sie mich wissen, worin ich Ihnen dienen kann. Denn ohne besondere Veranlassung sind Sie sicher nicht da!“
Der bäuerliche Bürgermeister, dem hinter seinen beiden Ackergäulen bedeutend wohler war als auf dem dunkelrothen, schwerbetroddelten Armsessel, auf den er sich kaum zu setzen wagte, hustete einige Male verlegen und betrachtete respektvoll die Bilder an den Wänden und die schweren Metallgeräthe des gräflichen Schreibtisches, der Pfarrer aber, der im Hochberger Schlosse ein häufiger und gern gesehener Gast war, sagte einfach:
„Wir haben es für unsere Pflicht gehalten, Herr Graf, uns um Aufklärung an Sie selbst zu wenden in einer Angelegenheit, welche seit einigen Tagen die Gemüther in Hochberg sehr beunruhigt.“
Der Graf machte eine verbindliche Handbewegung; der gute Pfarrer aber empfand eine kleine Schwierigkeit, nach diesem wohlstudirten Eingang gleich zur Sache zu kommem und beeilte sich deßhalb, unter dem fragenden Blick des Grafen hinzuzufügen:
„Sie wissen, gnädigster Herr, wie die Gemeinde an Ihnen und dem hochverehrten gräflichen Hause hängt; es ist ihr wohlbekannt, wie vielen Dank wir Ihrer Güte schulden, wie alle unsere neuen guten Einrichtungen, das Schulhaus, das Pfründnergebäude –“
„Aber, lieber Herr Pfarrer,“ wehrte Graf Hochberg ab.
„Das Pfründnergebäude,“ fuhr dieser gleichwohl unbeirrt fort, „sowie die Zutheilung von Holz und Streu an die Ortsarmen und unzählige andere Wohlthaten nur Ausflüsse Ihrer Großmuth sind, und jeder einzelne Bewohner von Hochberg fühlt sich dadurch unserem gnädigen Herrn Grafen aufs Tiefste verpflichtet.“
„Aber ich bitte Sie, lieber Herr Pfarrer, wozu dies Alles?“ warf Graf Hochberg freundlich ein.
„Um gleichsam unsere Unbescheidenheit zu entschuldigen, wenn wir uns jetzt erlauben, die Frage an den Herrn Grafen zu richten, derentwegen wir gekommen sind. Wir haben nämlich gehört, daß Eckartshausen verkauft worden ist … und so … so ist in der Gemeinde die Befürchtung entstanden, der Herr Graf könnten sich auch Ihrer Besitzung Hochberg entäußern wollen, was wir allesammt als ein großes Unglück für uns ansehen müßten …“
Beide Männer hingen gespannt an den Zügen des Grafen, die eine gewisse Verlegenheit zeigten. Er antwortete nicht sogleich, und so war der Pfarrer gezwungen, weiter fortzufahren:
„Verzeihen Sie, Herr Graf, daß wir uns überhaupt unterstehen, an diese Dinge zu rühren. Aber neben der Angst vor der Aenderung treibt uns noch der Gedanke, daß … es giebt Verhältnisse … wo man so etwas auch von der finanziellen Seite betrachtet … und für diesen Fall haben der Herr Bürgermeister und ich überlegt, ob man nicht ein Arrangement treffen könnte – mit den Gemeindewaldungen etwa –“
Aber weiter ließ ihn der Graf nicht kommen. Wie von einer Feder geschnellt, fuhr er empor, und er, der noch eben in Gedanken angstvoll alle Möglichkeiten einer Hilfe erschöpft hatte, sagte jetzt in heiterem Tone und mit der gewinnenden Freundlichkeit, die ihm zur zweiten Natur geworden war:
„Nein, meine lieben Freunde, so schlimm steht es doch nicht mit mir. Ich habe Eckartshausen verkauft, weil mir die Verwaltungsgeschäfte zu anstrengend wurden. Von Hochberg aber,“ fuhr er rasch fort, von einem unwiderstehlichen Impulse getrieben, der jede andere Ueberlegung verdrängte, „von Hochberg denke ich mich nicht zu trennen, so lange ich lebe, und ich freue mich sehr, Sie Beide diesen Sommer wieder draußen zu begrüßen. Sagen Sie das unseren guten Hochbergern und haben Sie herzlichen Dank für Ihre treue Anhänglichkeit!“
Die beiden Männer blickten bewundernd auf ihren schönen imposanten Herrn, und ihm selber schien es, während er lebhaft und heiter sprach, als ob seinen Worten eine bestätigende Kraft innewohne: so mußte der Herr von Hochberg sprechen, und mit diesem Herrn konnte es so schlimm nicht stehen.
Als aber der Pfarrer und der Bürgermeister sichtbar erleichtert sich unter vielen Bücklingen entfernt hatten, verflog allgemach die gehobene Stimmung des Grafen und die unerfreuliche Wirklichkeit trat wieder vor ihn hin, noch verschärft durch die Versicherung, durch die er sich so unbesonnen gebunden. Nicht unbesonnen ... er hatte nicht anders reden können diesen einfachen braven Leuten gegenüber, er konnte sich doch wahrhaftig nicht durch ein Anerbieten beschämen lassen, das – nein, nein, dieser Ausweg war unmöglich, es handelte sich jetzt nur darum, einen andern zu finden!
Ein Diener trat ein, auf dem silbernen Plateau ein großes Kouvert tragend.
„Von Felsing!“ Hastig öffnete der Graf und durchflog den Brief, um ihn gleich darauf zornig zu Boden zu werfen. Felsing refüsirte mit ausgezeichneter Höflichkeit und aufrichtigstem Bedauern. eigene Verpflichtungen und die Schwierigkeit, im Augenblick größere Summen flüssig zu machen waren als Gründe angegeben. „Ausflüchte, elende Ausflüchte,“ murmelte der Graf empört vor sich hin. „Als ob die Herren nicht trefflich verstünden, Gelder flüssig zu machen, wenn es gilt, dem Adel seine Güter wegzukaufen! Er will nicht, das ist augenscheinlich.“
Aber da lag ja noch ein zweiter Brief von seinem eigenen Bankier. Der Graf erbrach ihn und las:
„Hochgeborener Herr Graf! Nachdem der Kurs der für Sie gekauften und in Depot gelegten fünfhundert Stück Aktien der Bau- und Bodengesellschaft heute auf dreißig zurückgegangen ist, erlauben wir uns, entsprechend der Geschäftsordnung unseres Hauses, Euer Hochgeboren um gefällige Deckung der zu Ihren Lasten entstandenen Differenz von siebzigtausend Thalern höflichst zu ersuchen.“
Der Graf ließ das Blatt sinken, seine Augen starrten darauf, ohne den Sinn augenblicklich zu fassen. Siebzigtausend Thaler! Es dauerte sekundenlang, bis er seine Gedanken gesammelt hatte, dann aber kam eine heiße Entrüstung über ihn. Was! Als man ihn in den Verwaltungsrath der Bank hineinzog und ihm die Aktien gewissermaßen aus Erkenntlichkeit zum Kurs von hundert überwies, da hatte man ihm goldene Berge versprochen und ihm erst kürzlich noch gesagt, er solle sich wegen des Sinkens nicht beunruhigen, man werde seine Aktien unter allen Umständen halten. Und nun – eine solche Infamie!
Ein plötzlicher Anfall von verzweiflungsvoller Angst faßte den rathlosen Mann; es war ihm zu Muthe wie dem Schwimmer, der, gegen Wind und Wellen ringend, zum ersten Male den deutlichen Gedanken seines Unterganges fühlt. Es litt ihn nicht mehr in dem stillen Zimmer, er griff hastig nach Hut und Stock; er wollte hinaus, gleichviel wohin – und prallte an der Thürschwelle beinahe mit dem Agenten Treiber zusammen, der offenbar sehr nahe der Thür schon seit einiger Zeit gestanden hatte und nicht sofort eine unbefangene Haltung finden konnte.
„Sie hier?“ sagte stirnrunzelnd der Graf, indem er zurücktrat. „Was wollen Sie?“
„Unterthänigster Diener, Excellenz,“ erwiederte der Agent; „ich wollte nur anfragen, ob Sie sich die Sache überlegt haben wegen der sechzigtausend Thaler?“
„Ich habe Ihnen schon gesagt,“ erwiederte der Graf etwas weniger rauh, „daß ich bereit bin, die Provision zu zahlen.“
„Schön, Herr Graf,“ schmunzelte Treiber. „Und Excellenz würden das Wechselchen ausstellen mit der bekannten Unterschrift und dem Stempelchen?“
„Nein,“ erwiederte Jener mit einiger Anstrengung. „Sie wissen wohl, daß ich dies nicht kann, weil es eine Fälschung wäre, ein Betrug. Ich will davon nichts mehr hören!“
„Eine Fälschung!“ wehklagte der Agent – „ein Betrug! Gott, was für ungute Worte! Wen sollten der Herr Graf denn betrügen? Wenn ich das Wechselchen kaufe und dabei weiß, was ich kaufe, betrügen der Herr Graf etwa mich? Und wenn der Herr Graf das Wechselchen wieder einlösen in zwei Monaten, betrügen der Herr Graf etwa die Bau- und Bodengesellschaft? Und wenn kein Mensch etwas erfährt von der ganzen Geschichte, wer will etwas dagegen haben?“
„Aber warum bestehen Sie denn so hartnäckig auf dem Stempel?“ versetzte der Graf ungeduldig.
„Warum ich darauf bestehe? Gott, Herr Graf, es ist so eine Art von Gefühlssache, Excellenz! Gewiß und wahrhaftig, der Herr Graf sind mir gut für eine Million, und die Unterschrift des Herrn Grafen ist mir auch gut! Aber wenn man sechzigtausend Thaler [466] auf ein einfaches, kleines Blättchen Papier gegeben hat, dann kommen Einem doch auch unruhige Stunden, und sehen Sie wohl, Herr Graf, da wäre ich dann ruhiger, wenn ich würde sehen das Stempelchen auf dem Papier!“
„Genug davon,“ rief jetzt der Graf ärgerlich; „ich kann Ihr Geld so nicht brauchen, Sie können gehen!“
„Schade, Herr Graf,“ seufzte gefühlvoll der Agent. „Ueberlegen Sie sich die Sache, Excellenz, und wennn Sie mich wollen rufen lassen, das Geld liegt parat!“
Damit drückte er sich, diesmal bei Weitem zuversichtlicher und vergnügter, zur Thür hinaus.
[479]
Mir bleibt immer noch ein Ausweg,“ sagte eine Stunde später Graf Hochberg, als er, von einem Gang ins Freie zurückkehrend, sein Haus wieder betrat. Er trug den Kopf hoch und sein Schritt klang fest und sicher. Der kurze Aufenthalt draußen hatte ihm wohlgethan. Bekannte waren ihm begegnet, auch Prinz Ottokar, der seinen Arm in den des Grafen schob und plaudernd ein paar Straßen weit mit ihm ging. Der Anblick des tausendgestaltigen fremden Lebens hatte ihn von seinen innern Konflikten abgezogen; sie erschienen ihm jetzt nicht mehr so schlimm, wie vorher in seinen einsamen vier Wänden. „Was da! – Ein Schnitt ins Fleisch, wird freilich im Anfange schmerzen, aber man gewöhnt sich allmählich daran. Heute Abend noch muß ich damit ins Reine kommen, ich könnte mit diesem Druck auf der Brust nicht schlafen. Friedrich,“ wandte er sich an den entgegenkommenden Diener, „sehen Sie nach, ob die Gräfin zu Hause ist.“
Und ohne die Meldung des Mannes abzuwarten, ging er ihm auf dem Fuße nach, durch den Korridor, hinüber nach dem Zimmer seiner Frau.
Es herrschte schon fast Dämmerung in dem hohen Raum voll reicher Möbel und Luxusgeräthe, den die Veilchen und Hyacinthen der Blumentische und Jardinièren durchdufteten. Zwischen den schweren Fenstervorhängen herein fiel der letzte Abendschein auf die Chaise longue und die darauf ausgestreckte schöne Frau, deren Angesicht unbeweglich dem Himmel draußen zugekehrt war. Sie schien so tief in Gedanken verloren, daß sie den leise Eintretenden nicht bemerkte.
„Claire!“ sagte er halblaut.
„Ach, Du bist es, Erich!“ erwiederte sie überrascht, sich aufrichtend, „wie kommst Du denn zu dieser Stunde hierher?“
„Das klingt ja gerade, als käme ich Dir ungelegen,“ erwiederte er scherzend, indem er, sich über sie beugend, einen flüchtigen Kuß auf ihren Scheitel drückte und dann einen Stuhl an ihre Seite zog.
„Wie kannst Du das denken! Du kommst nur ein wenig überraschend – und das nicht ohne Deine eigene Schuld,“ sagte die Gräfin in leichtem Ton, indem sie ihn lächelnd ansah. Aber in demselben Augenblick erschrak sie über die angegriffenen und sorgenvollen Züge ihres sonst so schönen und stattlichen Gemahls. „Es ist Dir etwas Besonderes begegnet, Erich!“ rief sie angstvoll. „Was hast Du? Du erschreckst mich!“
Er legte sich in den Schatten zurück. „Nein, nein! Beruhige Dich! Ich habe allerdings widerwärtige Geschäfte gehabt. Eins gab dem Andern die Thür in die Hand. Das hat mich auch verhindert, Dir gestern schon die unangenehme Geschichte mit Eckartshausen näher zu erklären. Es war mir bitter leid – ich wußte, daß Dir der Verkauf nahe gehen würde, verschob deßhalb die Mittheilung auf eine günstige Stunde, und nun muß die Indiskretion jenes albernen Weibes –“
„Nein nein,“ fiel die Gräfin ein, „Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen, es ist ja Dein Recht, jede derartige Veränderung zu treffen. Ueberrascht freilich hat es mich, das kann ich nicht leugnen, aber nur, weil ich nie an eine Möglichkeit dachte, Eckartshausen zu verlieren. Mein Herz hing gar zu sehr an dem alten guten Schloß.“ Sie sagte die letzten Worte mit zitternder Stimme.
„Ich weiß, ich weiß,“ sagte ihr Gemahl etwas unbehaglich. „Aber der Aufenthalt hatte doch auch seine bedeutenden Schattenseiten.“
„Ich fühlte sie nicht,“ erwiederte sie einfach. „Mir war Eckartshausen der liebste Ort auf der Welt, wegen der Erinnerungen, die er für mich birgt an unsere ersten Ehejahre, wo wir uns noch so nahe standen – und so glücklich waren!“
Der Graf biß sich den schönen lockigen Bart; diese Wendung des Gespräches kam ihm unbequem.
„Aber ich bitte Dich, liebes Kind –“
„Nein sei unbesorgt, ich werde das Thema nicht fortsetzen; ich weiß, daß die Zeiten sich ändern. Ich mache Dir auch keinen Vorwurf über den Verkauf, aber seit gestern quält mich eine unbestimmte Furcht über die Veranlassung dazu. Sollten es am Ende … pekuniäre Verlegenheiten sein, die Dich zu dem Entschlusse brachten?“ Sie richtete sich auf und sah ihm angstvoll forschend in die Augen.
Er athmete auf, erleichtert, daß ihm die Einleitung erspart blieb.
„In der That,“ erwiederte er rasch, „unsere Verhältnisse haben sich etwas brouillirt. Ich bin in der letzten Zeit – ich weiß kaum wie – in allerhand Geschäfte und Spekulationen hineingerathen, von welchen ich eigentlich nichts verstehe und die mich nun drücken.“
[482] „Ich bemerkte es wohl,“ sagte die Gräfin in sanftem Tone, „und machte mir längst meine Gedanken darüber; aber da ich gewohnt bin, mich in Deine Angelegenheiten nicht zu mischen, sprach ich nicht davon. Die Kreise, in denen wir neuester Zeit verkehren mußten, waren mir allerdings sehr unsympathisch.“
„Mir nicht minder,“ stimmte der Graf lebhaft bei. „Ah, ich wollte, ich wäre nie in Berührung mit diesen Leuten gekommen! Aber es war ja unmöglich, sich abzuschließen; das Spekulationsfieber lag in der Luft, und sie drängten sich Einem förmlich auf, sich selbst und ihre enormen Spekulationsgewinne. Das ist nun freilich rasch genug anders geworden!“
Der Graf hielt inne und blickte verlegen zu Boden. Es war doch schwerer noch als er glaubte, seiner Frau die ganze schlimme Situation mitzutheilen.
Aber auch die Gräfin schien mit einem Entschlusse zu kämpfen, dessen Ausführung ihr schwer wurde. „Du bist in Verlegenheit, Erich?“ begann sie nach einer Pause. „Ich dacht’ es mir wohl und spürte es auch an dem Benehmen einzelner Lieferanten, die fast unhöflich wurden. Laß gut sein, Erich, und verdirb Dir nicht die Laune dadurch! Das wird sich ja Alles geben! Mir thut es nur leid, daß auch ich Dir Unannehmlichkeiten bereiten muß!“
„Du, Claire, Du?“ – der Graf lächelte ungläubig – „Du bist wie immer die beste und liebenswürdigste aller Frauen, und ich betrachte es als ein wahres Glück, daß wir endlich auf diese Dinge zu sprechen kamen, meine liebe süße Claire!“
„Ei, ei! Das klingt ja fast wie eine Liebeserktärung,“ scherzte die Gräfin. „Nimm Dich in Acht, Erich, daß ich die Sache nicht ernst nehme!“
Graf Erich umarmte seine Gemahlin und küßte sie zärtlich. „Das sollst Du auch, mein süßes Weib,“ sagte er dann, „es ist mir vollständig ernst. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen, liebe Claire. Das Leben in der Residenz mit seinen großen Anforderungen und Zerstreuungen ist mir nachgerade gründlich zuwider geworden, und wenn Du denkst wie ich, so brechen wir hier unsere Zelte ab, ziehen uns auf Schloß Hochberg zurück und kommen Winters nur auf kurze Zeit hierher, um uns bei Hofe zu zeigen. Was die Kinder betrifft, so haben wir ja für Hans jetzt einen vortrefflichen Erzieher; für Gabriele nehmen wir Mademoiselle Renard mit. und im Uebrigen hat sie ja in Dir, meine liebe Claire, die allerbeste Erzieherin, die man sich nur denken kann.“
„Du bist parteiisch, lieber Erich,“ sagte die Gräfin geschmeichelt, „aber ich freue mich herzlich Deines Entschlusses. Glaube mir, ich ziehe das Leben in Hochberg mit Dir und den Kindern bei Weitem all’ den hiesigen Vergnügungen vor, die ja auf die Dauer doch nicht befriedigen. Wie hübsch soll das werden, wenn mir Abends dort gemüthlich um den großen Kamin im Speisezimmer sitzen!“
„Ja,“ stimmte der Graf heiter ein, „und ich freue mich schon auf die schönen Jagden. Der Wildstand war immer gut und muß jetzt brillant sein. Und die Leute dort – sind so anhänglich an uns! Erst vor einer Stunde waren Pfarrer und Schultheiß hier, um mir ihre Aufwartung zu machen.“
„Ich habe es gehört. – Gewiß, wir werden uns dort sehr wohl fühlen.“
„Und dann, liebe Claire,“ fuhr Graf Erich fort, „das Haus hier, denke ich, verkaufen wir. Wenn wir immer nur auf kurze Zeit hierher kommen, wohnen wir bequemer im Hôtel. Wir müßten ja einen Verwalter hier lassen, und überhaupt: es wäre eine Last. Bist Du einverstanden?“
„O gewiß, und um so mehr, als ich mit dem Verkauf einen besondern Zweck verbinde.“
Der Graf stutzte bei diesen Worten seiner Frau.
„Einen besondern Zweck?“ sagte er kleinlaut.
„Ja,“ erwiederte die Gräfin in etwas verlegenem Tone; „ich wollte Dich um Deine Genehmigung bitten, eine größere Summe auf das Haus aufnehmen zu dürfen. Justizrath Hennings, mit dem ich darüber sprach, sagte mir, das ginge wohl an.“
„Aber wie kommst Du dazu?“ fragte aufs Höchste erstaunt der Graf.
„Das eben ist die unangenehme Mittheilung, die ich Dir machen muß, vor der ich mich so sehr scheute; aber jetzt, lieber Erich, nachdem Du mir Deine Pläne mitgetheilt, wird es mir viel leichter. Ich habe Nachrichten von Eugen erhalten.“
„Eugen hat geschrieben? Ich sah doch keinen Brief von ihm –“
„Er hat mir den Brief durch Breda überbringen lassen.“
„Durch Breda? Warum schreibt der Junge nicht direkt an Dich, oder an mich, seinen Vater?“
„Das ist es ja eben; er fürchtete, seine Nachrichten könnten Dich in Aufregung versetzen. Er war wieder leichtsinnig –“
„Dacht’ ich mir’s doch!“ rief der Graf, sich erhebend, zornig aus. Er stieß den Sessel zurück und begann heftig im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Aber Du weißt ja, Erich, im Grunde ist er doch ein guter Mensch. Es sind Jugendthorheiten. er wird sich nun gewiß ändern!“
Die Gräfin sah bittend zu ihrem Gemahle empor.
„Nun ja, ich kenne Deine Schwäche für ihn. Er war ja immer Dein Liebling,“ sagte in unwirschem Tone der Graf.
Die Gräfin schwieg. Sie wollte und konnte nicht widersprechen
„Er hat natürlich wieder Schulden gemachte“ begann der Graf wieder.
Die Gräfin nickte bejahend.
„Wie viel?“
„Es ist ziemlich viel,“ erwiederte sehr kleinlaut und zaghaft die Gräfin – „vierzigtausend Thaler.“
„Vierzigtausend Thaler!“ schrie der Graf auf. „Das ist ja unerhört!“
„Du hast Recht. Erich, es ist unverantwortlich, und die Nachricht hat auch mich aufs Aeußerste betrübt. Ich habe ihm schon ernstlich geschrieben, daß das nicht so fortgehen könne, daß er sich ändern müsse; aber zunächst können wir ihn doch nicht stecken lassen, und da ich fürchtete, daß die Summe Dich geniren würde, so sprach ich eben mit unserem Notar, ob dieselbe nicht auf das Haus, das Du ja meiner Verfügung überlassen, aufzunehmen wäre. Der Justizrath meinte, das ginge sehr leicht, und nun, wenn wir uns nach Hochberg zurückziehen und das Haus verkaufen wollen, wird es ja noch leichter gehen.“
„Ja, ja, es wird leichter gehen.“
Der Graf hatte den Kopf gesenkt und sprach diese Worte in einem so erloschenen Tone, daß es der Gräfin auffiel.
„Was ist Dir, Erich?“ sagte sie besorgt.
„Nichts, nichts!“ beschwichtigte Graf Erich. „Die Nachrichten von Eugen haben mich etwas aufgeregt; aber ich sehe wohl ein, daß geholfen werden muß.“
Ein Lächeln der Befriedigung ging über das Gesicht der Gräfin. „Du bist also einverstanden, daß ich, da die Sache eilt, die Summe auf das Haus aufnehmen lasse? Eugen muß das Geld umgehend haben.“
„Gewiß, gewiß, es ist das Vernünftigste.“
„Nun denn,“ sagte sie hocherfreut, wie von einer Last befreit, „so will ich den Justizrath rufen lassen. Und es bleibt dabei: wir gehen nach Hochberg?“
„Gewiß, meine Claire.“
Graf Erich küßte seine Gemahlin auf die Stirn und wandte sich dann, um das Zimmer zu verlassen. Es war gut für sie, daß sie sein Gesicht in diesem Augenblick nicht sehen konnte.
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Völlig geistesabwesend, von dem neuen Schlag wie betäubt, schritt der Graf durch den langen Korridor nach seinem Zimmer hinüber. Ein Diener sprach ihn an; er sah ihm ins Gesicht, ohne die Worte zu verstehen, und ging weiter. Plötzlich fuhr er beim Eintritt in das Vorzimmer zurück, als habe er ein Gespenst gesehen.
Unterthänig lächelnd stand dort wieder der Agent Treiber und sah sich den Grafen an, der im Tone des Schreckens herausstieß:
„Sie? Schon wieder hier?“
Der Agent schwieg noch eine Weile. Dann trat er nach dem Grafen, der vorausgehend die Thür offen gelassen hatte, in sein Arbeitszimmer und sagte mit leiser Stimme, bedächtig, schmeichlerisch:
„Haben der Herr Graf sich die Sache überlegt?“
Der Graf versuchte zu sprechen. Er fand keine Worte. Ein schwerer, verzweifelter Kampf tobte in seinem Innern. Seine Brust hob und senkte sich krampfhaft.
„Es geht nicht!“ keuchte er endlich.
„Erlauben der Herr Graf einen Vorschlag,“ begann Treiber wieder mit ruhigem, freundlichem Ausdruck, als gälte es, ein [483] ängstliches Kind oder einen Fieberkranken zu beschwichtigen. „Die Sache ist ja so einfach: damit kein Mensch den Wechsel mit dem Stempelchen zu Gesicht bekomme, siegeln der Herr Graf ihn hier vor meinen Augen mit Ihrem eigenen Siegel in ein Kouvert ein und ich unterschreibe dem Herrn Grafen, daß ich ihm die doppelte Summe des Wechsels zu bezahlen habe, wenn die Siegel am Verfalltage nicht unverletzt sind. Was riskiren denn der Herr Graf dabei? Nichts!“
Wieder entstand ein langes Schweigen. Der Graf saß von dem Agenten abgewandt vor seinem Schreibtisch, den Kopf auf beide Arme gestützt, eine Beute rathloser Verzweiflung. Es sauste und dröhnte in seinem Gehirn; er fühlte, daß er ganz außer Stande sei, Etwas zu denken und zu beschließen; aber der Tag neigte sich, die Schuld drängte, Hilfe mußte geschafft werden um jeden Preis.
„Wiederholen Sie mir, was Sie soeben sagten, ich habe den Sinn nicht deutlich verstanden,“ sagte er endlich, und auf die zungenfertige Auseinandersetzung des Agenten versetzte er: „Haben Sie die Summe parat?“
Mit wunderbarer Schnelligkeit griff dieser nach seiner Rocktasche:
„Gewiß, Excellenz, sechzigtausend Thaler in guten Scheinen.“
„Kommen Sie!“ rief der Graf, sich gewaltsam zusammenraffend, indem er nach der Thür des Nebenzimmers deutete.
In diesem Augenblicke öffnete sich die gegenüberliegende Thür und Komtesse Gabriele in lichten Gewändern erschien auf der Schwelle. Sie wollte den Papa zum Koncert abholen und war sehr erstaunt, ihn nicht bereit, ja, seiner kurzen Abweisung nach, offenbar schlechter Laune zu finden. Das kam sicher von seinem Gespräch mit dem gemein aussehenden Menschen dort; gewiß hatte dieser den Papa geärgert. Sie drehte also ihm vor allen Dingen den Rücken zu und fuhr, als sei Niemand weiter im Zimmer anwesend, mit der Beharrlichkeit des verzogenen Kindes fort:
„Aber nicht wahr, Papa, morgen früh um neun Uhr reitest Du mit uns nach Taxenbach? Du hast es uns versprochen, und der Tag wird wunderschön!“
Dem gequälten Manne riß fast die Geduld. Er hätte laut aufschreien mögen und mußte ruhig reden, aber seine Stimme zitterte doch, als er hastig unter allen möglichen Vorwänden die Zumuthung ablehnte. Alles, was Gabriele wolle, nur nicht morgen – er könne nicht, und damit gut.
„Ach, lieber Doktor,“ rief er mitten in seiner Rede dem jungen Hauslehrer zu, der soebem hinter dem meldenden Diener in der halboffenen Thür erschien: „Sie könnten mir einen großen Gefallen thun. Begleiten Sie morgen früh zu Pferde dieses hartnäckige Fräulein und ihren Bruder nach Taxenbach zu dem Jagdschlößchen. Sie nehmen meinen Ali, bis Mittag seid Ihr zurück. Wollen Sie mir die Liebe thun? Ich habe dringende Geschäfte hier und kann nicht mit. Sie sind ja ein famoser Reiter, wie ich höre!“
Der junge Mann zögerte einen Augenblick. „Wie Sie befehlen, Herr Graf,“ sagte er endlich in so trockenem Tone, daß Gabriele heimlich die kleine Faust ballte. „Aber ich möchte vorher noch in einer wichtigen Angelegenheit um einige Minuten Gehör bitten,“ fügte er dringend hinzu, indem er argwöhnisch den im Hintergrunde stehenden Agenten betrachtete, dessen lauernder Gesichtsausdruck ihm äußerst widerlich war.
Aber der Graf, nur von Einem Gedanken erfüllt, sah nicht die ernste Miene des jungen Gelehrten und sagte hastig, mit kaum verhehlter Ungeduld.
„Morgen lieber Doktor, morgen. Sie sehen, ich bin heute sehr beschäftigt. Adieu, Gabi, Du erzählst mir dann von Eurem Ausritt!“
Doktor Reiter zögerte noch einen Augenblick, aber die verabschiedende Bewegung des Grafen wiederholte sich, und so mußte er wohl gehen. Auf der Schwelle hob er seine Augen nach der vorausgeschrittenen Gabriele und begegnete einem Blick voll so strahlender Glückseligkeit, daß große Selbstbeherrschung nöthig war, um die ruhige Außenseite zu wahren. „Morgen, morgen!“ klang es unaufhörlich auch in seinem Herzen trotz aller Anstrengung, den Jubel zu unterdrücken.
Mittlerweile unterzeichnete in seinem Arbeitszimmer Graf Hochberg den Wechsel, drückte den ihm als Präsidenten der Bau- und Bodengesellschaft anvertrauten Gesellschaftsstempel darauf, siegelte das Papier ein und übergab es dem Agenten, welcher dafür sechzigtausend Thaler in Kassenscheinen auf den Tisch zählte.
[494]
Früh am andern Morgen trabten drei flinke Pferde im herrlichsten Sonnenschein die Landstraße entlang und von ihrem Rücken herunter klang lustiges Scherzen und Gelächter der jungen Reiter. Komtesse Gabriele wußte sich vor Glück nicht zu fassen, schwang die Reitpeitsche in die Luft, freute sich jubelnd über die Blüthenbäume am Wege und versicherte ihrem Lehrer lachend, ein solcher Morgen sei ihr lieber als die ganze Völkerwanderung sammt Ost- und Westgothen und dem großen König Theodorich. „Heissa, Othello! so gut ist es uns lange nicht geworden!“ Sie klopfte, sich vorbeugend, dem schönen Thiere liebkosend den Hals und wandte sich dann wieder glückselig lächelnd dem jungen Lehrer zu, der große Anstrengungen nöthig hatte, um manchmal auch anderswohin zu sehen, als in ihre strahlenden Augen.
Wie bald schon sollte dies Alles vorüber sein! Um so unwiderstehlicher war das Verlangen, diesen letzten Tag zu genießen, der so schön zu werden versprach!
Sogar Hans hatte seine gewöhnlichen Ungezogenheiten heute zu Hause gelassen und horchte, nahe an Richard’s anderer Seite reitend, den gelegentlichen Bemerkungen desselben über Wald und Wild. Man ließ die Thiere, da es jetzt bergan ging, im Schritte gehen, und an das Nächste anknüpfend, gab Richard eine Menge eigener Erinnerungen und Jugenderlebnisse zum Besten, so daß allgemach das verwöhnte Grafensöhnchen ordentlich ein Neid ankam über das Leben, das diese Oberhauser Pfarrersjungen auf ihrem Dorfe geführt hatten! Ottern fangen, junge Füchse aufziehen und beim Eisgang ums Haar ertrinken: das war doch etwas Anderes, als auf Kinderbällen tanzen oder mit dem einfältigen Bodo Helmstatt im Garten Velocipede fahren! Da hätte er auch dabei sein mögen!
Seine Schwester betrachtete inzwischen mit raschen Seitenblicken, wie ritterlich der schlanke Doktor im Sattel saß. Endlich hatte sie doch einmal ihren Willen durchgesetzt, und wirklich, er sah doch heute ganz anders aus! Wo hatte er nur die hohen Reitstiefel her und den kecken, kleinen Filzhut, der so gut zu seinem dunklen Haar stand? Keiner der aristokratischen Bekannten hätte über sein Aussehen die Achseln zucken können – und im Uebrigen: welcher Unterschied zwischen ihm und dem jungen Baron Rothenburg oder dem Grafen Rattwitz, die manchmal sie und den Papa beim Spazierritt begleiteten! Deren Redensarten kannte sie alle auswendig, aber Alles, was Er sagte, kam ihr so interessant, so bedeutend vor, wie sie noch nie einen Menschen hatte reden hören. Ihr junges Herz fühlte sich unbeschreiblich glücklich in seiner Nähe, und sie gab sich diesem süßen Gefühle völlig hin, ohne Skrupel und Bedenken, mit der ganzen Unmittelbarkeit ihrer lebhaften Natur. Die Welt war ja so schön und es war ein so köstliches Gefühl, an seiner Seite in diese schöne Welt hineinzureiten.
So ging eine Stunde in Glück und Fröhlichkeit dahin. Der Weg hob sich mehr und mehr, der Hochwald schloß die Straße ein, endlich erschien in der Lichtung das Schlößchen Taxenbach, ein zur Sommerszeit sehr beliebter Vergnügungsort. Die Pferde trabten schneller dem wohlbekannten Ziele zu; nur noch zehn Minuten brauchte es jetzt, erst den Berg hinab, dann über die Brücke und jenseits wieder hinauf.
„Reiten wir zur Wette!“ rief Gabriele übermüthig und versetzte ihrem Othello einen Schlag mit der Peitsche. „Hopp, allez!“ und dahin ging es, den langen Straßenkurven nach. Doktor Reiter gab seinem Pferde die Sporen, und das feurige Thier nahm sofort die tête und flog voraus, zur Brücke hinunter, wo er zuerst anlangen wollte, um dem Wettrennen ein Ziel zu setzen. In wenigen Sekunden schoß Ali um die letzte Biegung – aber wo war die Brücke hingekommen? Das vom Regen geschwellte, breiter und lebhafter strudelnde Bächlein gab die Antwort, seine geringe Tiefe aber machte es leicht, zu Pferde hinüber zu kommen. Richard lenkte das seinige durch und rief den beiden eben Heranbrausenden zu: „Hier herüber, das Wasser ist nur ein paar Zoll tief!“
Hans war im nächsten Augenblick an seiner Seite, Gabriele aber rief lachend. „Nun sollen Sie einmal sehen, was mein Othello kann!“
Sie zwang das Pferd ein paar Schritte zurück – Richard wollte rufen, warnen, in demselben Augenblick hatte er nur noch einen blitzschnellen Eindruck von den gehobenen Vorderhufen des Pferdes, darüber die lachenden Augen und das fliegende Haar, dann – ein Dröhnen im Grunde, ein Klatschen im Wasser: Othello sprang los und ledig den Uferabhang hinauf. Blitzschnell war der Doktor abgestiegen, war auf die regungslos zwischen den Ufersteinen liegende Gabriele zugeeilt und hatte sie mit seinen Armen umfaßt, während ihr langes Kleid mit den Wellen strömte. Aber nur einen Augenblick blieb sie regungslos, während er sich ängstlich über sie beugte und sie mit Fragen bestürmte, ob sie sich wehe gethan habe? Dann raffte sie sich lebhaft empor und [495] rief zwischen Lachen und Zorn, indem sie die losgegangenen Haare wieder zur Krone schlang und feststeckte:
„Wie dumm! So herunterzufallen! Das ist mir doch noch niemals passirt!“
„Renommire doch nicht so, Gabi,“ versetzte Hans, der inzwischen das Pferd des Doktors gehalten, mit vielem Genuß. „Voriges Jahr lagst Du auch recht schön mit der Nase an der Erde.“
„Nun ja – als ich noch lernte. Uebrigens, Hans, statt hier zu stehen und einfältiges Zeug zu schwatzen, reite hinüber und hole mir meinen Hut – dort hängt er. Und Sie, Herr Doktor, dürfen nicht schelten, Sie sehen, es ist Alles glücklich abgelaufen.“
„Das Schelten hilft nicht mehr, wenn die Dinge geschehen sind,“ sagte er, indem er ihr auf die Füße half und sie voll Besorgniß betrachtete. „Fühlen Sie wirklich keinen Schmerz?“
„Nein, nein, wirklich nicht, und ich glaube, ich bin nicht halb so erschrocken wie Sie.“
Der junge Mann wandte sich ab und hob mechanisch die Reitpeitsche von den nassen Kieseln auf. Das Herz schlug ihm gewaltig, seine Schläfen pochten – war das der Schrecken oder war es der plötzliche Eindruck des weichen jungen Körpers in seinen Armen, der duftigen Haare, die ihm Wangen und Mund gestreift hatten? Er stand wie verzaubert und starrte in die Weidenbüsche am Bachrand, ohne irgend etwas deutlich zu sehen. Hans aber, der glaubte, der Herr Doktor beobachte sein Herüberkommen, lenkte seine Bella säuberlich durch das Wasser und reichte im nächsten Augenblick der Schwester den verlorenen Hut vom Pferde herunter.
Sie stand bereits und wand ihre schwere Schleppe in den Bach aus:
„Wie das trieft,“ rief sie lustig, „das reine Nixengewand! Nun können mich die Leute im Waldschlößchen für eine verkleidete Wasserfrau ansehen!“
Diese Worte riefen den jungen Doktor aus seinem Traumzustande wach; die Besorgniß vor einer möglichen Erkältung erfüllte ihn, er trieb zum Aufsitzen – Gabrielens Pferd war ruhig oben an der Böschung stehen geblieben – und hielt ihr den Steigbügel.
„Ihr nasses Kleid und die Stiefelchen dort zu trocknen ist wohl keine Möglichkeit?“ fragte er mit einiger Bekümmerniß.
„Doch,“ erwiederte sie schon wieder übermüthig, „ich gedenke mir keinen Schnupfen zu holen, um dann die schrecklichen Folgen dieses Morgens noch ein halbes Jahr lang bei jeder Gelegenheit hören zu müssen. Die Wirthin im Waldschlößchen ist eine ehemalige Köchin von Mama, die giebt mir schon so viel trockenes Zeug, als ich brauche, und hängt meine Sachen ans Feuer.
„Also vorwärts!“ rief Doktor Reiter erleichtert, und in scharfem Trabe ging es die letzten Minuten bergan, bis eine weiße Mauer sichtbar wurde und ein eisernes Thor, von einem stattlichen Hirschgeweih überragt, das Ziel der Fahrt anzeigte.
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Das Schlößchen von Taxenbach genießt nicht umsonst seines Rufes bei den Residenzbewohnern; es ist der anziehendste Punkt des Waldgebirges, welches die Stadt in weitem Bogen umzieht.
Früher ein Lieblingsort des Hofes, seit fünfzig Jahren von ihm verlassen, ist der ehemals verschnörkelte Park grün überwachsen, im dichten Schatten rauschen die kleinen Bäche und Kaskaden, stille Wiesenflächen ziehen sich zwischen den Waldpartien hin, und hier und da schimmern Marmorfiguren und Vasen unter den Bäumen hervor.
Rückwärts hinter dem zierlichen Rokokobau, dessen vergoldete Prachtsäle dem gewöhnlichen Publikum nicht zugänglich sind, stehen einfache Tische, an denen sich zur Sommerszeit die Gäste drängen und dem berühmten Kaffee und Kuchen der Wirthschaft alle Ehre anthun.
Von diesem Sitze öffnet sich die Aussicht in ein liebliches Wiesenthälchen, das nach einem Hügel hinaufzieht und auf beiden Seiten von Wald gesäumt wird.
Hier saß eine Stunde nach dem Bachübergang unsere Gesellschaft sehr vergnügt im warmen Sonnenschein beisammen. Das Frühstück hatte offenbar vortrefflich geschmeckt. Eier, Schinken, Thee und Butterbrot, wenn auch nur noch in ihren Resten zu ahnen, so daß die Wirthin, welche herzugetreten war, die jungen Herrschaften zu unterhalten, lächelnd fragte, ob sie eine zweite Auflage besorgen solle?
„Bei Leibe nicht, Lisbeth,“ sagte die kleine Bäuerin ihr gegenüber, die sich behaglich im Stuhle schaukelte und ihre grobbeschuhten kleinen Füße in der Sonne wärmte, „bei Leibe nicht, wir müssen heute noch zu Mittag essen. Was machen denn meine Kleider? Können wir in einer Stunde fort?“
„Das Reitkleid wird nicht so schnell trocken,“ sagte die dicke Frau kopfschüttelnd, „aber es ist ja auch nur untenher naß. Die Stiefel können die gnädigste Komtesse schon wieder anziehen.“
„Es gefällt mir aber noch ganz gut in diesen netten Elefantenschuhen,“ sagte Gabriele, ihre Füße gegen einander schüttelnd, „und Blumen müssen wir ja auch noch pflücken, ich muß Mama einen Strauß von den herzigen Veilchen und Primeln mitbringen, die hier überall herumstehen. Kommen Sie, Herr Doktor, komm, Hans,“ rief sie lebhaft aufspringend, „wir wollen einmal sehen, wer die schönsten Blumen zusammenbringt.“
Und jubelnd eilte sie voraus in die Wiese, deren tausend blaue, gelbe und röthliche Blumensterne wie ein bunter Teppich leuchteten, pflückte rechts und links und warf wieder weg, sobald sie noch schönere zu finden glaubte. Richard Reiter blieb an ihrer Seite, aber er pflückte nicht, er betrachtete träumerisch das Knospen und Blühen ringsum und die liebliche Gestalt, die, durch den kurzen Rock und das wollene Mieder nicht entstellt, nur ihm plötzlich so viel erreichbarer und näher schien, die reizende Profillinie, wenn sich Gabriele über die Blumen herabbeugte. Er war seit einer Stunde ein verwandelter Mensch: eine stille Seligkeit erfüllte ihn ganz, der holde Frühlingstag floß mit seinen eigenen Empfindungen in Eins zusammen; die Welt war nicht mehr größer als das kleine Wiesenthal, das für ihn alles Glück der Erde einschloß. Aus solchen Träumereien fuhr er erst auf, als Gabriele plötzlich sagte:
„Nun habe ich genug. Wir wollen uns dort auf die Felsblöcke unter den Tannen setzen und den Strauß ordnen. Wo ist denn Hans?“
„Ich sah ihn vorhin nach jener Richtung laufen, er kommt wohl bald wieder, und von droben übersehen wir das ganze Terrain,“ antwortete Richard, indem er ihr behilflich war, noch eine Hand voll blühender Weidenzweige zu schneiden, und dann der leicht Voranlaufenden zu dem Sitze unter einer alten breitästigen Tanne nachfolgte. Ihr den Arm zu bieten, wagte er nicht.
Gabriele schüttete die Blumen auf den Stein und begann, sie um die Palmkätzchen zu ordnen. Dabei ließ sie diese durch die Finger gleiten, streichelte sie sanft an ihrer Wange und sagte, indem sie sie Richard vorhielt. „Wie sie niedlich sind und wunderbar! Alles ist eigentlich wunderbar, manchmal kommt es mir plötzlich so seltsam vor, daß ich bin und Alles rings umher – woher kommt denn das?“
„Von dem Erwachen eines kleinen Seelchens,“ scherzte Richard, „das dann und wann die Augen öffnet, um ein Bischen nachzudenken, und sich dann schnell noch einmal auf die andere Seite legt.“
„Lachen Sie nur, aber es ist ganz ernsthaft, was ich meine, ich kann es nur nicht so recht ausdrücken.“ Sie nahm einen andern Zweig voll kleiner Knospen. „So ist jetzt der Rothdorn vor dem Schloßthor von Eckartshausen und ein paar Wochen darauf steht er in voller Blüthe. O könnten wir doch noch einmal dort sein, mit Ihnen, den ganzen Sommer lang, nein, immerwährend – ich glaube, ich würde gar kein anderes Glück mehr verlangen!“
So klar und offen blickten ihn die blauen Augen an, während sie dies sagte, ein so vertrauensvolles Kinderlächeln schwebte dabei um ihre Lippen, und doch wurde es dem jungen Lehrer dabei schwül zu Sinne. Der ganze innere Sturm, den er gestern so heftig bekämpft, erhob sich von Neuem; er fühlte, daß er anfange, machtlos zu werden, und rasch, mit einem energischen Entschluß, sagte er nachdrücklich:
„Die Zeiten unseres Beisammenseins haben zum Längsten gedauert, Komtesse Gabriele!“
[496] „Wie – was sagen Sie?“ rief sie überrascht und richtete sich hastig empor. „Sie können doch nicht daran denken, uns verlassen zu wollen?“
„Was ist dabei so Merkwürdiges?“ sagte er scheinbar gelassen. „Mein eigentlicher Beruf ist es ja nicht, Lehrer zu sein. Außerdem werden Sie selbst nicht mehr lange im elterlichen Hause bleiben –“
Sie sah ihn erstaunt an. „Meinen Sie am Ende, ich soll mich verheirathen?“
„Sie werden das ohne Zweifel bald thun –“ Aber weiter kam er nicht, denn Gabriele warf den Kopf zurück, daß die blonden Haare über ihre Schultern fielen, und brach in ein langes, stets neu beginnendes Gelächter aus. „O, das ist köstlich,“ rief sie dazwischen, „solch eine Idee! Ha ha ha!“
Die Gelegenheit war zu günstig und Richard konnte nicht widerstehen, sich über den zweifelnden Gedanken, der ihn seit gestern unablässig verfolgte und peinigte, Gewißheit zu verschaffen.
„Die Sache ist gar nicht lächerlich, Komtesse Gabriele,“ sagte er trocken, „Sie wissen doch sicher, daß mehr als Einer in Ihrer Umgebung solche Gedanken hegt –“
„Nein, das weiß ich nicht,“ rief sie mit dem Ton eines belustigten Schulmädchens. „O bitte, erzählen Sie mir mehr darüber, kennen Sie Einen davon?“
„Nun ja, ich kenne Einen,“ versetzte er halb geärgert, „Einen, der sich gestern noch in sehr enthusiastischen Ausdrücken über gewisse blonde Eigenthümlichkeiten erging und, wie es mir scheint, auch seinerseits sehr gut gefallen hat.“
Sie hörte mit dem Instinkt, den auch das jüngste Mädchen besitzt, den Ton der Eifersucht in seinen Worten und freute sich innig darüber. „O ja,“ sagte sie dann mit dem Kopfe nickend; „das ist in der That ein sehr hübscher, sehr netter und liebenswürdiger Mann. Und was für reizende japanische Schnupftabaksdosen und Reisschüsseln er hat! Ich glaube wirklich, ich könnte mich entschließen ihn zu nehmen, wenn er mir ein Dutzend davon gäbe – und die große goldene Schabracke – und das Götzenbild mit den fürchterlichen Schielaugen – und einen kleinen Schwarzen, aber nicht ausgestopft, sondern lebendig, in einem Brokatröckchen und einer kleinen rothseidenen Mütze mit einem Schellchen oben darauf – dem könnte ich nicht widerstehen!“
Und wieder fing sie an, so herzlich zu lachen, daß Richard, wie schon oft, sich unwiderstehlich fortgerissen fühlte und für ein paar Augenblicke nichts sah und dachte, als die frische, sonnenhelle Heiterkeit dieses rosigen Gesichtchens. Indessen kam er bald wieder zu seinen ersten Gedanken zurück, wenn ihm auch jetzt die Aussichten seines Freundes nicht so zweifellos schienen, als er sie in den düstern Gedanken der vergangenen Nacht sich vorgemalt hatte. Aber was half das? Seine eigene Stellung wurde dadurch nicht geändert und der Entschluß, bald zu gehen, blieb eine Nothwendigkeit. Die Heiterkeit verschwand bald völlig von seinem Gesichte und er blickte wieder ernsthaft vor sich nieder.
„Nun“ sagte Gabriele ungeduldig und tippte ihm mit dem Kätzchenzweig auf den Arm, „ich glaube, Sie versinken schon wieder in düstere Zukunftsbilder! An einem so schönen Morgen!“
„Sie stehen mir nahe genug,“ erwiederte Richard entschlossen; „denn was ich Ihnen vorhin andeutete, ist, in deutlichen Worten ausgedrückt: ich muß bald schon aus Ihrem Hause scheiden.“
Gabrielens eben noch lachende Züge nahmen plötzlich den Ausdruck des höchsten Schreckens an.
„Ich sage Ihnen hiermit nur,“ fuhr Richard mit schwerer Ueberwindung fort, „was ich gestern schon dem Herrn Grafen zu eröffnen gedachte. Plötzliche Gründe zwingen mich, die Stadt zu verlassen Ich bin ja auch, strenge genommen, in Ihrem Hause nicht nothwendig, jeder Andere kann meine Stelle versehen …“
„O,“ rief Gabriele mit zitternder Stimme, „Sie sind beleidigt durch Hans und ärgern sich über seine vielen Unarten! Wie ist das nur möglich, wie kann ein solcher Junge Ihnen wehthun? Sie stehen ja so hoch über ihm, über uns Allen, was soll denn aus uns – aus mir werden, wenn Sie fortgehen?“ Ihre Augen füllten sich mit großen Thränen, die an den Lidern schwankten und zitterten.
„Komtesse, um Gotteswillen,“ rief der nun ebenfalls aufs Höchste erregte junge Mann, „fahren Sie nicht so fort! … Sie täuschen sich,“ setzte er nach einer Pause mühsam hinzu, „äußere Gründe, von denen ich nicht unabhängig bin …“
Sie hörte nicht mehr, was er in seiner Herzensangst noch zusammensprach, sie legte den blonden Kopf auf ihre über den Felsen vorgestreckten Arme und schluchzte so leidenschaftlich und unverhohlen, daß im Nu Richard’s Vorsätze schmolzen wie Wachs in der Gluth. Ohne zu wissen wie, kniete er an ihrer Seite, faßte ihre Hand und hob sachte das tiefgeneigte Köpfchen in die Höhe, indem er flüsterte: „Gabriele, liebste Gabriele, weinen Sie nicht, ich kann es nicht ansehen!“
Im nächsten Augenblick fühlte er zwei Arme um seinen Hals geschlungen, als suchten sie Hilfe und Rettung in höchster Noth. Aber auch über ihm schlugen die Wellen zusammen, er widerstand nicht länger, faßte die süße Gestalt fest in seine Arme und drückte stürmisch heiße Küsse auf die Lippen, die den seinigen entgegenkamen. Es war Seligkeit und Qual zugleich – aber der Rausch des Entzückens dauerte nur kurze Sekunden, dann kam das Bewußtsein wieder, Richard fuhr aus seinem Rausch empor und sagte, indem er das glühende Kind aus seinen Armen löste:
„Helfen Sie mir, Gabriele, daß ich nicht ein Ehrloser werde. Es war zu viel … Sie wissen nicht, wie ich mit mir gekämpft habe und was mich die Selbstbeherrschung kostete! Ich habe sie einen Moment verloren, verzeihen Sie mir!“ Noch einmal streiften seine Lippen die weichen Haare, die sich durchaus von seiner Brust nicht trennen wollten, dann ließ er Gabriete sanft auf ihren früheren Sitz niedergleiten und trat entschlossen zurück. „Und nun werden Sie selbst einsehen, daß ich gehen muß, so bald als möglich, da Sie den wahren Grund kennen!“
Der Felsblock war wieder zwischen ihnen, nur die Hand streckte Richard darüber hin und hielt die Gabrielens in der seinigen. Wortlos und tieferröthend in Scham und Verlegenheit sah sie vor sich nieder, sie wußte nicht, wie sie den nächsten Moment überstehen solle. Aber die Angst um den geliebten Mann war mächtiger als jede andere Empfindung, sie hob nach einer kurzen Stille die Augen flehend zu ihm empor und sagte leise:
„Versprechen Sie mir das Eine, nicht heute mit Papa zu reden, wir finden vielleicht ein Mittel – und warum sollte es denn unmöglich sein, daß …“ sie hielt plötzlich inne; es fiel ihr ein, daß er ja noch keine Silbe von Dem gesprochen, was sie meinte.
„Es ist unmöglich, daß Graf Hochberg einwilligt, die Hand seiner Tochter einem bürgerlichen Manne ohne Stellung und Vermögen zu geben,“ sagte Richard ernst, „und es käme mir wie ein Verbrechen vor, Sie in die schweren Kämpfe zu stürzen, die der ersten Erklärung folgen müßten. Und heimlich – hinter dem Rücken Ihrer Eltern … nein, ich könnte Ihrem Vater nicht mehr in die Augen sehen – wenn ich auch freilich nicht weiß, wie ich ferne von Ihnen leben soll.“
Er sprach mit gepreßter Stimme, aber fest und ruhig, und Gabriele fand diese Ruhe empörend. Wie konnte er nur so kalt und verständig reden? Nein, er liebte sie nicht, wie sie ihn, sonst könnte er jetzt nicht an Trennung denken, wie zärtlich hatte er sie eben noch geküßt, und nun blickte er so streng und kühl, daß sie kein Wort mehr hervorbrachte … Und wo war der entzückende Frühlingstag hingekommen? Gabriele hob die Augen: Alles erloschen, ein dürres Thal und öde Felsen! Ihr junges Herz war plötzlich so schwer geworden, daß es ihr schien, unglücklicher habe sich noch nie Jemand auf der Welt gefühlt. So saßen Beide schweigend ein paar Augenblicke. Plötzlich hörte man in einiger Entfernung Aeste knacken, Steine poltern und laute Rufe: „Herr Doktor, Herr Doktor, eine Otter!“ Schnell stürzte Richard den Abhang empor und wurde sofort seines Zöglings ansichtig, der, erhitzt, mit verwirrten Haaren und schmutzigen Knieen durchs Gebüsch herunterbrach. Aus dem Taschentuch, welches er hielt, schlängelte sich Etwas hervor, Richard entriß es ihm und warf es zu Boden.
„Zum Glück nur eine Blindschleiche, Hans,“ sagte er erleichtert, während das Thierchen sich ins Gebüsch ringelte, „sie hat, wie wir, den schönen Sonnenschein zu ihrem ersten Spaziergang benutzt. Aber nun ist es hohe Zeit, daß wir nach Hause zurückkehren!“
Er richtete einen bittenden Blick auf Gabriele, die, ohne denselben zu erwiedern, aufstand und mit gesenktem Kopfe den Beiden voranging. Die schönen Blumen blieben auf den Steinen liegen.
Das Mittagsessen war heute in ungewohnter Einsilbigkeit verlaufen; der Graf saß, gegen seine sonstige Art, stumm und theilnahmlos da; auch die Gräfin wechselte nur kurze Reden mit Doktor Reiter, und Gabrielens helle Stimme war kaum zu vernehmen. So blieb nur Hans als Träger der Unterhaltung übrig; er fand aber durchaus nicht so viel Aufmerksamkeit, wie die verschiedenen Reiseabenteuer, das Unglück am Bach und die Geschichte von der Blindschleiche, die beinahe eine Kreuzotter war, beanspruchen konnten. So schwieg endlich auch er und Jeder war froh, als das Zeichen zum Aufstehen gegeben wurde. Gabriele warf dem Geliebten noch einen warm flehenden Blick zu, ergriff dann den Arm der Mama und schlüpfte an ihrer Seite aus dem Zimmer.
Der Graf stieg die Treppe hinab und begab sich in den Stall, um nach den Pferden zu sehen, die ziemlich erhitzt heimgekommen waren. Dort suchte ihn Richard einige Minuten später auf. Er hatte sich während des ganzen Essens Vorwürfe darüber gemacht, daß er über seine eigenen Herzensangelegenheiten die Warnung des Freundes fast vergessen hatte. Nun wollte er keinen Augenblick mehr damit zögern, das sorgenvolle Gesicht des sonst so heitern und mittheilsamen Herrn war ihm peinlich aufgefallen; er dachte mit einer Art von Angst an den Besucher von gestern Abend und fragte sich, ob wohl etwas Entscheidendes geschehen sei? In jedem Fall mußte er sofort reden, – ob er die Widerwärtigkeiten des Grafen heute schon durch seine Kündigung vermehren dürfe, darüber war er vorerst unschlüssig. So bald als möglich mußte es freilich geschehen.
Er fand den Grafen neben Ali stehend, den der Reitknecht, seiner Anweisung folgend, sorgsam abrieb.
„Ist es nicht ein wunderbares Thier, Doktor?“ rief er diesem entgegen, während er den schnobernden Kopf des Pferdes freundlich klopfte und streichelte. „Ich wette, Sie haben noch auf keinem seines Gleichen gesessen.“
Das bestätigte der junge Mann bereitwillig und fügte dann hinzu: „Gestatten Sie vielleicht, Herr Graf, daß ich Ihnen jetzt die Mittheilung mache, welche ich schon gestern –“
„Ach ja,“ unterbrach ihn Graf Erich, „Sie wollten mich ja in einer wichtigen Angelegenheit sprechen – ich hatte es wahrhaftig wieder vergessen – nun, sprechen Sie!“
„Es ist eine konfidentielle Mittheilung, Herr Graf,“ sagte Richard mit einem Blicke auf die in der Nähe hantirenden Kutscher und Stallknechte.
„Sie sagen das in einem so feierlichen Ton, lieber Doktor, da bin ich wirklich begierig.“
Damit nahm er den jungen Mann unter den Arm und ging mit ihm hin über den Hof nach dem Parke.
„Nun reden Sie!“
„Herr Graf,“ begann Richard, „es ist mir gestern eine Notiz zugegangen in Beziehung auf einen Geschäftsagenten, einen gewissen Treiber, der in vielfachen Beziehungen zur hiesigen Handelswelt steht.“
„Ganz recht,“ warf der Graf ein, „dieser Treiber besorgt auch für mich zuweilen kleine Geschäfte.“
„Nun, eben vor diesem Treiber,“ fuhr der Doktor fort – „bin ich gebeten worden, Sie zu warnen.“
„Zu warnen? Und warum? Er nimmt in Geldgeschäften etwas hohe Procente – das ist mir bekannt.“
„Es ist nicht das, Herr Graf, was denjenigen bedenklich macht, von dem die Warnung ausgeht. Er glaubt vielmehr gute Gründe zu der Annahme zu haben, daß dieser Treiber es nicht gut mit Ihnen vorhabe, daß er Ihnen irgendwie zu schaden, Sie in eine Falle zu locken beabsichtige.“
Der Graf blieb betroffen stehen. „Wer ist Ihr Gewährsmann?“
„Das darf ich nicht sagen,“ erwiederte Richard, „aber nehmen Sie mein Wort, daß er gut unterrichtet ist und es gut mit Ihnen meint. Auch versichere ich Sie, daß es starke Verdachtsgründe sind, die ihn bewogen, mich zu dieser Mittheilung an Sie aufzufordern.“
„In der That,“ murmelte Graf Erich in plötzlicher Aufregung, „es ist seltsam, sehr seltsam – es könnte wohl sein – – Doktor,“ sagte er hastig, die Hand Richard’s ergreifend, „Sie sind ein Ehrenmann, und ich gebe Ihnen einen Beweis meines Vertrauens, indem ich Ihnen gestehe, daß ich allerdings diesem Manne – gestern – in einer momentanen Verlegenheit – in der Uebereilung – auf sein unausgesetztes Drängen - ein Papier – ein Dokument übergeben habe, das – das ich ihm nicht hätte geben sollen! Nach dem, was Sie wir sagen, muß ich befürchten, daß Ihr Gewährsmann vielleicht Recht, daß der Mann unredliche Absichten mir gegenüber hat. Und wenn dem wirklich so wäre, könnte ein großes Unglück daraus entstehen!“
„Darf ich mir die Frage erlauben –“
„Ach lieber Doktor,“ unterbrach Graf Erich den jungen Mann, und seine sonst so überlegene Miene wurde peinlich unsicher, „die Sache ist sehr komplicirt, schwer zu erklären. Genug, es war unvorsichtig, sehr unvorsichtig von mir, dem Manne den Wechsel auszustellen. Ich wollte, ich hätte es nicht gethan oder ich könnte ihm sein Geld zurückgeben!“
„Aber ließe sich denn das nicht bewerkstelligen? Das Geld haben Sie noch?“
„Die Summe, die er mir gab, ja; durch einen glücklichen Zufall liegt das Geld noch da und der Mehrbetrag des Wechseis ließe sich vielleicht beschaffen – müßte sich beschaffen lassen, bevor –“ Er stockte in peinlichster Verlegenheit.
„Nun, Herr Graf, wenn Sie das Papier wirklich zurück haben wollen, eile ich zu dem Agenten und bringe ihm vorläufig sein Geld zurück. Mit dem Weiteren muß er sich noch gedulden. Ich bringe die Sache in Ordnung, verlassen Sie sich darauf, Herr Graf! Noch im Laufe des Nachmittags bringe ich Ihnen Nachricht.“
„Lieber Doktor, ich danke Ihnen tausendmal! Sie leisten mir einen großen, großen, unbezahlbaren Dienst! Und nun kommen Sie, daß ich Ihnen das Geld übergebe. Ich habe keine Ruhe, bis ich es wieder los bin!“
Die beiden Männer eilten die Treppe hinauf. Im Kabinet des Grafen empfing Richard Reiter die noch unberührte Summe von sechzigtausend Thalern und machte sich sofort auf den Weg zum Agenten, während der Graf in peinlicher Sorge zurückblieb, nach einiger Zeit sich aber doch zu seinem gewohnten Ausritt entschloß, um sich, wie er wähnte, all’ die abscheulichen Gedanken aus dem Kopfe zu schlagen.
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Die Nachrichten, welche Richard Reiter an demselben Abend dem von seinem Spazierritt heimgekehrten Grafen überbrachte, waren nicht sehr beruhigender Natur. Er hatte den Agenten nicht getroffen, sondern nur dessen Frau, welche ihm sagte, ihr Mann sei gestern Abend verreist, auf mehrere Monate voraussichtlich, da er überhaupt sein hiesiges Geschäft aufgeben und ein Bankgeschäft in Berlin etabliren wolle. Auf die Frage nach dem Wechsel hatte sie sich erst unwissend gestellt, dann aber, als sie hörte, daß derselbe sofort eingelöst werden sollte, war sie in Klagen darüber ausgebrochen, daß ihr Mann den Wechsel schon an den Konsul Felsing, wahrscheinlich viel zu billig, verkauft habe. Daraufhin war der Doktor sofort zu seinem Freund Emil Felsing geeilt, hatte diesen von der Situation in Kenntniß gesetzt und gebeten, mit seinem Vater Rücksprache zu nehmen und denselben zur Herausgabe des Wechsels zu veranlassen. Er war glücklich, auf diese Art Emil als offenkundigen Verbündeten scheinbar neu gewinnen zu können, und Graf Hochberg billigte den Schritt vollkommen. Aber leider hatte Emil seinen Vater hierzu nicht zu bewegen vermocht, derselbe hatte jedoch sein Ehrenwort gegeben, nichts mit dem versiegelten Papiere zu unternehmen, bis er mit Graf Erich gesprochen habe. Auch hatte er sich bereit erklärt, zum Zwecke einer Besprechung über die Ordnung der Vermögensverhältnisse des Grafen diesen noch im Laufe des folgenden Tages zu besuchen.
Dies Alles berichtete der junge Mann dem Grafen, der schon seit einer Stunde unruhig auf seine Ankunft gewartet hatte. Es war auf den ersten Blick nicht viel Tröstliches, und doch schöpfte die sanguinische Natur des Grafen nach kurzem Besinnen wieder Hoffnung aus dem Versprechen Felsing’s; seine Stirn wurde allgemach heiterer, und er sagte endlich in herzlichem Ton:
„Ich danke Ihnen, mein lieber junger Freund, Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, ich werde ihn nicht vergessen und hoffe, daß der Tag kommen wird, wo ich ihn vergelten kann. Es ist mir eine stäte Genugthuung, Sie in unserem Hause zu [499] wissen – wollte Gott, mein eigener Sohn hätte etwas von Ihrer Zuverlässigkeit und Charakterstärke!“
Er reichte dem Doktor die Hand und dieser beugte sich über dieselbe, verwirrt, von den widerstreitendsten Empfindungen bewegt, unfähig, ein Wort zu erwiedern. Nur das Eine wußte er mit voller Sicherheit, als er das Zimmer verließ: es war nun unmöglicher für ihn als je, mit Gabrielens Vater von seiner Neigung zu ihr zu sprechen.
Auch der Gedanke an Emil drückte ihn. Er war heute froh gewesen, daß die knappe Zeit nur die Geschäftsbesprechung ermöglichte. Was hätte er ihm sonst sagen sollen? Das Vorgefallene ruhte als ewiges Geheimniß in seiner Brust – aber er kam sich doch nicht recht aufrichtig gegen den Freund vor, dessen Bemühungen für den Grafen doch gewiß mit dem Interesse für Gabriele eng zusammenhingen.
[511] Um den innerlichen Kampf einigermaßen zu beschwichtigen und seine heiße Stirn zu kühlen, stieg Richard in den abendlichen Garten hinab. Er athmete auf in der lauen Dämmerung und Stille, während er langsam die Kastanienallee hinabschritt.
Plötzlich hielt er inne, voll freudigen Schreckens: dort, in kurzer Entfernung vor ihm, ging die Gestalt, welche seinem innern Auge schon den ganzen Tag vorgeschwebt, auch sie langsam und nachdenklich, den Kopf gesenkt, ein leichtes Tuch um die Schultern geschlagen. Noch ahnte sie seine Gegenwart nicht; er konnte noch den Rückzug nach dem Hause nehmen; statt dessen aber war er mit wenigen Schritten an ihrer Seite.
Sie schien nicht einmal sehr überrascht. „Ich gehe hier schon eine Weile auf und ab – ich konnte es droben nicht aushalten. Sie waren bei Papa, nicht wahr? Ich sah Sie vor einer halben Stunde hineingehen und war so unruhig – haben Sie ihm am Ende gesagt –?“ Ihre Augen hefteten sich angstvoll fragend auf sein Gesicht.
Es kostete ihn schwere Ueberwindung, die halboffenen Lippen nicht mit einem Kuß zu schließen und die zarte Gestalt in seine Arme zu nehmen, aber er blieb standhaft und sagte, wenn auch nicht ohne merkliche Bewegung:
„Ich wollte es, aber ich konnte nicht dazu kommen. Er war mit einer anderen Angelegenheit so dringend beschäftigt, daß ich nicht von mir hätte reden können.“
„Ach, Gott sei Dank!“ rief sie mit der völligen Natürlichkeit, die ihr so reizend stand. „Hören Sie, ich habe viel nachgedacht heute, und es ist mir nach und nach ganz klar geworden, was wir thun müßten. Aber ich weiß eben Eines, das dazu gehört, nicht ganz gewiß –“
Sie hob halb keck und halb zaghaft in einer erröthenden Verwirrung die Augen zu ihm empor. Diesmal konnte er nicht widerstehen, den Arm um sie zu legen.
„Und was ist das, liebste Gabriele?“
„Ob Sie mich wirklich so lieb haben –“ flüsterte sie und legte die Stirn an seine Brust.
Was er nun in heftigen, glühenden Betheuerungen vorbrachte, mußte wohl sehr überzeugend klingen; denn sie hob nach kurzer Frist den Kopf wieder empor, schüttelte ihn mit ihrer kurzen trotzigen Art und rief:
„Nun also! Warum sollen wir denn nicht ein paar Jahre auf einander warten können? Hat die Prinzessin X. einen Professor geheirathet, kann es die Gräfin Hochberg wohl auch, wenn sie nicht nachgiebt. Ihr haltet mich immer für ein Kind; aber Ihr kennt mich nicht, ich bin viel fester und ernsthafter, als Jemand denkt. Treu bleiben ist doch so leicht, wenn man eben gar nicht untreu werden könnte!“
Richard stand wie geblendet und überwältigt von der hereinbrechenden Macht einer solchen Vorstellung. Was er nicht gewagt hatte, auch nur einen Augenblick im Ernste zu denken, das sollte möglich, sollte wirklich sein? Es faßte ihn einen Augenblick wie körperlicher Schwindel. Dann aber rief er ausbrechend, indem er sie stürmisch in die Arme schloß:
„O Gabriele, wie wollte ich arbeiten und ringen, wenn Dir das wirklich Ernst wäre!“
„Es ist mir Ernst, Du böser pedantischer Mann,“ sagte sie zwischen Lachen und Thränen; „ich kann keinen Anderen heirathen als Dich; deßhalb muß ich schon sehen, daß ich Dich auch wirklich bekomme. Aber es hat schwer gehalten, Dir dies begreiflich zu machen –“
Seine heißen Küsse schlossen ihr die Lippen, aber sie entwand sich ihm rasch und sagte:
„Nun werde ja wohl ich die Vernünftige spielen müssen, hören Sie, weiser Herr Doktor? Aber kein Wort zu Papa vorerst – es scheint mir nämlich nicht ganz unmöglich, Mama auf unsere Seite zu ziehen, und wenn das glückt, haben wir halb gewonnen. Ich werde es sehr klug und vorsichtig anstellen. Und nun muß ich hinauf. Ach, wie glücklich bin ich doch jetzt im Herzen!“
Sie nickte ihm zärtlich zu und wandte sich leichtfüßig zum Enteilen.
„Gabriele,“ rief er ihr leise nach.
„Nun?“
[512] „Gabriele, liebst Du mich wirklich? Sage es mir noch einmal, es scheint mir zu unglaublich!“
„Wirklich – und für immer, immer, immer!“ hörte er es durch die Nacht flüstern. Dann stand er allein unter den Bäumen, ein seliger Mann.
Konsul Felsing hatte sich auf drei Uhr des andern Tages ansagen lassen, und schon eine halbe Stunde früher saß Graf Erich, denselben erwartend, in seinem Kabinett. Seine Situation war die denkbar peinlichste: im Laufe des Vormittags war Breda dagewesen, um sich in auffallender Weise nach seinem Befinden zu erkundigen! Karkow, dem er eben begegnet, habe ihm gesagt, Graf Erich müsse krank sein! Eine nicht mißzuverstehende Erinnerung an die über Gebühr verzögerte Zahlung der fatalen Spielschuld. Sein Bankier, bei dem er heute Morgen vorgeritten, um in gewohnter Weise vom Pferde herunter einige Worte mit ihm zu wechseln, war zwar wie immer unter der Thür seines zu ebener Erde liegenden Komptoirs erschienen; aber an Stelle seiner seitherigen Liebenswürdigkeit und Devotion hatte er heute eine auffallende Zurückhaltung, einen zwar höflichen, aber sehr ernsten, gemessenen Ton angeschlagen, welcher den Grafen verstimmte. Endlich war auch noch ein Wagenfabrikant, welchem der Graf eine bedeutende Summe schuldete, wiederholt dagewesen, um ihn zu sprechen, und hatte sich, als ihm der Kammerdiener zum zweiten Male erklärte, der Graf sei nicht zu Hause, mit den Worten entfernt: er müsse den Herrn Grafen nothwendig sprechen und werde morgen mit dem Frühesten wiederkommen, um denselben sicher zu treffen.
Alle diese Dinge gingen dem Grafen jetzt durch den Kopf und peinigten ihn.
Mit gemischten Empfindungen sah er der Ankunft Felsing’s entgegen. Er wünschte sie herbei und scheute sich vor derselben. Seltsam: der Konsul war, abgesehen von seinem letzten, in der Form übrigens ebenfalls höflichen Refüs immer artig und zuvorkommend gegen ihn gewesen und doch war er ihm unsympathisch – ja, mehr noch, er konnte sich eines leisen Schauers vor ihm nicht erwehren, Felsing war ihm unheimlich! Um wie viel lieber hätte er das unselige Papier noch in den Händen des schurkischen Treiber gesehen, als in den seinen!
Das Eintreten seines Söhnchens scheuchte ihn aus diesen peinlichen Erwägungen und Befürchtungen auf. Hans räkelte sich nach seiner Gewohnheit etwas auf dem Divan, betastete dann allerhand Gegenstände, die er sonst nicht berühren durfte, und wunderte sich, daß der Papa gar nicht darauf achtete. Endlich, als er alle Cigarren- und sonstigen Kästen auf und zu gemacht hatte, sagte er: „Ich möchte Dich etwas fragen, Papa.“
„Was denn, mein Sohn?“ erwiederte der Graf zerstreut.
„Ist es wahr, Papa, daß der Konsul von Felsing gar nicht von richtigem Adel ist?“
Der Graf stutzte.
„Wer sagt Dir das, Hans?“ frug er in strengem Ton.
„Fritz, der Reitknecht, hat es mir gesagt. Er lachte und meinte: der sei vor zwanzig Jahren auch noch mit seinem Schleifstein im Lande umhergezogen, um alte Scheren und Messer zu schleifen und zu repariren. Dann habe er die Leute so lange betrogen, bis er reich genug gewesen sei, um sich den Adel zu kaufen. Ist das wahr, Papa?“
„Ein albernes Geschwätz ist es, für welches ich den Burschen gehörig zurechtweisen werde,“ erwiederte unwillig der Graf. „Der Konsul ist allerdings erst vor wenigen Jahren geadelt worden, das geht aber den Schlingel nichts an, und ich will ihm die Lust vertreiben, künftig solch’ infame Klatschereien zu machen!“
„Kann man denn den Adel kaufen, Papa?“ begann Hans nach einer kleinen Pause wieder.
„Kaufen nicht gerade, aber man kann ihn sich erwerben durch Dienste, die man dem Staat oder dem König leistet, und wenn diese Dienste respektabel sind, so muß man auch diesen neuen Adel gewissermaßen gelten lassen.“
„Aber der richtige Adel ist es doch nicht, Papa?“
„Nein, der richtige Adel ist allerdings nur der Geburtsadel, der alte Adel!“
Der Graf sprach diesen Satz mit dem vollen aristokratischen Hochgefühl aus.
„Unser Adel ist alt, Papa, nicht wahr?“ inquirirte Hans weiter.
„Einer der ältesten des Landes.“
„Wie viele Ahnen haben wir?“
„Wir kennen deren dreißig. Unser Stammbaum reicht in ununterbrochener Linie bis ins elfte Jahrhundert zurück,“ erwiederte der Graf.
„Und die Mama ist auch aus altem, adeligem Geschlechte?“
„Gewiß, sie ist eine Stralenberg!“ erwiederte nicht ohne Stolz der Graf.
„Aber, Papa, wie kommt Ihr dazu, Du und Mama, zu diesem Konsul in Gesellschaft zu gehen, wenn wir doch von so altem Adel sind?“
„Genug jetzt davon, Hans!“ rief in ärgerlichem Tone der Graf aus. „Wer setzt Dir denn solche Geschichten in den Kopf? Wiederum Fritz, der Reitknecht?“
„Ich habe gehört, Papa, wie Fritz zum Kutscher sagte: er würde an des Herrn Grafen Stelle nicht in eine Gesellschaft bei dem Messerschmied gehen, und wie dann der Kutscher erwiederte: ja, da höre Alles auf! Als er neulich Dich mit Mama und Gabriele dorthin habe fahren müssen, da habe er sich geschämt. Was dorthin käme, sei neuer oder heruntergekommener Adel; einen solchen Umgang sei er nicht gewöhnt, und wenn das so fortginge, so würde er sich lieber einen andern Dienst suchen!“
Auf der Stirn des Grafen schwoll die Zornader an.
„Dieses unverschämte, dummdreiste Bedientenvolk!“ rief er aus. „Ich verbiete Dir, Hans, künftig die Gespräche der Dienerschaft anzuhören! Dieser selbst werde ich die unnützen Reden verbieten. Geh nun zum Herrn Doktor!“
In diesem Augenblick meldete der Diener den Konsul von Felsing.
„Lassen Sie ihn eintreten!“ bedeutete er den Diener. „Geh’ nun, Hans! Adieu!“
„Störe ich?“ sagte Felsing auf der Thürschwelle, nach Hans blickend.
„Durchaus nicht, Herr Konsul,“ erwiederte Graf Erich, ihm entgegentretend und die Hand reichend. „Ich erwartete Sie – mein jüngerer Sohn Hans,“ fuhr er fort, auf den Knaben deutend – „gieb dem Herrn Konsul die Hand, Hans!“
Der Knabe zögerte. Er sah halb hochmüthig, halb verlegen drein.
„Nun, Hans, was hast Du denn?“ fragte jetzt verlegen Graf Erich.
„Bitte, lassen Sie ihn, Herr Graf,“ sagte Felsing mit ironischer Betonung. „Das Bürschchen scheint nicht in der Laune zu sein.“
„Bürschchen?“ wiederholte Hans gereizt. „Ich heiße Graf Hans von Hochberg-Eckartshausen!“
„Ja, ja, ich weiß es,“ lachte Felsing, „ein schöner Name, aber etwas lang für einen so kleinen Mann!“
Das Gesicht des Knaben färbte sich roth. Er sah den Konsul von unten mit einem feindseligen Blicke an und ging zur Thür hinaus, indem er leise das Wort „Scherenschleifer“ knirschte. Das Wort war aber doch gehört worden, sowohl von Felsing, als von dem Grafen, welcher sich anschickte, seinem ungezogenen Söhnchen zu folgen und es zu strafen. Felsing hielt ihn zurück.
„Lassen Sie ihn, Herr Graf,“ sagte er in spöttischem Tone, „die jungen Herren können nichts dafür. Sie saugen das so ein mit der Muttermilch, es ist ja ein bekanntes Wort: ,wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen!’“
Der Graf biß sich auf die Lippen; er faßte sich aber und sagte in ernstem Tone: „Der Junge hat von seinen Eltern nie Derartiges gehört. Ich werde ihn ernstlich strafen.“ Und auf eine abwehrende Bewegung Felsing’s fügte er hinzu: „Nein, ich werde ihm die Frechheit nicht ungestraft hingehen lassen; nehmen Sie mein Wort darauf und zugleich die Versicherung meines aufrichtigsten Bedauerns über den Vorfall! Bitte, nehmen Sie Platz! – Der Hofmeister meiner Kinder,“ fuhr der Graf fort, nachdem er sich in einen Fauteuil, Felsing gegenüber, gesetzt hatte, „Doktor Richard Reiter, war heute bei Ihrem Herrn Sohne, nachdem ich gestern selbst schon vergeblich versucht hatte, Sie zu treffen, um Ihnen meinen und der Gräfin Dank für den schönen Abend in Ihrem Hause zu sagen.“
[514] „Es war mir eine große Ehre,“ erwiederte Felsing höflich; „und wie befindet sich die Frau Gräfin und Ihre reizende Tochter, Komtesse Gabriele?“
„Ich danke, die Gräfin war ein wenig angegriffen, ist aber wieder munter und – wenn ich nicht irre – mit Gabriele ausgefahren. Die Damen werden sehr bedauern, Sie verfehlt zu haben.“
Felsing verbeugte sich und es trat eine kleine Pause ein. Graf Hochberg befand sich, obwohl auf die Unterredung vorbereitet, doch sichtlich in großer Verlegenheit.
„Sie werden durch Ihren Herrn Sohn gehört haben, was Doktor Reiter so freundlich war zu bestellen,“ begann er wieder, aber Felsing unterbrach ihn:
„Ein angenehmer Mann, dieser Doktor – Reiter, sagen Sie? Ich sah ihn noch im Fortgehen, er hat mir sehr gefallen. Ist er schon lange in Ihrem Hause?“
„Seit einem Vierteljahr erst,“ erwiederte der Graf. „Trotzdem genießt er mein volles Vertrauen, weßhalb ich auch keinen Anstand nahm, ihn in der bewußten Angelegenheit –“
„Seit einem Vierteljahr erst ist Doktor Reiter bei Ihnen? Ja, ja, ich erinnere mich, Emil erzählte mir, daß er mit ihm vor einigen Jahren in Heidelberg studirte. Die jungen Leute sind sehr befreundet, mein Sohn hält große Stücke auf den Doktor. Er giebt Ihren Kindern Sprachunterricht?“
„Er unterrichtet sie in fast allen Fächern. Nur für die französische Sprache haben sie eine besondere Lehrerin, eine Französin –“
„Ja, so, es ist merkwürdig, was diese jungen Leute gegenwärtig alles lernen müssen. Man sollte beinahe meinen, es sei zu viel!“
„In der That, man macht jetzt große Anforderungen,“ begann der Graf wieder, um dann mit einiger Anstrengung fortzufahren: „Der Doktor theilte mir mit, daß Sie die freundliche Absicht gegen ihn geäußert hätten, gelegentlich mit mir Rücksprache zu nehmen wegen –“
„Hm?“ machte Felsing.
„Wegen – wegen des Wechsels,“ ergänzte der Graf nicht ohne Mühe.
Felsing sah den Grafen ruhig an.
„O ja, gelegentlich,“ sagte er im gleichgültigsten Tone der Welt, „das hat ja keine Eile. A propos, haben Sie schon gehört, daß man bei Hofe von einer Verlobung des Erbprinzen mit der Prinzessin Anna spricht? Es war in unserer Sitzung davon die Rede.“
Die Stirne des Grafen umwölkte sich.
„Ich habe auch davon reden hören,“ sagte er, nach Fassung ringend, „es ist aber sicher nichts an der Sache. – Die Angelegenheit mit dem Wechsel, lieber Konsul, ist mir doch wichtiger, als Sie anzunehmen scheinen. Offen gestanden. ich wünschte sie gerne so rasch wie möglich geordnet – durch einen Rückkauf.“
„Aber warum denn?“ entgegnete mit dem Ausdruck des Erstaunens Felsing. „Der Wechsel verfällt ja erst in zwei Monaten.“
„Gewiß, aber trotzdem möchte ich ihn sofort zum vollen Betrag wieder einlösen. Ich habe meine Gründe –“
Der Graf stockte.
„Ich begreife Sie wirklich nicht, lieber Graf! Sie nehmen sechzigtausend Thaler auf zwei Monate gegen einen Wechsel im Betrage von neunzigtausend auf und schon nach einem Tage wollen Sie denselben mit neunzigtausend einlösen? Sollte man nicht glauben, es sei Ihnen unangenehm, daß statt des Herrn Treiber ich Ihre Unterschrift in Händen habe?“
„Ach, lieber Konsul, ich bitte Sie, nein, das ist es nicht, gewiß nicht –“ der Graf stockte wieder.
„Nicht?“ sagte Felsing nach einer peinlichen Pause. „Aber was denn sonst? Ich verstehe nicht – wahrhaftig nicht. Oder sollte es irgend eine besondere Bewandtniß mit dem Wechsel haben?“
Der Graf erblaßte. Auf seiner Stirn zeigten sich große Schweißtropfen.
„Nein,“ stotterte er, „– es ist nur –“
„Hm?“ – Felsing sah den Grafen ruhig, aber fest an. Die Züge des Grafen zeigten nachgerade eine tödliche Blässe.
„Herr Konsul,“ begann er wieder, all’ seine Geistesgegenwart und Energie zusammenfassend, „Sie wissen, ich bin augenblicklich in meinen finanziellen Verhältnissen etwas derangirt. Sie glaubten meiner brieflichen Bitte nicht stattgeben zu können. Erlauben Sie mir nun, Ihnen meine Angelegenheit noch einmal mündlich vorzutragen. Wenn Sie auch augenblicklich nicht selbst in der Lage sein sollten – Sie haben große Verbindungen, unumschränkten Kredit. Sie können, wenn Sie nur wollen, Ordnung in meine Finanzen bringen und mich zum größten Danke verpflichten. Bitte, nehmen Sie sich der Sache an! Sie wissen. ich habe immer noch bedeutende Werthe. Da ist z. B. Hochberg, nicht ganz frei allerdings, es werden etwa hunderttausend Thaler darauf lasten, aber die Herrschaft ist ja das Vier- bis Fünffache werth. Ich würde mich sehr schwer von derselben trennen, aber wenn es sein muß, nehmen Sie die Besitzung zu einem civilen Preise und arrangiren Sie meine Verhältnisse, geben Sie vor Allem jenen Wechsel zurück!“
„Hochberg?“ erwiederte lächelnd Felsing. „Aber ich bitte Sie, lieber Graf, was soll ich mit Hochberg machen?“
„Sie besitzen Eckartshausen, und die beiden Herrschaften gehören ja doch eigentlich zusammen.“
„Ich besitze Eckartshausen, ja,“ erwiederte Felsing, „aber ich versichere Sie, daß mir schon das eine große Last ist. Ich kaufte die Herrschaft ja nur aus Affektion gewissermaßen, weil ich dort geboren bin.“
„Sie?“ frug der Graf erstannt und – er wußte eigentlich selbst nicht warum – erschreckt – „Sie sind dort geboren?“
„Ja, geboren und aufgewachsen, in Ruitenheim, dem kleinen Orte, eine halbe Stunde von Eckartshausen, mitten in der Herrschaft.“
„Das ist seltsam,“ murmelte Graf Erich, „wir sind von ziemlich gleichem Alter, ich habe einen großen Theil meiner Jugend in Eckartshausen verlebt, ich kam – oft nach Ruitenheim; da müßten wir uns ja früher schon gesehen haben!“
Felsing nickte wieder und sagte, abermals mit ganz eigenthümlicher Betonung. „Das haben wir auch, lieber Graf!“
Und wieder entstand eine Pause. Dem Grafen wirbelte es im Kopfe.
„Merkwürdig!“ stammelte er endlich hervor. „Ich kann mich wirklich nicht entsinnen.“
„Durchaus nicht merkwürdig, Herr Graf,“ begann jetzt in völlig ruhigem Tone Felsing wieder. „Ich habe mich sehr verändert seither und war damals in ärmlichen Verhältnissen nichts weniger als salonfähig. Der Herr Graf haben sich glücklicher Weise nur wenig verändert seit der Zeit, wo Sie als langer Garde-Officier aus der Residenz auf das Gut kamen. Ich erinnere mich noch sehr wohl – es war im Frühjahr, an einem prächtigen Maiabend, und ich stand gerade am Wege, als Sie mit dem alten Herrn Grafen – der lebte damals noch – in der Equipage mit den vier Grauschimmeln von der Eisenbahnstation nach dem Schlosse fuhren. Sie blieben ein halbes Jahr auf Urlaub und kamen während der Zeit häufig nach Ruitenheim.“
„Ja, ja, ich kam damals oft hin.“
„Als Sie dann nach der Residenz zurückgekehrt waren, hörten wir von Ihrer Verlobung mit der jetzigen Frau Gräfin. Es war eine große Freude auf der ganzen Herrschaft – auch in Ruitenheim!“
Felsing sprach das Alles so harmlos, daß die unbestimmte Furcht, welche den Grafen ergriffen hatte, allmählich zu weichen begann.
„Ja, ja,“ sagte er in ruhigerem Tone, „das ist nun lange, lange her! – Nun, mein lieber Konsul, da wären wir ja gewissermaßen Landsleute.“ Er versuchte zu lächeln, was Felsing erwiederte.
„Gewissermaßen – ja!“ sagte er freundlich.
„Und unser kleines Geschäft,“ fuhr der Graf fort. „Wollen Sie die Freundlichkeit haben? Sie glauben nicht, wie unangenehm mir diese Geldgeschichten sind, wie dankbar ich Ihnen wäre –“
Felsing erhob sich.
„Ich will sehen,“ sagte er, „was sich in der Sache thun läßt, für heute, Herr Graf, entschuldigen Sie mich, ich habe noch allerlei zu besorgen. Auf Wiedersehen!“
„Aber den Wechsel, lieber Konsul, den Wechsel werden Sie mir heute noch zusenden?“
Felsing schien erstaunt über diese Frage.
[515] „Den Wechsel?“ sagte er. „Heute noch? Sie wissen, daß ich neunzigtausend Thaler für denselben bezahlte. Haben Sie diese Summe parat?“
„Nein, nicht ganz; wenigstens nicht gleich heute,“ erwiederte Graf Erich, „aber ich dachte, Sie würden mir den fehlenden Betrag vorstrecken, wenn Sie doch einmal die Freundlichkeit haben wollen, die ganze Angelegenheit in die Hand zu nehmen?“
„Ei, lieber Graf,“ sagte Felsing, „Sie sind etwas zu hastig, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten wollen. Ich will mir die Sache denn doch noch einmal überlegen. Ein Papier, für welches man neunzigtausend Thaler bezahlt hat, giebt man doch nicht so ohne Weiteres aus der Hand.“
Bei dem Grafen machte sich jetzt die lange verhaltene Aufregung Luft.
„Aber ich muß den Wechsel wieder haben!“ rief er mit erhobener Stimme, „Sie müssen mir ihn herausgeben – heute noch!“
„Muß? Müssen?“ erwiederte Felsing kalt. „Was soll das heißen? Warum diese Eile? Diese Heftigkeit?“
„Ich bitte Sie, Herr Konsul,“ keuchte Graf Erich. „Foltern Sie mich nicht länger! Meine Nerven sind aufs Aeußerste angespannt! Ich fühle, daß sie mehr nicht ertragen könnten! Verschonen Sie mich deßhalb mit weiteren Fragen und geben Sie den Wechsel heraus! Ich werde Ihnen den vollen Betrag und mehr, wenn es sein muß, heute noch zustellen. Den Wechsel aber muß ich haben, weil ich nicht eher wieder zur Ruhe komme, bis er vernichtet ist, weil – weil –“
„Weil er gefälscht ist!“ ergänzte mit kalter Ruhe Felsing.
„Herr!“
Der Graf machte eine Bewegung, als ob er auf Felsing losstürzen wollte.
,Nun?“ erwiederte gleichmüthig Felsing.
„Wiederholen Sie das Wort nicht! Ich kann, ich will es nicht hören!“
„Aber weßhalb nicht? Warum genirt Sie denn das Wort so sehr, da die Sache selbst Sie doch nicht genirte?“
„Herr – Herr Konsul,“ knirschte der Graf und seine Hände ballten sich krampfhaft – „hüten Sie sich – gehen Sie nicht zu weit – es hat Alles seine Grenzen – ich bitte Sie – treiben Sie mich nicht zum Aeußersten!“
„Sie sind sonderbar, lieber Graf,“ unterbrach ihn Felsing. „Sie erwarten von mir eine Gefälligkeit, eine nicht gerade kleine Gefälligkeit, wollen einen Wechsel, für welchen ich neunzigtausend Thaler bezahlte, ohne Weiteres heraushaben, und dabei schlagen Sie einen Ton gegen mich an, der zum Mindesten nicht sehr artig und verbindlich ist. Sie sind zu aufgeregt, lieber Graf, und ich rathe Ihnen, mich nicht allzu sehr zu reizen, es könnte sich sonst leicht ereignen, daß auch ich meine Ruhe verlöre und der Wechsel statt in Ihre Hände in die des Staatsanwalts überginge!“
Mit diesen Worten, welche Felsing, ohne eine Miene zu verziehen, ruhig, aber fest sprach, verließ er das Zimmer.
[527]
Graf Hochberg blieb eine Zeit lang wie fest gebannt stehen; dann sank er in einen Lehnstuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Als er sie wieder sinken ließ, hatten seine todesblassen Züge einen furchtbaren, beinahe irrsinnigen Ausdruck angenommen. Er starrte lange vor sich hin auf den Boden.
„Der gefälschte Wechsel,“ murmelte er, „ein häßliches Wort! Bin ich denn wirklich ein – Fälscher?!“ –
Plötzlich sprang er auf. „Der Niederträchtige!“ rief er in einem Anfalle zügelloser Wuth. „Warum ließ ich ihn fortgehen? Warum habe ich ihn nicht zu Boden geschlagen, zertreten? Mir diesen Schimpf, diese Schmach! – Wer ist dieser Mensch? Warum drängt er sich in mein Leben? Warum verfolgt er mich? Warum wirft er mir aus dem Hinterhalt die Schlinge um den Hals und zerrt mich zu sich heran? Will er mich vernichten?“
Graf Erich fiel wieder in das vorherige finstere Brüten zurück. Er kenne ihn schon seit seiner Jugend, hatte der Konsul gesagt, und dem Grafen war es jetzt plötzlich, als kenne er Felsing auch. Ja, einmal hatte es ihm geschienen, als ob er diese Stimme schon gehört hätte! In Ruitenheim, hatte Felsing gesagt, in Ruitenheim, wo er vor Jahren die Liaison mit der schönen Magdalena hatte!
Der Graf versank in ein langes, peinvolles Nachdenken, er fühlte immer deutlicher die Nähe eines Feindes, eines planmäßig und unerbittlich vorgehenden Feindes, gegen den aller Widerstand vergeblich war. Die Drohung mit dem Staatsanwalt ging ihm auch plötzlich in schreckensvoller Klarheit auf. Es war so augenscheinlich – Felsing wollte ihn vernichten, an Vermögen und Ehre; er hatte die ganze Sache mit dem schurkischen Treiber abgekartet. Allmächtiger Gott! Wegen Fälschung verhaftet, vor Gericht gestellt, verurtheilt, ins Zuchthaus – nein, nimmermehr, das nicht! Aber wo Hilfe finden und Rettung? Es gab keine mehr – außer Einer! Wie ein Blitz zuckte der Gedanke in dem gequälten Hirne auf. Ja, das war es – ein rasches Ende – und zwar jetzt gleich!
Der Graf hob entschlossen das Hanpt, trat an seinen Schreibtisch und öffnete das Fach, wo sein Revolver lag. Indem er ihn langsam herausnahm, sah er sich noch einmal in dem schönen Raum um, den die Sonnenstrahlen vergoldeten. Hier war er ein glücklicher Mann gewesen, beneidenswerth vor Tausenden, und nun stand der Tod neben ihm und wich nicht mehr, bis er ihn zu Boden geworfen hatte, regungslos ausgestreckt – nein, nicht daran wollte er denken, er mußte fest bleiben und das Nöthige noch ordnen.
Und wenn es dann aus war mit ihm, was dann? Würde mit ihm aus der Welt schwinden, was er gethan? War dann der Haß des Unerbittlichen gesättigt? Oder würde er ihn noch über das Grab hinaus verfolgen, ihn, seine Frau, die unschuldigen Kinder?!
Mit diesen Gedanken legte sich eine furchtbare Bangigkeit auf seine Brust.
Wenn er sich noch einmal, noch tiefer vor Felsing demüthigte, noch einmal zu ihm ginge, ihn anflehte? – Nein! Es würde ja doch nichts nützen, Felsing würde ihn wieder mit seinem eiskalten Hohne überschütten – nein, mochte kommen, was da wollte, das konnte er nicht mehr! Also sterben! Vielleicht daß, wenn er sich selbst dem Hasse Felsing’s zum Opfer gebracht, dieser wenigstens Frau und Kinder verschonte! Eine gerichtliche Klage konnte nach seinem Tode ohnedies nicht mehr angestrengt werden, wenn der Wechsel eingelöst wurde, und seiner Familie blieb so immerhin noch so viel, daß sie nicht in Noth gerathen konnte.
Nachdem der Graf seinen Entschluß gefaßt hatte, kam eine verhältnißmäßige Ruhe über ihn. Er begann die nöthigen Anordnungen niederzuschreiben, überhaupt noch ein wenig Ordnung zu schaffen. Es war halb vier Uhr. Er wußte, daß um vier Uhr seine Frau mit Gabriele von ihrer Spazierfahrt zurückkehrte. Bis dahin konnte Alles vorüber sein.
Er klingelte seinem Diener und sagte demselben, daß er zu arbeiten habe und ungestört sein wolle.
„Lassen Sie Niemanden eintreten,“ fügte er hinzu – „hören Sie. Niemanden! Und machen Sie ein kleines Feuer in dem Kamin! Ich finde, es ist etwas frostig hier. Ist Hans zu Hause?“ frug er sodann, während der Diener das bereits im Kamin geschichtete Holz in Brand setzte.
„Nein, Herr Graf! Er ging vor einer Viertelstunde mit dem Herrn Doktor aus.“
„Es ist gut. Sie können gehen.“
Aber der Diener, ein alter Mann mit weißen Haaren, zögerte.
„Gestatten mir der Herr Graf,“ begann er, an der Thür stehen bleibend, „Ihnen im Namen meiner kranken Tochter, die ich heute besuchte, aufs Herzlichste zu danken für die reichliche Unterstützung, welche Sie ihr zukommen ließen. Die Kinder sind nun in guter Pflege, und auch meiner Tochter geht es jetzt, wo die große Sorge von ihr genommen ist, besser. Sie ist wieder ganz heiter und glücklich und wünscht mit ihren Kindern dem Herrn Grafen Gottes reichen Segen, Gesundheit und ein langes Leben.“
Der Alte küßte dabei respektvoll des Grafen Hand.
„Das freut mich, lieber Friedrich,“ erwiederte lächelnd Graf Erich, „es freut mich sehr. Es ist gut jetzt, Friedrich, gehen Sie!“
Nachdem der Diener das Zimmer verlassen hatte, verriegelte Graf Erich beide Thüren, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief an seine Frau zu schreiben.
„Liebe Claire,“ begann er, aber schon nach diesen Worten stockte er. Ob er ihr Alles mittheilte? Nein, das ging nicht, sie sollte doch wenigstens noch die Möglichkeit haben, an seine Unschuld zu glauben – um ihrer selbst willen!
Er begann wieder zu schreiben:
„Meine Lage ist unhaltbar geworden, und ich sehe mich in der bitteren Nothwendigkeit, Euch zu verlassen. Laß nach meinem Tode durch Deinen Notar, den Justizrath, sofort das hiesige Anwesen und Hochberg verkaufen. Der Erlös wird hinreichen, nicht nur meine und Eugen’s Verbindlichkeiten zu decken, sondern auch Dir und den Kindern noch eine erträgliche Existenz zu bereiten. Konsul von Felsing ist im Besitze eines Wechsels, bei dessen Ausstellung mir in unbegreiflicher Uebereilung ein verhängnißvolles Versehen passirte. Diesen Wechsel einzulösen soll die erste Sorge des Justizraths sein. Es hängt viel davon ab. In allen unser Vermögen und den Verkauf der Güter betreffenden Angelegenheiten weiß der Justizrath Bescheid. Uebertrage ihm Alles!
Grüße die Kinder! Ich umarme sie und Dich, mein geliebtes Weib! Lebt wohl und verzeiht mir! Es muß sein! Dein Erich.“
Er faltete den Brief und adressirte ihn: „An meine Frau.“
„Ah, das wäre geschehen,“ sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. „Nun meine Papiere noch ordnen.“
Er schloß ein zweites Fach des Schreibtisches auf. Es war sein „geheimes“ Fach und enthielt alte Briefe und Erinnerungen, zum Theil aus seiner frühesten Jugend! Das Beste schien ihm, Alles zusammen zu verbrennen. Er mochte es nicht mehr ansehen, brauchte er doch kaltes Blut. Rasch nahm er eine große Anzahl von Briefen und verschiedenen Gegenständen. Haarlocken, Schleifen, vertrocknete Blumen, einen Fächer, einen Schlüssel aus dem Fach. Aber indem er sich anschickte, sie ins Feuer zu werfen, zögerte er doch.
„Zu was man das Alles aufbewahrt!“ murmelte er. „Man scheut sich, es wegzuwerfen, zu vernichten, und sieht es doch nur dann wieder, wenn man sich auf ewig davon trennen muß!“
Durch seine Finger glitt eine Anzahl von Frauenbriefen, die er einst in Paris während seines dortigen Aufenthalts als Attaché erhalten hatte. Dieser hier war von der Marquise Ernomville, ein gefährlicher Brief – der Marquis hatte Verdacht geschöpft, und wenig fehlte, so hätte er ihn der Zofe abgenommen! Zahlreiche Billets rührten von Fernande, der Schauspielerin am Gymnase, her; sie stand mit der Orthographie auf sehr gespanntem [528] Fuße. – Dann folgte eines – es duftete wahrhaftig noch nach beinahe dreißig Jahren – von der schönen Lady Ellen, sie liebte dieses starke, verrätherische Parfüm; diese blonde Locke war von ihr. Welch wunderbar langes Haar sie hatte! Hier war auch ihr Bild – wie sah das nun verblaßt aus!
Briefe eines Jugendfreundes folgten, der sich wegen einer unglücklichen Liebe in Rom erschossen hatte. Der Graf sah sie nicht ohne Bewegung. Er hatte den jungen Mann sehr geliebt und herzlich betrauert, auch einen Selbstmord wegen solcher Ursache damals unbegreiflich gefunden.
Wer ihm dort gesagt hätte, daß auch er so enden würde, und aus welchen Ursachen!
Plötzlich sprang er, wie von einer Feder emporgeschnellt, auf. „Was ist das?“ rief er im Tone des Entsetzens aus. „Wehe mir! Der Brief Magdalenens! Ihr Abschiedsbrief, noch uneröffnet!“ Er war damals zu feig gewesen, ihn zu erbrechen, und hatte ihn im Laufe der Zeit fast vergessen. Nun mußte er ihm wieder in die Hände fallen, nach fünfundzwanzig Jahren, in seiner Todesstunde! – Ob er ihn öffnete? Er zauderte. – O, diese Geschichte hatte einen ernsteren Schluß als die anderen! – Magdalena! – Leibhaftig stand sie wieder vor ihm mit ihren glühenden und doch so traurigen Augen. Jahre lang hatte sie ihm Ruhe gelassen, aber in der letzten Zeit – seltsam – hatte er diese Augen wieder zu sehen gewähnt, ihren Blick wie aus weiter, weiter Ferne auf sich gerichtet geglaubt. Nachts im Traume, wachend, ja mitten in der heitersten Gesellschaft hatte ihn plötzlich der Blick erschreckt.
Er dachte eine Zeitlang nach. Plötzlich öffnete er den Brief und las, und las, lange, lange, wiewohl es doch nur ein paar Zeilen waren, die da geschrieben standen.
Der Brief entfiel seiner Hand.
„Warum,“ murmelte er, „warum auch that sie den verzweifelten Schritt?! Ich hätte sie ja nicht im Stiche gelassen. Ich verließ sie, ja, aber konnte ich anders?! – Und ich wollte ja für sie sorgen, für sie und das Kind! – Hätt’ ich den Brief nicht gelesen!“
Merkwürdig: der Brief enthielt kein Wort der Klage! Aber wie Dolche durchbohrten die einfachen Abschiedsworte das Herz des Grafen.
„Alles will ich Dir verzeihen,“ stand da zu lesen, „ich begreife, daß ich nicht Dein Weib werden kann, aber ich bitte Dich, werde unserem Kinde ein Vater!“
Und er hatte sich die ganze lange Zeit her nicht um dasselbe gekümmert! Was mochte aus ihm geworden sein? Es war ein Knabe, und wenn er noch lebte, war er jetzt ein Mann! Ein Mann! Sein eigen Fleisch und Blut und für ihn doch nur ein Unbekannter – ein Mann!
Er hatte das Kind ja nie gesehen, nicht einmal an dem Tage, als man es ihm aufs Schloß brachte, wo er eben mit seiner jungen Frau eingezogen war. Damals hatte ihm der Ueberbringer des Kindes gedroht – ah, welch abscheuliche Erinnerung! – Was hatte er nachher nicht Alles gethan, um des Kleinen habhaft zu werden! Umsonst! Spurlos verschwunden! Ob er nicht aufs Neue nach ihm forschen lassen sollte? Thorheit! Es war ja zu spät, zu spät, für Alles zu spät! – Nur zu Einem war noch Zeit, und auch diese war ihm karg zugemessen.
Er sah auf die Uhr.
„Ich muß mich beeilen!“ sagte er, warf die Papiere in das Kaminfeuer und sah mit gefalteten Händen in die Flammen. – „Mein Weib! – Meine Kinder!“ seufzte er, indem er eine Photographie vom Schreibtisch nahm und wiederholt küßte. „Lebt wohl! Gott schütze Euch, und mir – sei er gnädig!“ Er setzte sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch und griff nach dem Revolver.
In diesem Augenblicke wurde ein starkes Pochen an der Thür des Seitengemachs hörbar. Der Graf horchte. Das Klopfen wiederholte und verstärkte sich. Dazu hörte der Graf jetzt die Stimme seiner Frau.
„Erich! Erich! Oeffne mir!“ rief sie.
Der Graf besann sich einen Augenblick. Was sollte er thun? Dann legte er mit einem raschen Entschlusse den Revolver in die offene Schreibtischlade und schob diese zurück.
„Ich komme,“ erwiederte er und ging, die Thür zu öffnen.
Sie wurde ungestüm gegen ihn aufgedrückt, und blaß, mit verstörten Zügen, die seltsam genug gegen den graziösen Luxus ihrer Toilette kontrastirten, stand die Gräfin auf der Schwelle. Sie trat hastig ein und warf einen geängstigten Blick durch das Zimmer; als sie nichts Bedrohliches wahrnahm, milderte sich wohl ihr Ausdruck etwas, aber sie sank völlig erschöpft, die Hand auf das Herz gedrückt, in den nächsten Fauteuil und flüsterte mit heiserem Tone:
„Warum hast Du Dich eingeschlossen, Erich?“
„Ich hatte dringend zu arbeiten,“ erwiederte er befangen und ziemlich unsicher, indem er sich abwandte und Papiere auf dem Tisch über einander schichtete. Er fuhr zusammen, als er sich plötzlich krampfhaft umfaßt fühlte und die heftige Bewegung der sonst so gelassenen und haltungsvollen Frau sich unter strömenden Thränen an seinem Herzen Luft machte.
„O Erich, Erich, was wolltest Du thun?! Was hast Du vor? Leugne es nicht, ich weiß es, aber ich lasse Dich nicht mehr los, bis Du mir heilig versprichst –“ ein Schluchzen erstickte ihre Worte; sie raffte sich aber wieder auf, und an ihrem Gatten emporgerichtet, mit beiden Händen sein Gesicht fassend, rief sie, die noch immer wunderschönen Augen dringend in die seinigen geheftet:
„O mein geliebter Mann, ich kann ja nicht leben, wenn ich Dich nicht mehr habe! Erbarme Dich über meine Todesangst, wenn Du nicht an Dich selbst denken willst – um Gotteswillen, thue das nicht!“
Der Graf hielt in tiefster Erschütterung die schlanke, in Schmerz bebende Gestalt in seinen Armen. Das war es, was er allein gefürchtet hatte, diese entsetzliche Verschärfung seiner letzten Qual … er fühlte fast seine Kraft unterliegen gegenüber dem warmen Strom, der von diesem zärtlichen Frauenherzen ausging; er fühlte, daß er sie in ihren glücklichsten Zeiten nicht so heiß geliebt hatte als jetzt in dieser bangen, furchtbaren Abschiedsstunde. Denn das blieb sie doch, und mit verzweiflungsvoller Schärfe schnitt das Bewußtsein davon durch das Herz des Mannes, der sein Weib zum letzten Male in den Armen hielt. Seine Lippen ruhten auf ihrem duftenden braunen Haar, auf der faltenlosen Stirn; dann sagte er mit mühsamer Fassung und Verstellung, indem er sie sanft von sich löste und in den Sessel niederließ:
„Du bist heute sehr aufgeregt, liebes Herz, und läßt Dich zu seltsamen Irrthümern hinreißen. Beruhige Dich doch! Du siehst, daß ich hier in ganz gewöhnlichen Geschäften sitze. Sie werden mich noch ungefähr eine Stunde kosten, ich komme dann hinüber, um Dich abzuholen, wenn Du mich jetzt allein lassen willst.“
„Wenn ich Dich jetzt allein lasse,“ wiederholte sie mit unheimlichem Tone, ihn starr fixirend, „dann öffnest Du jene Schublade und holst daraus hervor, was ich vorhin,“ sie deutete auf das Schlüsselloch, „in Deiner Hand sah. Entrüste Dich nicht – in solchen Lagen giebt es keine Rücksichten mehr.“ Der Graf machte eine Bewegung, aber in demselben Moment war seine Gemahlin aufgesprungen und faßte seine Hände, indem sie hastig, flüsternd fortfuhr. „Ich war vor einer halben Stunde hier, um Dich abzuholen, und hörte die Worte, die der Konsul gegen Dich ausstieß. ich verstand sie nur halb, aber als ich ihn fortgehen sah mit seinem drohenden Gesicht, da überfiel mich die Ahnung eines großen Unglücks. Ich konnte nicht mehr von der Thür weg, ich sah Dich schreiben und Papiere verbrennen und – Gott, Erich,“ rief sie von Neuem heftig schluchzend, „ist es denn möglich, daß Du das thun wolltest?! Kann es so mit Dir, mit uns stehen?! Komm,“ sie legte in angstvoller Zärtlichkeit den Arm um seinen Hals und suchte ihn zu sich niederzuziehen, „gieb mir endlich das Vertrauen, auf das Deine Frau doch Anspruch hat, wir wollen überlegen – es giebt gewiß einen Ausweg – und im letzten schlimmsten Fall – nimm mich mit Dir, Erich! Ich kann nicht ohne Dich leben – wenn es sein muß, gehen wir zusammen!“
Sie zog ihn nach dem Divan und lehnte liebkosend ihr Gesicht an seine Wange, allein seine düstere Miene hellte sich nicht auf und er starrte unverwandt vor sich hin, während sie dringend fortfuhr:
„Du hast sicher nur nicht gewagt, mir und den Kindern große Opfer zuzumuthen, nicht wahr, Erich? Und ich Thörin ahnte nicht, wie es mit Dir stand, und gab Geld mit vollen Händen aus! Das soll Alles anders werden. Verkaufe auch noch Hochberg, wenn das Haus hier nicht ausreicht – wir gehen ins Ausland, fangen an einem andern Ort klein an und haben und behalten uns, mein geliebter Mann!“
[530] Die liebevollste Ueberredung klang aus ihrer weichen Stimme, aber der Graf schüttelte hoffnungslos den Kopf „Zu spät!“ murmelte er düster.
„Nein, Erich, nicht zu spät,“ erwiederte voll Energie die muthige Frau, „Du hast ganz gewiß noch eine Möglichkeit der Rettung. Sind denn Deine Verpflichtungen so groß, daß sie auch durch den Verkauf von Hochberg nicht gedeckt würden? Doch nicht? Siehst Du wohl? Nun, und dann ist noch unsere Einrichtung da, meine Brillanten und der werthvolle Schmuck, den Du mir im Laufe der Jahre schenktest. Das Alles zusammengelegt muß ja reichen!“
Graf Erich sah voll Ergriffenheit in ihr zuversichtliches Gesicht, das von Liebe und Großmuth leuchtete.
„O wunderthätiges Frauenherz!“ sagte er, indem er ihre Hand an die Lippen zog. „Und wie wenig habe ich das um Dich verdient, mein gutes Weib!“
Sie schlang lebhaft die Arme um ihn und rief: „Sage das nicht, liebster Erich, ich fühle es ja in dieser Stunde, wie unzertrennlich wir verbunden sind. Du hast Dich ja wohl in der letzten Zeit anderen Interessen zugewandt, und ich will nicht sagen, daß es mich nicht manchmal heimlich schmerzte, so von Dir vernachlässigt zu werden. Aber die Liebe zu Dir wurde dadurch nicht in meinem Herzen erschüttert und Alles, was wir jetzt leiden werden, scheint mir geringfügig in dem Gedanken, daß Du mir erhalten bleibst – und nicht aufgehört hast, mich zu lieben!“
„Claire, Claire,“ rief der Graf verzweiflungsvoll. „Du marterst mich! Ich verdiene Deine Liebe und Aufopferung nicht; ich habe als vollständiger Egoist gehandelt, nur an mich selbst gedacht und Euch dadurch ins Verderben gerissen!“
„Ja, als Egoisten habe ich Dich immer gekannt,“ lächelte die Gräfin mit Thränen in den Augen, „damals, als ich die Blattern hatte, und Du Tag und Nacht nicht von mir wichest und immer nur voll Angst warst, ob mich die paar kleinen Narben im Gesicht nicht entstellen würden – oder damals, in Eckartshausen, als die Pferde mit meinem Wagen durchgingen und nach dem Schloßgraben rannten, wie Du da aus dem Fenster des ersten Stockwerks heruntersprangst und Dich ihnen in den Weg warfst, daß Du beinahe beide Beine gebrochen hättest und heute noch ein wenig hinkst – o, ein ganz klein wenig,“ fügte sie liebkosend hinzu, „man sieht es kaum und Du bist heute immer noch ein rüstiger schöner Mann – etwas eitel zwar, aber auch das steht Dir gut! Und die tausend Gelegenheiten, wo Du Deinen Freunden hilfreich warst, den Armen wohlthatest – nein, mein Erich, Du sollst Dein warmes, liebes Herz nicht lästern, ohne daß ich Einsprache thue.“
„Was hilft dies Alles,“ versetzte finster der Graf. „Ich habe daneben schwer, unverzeihlich gefehlt … und das Schlimmste weißt Du noch nicht … meine Ehre ist nicht mehr fleckenlos! Felsing hat einen Wechsel von mir in Händen, der mich in unrettbarer Weise kompromittirt. Ich ließ mich verleiten – in der Meinung, daß Niemand dadurch geschädigt werde – Gott, ich kann Dir nicht erklären, wie es kam – es war …“
„Ich brauche keine Erklärung,“ entgegnete die Gräfin, „möglich, daß Du übereilt gehandelt hast. Diese Geschäftsangelegenheiten sind Dir fremd, und Dein Hauptunrecht war, Dich als Kavalier überhaupt mit solchen Dingen zu befassen, aber Eines weiß ich gewiß und verbürge mich mit meinem Leben dafür: etwas Unehrenhaftes begehen hast Du nie gewollt!“
Die Augen des Grafen leuchteten und er rief, seine Frau fest an sich drückend, mit dem ersten Aufathmen eines gepreßten Herzens:
„Gott segne Dich für dieses Wort, meine geliebte Claire, Du weißt nicht, was Du mir damit wiedergiebst! Es ist fürchterlich, sich selbst … zu verachten! Ich habe namenlos gelitten in dem Gedanken, daß nicht einmal in Euren Augen mein Andenken rein sein wird! Und wenn jetzt das Aergste kommt, wenn ich doch dem Schicksal und Felsing’s unbarmherziger Härte weichen muß – dann wirst Du wenigstens mich nicht verdammen, wenn alle Anderen meinen Namen in den Schmutz ziehen …“
„Das werden sie nicht,“ entgegnete die Gräfin sich erhebend, sehr blaß, aber die festeste Entschlossenheit in den Augen.
„Wie wolltest Du es hindern?“
„Indem ich selbst zu Felsing gehe – sofort – und ihn zwinge, mir den Wechsel herauszugeben“ rief sie glühend. „Das ist der einzige Weg und er führt sicher zum Ziel. Ich werde siegen, verlaß Dich darauf, in einer Stunde hast Du das Papier! O, den Gedanken hat mir Gott eingegeben –“
Sie erhob sich eilig, aber der Graf faßte ihren Arm. „Das geht nicht,“ sagte er nach einem Augenblick inneren Kampfes, „das kann ich nicht dulden, Claire.“
„Was geht in diesem Augenblicke nicht?“ rief sie mit einer großartigen Ueberlegenheit. „Verlieren wir keine Minute weiter – ich gehe, das ist beschlossene Sache, Du bringst mich nicht davon ab. Hast Du das Unglücksgeld für den Wechsel noch?“
„Ja, hier, unberührt, aber es reicht nicht, um ihn einzulösen.“
„Wie viel fehlt?“
„Dreißigtausend Thaler!“
„Nun, der Justizrath brachte mir vierzigtausend und Eugen kann noch einen Tag warten. Mag der Elende Alles nehmen! Aber das Papier, das Deine Ehre bedroht und Dein Leben, das bringe ich Dir zurück –“
„Ich will es selbst holen“ rief Graf Erich.
„Und mit einem einzigen Zorneswort Alles verderben?“ erwiederte sie. „Mein Erich, das geschieht nicht. Du hast Dich eben noch des Unrechts gegen mich angeklagt. Ich fordere jetzt meine Genugthuung: eine Stunde lang laß meinen Willen über dem Deinen gelten; dann will ich wieder mein Lebenlang Deine nachgiebige, folgsame Frau sein.“
Sie küßte ihn zärtlich und wiederholt, um jede Entgegnung zu verhindern, wandte sich dann rasch, klingelte dem Diener und befahl anzuspannen.
„Und nun,“ sagte sie zu ihrem Gemahl, nachdem der Diener sich wieder entfernt hatte, „nun versprich mir noch, mich hier ruhig zu erwarten, nichts zu unternehmen, mich nicht aufzusuchen, dies Zimmer vor einer Stunde nicht zu verlassen! Willst Du mir Dein Wort darauf geben?“
„Ja!“ erwiederte der Graf.
„Gut,“ erwiederte sie und wandte sich zum Gehen. Aber an der Schwelle kehrte sie nochmals um, faltete bittend die Hände und sah ihren Gatten mit einem unbeschreiblichen Blicke an.
„Ach, Erich, verzeihe, aber ich muß noch eine Sicherheit mit mir nehmen.“ Sie trat rasch an den Schreibtisch und holte aus der Schublade die Waffe heraus; ein Zittern ging dabei durch ihre Glieder und ihre Augen füllten sich aufs Neue mit Thränen.
Er wandte das Haupt ab und ein qualvoller Seufzer entrang sich seiner Brust.
„Ich schließe sie drinnen ein,“ hörte er noch ihre leise, liebevolle Stimme sagen, „bis ich zurück bin. Es ist besser so, liebster Mann!“
[543]
Graf Erich hatte sich nach dem Weggang seiner Frau wieder vor seinen Schreibtisch gesetzt. Nach der fürchterlichen Aufregung kam jetzt eine körperliche Müdigkeit über ihn, die ihm das Peinliche seiner Situation wie mit einem Schleier wohlthätig verhüllte. Aber dies dauerte nur kurze Zeit, und bald genug fühlte er seine entsetzliche Lage und besonders die von Felsing drohende Gefahr aufs Neue mit allen ihren Schrecken. In einer Stunde wollte seine Frau zurück sein und mit ihr kam dann auch wohl die Entscheidung, ob seine Ehre wenigstens gerettet war, oder ob er, um der Schande zu entgehen, sein Leben von sich werfen mußte; denn das stand unabänderlich fest bei ihm: er konnte und wollte nicht weiter leben beschimpft, entehrt, ausgestoßen aus der Gesellschaft! Es war ihm, als sollte er eine Stunde lang über einem Abgrund hängen, jeden Augenblick befürchtend, daß der dünne Zweig, um den sich krampfhaft seine Hände klammerten, reiße und er hinabstürze in die Nacht!
Wie schnell das Alles gekommen war! Er erinnerte sich, daß er vorgestern früh noch frei war von der furchtbaren Last, die ihn jetzt zu Boden drückte. Er war in Geldverlegenheit, mehr nicht; dieselbe hätte sich gehoben so oder so. Und um dieser Verlegenheit zu entgehen, that er wider seinen Willen eigentlich, sinnlos, den einen falschen Schritt, den er so gern wieder zurückgezogen hätte! Aber erbarmungslos unabänderlich ist das Geschehene. Mit dem einen unbedachten Schritt hatte er das schwere Verhängniß heraufbeschworen, dem er nun vielleicht erliegen mußte! – Zuweilen war es ihm, als habe er die folgenschwere That gar nicht gethan, als sei Alles nur ein Phantom, das ihn überallhin verfolge, still, körperlos, unfaßbar, aber auch unentrinnbar wie die Luft, die ihn umgab.
Warum hatte er nicht vor Unterzeichnung des unheilvollen Papiers den Doktor angehört? Alles wäre dann anders gekommen. Verhängnißvoller Zufall! Oder doch vielleicht nicht bloßer [544] Zufall? War es das Walten einer höheren Macht, welches sich hier kundgab? War es Sühne alter Schuld, was er erduldete? Hatte die Nemesis ihn ereilt? – Magdalena! Wie durch einen Nebel sah er die schattenhafte Gestalt der Armen wieder, die um ihn den Tod erlitten! Und ihr Kind, das sie ihm sterbend anvertraut – sein Sohn – wo war er? Wie Posaunenschall des jüngsten Gerichts dröhnte ihm jetzt die Frage in den Ohren – und er hatte keine Antwort darauf!
Er überhörte vollständig, daß die in den Vorsaal führende Thür sich nach mehrmaligem Klopfen öffnete und Richard Reiter ins Zimmer trat.
„Entschuldigen Sie, Herr Graf –“
„Ah, Sie, Herr Doktor,“ fuhr der Graf auf, „welch’ ein neues Unheil haben Sie mir mitzutheilen?“
„Kein Unheil! Im Gegentheil, Herr Graf,“ erwiederte Richard, „ich bringe gute Nachrichten. Mein Freund Emil Felsing, welcher von seinem Vater den Verlauf der Unterredung erfuhr, will Alles aufbieten, um eine Verständigung mit Ihnen herbeizuführen. Die Zusicherung, daß das fragliche Papier an Sie ausgeliefert werden solle, hat er bereits erhalten, und mehr noch: auch das Versprechen, daß der Konsul noch einmal bei Ihnen vorkommen und Ihnen die Ordnung Ihrer Geschäftsangelegenheiten anbieten werde.“
Der Graf schüttelte ungläubig den Kopf
„Seien Sie versichert, Herr Graf“ fuhr Richard fort, „daß mein Freund sich glücklich schätzt, Ihnen, den er hoch verehrt, einen Dienst erweisen zu können, und zweifeln Sie nicht, daß es ihm gelingen wird, er ist ein seltener, vortrefflicher Mensch von ganz ungewöhnlichem Charakter.“
Richard hatte Gründe zu diesem Ausspruch, denn die Unterredung der beiden jungen Männer hatte Emil’s liebste Hoffnungen zerstört und doch seine Hilfsbereitschaft nicht vermindert. Richard war nicht im Stande gewesen, ihn, nachdem Gabriele seine Braut geworden, mit falschen Vorsttiegelungen hinzuhalten, seiner geraden Natur war Ehrlichkeit in solchen Dingen Lebensbedürfniß. So hatte er ihm in bescheidenen Worten sein unbegreifliches Glück mitgetheilt und hinzugefügt: „Du verlangst wohl keine Betheuerung von mir, daß Alles in meiner Brust begraben geblieben wäre, wenn ich nur die entfernte Möglichkeit gesehen hätte, daß sie Dich lieben könne. Aber sie hatte bereits die schlechtere Wahl getroffen!“
Und Emil hatte ihm erbleichend die Hand gereicht und nach einigen Momenten des Stillschweigens geantwortet: „Ich gönne Dir Dein Glück, aber der Schlag trifft mich hart und ich werde Zeit brauchen, bis ich darüber hinaus bin. Inzwischen beunruhige Dich nicht über mich, es muß jetzt für ihren Vater gehandelt werden“ – und er hatte ihm das Resultat der Besprechung mit seinem Vater mitgeteilt.
Der Graf reichte dem Doktor, als dieser ihm das Nöthige aus einander gesetzt, dankbar, aber mit trübem Lächeln die Hand, er hatte den Glauben an eine günstige Wendung verloren.
In der Thür begegnete Richard der jungen Gräfin; sie warf dem sich Entfernenden einen glänzenden Blick nach und eilte dann zu ihrem Papa, der so auffallend blaß und niedergeschlagen in seiner Divan-Ecke saß und nicht einmal die gewohnte Cigarre rauchte.
„Bist Du unwohl, lieber Papa?“ begann sie, sich zärtlich an ihn schmiegend. „Was fehlt Dir denn?“
„Unwohl? Nein, mein Kind, ich befinde mich wohl,“ erwiederte der Graf.
„Gottlob! Ich dachte nur, weil Mama erst sagte, sie fahre mit Dir aus, und dann doch allein fuhr –“
„Ich konnte sie leider nicht begleiten“ – unterbrach der Graf seine Tochter – „dringende Geschäfte“. Es trat eine kleine Pause ein.
„Bist Du schlechter Laune, Papa?“ begann Gabriele aufs Neue mit ihrem freundlichsten Lächeln.
„Ich? Nein, mein Kind!“ erwiederte der Graf. „Warum fragst Du?“
„Weil ich gern etwas mit Dir besprechen möchte, was ich lieber verschieben würde, wenn –“
„Nein, nein. sprich nur!“
„Ich weiß nicht, Papa, ob es nicht klüger wäre, es dennoch zu verschieben?“ sagte sie mit einer gewissen Altklugheit.
Der Graf hatte eine leichte Anwandlung von Ungeduld. Aber er bezwang sich und erwiederte freundlich: „Was machst Du für Umstände, Gabriele! Sprich nur! Das muß ja etwas besonders Wichtiges sein?“
„Das ist es auch, lieber Papa! Aber bitte, setze Dich einen Augenblick! Wenn Du immer auf- und abgehst, kannst Du ja nicht recht aufmerken. So, hierher, Papachen!“ Sie zog ihn in einen Lehnstuhl, setzte sich neben ihn auf die Lehne desselben und fuhr in schmeichlerischem Tone fort: „Weißt Du, Papa, es kommt mir in letzter Zeit vor, als ob Mama mit dem Gedanken umgehe, mich – mich – zu verheirathen.“
Der Graf schaute erstaunt auf.
„Ja,“ fuhr Gabriele fort; „sie machte schon ein paar Mal Andeutungen und gestern fragte sie mich direkt, ob mir Graf Rattwitz gefallen würde. Ich habe gleich ‚Nein‘ gesagt, denn er gefällt mir ganz und gar nicht. Darauf meinte sie dann, sie wolle nicht in mich dringen, obwohl es Dein Wunsch wäre, mich bald standesgemäß verheirathet zu sehen.“
„Mein Wunsch?“ erwiederte Graf Erich zerstreut. „Nun ja, es würde mich freuen, gewiß, aber auch ich will keineswegs in Dich dringen, Du bist noch so jung, daß davon noch nicht die Rede zu sein braucht.“
Die Uhr zeigte ein Viertel vor sechs. Der Graf erhob sich, um durchs Fenster zu sehen. Aber die kleine Gräfin ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie folgte ihrem Vater durch das Zimmer. „Nicht? Ah, das ist lieb von Dir, Papachen, das ist lieb!“
Sie sprang bei diesen Worten an ihrem Vater empor und küßte ihn herzhaft. „O, wie froh bin ich, lieber Papa! Ich habe gar keine Lust, schon von Euch zu gehen, und wenn es einmal später sein soll, möchte ich nach meinem Herzen wählen können, nicht wahr, Papa?“
„Gezwungen sollst Du niemals werden,“ erwiederte der Graf ernst.
Gabriele flog ihm wieder an die Brust. „Mein lieber, guter, süßer, einziger Papa! Ich hab’ es ja gewußt. Siehst Du, Papachen, so wie Alice Teezek und Eugenie Wilding und die meisten meiner Freundinnen – so möchte ich mich nicht verheirathen, nein, niemals!“
„Wie so?“ frug der Graf. „Alice Teezek und Eugenie Wilding haben durchaus standesgemäße Partien gemacht.“
„Wohl, Papa!“ entgegnete Gabriele. „Aber das ist es ja eben: so standesgemäß wie sie möchte ich mich gerade nicht verheirathen.“
„Was sagst Du da, Gabriele?“ sagte der Graf erstaunt, „nicht standesgemäß?“
„Nein, lieber Papa, so nicht!“ sagte sein Töchterchen entschieden „Was haben denn Alice und Eugenie von ihren Männern? Den ganzen Tag sind sie in den Kasernen, auf der Reitbahn, auf der Jagd, des Abends im Theater und des Nachts im Klub. Ja, Papa, Eugenie hat es mir gestanden, daß ihr Mann oft erst des Morgens nach Hause kommt, wenn er die ganze Nacht mit Alicens Mann und andern Herren im Klub gespielt und oft die größten Summen verloren hat, so daß er dann den ganzen folgenden Tag Kopfweh hat und verdrießlich ist. Nur in Gesellschaft oder im Theater ist er bei ihr und liebenswürdig gegen sie, sonst gähnt und brummt er. Papa, ich glaube, daß er sie gar nicht liebt.“
Der Graf ging unruhig im Zimmer auf und ab. „Aber,“ sagte er endlich, „was geht denn das Alles uns an? Wie kommst Du nur auf solche Gedanken?“
„O Papa,“ erwiederte mit komischem Ernst die kleine Gräfin; „ich habe mir das Alles sehr reiflich überlegt und bin zu dem Entschlusse gekommen, daß ich niemals einen Mann heirathen werde, den ich nicht liebe, der mich nicht liebt; denn das, lieber Papa, ist doch die Hauptsache!“
Der Graf meinte Schritte zu hören. Er ging zu der nach dem Vorsaal führenden Thür und horchte.
„Aber Du hörst mich ja gar nicht, Papa!“ schmollte Gabriele.
Ein eintretender Diener meldete den Baron Breda.
„Wie ungeschickt! Der langweilige Mensch! Adieu, Papa, ich flüchte mich!“ rief halblaut Gabriele und eilte an dem im nächsten Augenblick eintretenden Baron vorüber zur Thür hinaus.
Auch dem Grafen kam dieser Besuch äußerst ungelegen.
„Entschuldigen Sie mein Eindringen. lieber Graf“ begann Breda. „Ich suchte eigentlich die Frau Gräfin – man sagte mir, sie sei ausgefahren, und ich hoffte von Ihnen zu erfahren, wann sie zurückkehren wird.“
„Meine Frau?“ frug der Graf.
„Ja, ich muß sie nothwendig einen Augenblick sprechen.“ Und auf einen fragenden Blick des Grafen fuhr Breda fort: [546] „Es handelt sich um die Patronage eines Wohlthätigkeits-Unternehmens, wo die Frau Gräfin ja noch nie gefehlt hat.“
„Ich bedaure, Ihnen keine Auskunft geben zu können,“ erwiederte Graf Erich, „die Sache läßt sich ja wohl bis morgen verschieben?“
Breda befand sich in einiger Verlegenheit. Er war gekommen, der Gräfin ohne Zeugen einen Brief ihres Sohnes Eugen zuzustellen, um dessen rasche Beförderung ohne Vorwissen seines Vaters der junge Mann ihn dringend ersucht hatte. Der Brief war in der That äußerst pressant. Eugen schrieb dem Baron, daß er Schulden halber seine Entlassung aus der Armee habe nehmen müssen und so schnell als möglich Berlin und Europa verlassen wolle. Man möge ihm unverzüglich die nöthigen Mittel an eine bestimmte Adresse schicken. Wie sollte Breda diesen Brief nun an die Gräfin gelangen lassen, ohne daß der Graf es merkte? Der Dienerschaft ihn anzuvertrauen, wäre gefährlich gewesen, da der Graf ihn durch einen Zufall dann doch in die Hände bekommen könnte. Breda blieb eine Weile unschlüssig stehen, aber da der Graf ihn jetzt vollständig zu ignoriren schien und nur beständig zum Fenster hinausschaute, so blieb ihm schließlich nichts Anderes übrig, als sich zu empfehlen.
Graf Erich athmete auf, als Breda das Zimmer verlassen hatte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es nur noch wenige Minuten bis sechs war. Seine Aufregung wuchs jetzt von Sekunde zu Sekunde. Endlich hörte er einen Wagen in den Hof fahren. Er eilte ans Fenster. Ja, es war ihr Wagen. Jetzt stieg sie aus.
Der Graf bemühte sich vergeblich, ihr Gesicht zu sehen, um aus dem Ausdruck desselben auf das Resultat ihres Schrittes schließen zu können. Sie wendete es nicht nach seiner Seite. Die kurze Zeit, bis sie oben sein würde, kam ihm unerträglich vor – da – da – der Graf murmelte einen Fluch zwischen den Lippen – da trat ihr eben Breda in den Weg, redete sie an und begleitete sie zurück ins Haus. Der lästige Schwätzer! Wie lange mochte er sie mit seinen Nichtigkeiten hinhalten, während er hier wartete wie der Verdammte auf Gnade!
Wenn das noch lange währte, mußten seine aufs Aeußerste gespannten Nerven reißen!
Endlich – endlich hörte er ihre Schritte. Die Thür öffnete sich und mit Entsetzen sah der Graf in das todesblasse, verstörte Gesicht seiner Frau, welche zu schwanken schien, indem sie auf ihn zutrat.
„Gott, Claire!“ rief der Graf aus. „Was ist geschehen? Es war vergeblich? Er hat Dir das Papier verweigert?“
Die Gräfin versuchte ein Lächeln. Aber ihre Züge, ihr ganzer Körper gehorchten ihrem Willen nicht mehr. Mit äußerster Anstrengung hielt sie sich noch auf den Füßen.
„Nein, nein,“ stammelte sie, „hier – hier ist das Papier!“
„Aber um Gotteswillen, was ist Dir denn? Sprich doch, ich beschwöre Dich!“
„Ich kann nicht, Erich – sei ruhig – laß mich – ich bitte Dich, nur jetzt – nur einen Augenblick allein!“
Mit Mühe schleppte sie sich in das Nebenzimmer, während der Graf vor Schreck gelähmt, an die Stelle gebannt, ihr nachstarrte.
„Was war das?“ murmelte er. „Den Wechsel halt’ ich hier – und doch – kann es denn noch ein neues Unglück geben?“
„Ich muß es wissen!“ rief er endlich, sich ermannend, aus und eilte auf die Thür des Nebenzimmers zu.
Sie war verschlossen.
Er klopfte, erhielt aber keine Antwort.
„Claire! Claire!“ rief er verzweiflungsvoll, indem er aufs Neue und immer stärker pochte.
Plötzlich taumelte er zurück. Er hatte im Nebenzimmer einen leisen Schrei gehört, welchem ein schwerer Fall und ein Klirren wie von zerbrochenem Glase folgte.
„Jesus Maria!“ stammelte er und blieb eine Weile schwer athmend stehen, während er wie vom Fieber geschüttelt an allen Gliedern zitterte. Dann rannte er wieder an die Thür, rüttelte mit wüthender Kraft an den Flügeln, bis sie endlich nachgaben und aus einander fuhren.
Der Anblick, welcher sich ihm bot, als er in das Gemach stürzte, erfüllte ihn mit wahnsinnigem Schrecken. Die Gräfin lag der Länge nach am Boden ausgestreckt, neben ihr ein umgestürzter Tisch, der Revolver und ein zerschelltes Glas, in welchem noch ein Löffel steckte. Sie mußte im Fallen durch Glassplitter verletzt worden sein, denn von der Stirne floß ihr das Blut über die Wangen.
Außer sich gebracht durch diesen Anblick, stürzte der Graf auf seine Frau zu. Er ergriff ihre kalte regungslose Hand.
„Claire! Claire! – Todt!“ drang es in unartikulirten Lauten aus seiner Kehle. Dann sank er besinnungslos neben ihr nieder.
Einige Minuten, nachdem Graf Erich in das Nebenzimmer eingedrungen war, hatte sich die Thür des von ihm verlassenen Zimmers geöffnet, und auf der Schwelle desselben war Konsul Felsing in Begleitung seines Sohnes Emil erschienen. Dieser, von einer warmen Sympathie für den Grafen getrieben, hatte, nachdem die Gräfin seinen Vater verlassen, nicht geruht, bis er den Letzteren dazu gebracht hatte, unmittelbar darauf mit ihm zum Grafen zu gehen, um diesen zu versöhnen und ihm Hilfe in seiner schwierigen Lage zuzusagen.
Es war aber ein schwerer Kampf gewesen, welchen Emil Felsing da zu bestehen gehabt. Er hatte seinen sonst so gütigen Vater, der nicht leicht einem von ihm geäußerten Wunsche widerstand, hart und unbeugsam gefunden, die finsteren Brauen zusammengezogen und jede seiner Bitten mit feindlichem Hohne gegen den Grafen beantwortend. Es war zu heftigen Reden und Gegenreden gekommen, bis endlich Emil in starker Erregung ausrief:
„Dies trennt uns, Vater, ich kann Dich nicht mehr lieben und verehren wie bisher, wenn Du einem Unglücklichen die Rettung mit solcher Grausamkeit verweigerst.“
Felsing hatte ihn darauf ein paar Minuten lang schweigend, mit durchbohrenden Blicken angesehen, und allmählich war ein böses Lächeln über sein Gesicht gezogen.
„Ja, so ein Graf darf nicht untergehen,“ sagte er endlich mit bitterem Hohne, „darüber müßten sich alle Bande der Natur lösen. Sei es denn, ich will Dir den Willen thun, wenn es der edle Herr auch gerade um Dich wahrlich nicht verdient hat!“
„Um mich? Wie so, Vater? Graf Hochberg ist mir immer mit der größten Freundlichkeit begegnet.“
Statt der Antwort schlug Felsing ein grelles, höhnisches Lachen auf, um dann plötzlich in seine vorige finstere Schweigsamkeit zurückzufallen. So hatten sie den Weg hierher stumm zurückgelegt und standen nun im Gemache des Grafen, das seltsamer Weise leer war, obgleich der Diener ihnen doch gesagt hatte, der Graf sei in diesem Zimmer.
Ein Mißverständniß vermuthend, holte Emil den Diener herbei, welcher ebenfalls erstaunt war und, als er die Thür des Nebenzimmers geöffnet fand, in dasselbe eintrat. Mit verstörter Miene kehrte er zurück.
„Ein Unglück!“ rief er zitternd aus. „Ein Unglück!“
Bestürzt sahen die beiden Besucher sich an, und mit einem bangen Vorgefühle eilten sie nun auf die Thür zu, aus welcher im gleichen Augenblick der Graf, todesblaß, das Haar wirr über die Stirn hängend, den Revolver in der Hand, trat.
Als er Felsing erblickte, zuckte er zusammen, wie wenn er plötzlich auf eine Schlange getreten wäre.
„Ist es möglich?“ knirschte er; „Sie wagen es noch, hierher zu kommen? Wollen Sie Ihr Opfer sehen? Wohl, da drinnen liegt sie – in ihrem Blute – und dieses Blut –“ seine Stimme nahm bei diesen Worten einen furchtbaren Ausdruck an – „dieses Blut sollst Du mir bezahlen, Elender!“
Er erhob die Waffe gegen Felsing, aber mit Blitzesschnelle hatte sich Emil vor den Vater gestellt, um ihn mit seinem Leibe zu decken.
Auch Richard, Gabriele, Hans und der Haushofmeister waren, von dem Diener gerufen, herbeigeeilt und starrten jetzt auf die unheimliche Gruppe. Richard hatte sich am frühesten gefaßt und war dem Grafen in den Arm gefallen.
„Nein, laßt ihn!“ rief jetzt Felsing, indem er seinen Sohn zurückdrängte und dicht vor den Grafen hintrat. „Laßt ihn! Er versteht sich auf Menschenopfer! Schießen Sie zu, Graf Hochberg-Eckartshausen, und wie Sie vor fünfundzwanzig Jahren Magdalena in den Tod gejagt, so tödten Sie nun auch mich und diesen hier –“ er stellte sich, während er dies sprach, neben Emil und ergriff dessen Hand – „Ihren und Magdalenas Sohn!“
[557] Die Wirkung der Worte Felsing’s war eine unbeschreibliche. Der Graf war zusammengeschreckt wie vom Blitz getroffen. Er ließ die Waffe fallen, streckte beide Hände wie abwehrend oder einen Stützpunkt suchend vor sich in die Luft, schwankte und stürzte jäh zu Boden.
Laut weinend eilten Gabriele und Hans auf den Vater zu, während der Doktor ihn aufzurichten suchte.
Aber auch auf einen zweiten Anwesenden hatten die Worte Felsing’s wie ein Blitz gewirkt, der plötzlich, die Augen blendend, niederfährt. Emil stand todtenbleich, er war keines Wortes mächtig und starrte bald den am Boden liegenden Grafen, bald Felsing an, dessen Augen Flammen sprühten, während sein Gesicht erdfahl aussah und die Lippen unheimlich zuckten. So blieben Beide einige Minuten unbeweglich, während Richard rasch und energisch im Nebengemach den leblosen Körper der Gräfin aufheben und durch die herbeieilende Dienerschaft nach der andern Seite in ihr Zimmer tragen ließ, ohne daß Gabriele und Hans, die angstvoll um den Vater beschäftigt waren, auch nur ahnten, was nebenan vorging. Eben trat er zur Thür wieder heraus, als die erste leise Bewegung über die Züge des Grafen ging und er tief seufzend den Kopf etwas zur Seite neigte. Jetzt löste sich die Erstarrung, die bisher auf Emil gelegen; er trat rasch vor, knieete neben dem Grafen nieder und suchte die Hand des Mannes zu fassen, für den er ein grenzenloses Mitleid im Herzen fühlte. Aber eine andere Hand griff hart an seine Schulter und suchte ihn emporzureißen.
„Zurück!“ tönte ihm Felsing’s heisere Stimme ins Ohr, „Du hast mit diesem Menschen Nichts zu schaffen, der Dich einst verstoßen und verlassen –“
„Kommen Sie zu sich, Herr Konsul,“ sagte jetzt Richard unwillig mit starker Betonung. „Was Sie auch zu sagen haben, hier ist nicht der Ort dazu. Treten Sie zurück und ersparen Sie ihm Ihren Anblick im ersten Moment. Sie sehen ja – er ist wehrlos!“
Die jungen Männer hoben den Grafen auf einen Sessel, und Gabriele bemühte sich, unter tausend Liebkosungen, ihn zum Leben zurückzurufen. Endlich öffneten sich seine Augen, und ihr erster, starrer Blick fiel auf Emil’s Gesicht. Allmählich kehrte dann die Erinnerung zurück und der Graf flüsterte scheu vor sich: „Mein Sohn – wirklich mein Sohn?“
Aber plötzlich sprang er auf, wie von einem Schuß emporgeschreckt, und sah sich wild um:
„Ist sie todt? Wo habt Ihr sie hingetragen?“
Er stürzte durch die Thür ins Nebenzimmer – es war leer. Vom Gange her trat eben der Haushofmeister ein, er kam aus den Zimmern der Gräfin zurück.
„Ist sie todt?“ schrie ihn sein Herr an.
„Ich habe nach dem Arzt geschickt,“ sagte der Mann betreten, „ich weiß nicht –“
Aber schon war der Graf an ihm vorbei. Schwankend und taumelnd schleppte er sich an den Wänden hin, im nächsten Moment eingeholt und unterstützt von Gabriele und Richard, welchen Hans und die Diener nachfolgten.
Im Arbeitszimmer des Grafen war es todtenstill geworden. Die zwei zurückgebliebenen Männer standen und sahen sich schweigend in die Augen. Endlich griff Felsing nach seinem Hut und sagte rauh zu Emil:
„Komm! Ueberlaß den Bankerotteur seinem Schicksal, der von Deiner Geburt bis auf den heutigen Tag keinen Gedanken für Dich hatte. Komm!“
Allein Emil blieb stehen. „Ich kann nicht so von hier gehen, Vater,“ sagte er aus schwerem inneren Kampfe heraus; „ich muß erst Klarheit haben über mein Verhältniß, zu diesem Manne und zu Dir, ehe ich weiß, was meine Pflicht ist. Sage mir Alles!“ fügte er stehend hinzu.
Felsing zögerte mit der Antwort, dann, als er den entschlossenen Widerstand in Emil’s Augen las, zischte er leise zwischen den Zähnen heraus:
„Du bist der Sohn eines armen braven Mädchens, das der hochadelige Herr bethörte und verließ, wie das so aristokratischer Brauch ist. Ich aber, der die Arme in ihrer Verzweiflung sah, der vergebens versuchte, dem vornehmen Sünder das Gewissen zu rühren, ich nahm Dich nach ihrem Tode, und jeder Blick in Dein Kindergesicht war mir eine Mahnung zur Rache an Magdalenens Mörder!“
„Mäßige Dich, Vater,“ bat der junge Mann.
„Ich bin eiskalt,“ versetzte dieser. „Wer fünfundzwanzig Jahre Zeit zur Abkühlung hatte, der deklamirt nicht mehr, wenn er von seinen Vorsätzen spricht!“
„Und es ist also doch so, wie ich ahnte,“ rief Emil; „Du hast den Ruin des Grafen gewünscht und herbeigeführt!“
„Das Beste dazu hat er selbst gethan,“ versetzte Felsing mit seinem unheimlichen Lächeln, „es brauchte schließlich keine große Anstrengung, um den Knoten zusammenzuziehen. Aber,“ fuhr er leidenschaftlicher fort, „auch wenn er klüger gewesen wäre, es hätte ihm nichts geholfen! Auf seinen Fersen war Einer, der nicht mehr von ihm abließ! Jahrelang war der Gedanke an die künftige Rache mein einziges Labsal, er hielt mich aufrecht, wenn mir der Muth sinken wollte; er ließ mich Alles überwinden, was Andern unüberwindlich scheint. Geld, Bildung, Ansehen – ich erwarb mir Eines um das Andere, ich mußte es erwerben, um ihm nahe kommen zu können, um den Eintritt in seine Kreise zu erzwingen. – Ich habe sie dabei kennen gelernt, diese hohlköpfigen Aristokraten, die vor dem gemeinen Mann kriechen, wenn sie Geld von ihm wollen, ich verachte sie Alle, am meisten aber diesen elenden Weichling, der nicht einmal den Muth seiner Schlechtigkeit hat … All ihre falsche Freundlichkeit vergalt ich mit gleicher Münze und ließ dabei keinen Augenblick mein Ziel außer Augen. Heute habe ich es erreicht,“ fuhr er in wildem Triumphe fort, „er ist ruinirt, und er hat Dich gesehen, nicht als schmutzigen Betteljungen, sondern groß und schön, wie Du bist – nun soll er es erleben, wie’s thut, wenn ein solcher Sohn sich voll Verachtung von dem Vater abwendet, der ihn fünfundzwanzig Jahre lang verleugnet hat. Komm!“
„Ich – kann nicht, Vater,“ stieß Emil heraus, indem er seine Hand von dem umklammernden Griff befreite, „kann es nicht so, wie Du willst. Mißverstehe mich nicht,“ rief er angstvoll, als er die unendliche Bitterkeit sah, die sich über Felsing’s Züge lagerte, „Du bleibst mir immer, was Du bis heute warst –“
„Ich verstehe,“ höhnte Felsing und griff wieder nach seinem Hut. „Ewige Dankbarkeit und so weiter! Und dabei Uebergang ins aristokratische Lager! Das Blut, das Blut! Ich hätte das Blut bedenken sollen. Nun, ich kann allein gehen!“
„Du thust mir bitter Unrecht!“ rief der junge Mann empört. „Niemals kann der Graf in meinem Herzen die Stelle eines wirklichen Vaters einnehmen und Dein Haus wird das meinige sein, so lange Du mich nicht aus demselben weisest. Aber laß mich noch eine Viertelstunde hier – ich muß den Unglücklichen noch sehen und sprechen, er flößt mir trotz Allem ein tiefes Mitleid ein – ich kann nicht grausam und unbarmherzig gegen ihn handeln!“
„Und er konnte es doch so gut gegen Dich, Du weichmüthiger Thor! – Mache was Du willst,“ fuhr Felsiug in steigender Erbitterung fort, „vergiß mich und denke nur daran, wie Du ihm die wohlverdiente Züchtigung ersparst; Du hast wahrlich alle Ursache dazu. Ich aber gehe jetzt, ich habe genug an der Luft in diesem edeln Hause, und vielleicht möchtest Du auch nicht gerne zusehen, wie der Herr Graf zum zweiten Mal die Pistole auf mich anlegt …“
Er sah auf Emil, der die Augen abwandte, und ein Krampf des grimmigsten Schmerzes verzog sein dunkles Gesicht. Noch einen Augenblick blieb er wartend stehen, als aber der junge Mann plötzlich aufstand und nach dem Korridor horchte, woher ein fernes Stimmengewirr schallte, da wandte [558] er sich ab und schritt lautlos über die Schmelle und die Treppe hinunter.
„Ich habe ihn verloren!“ murmelte er drunten im Weitergehen vor sich hin. „Thor, der ich war, das nicht vorauszusehen, blinder Thor! Das ist nun unsere Rache, Magdalena! …“
Wenn im Norden die ersten Herbststürme durch die sonnenlose Luft toben und kalte Regengüsse als Vorboten des Winters die öden Straßen fegen, dann lächeln dem schönen Landstrich der Riviera di Ponente noch köstliche, goldene Tage.
Weithin gedehnt zieht sich der wundervolle Küstensaum mit seinen Dörfern und Städtchen, den malerischen Felsennestern auf steilem Absturz und den prächtigen Villen, deren Gärten das tiefblaue Meer bespült.
Ueber dem Citronen- und Orangendickicht dieser Gärten heben Palmen Cypressen und Pinien die Häupter empor; an den Felsen gedeihen Feigen und Trauben in üppiger Fülle, das ganze Land zu einem blühenden Garten wandelnd.
Unter dichtem Grün auf halber Anhöhe in der Nähe von Bordighera steht ein kleines Landhaus mit weißen Wänden von dessen Terrasse man das ewige Spiel der Brandung zwischen den Uferfelsen vor sich sieht, und wo das Auge weiterhin die sonst geschwungenen Linien der Bucht verfolgen kann, bis zu der großen Einheit des Meerhorizontes.
In einem Zimmer dieses Landhauses saß mehrere Monate nach den im vorigen Kapitel geschilderten Ereignissen ein junger Mann, welchen wir trotz seines gebräunten Teints und wild wuchernden Vollbartes unschwer als den Pflegesohn des Konsuls, Emil, erkennen. Sämmtliche Läden des Gemachs waren dicht verschlossen, denn draußen leuchtete die Sonne eines prachtvollen Oktobermorgens schon so warm aus dem klaren, wolkenlosen Blau des italienischen Himmels herunter, daß man ihre Strahlen von dem Eindringen ins Haus abhalten mußte, um sich eine erträgliche Temperatur in demselben zu sichern. Nur die nach der bedeckten, schattigen Terrasse führende Flügelthür war offen geblieben.
Der junge Mann saß vor einem mit Büchern und Papieren aller Art bedeckten Tische und schien eifrig in den letzteren zu lesen.
Plötzlich hob er den Kopf und lauschte.
Dicht vor seinen Fenstern ertönte eine helle Frauenstimme, welche ein deutsches Lied sang. Es war das alte, ewig junge Liebeslied Walter’s von der Vogelweide:
„Unter der Linden, auf der Heide,
Wo ich mit meinem Trauten saß,
Da mögt ihr finden, wie wir Beide
Blumen brachen und das Gras.
Vor dem Wald mit süßem Schall –
Tanderadei –
Sang im Busch die Nachtigal.“
Wunderbar rein und zart klangen die Töne durch das stille Gemach.
Der junge Mann schien die unsichtbare Sängerin wohl zu kennen, denn ein freundliches Lächeln erhellte, während er lauschte, seine Züge.
Die letzten Töne des Liedes waren noch nicht verhallt, als sich auf der Schwelle der offenen Thür eine auch uns wohlbekannte Erscheinung zeigte: Gabriele Hochberg.
Ein einfacher Strohhut beschattete ihr hübsches Gesicht, aus welchem die blauen Augen noch immer keck und fröhlich herausblitzten.
„Wahrhaftig,“ begann sie, „da sitzt er noch immer, der entsetzliche Bücherwurm, und stöbert in alten Papieren herum, während draußen der herrlichste Morgen heraufgezogen ist und das Meer in den prachtvollsten Farben glänzt! Schau her,“ fuhr sie fort, auf einen Armkorb deutend, den sie auf einen Stuhl niedersetzte – „die herrlichen Orangen! Eine davon sollst Du bekommen – diese rothe nicht – nein – die bekommt Richard!“
„Natürlich, o, das versteht sich ja von selbst,“ lachte Emil, „daß Richard die rothe bekommen muß! Was macht er denn im Augenblick? Mich nimmt Wunder, daß Du Dein Observatorium schon verlassen hast, von welchem aus Du jede seiner Bewegungen beobachtest.“
„Er muß einen interessanten Fang gemacht haben; denn er hat die Barke schon verlassen und sich in sein Strandhäuschen zurückgezogen!“
„Ah so,“ erwiederte Emil mit spöttischem Tone, „deßhalb bist Du auch schon hier! Ohne Richard hat ja der herrliche Morgen und der glänzende Meeresspiegel weiter kein Interesse mehr!“
„Höre, Emil!“ fiel ihm Gabriele in die Rede, weißt Du wohl, daß Du ein recht langweiliger Mensch geworden bist, der den Kopf aus seinen Büchern und Schreibereien nur herausstreckt, um seine arme Schwester mit anzüglichen Redensarten zu quälen? Geh, Du bist ein herzloser Mensch!“
Emil nickte freundlich.
„Spanne Deine Phantasie besser an, Gabi,“ sagte er dann ermunternd, „‚langweiliger, herzloser Mensch‘ befriedigt meinen Ehrgeiz nicht, das sind zu allgemeine Titel. Wenn Du mich wenigstens einen raffinirten Barbaren genannt hättest, wie gestern, als ich Richard zu einem kleinen Spaziergang mit mir allein aufforderte.“
„Ganz recht,“ fiel Gabriele ein, „das bist Du auch, ein heuchlerischer, unschuldig thuender Barbar, der den Frieden zwischen Eheleuten stört und Einem sogar das Bischen Unterhaltung mit dem Fernrohr mißgönnt! Was Anderes bleibt einer armen Frau übrig, deren Mann jeden Morgen, den Gott giebt, an den Strand rennt, um Fische und Quallen und andere See-Ungethüme zu fangen und in einer eigens dazu erbauten Holzhütte stundenlang zu beobachten, während ihr Herr Bruder den ganzen lieben, langen Tag Untersuchungen und Berechnungen über Konsumvereine und Volksküchen, Arbeiterwohnungen und Arbeiterassociationen macht und zwischen hinein zur Abwechselung in alten Briefschaften kramt!“
„Des Weibes Schicksal ist beweinenswerth!“ citirte Emil in tragischem Tone. „Arme Gabriele! Daß Du unglücklich bist, sah ich gleich, als ich ankam, aber von dem wirklichen Umfang dieses Unglücks hatte ich doch noch keine Ahnung … bekommen wir bald etwas zu frühstücken? Es ist unglaublich, wie das Mitgefühl den Appetit schärft!“
Gabriele schüttelte seine versöhnungsuchende Hand energisch ab und fuhr unbeirrt in ihrem Texte fort:
„Früher durft’ ich doch mit Richard auf den Fang fahren, ja, er nahm mich sogar in die geheimnißvolle Holzhütte mit, wo er seine Schätze aufbewahrt und seine Untersuchungen macht. Aber es dauerte nicht lange, so behauptete er, ich sei zu unruhig und ihm fehle, wenn ich um ihn sei, die nöthige Aufmerksamkeit zu seinen Beobachtungen. Ich durfte also nicht mehr mit an den Strand, mußte hier oben bleiben. Was sollt’ ich machen? Der gute Papa muß absolute Ruhe haben, Mama geht nicht von seiner Seite, und wollt’ ich mich mit Dir unterhalten, so hattest Du auch nie Zeit. Ist es da ein Wunder, wenn ich in meiner Verzweiflung auf die Idee kam, mir ein Fernrohr aufstellen zu lassen, mit welchem ich nach Richard’s Station hinuntersehen kann?!“
Sie hielt erschöpft inne.
„Ja,“ lachte Emil. „ein Fernrohr und einen Flaggenstock dazu, um durch das Aufziehen verschiedenartiger Fahnen ihm wichtige Mittheilungen aus der Entfernung machen zu können. Die weiße Flagge zum Beispiel, wenn ich nicht irre, bedeutet: ‚Richard, ich liebe Dich!‘ – die blaue: ‚Richard, ich liebe Dich unaussprechlich!!‘ – die rothe aber: ‚Richard, ich liebe Dich rasend und sehne mich dermaßen nach Dir, daß, wenn Du nicht augenblicklich nach Hause kommst, ein Unglück geschieht!!!‘“
„Abscheulicher Mensch!“ rief Gabriele aus, indem sie auf Emil zusprang, welcher aber geschickt hinter den Tisch retirirte und vor Lachen kaum noch die Worte herausbrachte.
„Ja, ja, Du bist erkannt, Gabi! Die rothe Fahne ist das Nothsignal Deiner Sehnsucht!“
Gabriele nahm, da sie sah, daß sie hier doch nichts ausrichten konnte, plötzlich eine gravitätische Miene an.
„Ich finde es unter meiner Frauenwürde, auf solche Dummheiten zu antworten. Es ist ja doch nur der reinste Neid von Dir, ja, Neid und Eifersucht. Im Uebrigen weißt Du recht wohl, daß die rothe Flagge bedeutet, es sei höchste Zeit, daß er [559] zum Frühstück nach Hause komme. Deßhalb ist sie soeben wieder aufgezogen worden, und ich habe darum auch keine Zeit mehr, Deine albernen Witze anzuhören, weil ich jetzt nach Papa und Mama sehen und dann dafür sorgen muß, daß die unvergleichliche Teresa den Braten nicht wieder anbrennen läßt. Ob Du freilich Etwas davon bekommst, das fragt sich nach Deinen heutigen Schlechtigkeiten noch sehr!“
Sie drehte ihm mit flinken Fingern eine Nase und war im nächsten Augenblicke aus der Thür gesprungen.
Emil sah ihr lächelnd nach.
„Du könntest Recht haben, Schwesterchen“ sagte er leise vor sich hin, „etwas Eifersucht ist vielleicht im Spiel. Aber nein – nein, ich gönne sie ihm, er ist der Einzige, der dieses goldene Herz verdient.“
Dann saß er lange sinnend, in Erinnerung verloren.
Wie war das Alles gekommen, Eines aus dem Andern!
Erst hatte er geglaubt, ein großes Opfer zu bringen, wenn er vor des Freundes Liebe zurücktrat und sich über dessen Glück zu freuen suchte. Der Entschluß war ihm wahrlich nicht leicht geworden, denn die blauen Augen hatten ihm doch tief ins Herz gestrahlt. Dennoch hatte er sich keinen Augenblick ein neidisches Gefühl gestattet. Dann aber waren jene stillen Seelenschmerzen untergegangen in der fürchterlichen Katastrophe, die unmittelbar darauf folgte und andere Opfer, andere Qualen wie mit Flammenschein beleuchtete.
Welcher unglückseligen Verkettung von Umständen war übrigens auch jene Katastrophe entsprungen! In dem Augenblicke, als die Gräfin, erschöpft von den Anstrengungen und Erschütterungen des Tages, ihrem Manne frohen Herzens das verhängnißvolle Papier und die sichere Aussicht auf Rettung bringen wollte, gerade in diesem Augenblicke hatte ihr Breda die Nachricht von der unhaltbaren Lage, von der Flucht ihres Erstgeborenen übermitteln müssen! Das war über ihre Kräfte gegangen. Die Verzweiflung hatte sie erfaßt. Mit einer Ohnmacht ringend, war sie in das Zimmer des Grafen gegangen, um diesem nur schnell das Papier zu übergeben, dann, kaum mehr ihrer Sinne mächtig, in das Nebenzimmer geflüchtet, um Zeit zu gewinnen, sich zu sammeln. Da hatten ihre Kräfte sie verlassen – ohnmächtig war sie zusammengebrochen.
Der Graf in unseliger Verblendung, hatte sie todt geglaubt! Außer sich, sinnlos, hatte er zum zweiten Male nach der Waffe gegriffen, die mit ihr und dem Tische, an den sie sich angeklammert, zu Boden gefallen war! Und in diesem Augenblicke mußte der, welchen der Graf für den Anstifter all’ dieses Unheils hielt, mußte Felsing dem Verblendeten, Rasenden entgegentreten!
Den jungen Mann überlief es eiskalt, als er sich den schrecklichen Moment wieder vergegenwärtigte.
Aber durch die Alles abgleichende Macht der Zeit waren auch die Schrecken jener Stunde allmählich verblaßt und aus der Saat des Unglücks war sogar noch Glück erblüht. Richard hatte Gabriele gewonnen.
Mannhaft hatte er in den dunkeln Tagen, welche auf die Katastrophe folgten, der bedrängten Familie zur Seite gestanden, hatte getröstet und mit Rath und That geholfen, wo er konnte. Und seinem offenen, frischen, muthigen Wesen war es gelungen, Alle wieder aufzurichten, mit neuer Lebenshoffnung zu erfüllen, die verwickelten Geschäftsverhältnisse des Grafen zu ordnen, um dann, nachdem er die noch unbesetzte Stelle für das Petersburger Aquarium erhalten und in aller Stille die Geliebte zum Traualtare geführt, die Familie in dieses ruhige Asyl zu flüchten, in dessen Nähe er sich sofort sein Laboratorium zu anstrengender Berufsarbeit errichtet hatte.
Zu der Ordnung der beinahe unheilbar verwickelten Geschäftsverhältnisse hatte übrigens ganz im Geheimen eine Hand mitgewirkt, welche Emil recht wohl als diejenige seines Pflegevaters erkannte, wenn dieser auch unzugänglicher als jemals war und jede forschende Bemerkung oder Frage kurz und schroff abwies. Emil stand hier überhaupt vor einem Räthsel.
Nicht eine Silbe mehr, als er an jenem Unglücksnachmittag im furchtbarsten Zorn herausgestoßen, war dem hartnäckigen Manne zu entreißen: der Sohn Magdalena’s wußte weiter Nichts von ihr, als ihren Namen, nicht, in welchen Beziehungen Felsing zu ihr gestanden, nicht, welcher Art sein Konflikt mit dem Grafen war, noch woher der tödliche Haß gegen denselben stammte. Alle Bitten und Beschwörungen des jungen Mannes prallten an seinem eisigen Schweigen ab. „Laß das,“ sagte höchstens Felsing mit düsterer Miene, „wenn mich Eines im Leben reut, so ist es, daß mir überhaupt ein Wort davon entfuhr. Ich kann nicht weiter davon reden.“ Und wenn Emil dann den bitter gramvollen Zug um seinen Mund sah, die gebeugte Haltung des früher so stramm aufrechten Mannes, wenn er ihn Nacht für Nacht wie einen ruhelosen Geist in seinem Zimmer hin und her gehen hörte, dann zerschmolz rasch der Zorn, den er manchmal über einen so unerhörten Eigensinn empfand. Und er brauchte nur der zahllosen Wohlthaten zu gedenken, die dieser so gefürchtete Mann auf sein Haupt gehäuft hatte, um eine warme, überströmende Empfindung im Herzen zu fühlen. Ja, er warf es sich sogar als Unrecht vor, als schnöden Undank gegen Felsing, daß er den Grafen seinen Vater, nicht hassen konnte, daß ihn dessen Unglück und menschlich liebenswürdiges Wesen zur lebhaftesten Sympathie bewegte, so daß ihn sogar der Drang seines Herzens endlich trieb, hierher zu dem noch immer Leidenden zu eilen, und daß er ihn hier, wo er im Verein mit Richard seine Briefe und Papiere ordnete und in denselben hundertfache Beweise seiner Herzensgüte fand, von Tag zu Tag mehr lieben lernte!
Unter diesen Papieren war ihm besonders eines aufgefallen, welches einen Beweis von früher zwischen seinem Vater und seinem Pflegevater bestandenen Beziehungen zu geben schien, dieselben aber in keiner Weise erhellte.
Es war ein Brief des Pfarrers von Eckartshausen, in welchem dieser dem Grafen mittheilte, daß er in seinem Auftrag, aber ohne Nennung seines Namens, einem gewissen Johann Felsing dreitausend Thaler vorgestreckt habe.
Dem Briefe lag eine Quittung bei, welche mit einer des Schreibens sehr unkundigen Hand, beinahe unleserlich, unterzeichnet war. Und ein zweites Schreiben des Pfarrers fand sich noch, in welchem er mittheilte, daß er das von Felsing zurückgezahlte Geld, welches der Graf nicht mehr zurücknehmen wolle, auf dessen Wunsch für Wohlthätigkeitszwecke verwenden werde und für diese reiche Schenkung seinen Dank ausspreche.
Aus dem Sinnen, in welches Emil versunken war, weckte ihn die Stimme Gabrielens, welche mit den Worten: „Briefe, Emil – Briefe!“ ins Zimmer flog.
„Von wem?“ frug Emil.
„Der eine von Hans an mich, der andere von Deinem Pflegevater an Dich – der Poststempel ist von Genua! Er wäre also ganz in der Nähe?“
„Gieb her und sieh nach, was Hans schreibt!“
Beide öffneten hastig die Briefe.
„Gute Nachrichten,“ sagte Gabriele während des Lesens. „Hans hat die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium leidlich überstanden – es geht ihm sehr gut, es gefällt ihm täglich besser im Hause des Professors - doch was ist das? Er hat Nachrichten von Eugen erhalten – Dein Pflegevater habe Eugen die zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten nöthige Summe zur Verfügung gestellt, alle Schulden seien bezahlt, und er habe gegründete Aussicht, wieder in die Armee eintreten zu können!“
Sie ließ das Blatt sinken und sah Emil in höchstem Erstaunen an.
„Ist denn das möglich?! Mein Gott, dann wäre ja Papas schwerster Kummer gehoben – Eugen wieder Officier – ach, welches Glück, welches Glück!“ Sie wollte in ihrem Jubel zu den Eltern hinüber stürmen, aber Emil sagte, indem er ihren Arm ergriff:
„Warte, so plötzlich geht das nicht; bedenke des Vaters angegriffenen Zustand – und die Hand, von welcher die Hilfe kommt!“
„Du hast Recht,“ erwiederte Gabriele betreten, „daran dachte ich in meiner Glückseligkeit gar nicht ... Es wird ihm furchtbar schwer werden, dem armen Papa, das zu überwinden ...“
„Das wird noch nicht das Schwerste sein,“ sagte Emil mit einem halben Seufzer. „In meinem Briefe steht –“
„Doch nicht, daß Hans im Irrthum ist?“
„Davon kein Wort. Aber – daß mein Pflegevater mich nächstens hier besuchen will.“
Sie sahen sich schweigend ein paar Sekunden in die Augen. „Nun,“ sagte Gabriele endlich kleinlaut und zögernd, „das ist ja sehr schön und wird Dich sehr erfreuen – nein, nein!“ brach sie [560] plötzlich aus, „ich kann nicht lügen! Schrecklich ist es, daß er kommt, der finstere Mann mit dem bösen Gesicht … Emil, Emil,“ sie warf sich an des Bruders Hals und schluchzte laut, „nun ist unser Glück hier zu Ende. Er kommt, um sich an Papas Ruin zu weiden, um Dich uns zu entreißen –“ sie konnte vor Schmerz nicht weiter sprechen.
„Beruhige Dich, mein Herz,“ sagte er und strich ihr die Haare aus der Stirn, „so ohne Weiteres nimmt man mich nicht fort. Du täuschest Dich übrigens auch – einer Niedrigkeit ist Johann Felsing nicht fähig. Sein Kommen hierher muß einen besondern Grund haben, aber gewiß nicht den, unsern Vater zu demüthigen. Er haßte ihn – ja, aber nur so lange dieser glücklich war … und mich liebt er und wird nichts verlangen, was mich unglücklich machen müßte. Warten wir es also ab – sage vorerst den Eltern nichts, hörst Du? Und vor Allem trockne Deine Augen, daß sie hell aussehen, wenn Dein Gebieter kommt. Er kann nicht mehr lange ausbleiben, denkst Du auch daran, was er für einen Riesenappetit mitbringen wird?“
Gabriele lächelte unter Thränen.
„Ach ja,“ sagte sie, „Richard – und das Frühstück! Gut, daß Du mich daran erinnerst!“
Damit war sie rasch davon geeilt und hatte Emil allein gelassen, welcher nun den Brief seines Pflegevaters wieder hervorzog und aufs Neue las. Es waren kurze Zeilen, ohne jede Angabe des Grundes, der ihn herführe, und Emil’s Stirn verdüsterte sich, während er sie wiederholt überlas; es befiel ihn trotz aller gegen Gabriele gezeigten Zuversicht eine seltsame, stets wachsende Unruhe.
Was wollte sein Pflegevater hier?
Ehe es ihm noch möglich war, seine Gedanken so weit zu sammeln, um darüber eine Vermuthung zu gewinnen, sah er einen Herrn im Reise-Anzug, von dem Gärtner geführt, den Weg zur Terrasse heraufkommen und erkannte im nächsten Augenblick den Konsul, welcher langsam die Verandatreppe heraufstieg. Emil eilte ihm entgegen.
„Vater!“ rief er, ihn herzlich umarmend. „Welch freudige Ueberraschung! Wie ist es möglich, daß Du schon hier bist? Eben erst erhielt ich Deinen Brief.“
„Ich nahm in Genua einen Wagen und fuhr die Riviera entlang ohne Unterbrechung hierher,“ sagte Felsing.
„Und, nicht wahr, der Weg ist bezaubernd schön?“
„Ich habe wenig davon gesehen, Wasser und Berge sind für mich kein Grund, in Entzücken zu gerathen, und löschen mir keine schlimmen Erinnerungen aus. Das habt Ihr andern Enthusiasten besser!“
„Du fuhrst allein?“ suchte Emil abzulenken.
„Allein, wie ich überall bin, seit Du mich verlassen hast. Ich wandere wie Ahasver, vor einer Woche war ich in Paris, vor zweien in London; es ist mir keine Erinnerung davon geblieben. Der Todte im Grab ist nicht einsamer, als ich es in dieser Welt bin, in der mir ein Sohn lebt, den ich mit Sorge und Liebe großgezogen habe!“
„Mein Vater!“ erwiederte Emil lebhaft. „Du sagst das in einem Tone des Vorwurfs, der mir weh thut! Du kennst doch die Pflichten, die mich hierher führten. Und Du glaubst nicht, wie glücklich es mich macht, daß Du endlich den Bann gebrochen, daß Du nun doch zu uns kommst! Ich will nur rasch Gabriele rufen und nach Richard senden.“
„Nein, laß das!“ wehrte der Konsul. „Ich komme zu Dir, Emil, nicht zu Jenen!“
„Zu mir nur? Nicht zu den Meinen?“
„Nein, nicht zu den ,Deinen‘,“ fuhr Felsing fort, „nicht zu dem Manne mit dem liebenswürdigen Lügengesicht, der die Gabe hat, sich in alle Herzen zu schmeicheln und mit seinen Verbrechen straflos zu bleiben, wo die Unschuldigen zu Grunde gehen. Ich kann ihn nicht sehen, den unersättlichen Egoisten, der nun auch mein Letztes an sich reißt, wie er mir alles Andere im Leben genommen hat. Es giebt keine Gerechtigkeit dort oben, sonst müßte es anders stehen mit mir und mit ihm!“
„Es steht mit ihm nicht so, wie Du glaubst,“ erwiederte Emil kopfschüttelnd, „er ist wahrlich nicht straflos geblieben. Und – er ist mein Vater, vergiß das nicht!“
„Dein Vater! Ja, daß Gott erbarm, das ist er, aber der Wolf im Wald ist seinen Jungen ein besserer Vater, als er Dir gewesen ist. Gewissenlos hat er Dich Deinem Schicksal überlassen! Doch nein, nicht etwa nur Deinem Schicksal überlassen – hinausgestoßen, feindlich und grausam hinausgestoßen hat er Dich, ohne auch nur einen Augenblick zu fühlen, was der roheste Tagelöhner für sein Kind fühlt!“
„Du sagst es,“ erwiederte Emil, „und ich muß annehmen, daß Du es glaubst. Urtheilen darüber kann ich erst, wenn Du mir Alles erzählst, um was ich Dich bis jetzt umsonst gebeten habe. Aber das kann ich schon heute sagen: zur Hälfte mindestens mußt Du Dich täuschen. Es mögen verhängnißvolle Irrthümer und Mißverständnisse, leidenschaftliches Handeln mit im Spiele gewesen sein – eine Gemeinheit aber, eine Rohheit hat Graf Hochberg nicht begangen, das ist meine unumstößliche Ueberzeugung. Müßte ich daran irre werden, so wäre mein einziger Wunsch, Du hättest mir kein Wort von diesem unglückseligen Verhältniß gesagt.“
„Was gäbe ich darum, wenn ich es nicht gethan hätte!“ fuhr Felsing heftig auf und schlug sich gegen die Stirn. „Nie hat ein Mensch eine rasendere Thorheit begangen! Du ahntest nichts, wärst ruhig mit mir wieder aus jenem Hause gegangen und ich Unsinniger mußte selbst das Wort sprechen, durch das ich meinen Sohn verlor! Es hat mich seither beinahe den Verstand gekostet!“
Emil faßte nach seiner geballten Faust und löste sanft und freundlich die Finger.
„Ich bin Dir nicht verloren, Vater,“ sagte er. „Könntest Du Dich doch entschließen. die furchtbare Last von Groll und Haß von Deinem Herzen herunterzuwerfen, wie glücklich würde ich sein! Wenn es mir gelänge, Euch zu versöhnen –“
„Nimmermehr!“ schrie Felsing wild. „Du mußt wählen zwischen mir und ihm. Die rechte Hand wollte ich lieber verlieren, als sie ihm zum Frieden reichen, dem Elenden, der mein ganzes Lebensglück vernichtet hat!“
„Weißt Du auch,“ sagte Emil und sah dabei fest in Felsing’s drohende Augen, „daß ich mich manchmal frage, was wohl größer war, sein Unrecht gegen Dich, oder Dein wüthender unmenschlicher Haß, Deine grausame Rachsucht?“
Der Konsul schob mit einem Ruck den Sessel zurück und fuhr in die Höhe.
„So!“ sagte er feindselig, „sind wir bereits so weit? Du bemitleidest ihn und verdammst mich?!“
„Ich verdamme Niemanden,“ antwortete Emil ernsthaft. „Aber Mitleid, ja, das fühle ich für den Unglücklichen, der schwer büßt, was er gesündigt hat. Und Du selbst hast mich an seine Seite gedrängt, indem Du ihn so elend machtest. Er ist mein Vater, ist unglücklich und tief gebeugt – ich kann und darf ihn nicht verlassen!“
„Emil!“ keuchte Felsing in ungeheuerster Aufregung, „ist das – ist das Dein letztes Wort? Du wolltest wirklich – auch Du – mich ihm opfern?“ Er wandte sich ab. „Menschen, Menschen! …“ brach es in höchster Bitterkeit aus seiner Brust heraus.
Aber Emil war gleichfalls mit blitzenden Augen in die Höhe gesprungen.
„Und warum muß es denn Dein letztes Wort sein,“ rief er hocherregt, „daß Du nicht verzeihen kannst? Wer ist der Härtere von uns – Du, mit Deinem starren unbarmherzigen Haß, der Du mir verbieten willst, meinen Vater zu kennen, oder ich, der ich weiter nichts verlange, als Euch Beide lieben zu dürfen, Euch versöhnt zu sehen?“
„Emil,“ sagte Felsing, tief aufathmend, mit ungeheurer Ueberwindung, „Du weißt nicht, was Du verlangst. So wenig wie ich heute mein vergangenes Leben auslöschen und für eine Thorheit erklären kann, so wenig kann ich mich mit diesem Mann versöhnen. Ich kann nicht, hörst Du?! Hier innen“ – er schlug auf seine Brust, „ist Alles kalt und ausgebrannt; an der Neigung für Dich allein spürte ich, daß ich ein Herz hatte wie andere Menschen. Das ist nun auch vorbei, ich habe elend Bankerott gemacht damit, es bleibt mir nur übrig, es wegzuwerfen und mit Füßen darauf zu treten. Und setzt will ich werden, was sie mich bis jetzt fälschlich nannten: herz- und gefühllos – vielleicht lebt es sich viel angenehmer so! Aber wer jetzt meinen Weg kreuzt, der mag sich hüten! – Und nun lebe wohl, ich gehe, da ich hier nichts mehr zu schaffen habe und Du mir abtrünnig geworden bist. Wir sehen uns nicht wieder!“
[561] Er wandte sich rasch der Glasthür zu. Aber Emil schlang seine beiden Arme um den außer sich Gerathenen und rief:
„Nein, ich lasse Dich nicht: Du darfst nicht so von mir gehen, wir müssen eine Verständigung finden. Und – Eines bist Du mir vor Allem schuldig, Du mußt mir endlich Alles erklären, was mir bisher dunkel blieb; ich muß wissen, woran ich bin!“
„Frage doch Deinen Vater,“ erwiederte Felsing höhnisch; „er steht Dir jetzt viel näher als ich und weiß ohne Zweifel die Hauptsache viel besser!“
„Das war ein falscher Klang in Deiner Stimme,“ erwiederte Emil mit der Ruhe, welche dem leidenschaftlichen Manne schon oft imponirt hatte, „so kenne ich Dich nicht!“
„Du hast Recht,“ sagte Felsing mit einer Art von Beschämung. Er ließ sich ohne Widerstand zu dem Rohrsofa zurückführen und sah voll bewundernder Zärtlichkeit in die klaren, gebietenden Augen des jungen Mannes. Ein schmerzlicher Seufzer entrang sich seinen Lippen. „Es ist vielleicht besser so,“ sagte er dann. „Erfahren mußt Du die jammervolle Geschichte doch einmal, ob Du nun mit mir gehst oder ob ich ohne Dich weiter ziehe. Glaube übrigens nicht,“ fuhr er nach einer Pause fort, „daß ich aus einem andern Grunde schwieg, als weil ich Dir Schmerz ersparen wollte. Und erinnere Dich, daß Du es verlangt hast, wenn meine Worte Dir sehr wehe thun.“
Emil drückte ihm schweigend die Hand und setzte sich dann neben ihn.
[574]
In Ruitenheim,“ begann Felsing, „einem kleinen Orte, der mitten in den Besitzungen des Grafen liegt, bin ich geboren. Meine Eltern waren arm, der Vater ein kleiner Handwerker, dem langjähriges Siechthum den Erwerb rüstigerer Jahre aufgezehrt. Einst hatte er eine wohleingerichtete Werkstatt besessen, in welcher er Scheren, Messer, Sicheln, Sensen und andere bäuerliche Werkzeuge verfertigte. Aber er war, wie gesagt, durch Krankheit und sonstige Unfälle herunter und so weit gekommen, daß er schließlich, schwach und krank wie er war, mit Umherziehen sich und seine Familie ernähren mußte. Ich war noch ein kleiner Knabe und verstand nicht viel vom Leben, aber doch wurde ich immer traurig, wenn er oft schon vor Tagesanbruch auszog aus unserer ärmlichen Behausung und sich im Zwielicht über mein Lager beugte, um mich zum Abschied zu küssen. Ich seh’ es noch, das blasse Gesicht mit den müden, kranken Augen, die mich so zärtlich anblickten. Die Mutter – Gott, sie war auch elend genug – erhob sich immer mit ihm und gab ihm das Geleit bis vors Dorf hinaus; dann kehrte sie zurück, und ich sah still liegend – denn ich konnte nicht mehr schlafen – beim Scheine eines Lämpchens ihre mageren Hände sich bewegen in rastloser Arbeit, dann die Milch zum Feuer stellen für mich und Magdalena.“
Emil’s Züge geriethen bei der Nennung des Namens in lebhafte Bewegung.
„Für Magdalena, meine Mutter?“ frug er.
„Für Magdalena, Deine Mutter. Damals war sie noch ein kleines, zartes Kindchen, drei Jahre jünger als ich, und ich hielt sie für mein Schwesterchen. Das war sie aber nicht. Sie war des Vaters Schwesterkind und von den Eltern auferzogen worden, nachdem ihre Mutter gestorben. Die war einmal sehr schön gewesen und hatte eine wundervolle Stimme, mit der sie Alle entzückte, die sie singen hörten. Da war denn eines Tages ein fremder Herr durchs Dorf gekommen, der hatte sie gehört und ihr gesagt: wenn sie mit ihm käme und ihre Stimme fürs Theater ausbilden ließe, so könnte sie große Ehre und Reichthümer erwerben und sich und die Ihrigen glücklich machen. Da ist sie denn mit ihm gegangen, und es schien auch so zu kommen, wie der Herr es ihr gesagt: sie wurde eine berühmte Sängerin und verdiente viel Geld und wurde bewundert und hofirt, und ein Baron soll sie sogar geheirathet haben. Aber lange hat die Herrlichkeit nicht gewährt: als ihre Stimme nachließ, verschwand auch der Baron. Da ging’s mit ihr herunter, tiefer und tiefer, und endlich kam sie wieder im Dorfe an, arm und krank! Aber nicht allein kam sie, sie brachte ein Kindchen mit von wenig Monaten, die kleine Magdalena.
Ich hatte große Freude, als ich das Kindchen sah, wenn auch Vater und Mutter unwirsch waren über die unerwartete Bescherung. Ich freute mich, weil ich nun doch nicht mehr so allein sein mußte, denn mit den andern Kindern im Dorfe hatt’ ich keinen Umgang, oder vielmehr, sie hatten keinen mit mir – unser Häuschen lag etwas abseits, vor dem Dorf draußen! Das hatte mich oft traurig gemacht, jetzt fühlt’ ich es nicht mehr, denn jetzt hatt’ ich ja ein Schwesterchen, die kleine Magdalena. Mit ihr konnt’ ich den ganzen Tag spielen, wenn ich nicht zu lernen hatte, denn der Vater brachte uns von Zeit im Zeit alte, zerbrochene Puppen und Spielsachen, welche die Kinder der reichen Leute nicht mehr mochten.
So vergingen mehrere Jahre und wir wuchsen trotz all der Armuth froh heran. Wenn der Frühling und der Sommer kam, da gingen wir mit einander hinaus an den Bach und in den Wald an den schönen Waldsee, legten uns nieder unter den großen Bäumen, pflückten Gräser und Blumen, und Magdalena erzählte dann wunderbare Geschichten von Nixen und Feen, von verzauberten Prinzen und Prinzessinnen und prächtigen Königsschlössern, die sie alle in ihrem Kopfe erfand. Sie hatte den hoffärtigen Sinn und das phantastische Wesen von ihrer armen Mutter. Die wurde nun kränker und kränker, und als ich eines Abends mit der kleinen Magdalena vom Walde heimkam, da lag sie kalt und steif auf dem Bette ausgestreckt, und mein Vater und meine Mutter saßen in einer Ecke und weinten. Dann nahm der Vater die kleine Magdalena an der Hand und führte sie zu der Todten hin; aber das Kind bekam einen solchen Schreck, daß es in Krämpfen umfiel und fast auch gestorben wäre. Magdalenens Mutter wurde begraben, und mein Vater wurde noch stiller und trauriger als vorher. Das Elend seiner Schwester war ihm sehr nahe gegangen und das hatte sein Leiden noch verschlimmert. Er nahm mich jetzt manchmal mit ins Geschäft auf die Wanderschaft.
Ich ging anfangs nicht gern mit, aber mein Vater sah mich dann immer so ängstlich an und sagte: ‚Komm, Johann, komm, es muß sein! Was wollt Ihr machen, wenn ich sterbe, Du und die Mutter und die Magdalena? Sieh’ zu, daß Du etwas verdienen lernst, damit Ihr nicht Hungers sterben müßt.“
Und ich ging mit dem Vater und half ihm mit meinen schwachen Kräften den schweren Karren mit dem Schleifstein ziehen von Ort zu Ort, half ihm auch beim Schleifen und Ausbessern der vielerlei Werkzeuge, welche uns die Bauern auf die Straße heraus brachten, wo wir denn, der alte kranke Mann und ich armseliger kleiner Junge, Tage lang standen in Sonne, Hitze und Winterkälte, in Regen und Sturm. Damals machte ich meine Lehre durch fürs ganze Leben, eine harte Lehre.
Ich hatte aber gleich von Anfang Geschick zum Geschäft und der Vater hatte seine Freude an mir, denn als er dann immer kränker wurde und schwächer, da konnt’ er doch zu Hause bleiben und sich pflegen: ich besorgte das Geschäft allein und verdiente mit vierzehn Jahren, was wir Alle brauchten. Hätte wohl auch noch etwas erübrigen können, wenn die Krankheit des Vaters nicht so viel Geld gekostet hätte, denn ich holte ihm den besten Arzt aus der Stadt. Der kam zweimal in der Woche und verschrieb ihm theure Arzneien und gutes Essen und Trinken. Aber es war Alles umsonst, der Vater mußte doch sterben, und in seiner letzten Stunde, als er immer schwächer wurde und kälter und sein Athem schwerer ging und er spürte, daß es bald zu Ende sei mit ihm, da winkt’ er mir mit den Augen und ich kam an sein Lager, und er suchte meine Hand und sprach:
„Du bist ein guter Sohn, Johann, und machst mir das Sterben leicht, denn ich weiß, Du wirst für Deine Mutter und die kleine Magdalena sorgen. – Du verstehst ja das Geschäft, und weil Du Vater und Mutter geehrt hast, so wird Dir der liebe Gott beistehen und Dir weiter helfen!“
Dann sank sein Kopf schwerer ein ins Kissen, ich kniete nieder, er legte mir die kalte Hand auf den Kopf und gab mir seinen Segen. Und ich fühlte plötzlich eine große Furcht und rief der Mutter, die draußen arbeitete und gar nicht wußte, daß es schon so weit mit ihm war. Der gab er auch noch die Hand und sah sie lange unverrückt an, bis er starb.“
„Mein armer guter Vater!“ seufzte Emil, indem er die Hand auf Felsing’s Schulter legte.
„Ja,“ fuhr dieser fort, „es war recht traurig, als wir ihn begruben. Ich ging mit Magdalena hinter dem Sarge her. Es gingen sonst nur noch ein paar arme Taglöhner und alte Weiber mit. Als die Schollen mit dumpfem Gepolter in die Grube fielen, da nahm ich mir’s vor, für die Mutter und Magdalena zu sorgen und nicht zu rasten und zu ruhen, bis ich sie in bessere Verhältnisse gebracht. Es ging wohl schwer in der ersten Zeit. Die lange Krankheit und die Beerdigungskosten hatten viel Geld verschlungen, und nun wurde auch die Mutter krank. Aber gern müht’ ich mich vom Morgen bis zum Abend und fuhr meinen Karren von Ort zu Ort, von Haus zu Haus, bis mich die Füße schmerzten, und ließ mich hundertmal des Tags von den Leuten abweisen, wenn ich nur unsern Lebensunterhalt verdiente und Abends meiner Mutter was Gutes zu essen und zu trinken bringen konnte zu ihrer Stärkung. Auch war’s gar nicht traurig bei uns trotz der Krankheit der Mutter, denn Magdalena wuchs heran und blühte auf wie eine Rose, und das niedere, ärmliche Zimmer, in dem wir wohnten, glänzte hell von ihrer Schönheit. Sie war jetzt achtzehn Jahre alt geworden und ich einundzwanzig, [575] und ich hatte sie sehr, sehr lieb. So lebten wir zufrieden und glücklich.
Da kam wieder ein trauriger Tag, an dem ich mit Magdalena wieder vor einem Sterbebette stand. Diesmal war’s die Mutter. Bevor sie die Besinnung verlor, legte sie unsere Hände zusammen und sagte. sie fühle, daß sie uns bald verlassen müsse, und wenn sie nun todt sei und wir so allein, so sollten wir uns heirathen. Mir war, als hört’ ich einen Engel aus dem Himmel reden, ich sah Magdalenen an, mit Thränen fiel sie mir um den Hals, die Mutter lächelte wie verklärt, und obwohl die Besinnung sie bald verließ, lächelte sie selig fort, bis sie starb, und noch über dem blassen starren Antlitz der Todten schwebte dieses friedliche, verklärte Lächeln.“
Felsing machte eine längere Pause, während welcher es in seinem Gesichte eigenthümlich zuckte.
„Du regst Dich zu sehr auf, lieber Vater!“ sprach ihm Emil herzlich zu. „Erhole Dich! Komm, laß uns ein wenig in den Garten gehen, in den Rebengang!“
„Wozu?“ unterbrach ihn Felsing. „Ich bin ganz ruhig! – Als wir die gute Mutter begraben hatten, beschlossen wir, nicht lange mehr mit der Heirath zu warten. Wir waren ja ganz allein auf der Welt und hatten Niemand mehr zu fragen. Ich war so glücklich damals, daß ich mir oft Vorwürfe machte, weil ich über den Tod der Mutter nicht trauriger sein konnte.
Es war im Frühling, und im Spätsommer schon, in wenigen Monaten sollte Magdalena mein Weib sein. Noch eifriger, noch unermüdlicher als zuvor trieb ich jetzt mein Geschäft. ich hatte einen Messerhandel begonnen, der gut ging, und wollte noch eine bestimmte Summe bei einander haben vor der Hochzeit. Da, als ich eines Abends, auf dem Heimweg begriffen, müde an der Landstraße saß und meine Baarschaft zählte, fuhr ein Wagen mit vier Pferden pfeilschnell an mir vorüber, daß mir der Staub ins Gesicht flog.“
Felsing hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort:
„In dem Wagen saß neben dem alten Grafen Hochberg-Eckartshausen ein junger schöner Mann in glänzender Officiersuniform. Das war der junge Graf. Er kam auf Urlaub aus der Residenz nach Eckartshausen zu seinem Vater. Die Uniform legte er bald ab, machte sich’s bequem und durchstreifte zu Pferd oder zu Fuß, die Flinte auf dem Rücken, die ganze Herrschaft. Bald war er hier, bald dort, und überall, wo er sich zeigte, steckten die Mädchen und die Weiber die Köpfe zusammen und wunderten sich über den schönen, jungen Herrn Grafen.
So kam er auch nach Ruitenheim und sah Magdalena und sie sah ihn – und sie gefiel ihm und er – er gefiel auch ihr, und sie sahen sich wieder und wieder, und damit es nicht auffalle und damit ich’s nicht so bald merke, bestellten sie sich in den Wald, und wo sie früher als Kind mit mir so gern gesessen unter den hohen Bäumen am Ufer des Waldsees, wo die Erlen ihre Zweige herunterhängen ins Wasser und wo’s so schattig und kühl und einsam ist, da saß sie jetzt mit dem jungen Grafen und hörte seine Schmeichelworte und träumte von Glanz und Pracht und glaubte dem Verführer!“
Emil’s Gesicht war todtenblaß geworden, er horchte in gespanntester Aufmerksamkeit.
„Ich merkte wohl,“ fuhr Felsing fort, der die Aufregung Emil’s gar nicht zu sehen schien, „ich merkte wohl, daß es nicht mehr richtig war mit ihr, denn geheuchelt hat sie nicht. Sie sagte mir auch bald genug, daß sie mich nicht mehr liebe, daß sie sich geirrt hätte, daß sie mich nicht heirathen könnte. Es schicke sich auch nicht mehr, daß sie allein mit mir in dem Häuschen wohne, sie wolle fort. Ich bat und beschwor sie, nur dies nicht zu thun. Ich dachte, sie werde sich doch wieder anders besinnen, wenn sie nur nicht ginge. Von den Zusammenkünften mit dem jungen Grafen wußte ich freilich nichts, so sehr ich auch ihres veränderten Wesens halber auf sie Acht gab. Sie machten’s gar geschickt, und so dacht’ ich mir, es gehöre eben mit zu ihrem seltsamen Wesen und Charakter, daß sie nun plötzlich nicht mehr wollte, und ich hoffte und hoffte, sie werde sich wieder anders besinnen, während sie immer aufgeregter wurde und ihre Augen immer mehr glänzten. Da plötzlich wurden sie matt und trübe und bekamen einen ganz veränderten Ausdruck und weinten viel und sahen mich oft voll Angst und Verzweiflung an, daß auch mir angst und bange wurde. Und als ich nun in sie drang, mir zu sagen, was sie habe, und sie an die Mutter erinnerte, die uns doch in ihrer Todesstunde zusammengegeben, da fiel sie mir schluchzend vor die Füße und gestand, daß – daß der junge Graf sie verführt – und verlassen habe!“
„Arme, arme Mutter!“ sagte Emil voll tiefen Schmerzes.
„Als ich die Worte hörte,“ fuhr Felsing fort, „war mir’s, als nähme mich ein Wirbelwind plötzlich vom Boden weg und schleuderte mich hoch hinauf in die Lüfte. Ich suchte nach einem festen Halt für meine Füße, meine Hände, und fand keinen und fiel zu Boden. Lange mag ich so besinnungslos dagelegen haben; denn als ich erwachte, war es dunkel im Zimmer und ich erinnerte mich nicht mehr, wie und warum ich gefallen, bis ich das Schluchzen der Magdalena hörte, die zu meinen Häupten knieete und deren heiße Thränen mir auf die Stirn tropften. Da faßte mich ein solches Mitleid mit ihrem Schmerz und kam die alte Liebe wieder so stark und mächtig über mich, daß ich mich erhob und sie in meine Arme nahm und sagte: ‚Magdalena, weine nun nicht mehr! Es war nicht gut, was Du gethan; es ist aber geschehen, und wenn er Dich verläßt und der Schande preisgiebt, so will ich Dich wieder zu Ehren bringen und glücklich machen. Magdalena, ich verzeihe Dir Alles, ja, und in acht Tagen machen wir Hochzeit.‘“
„Mein guter, guter Vater!“ rief Emil in tiefer Bewegung, indem er den Konsul umarmte; „Gott möge Dir’s lohnen, was Du an meiner armen Mutter gethan! Du nahmst sie zu Deinem Weibe und gabst ihr die Ehre wieder!“
„Nein, Emil,“ erwiederte Felsing düster, „so kam es nicht.“
„Nicht? Und warum nicht?“ fragte Emil athemlos.
„Als ich ihr den Vorschlag gemacht hatte, weinte sie noch stärker. Ich sei der beste Mensch von der Welt, stammelte sie, und sie habe mich von Herzen lieb und sie wolle mir’s ewig danken, aber heirathen könne sie mich nun nicht mehr. Sie sei jetzt zu schlecht für mich. Das konnt’ ich ihr nicht ausreden, so viel Mühe ich mir auch gab. Nun wurde ich zornig und meinte, sie halte es doch noch heimlich mit dem Grafen. Bald aber sah ich, daß dem nicht so war. Der Graf schickte noch einige Briefe, sie gab aber keine Antwort, auch nicht, als er einmal seinen Herrn Verwalter sandte, um fragen zu lassen, was er für sie thun könnte.“
„Meine arme Mutter! Was mag sie gelitten haben!“
„Wohl war sie zu beklagen damals,“ fuhr Felsing fort, „denn es kämpfte noch so hart in ihr, weil sie den Grafen noch immer liebte. Ich glaube, sie nährte damals noch eine schwache Hoffnung, er werde plötzlich wiederkommen und nach ihr sehen; er könne sie doch nicht so ganz allein ihr Elend tragen lassen; denn von Zeit zu Zeit wurde sie wieder aufgeregt, fast heiter, und ging in den Wald und setzte sich unter die Bäume, von welchen die Blätter fielen im Herbstwind. – Da kam aber eine Nachricht, die alledem ein jähes Ende machte: der junge Graf hatte sich in der Residenz verheirathet! – – Sie verzog keine Miene, als sie es hörte, nur ihre Augen wurden plötzlich so starr und kalt und glanzlos! Nachher ging sie aber so ruhig, als ob nichts geschehen wäre, an die Geschäfte unseres kleinen Hauswesens, und diese besorgte sie nun auch so fort, Tag für Tag, still und gelassen. Jeder Besprechung ihrer Lage wich sie aus. Ich ließ ihr den Willen, ich dachte, es sei das Beste, sie nicht mit Fragen zu beunruhigen, ihr Zeit zu gönnen, sich zu fassen. So ging der Winter hin, ich wanderte jeden Tag hinaus und besorgte mein Geschäft. – Und es war wieder Frühling geworden, da kam ich eines Abends von einem weiten Gange heim und fand das Nest leer.“
„Was war geschehen?“
„Auf dem Tische lag ein Brief von ihr, in dem sie mir schrieb, ich solle sie nicht suchen, sie sei wohl aufgehoben. Sie danke mir für alles Gute, was ich ihr gethan, und es sei ihr so leid, daß sie sich so undankbar gegen mich erwiesen, ich solle ihr nicht zürnen! – Zürnen? – ihr? – O Gott, nein, das that ich nicht! Ich setzte mich hinter den Tisch und stützte den Kopf in beide Hände und weinte bitterlicher als damals, wo mir der Vater und die Mutter gestorben! – Nun war ich ganz allein in dem Häuschen, ganz allein noch übrig, denn wenn es auch nicht in dem Briefe stand, ich wußt’ es doch, daß sie nicht mehr kommen würde. Ich habe in der Nacht nicht geschlafen. Ich suchte durch unaufhörliches Nachdenken herauszubringen, wo sie wohl hingegangen sein könnte, dachte da und dorthin – [576] vielleicht doch in die Residenz zum Grafen? – nein, das war nicht möglich, auch alles Andere, was mir beifiel, nicht wahrscheinlich. Ich fand nichts’ und doch ging ich am andern Morgen, als der Tag graute, fort, um sie aufs Gerathewohl zu suchen. Ich habe sie dann ein Vierteljahr lang gesucht, Tag und Nacht, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, hab’ keine Geschäfte mehr gemacht, nur gefragt und gespürt und gesucht hab’ ich und hab’ sie nicht gefunden! Aber wieder eines Abends, als ich an mein Häuschen kam, da saß vor der Thür ein fremdes Weib, das auf mich wartete und auf den Armen, eingebettet in ein schönes weiches Tragekissen ein Kindchen trng, das mich mit hellen Augen ansah. Das Kind – warst Du.“
„O Gott!“ stöhnte Emil. „Wo aber war – meine Mutter?!“
Felsing schien die Frage zu überhören.
„Die fremde Frau,“ fuhr er fort, „sagte mir, Magdalena hätte sie angewiesen, mir das Kind zu bringen und einen Brief habe sie auch für mich. Ich nahm den Brief und las ihn – ich habe ihn später oft genug gelesen, um ihn auswendig zu wissen. ,Lieber Johann,‘ schrieb sie, ‚ich schicke Dir mein Kind und bitte Dich, es so lange zu behalten, bis der Graf, sein Vater, es bei Dir holen lassen wird. Das wird nicht lange anstehen; denn ich habe ihm schon geschrieben, daß es bei Dir ist. Das Kind gehört ihm; ich darf es nicht mit mir nehmen dahin, wohin ich jetzt gehen will. Ich bitt’ Dich drum, recht Acht darauf zu geben und es ihm richtig zu überliefern. Ich weiß, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, es ist die letzte. Suche mich nicht, es würde doch nichts nützen. Leb’ wohl, lieber Johann, und sei tausendmal bedankt für all’ Deine Lieb’ und Treue. Magdalena.‘
Ich drang in das Weib, mir zu sagen, wo Magdalena sei. Sie wußte es selbst nicht. Wohl habe jene bei ihr das Kindchen zur Welt gebracht und habe es gepflegt zwei Monate lang, dann aber habe sie ihr gesagt, sie müßte jetzt verreisen, habe ihr Geld gegeben und sie angewiesen, das Kind mit dem Briefe zu mir zu tragen. Da nahm ich das Kind von ihren Armen und sah es an – ‚Des Grafen Kind!‘ schrie laut der Haß in mir und ein mörderischer Grimm schüttelte mich und ich wollt’ es von mir schleudern, daß es stürbe! Da sah mich’s an mit großen blauen Augen und – ‚Magdalenens Kind!‘ stöhnte leis die alte Liebe und ich küßte es, küßt’ es – und meinte, die Magdalena sei mir nun doch wieder halb geschenkt – und trug’s ins Häuschen und legt’ es in das Bett der Magdalena und holte ihm Milch und gab ihm zu trinken, und setzte mich neben das Bett und wachte wieder und sann die ganze Nacht, wie damals, als sie fortgegangen war. Des andern Tags, dacht’ ich, werde der Graf schicken, um das Kind holen zu lassen, es kam aber Niemand. Ich ließ ein armes altes Weib aus dem Dorfe in das Häuschen ziehen, weil ich’s doch nicht recht verstand, das Kind zu pflegen. Am dritten Tage kamen zwei Forstwächter des Grafen auf mein Häuschen zu. Ich erschrak, denn nun, dacht’ ich, werden sie’s holen, und obwohl ich darauf wartete, daß man käme, fürchtete ich mich doch vor dem Augenblick, wo ich es hergeben sollte. Sie fragten aber nicht nach dem Kinde, sondern sagten, drüben im gräflichen Walde, im Weiher, schwimme die Leiche einer Frauensperson, sie glaubten, es sei die Magdalena –“
„Entsetzlich!“ stammelte Emil – „meine Mutter!“
„Ich solle mit ihnen gehen, um zu sehen, ob dem so sei, sie wollten nur noch den Schulzen dazu holen.“
„Und war sie's wirklich?“ fragte entsetzt, athemlos Emil, „– wirklich – meine Mutter?!“
„Sie war es – wirklich! Sie hatte sich gar nicht verändert und war leicht zu erkennen. Mit gefalteten Händen schwamm sie in dem hellen Wasser des Sees, der mit ihren langen, blonden Haaren spielte.“
Die Aufregung des jungen Mannes war bei den letzten Worten Felsing’s eine furchtbare geworden. Er war von seinem Sitze herunter auf den Boden geglitten und hatte die Arme um die Kniee Felsing’s geschlungen.
„O Gott, Vater,“ schluchzte er krampfhaft, „Du zerreißest mir das Herz! Ich kann, ich kann es nicht ertragen!“
„Auch ich, Emil, glaubte es nicht ertragen zu können und mußt’ es doch, mußte mit ansehen, wie sie aus dem Wasser gezogen, auf eine Tragbahre gelegt und durch den gräflichen Wald, der sproßte und grünte und in dem die Vögel sangen, nach dem Dorfe getragen wurde. Vor dem Dorfe war großer Zusammenlauf mit Geschrei. ‚Die Magdalena! Die Magdalena!‘ schrieen sie durch einander – ‚man hat sie! - sie hat sich ersäuft!‘ – Als ob es die Leiche einer Pestkranken wäre, wehrten sie sich dagegen, daß wir mit ihr das Dorf passirten, und drängten sich doch Alle heran, um das arme Opfer zu begaffen! Die Träger besprachen sich eine Weile mit dem Schulzen, und darauf wurde die Leiche ums Dorf herum getragen. Jenseit des Dorfes ist eine Schlucht, die falsche Klinge genannt, ein unheimlicher Ort, aus abergläubischer Furcht gemieden von den Ortsbewohnern. Dort gruben sie ein Loch und legten sie hinein, deckten sie mit Erde zu und gingen. Vorher aber hatte ich eine von den blonden Locken abgeschnitten, die über die Tragbahre herabhingen, und ein kleines Kreuz von ihrem Halse gelöst, das einzige Erbtheil, das sie ihrem Kinde hinterließ … und dereinst mein Brautgeschenk! …“
Seine Stimme zitterte, Emil hielt seine Hand, und ein unendliches Mitleid mit dem gequälten Mann, in dessen Innerstes er heute zum ersten Male sah, erfüllte sein Herz. Ein paar Augenblicke blieben sie schweigend so, dann zog Felsing die kleine Schachtel aus seiner Brusttasche und reichte sie Emil, der das Kreuzchen und die Locke herausnahm und tiefergriffen an seine Lippen drückte.
„Ich blieb,“ fuhr endlich Felsing in seiner Erzählung fort, „und kniete nieder und sprach ein Gebet. Dann wälzte ich einen schweren Stein auf den Erdhügel und ging nach Hause zu ihrem Kinde – zu Dir!“
Wieder folgte eine lange Pause, endlich sagte Emil gramvoll: „Hätte sie mich doch mitgenommen, daß ich diese furchtbare Stunde nicht zu erleben brauchte!“
„Du siehst jetzt, warum ich gerne geschwiegen hätte,“ erwiederte der Konsul, indem er die Hand auf Emil’s Haupt legte, „aber daß sie Dich nicht mit sich nahm, daran hat sie recht gethan! Ich hab’ es ihr oft gedankt, und auch Du dankst es ihr morgen schon wieder. – Als ich damals nach Hause kam, lachtest Du mir freundlich entgegen, und es war mir ein Trost, daß Du da warst. Und es vergingen Tage und Wochen, und der Graf schickte nicht nach Dir. Da hört’ ich, daß er von der Residenz nach Eckartshausen aufs Schloß gekommen sei mit der jungen Gräfin, seiner Frau. Und ich sagte mir in meinem Gewissen, daß ich den letzten Wunsch Magdalenens nicht unerfüllt lassen, daß ich Dich dem Grafen, Deinem Vater, ausliefern müsse, so gerne ich Dich auch behalten hätte. Und weil er nun noch immer nicht nach Dir schickte und Dich in Saus und Braus so ganz vergessen zu haben schien, so stieg der Gedanke in mir auf, daß ich Dich ihm doch wenigstens einmal zeigen müßte!“
Emil nickte zustimmend. „Nun – und?“ frug er.
„So legt’ ich Dich denn in schöne seidene Tücher und wanderte mit Dir nach Eckartshausen ins Schloß zum Grafen. Als ich am Schloßthor angekommen war, wehrte man mir den Eingang. Bettler würden nicht eingelassen, man werde mir etwas herausbringen.
‚Ich bin kein Bettler,‘ sagte ich, ‚ich will mir nichts holen, ich will dem Herrn Grafen ’was bringen!‘ Und damit ging ich hinein, schritt über den Schloßhof und trat ins Schloß. Dort hielten mich der Jäger und der Kammerdiener des Grafen an. Was ich wollte? ‚Sie möchten dem Herrn Grafen sagen,‘ erwiederte ich, ‚es sei Einer da, der bringe ihm etwas von der Magdalena, das würde er schon verstehen.‘ Die Beiden gingen die Treppe hinauf und ich folgte ihnen auf dem Fuß. Nun ging der Kammerdiener in ein Zimmer hinein, der Jäger wartete bei mir und sah mich und meine Last mißtrauisch an, denn ich hatte Dich ganz unter die Tücher versteckt und Du schliefst und rührtest Dich nicht. Es dauerte nicht lange, so kam der Kammerdiener wieder heraus und fuhr mich an: ‚der Graf habe nichts mit mir zu schaffen, ich solle machen, daß ich fortkäme!‘ Da bewältigte mich der Zorn und ich schrie, daß er’s drinnen hören konnte: ,Ich bringe dem Grafen sein Kind, sein eigen, leiblich Kind, und wenn er auch schlecht genung gewesen, die Mutter zu verlassen, so wird er doch sein Kind nicht verleugnen wollen!‘ Da packten mich die Beiden und stießen und zerrten mich die Treppe hinunter, und Du wachtest auf und fingst an zu wimmern und kläglich zu schreien, und wie ich unten im Schloßhof war und über mich blickte, stand am offenen Fenster [578] der junge Graf und sah finster auf mich herunter. Da hob ich Dich empor und schrie hinauf zu ihm: ,Ihr Kind, Herr Graf, das Ihnen die Magdalena schickt, die Sie verführt und verlassen haben, und die sich ersäuft hat im Waldsee!‘
Da sah ich, wie er blutroth wurde im Gesicht und dann leichenfahl, und wie er dann zurücktrat und das Fenster zuschlug, daß es klirrte. Aber nun stießen mich der Jäger und die Bedienten mit Gewalt aus dem Schloßhof hinaus, und zuletzt kamen noch die Hunde des Grafen hinter mir drein, die mit Gebell an mir emporsprangen, während ich Dich fest an meine Brust drückte, damit sie Dich nicht zerrissen. Schon hatten sie mich auf den Boden geworfen und ihre Zähne zerrten an den Tüchern, in denen Du lagst, da pfiff man ihnen vom Schloßhof und so ließen sie uns los!“
„Vater! Vater!“ rief Emil verzweiflungsvoll aus. „Ich bitte – ich beschwöre Dich! Höre auf! Genug nun des Gräßlichen!“
„Sei ruhig Emil,“ erwiederte Felsing, „ich bin gleich zu Ende. – Als ich mich vom Boden erhob, war es just derselbe Ort, wo ich im vorigen Jahre gesessen und geruht und in Gedanken ausgerechnet hatte, wie lange es noch sei bis zur Hochzeit, als der Unglückswagen gefahren kam. Ich lief so schnell ich konnte weiter. Die Sonne stach heiß herunter, ich war zum Tod ermattet und strengte alle meine Kräfte an, mit Dir nach Hause zu kommen. Der Weg zog sich in den Wald und plötzlich stand ich an dem dunkeln kleinen See, in dem Magdalena ihr Ende gefunden. Es war so still ringsum, mich faßte plötzlich der Gedanke, es ihr nachzuthun und mit Dir ebenfalls hineinzuspringen, um Erlösung aus all der Qual zu finden. Ich starrte auf das grüne Wasser hin, und plötzlich schien mir’s, als sehe ich ihr blasses Gesicht daraus auftauchen mit den langen blonden Haaren. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sah ich Nichts mehr. Aber da war mir’s, als riefe mir Einer in die Ohren: ‚Sei kein Feigling, räche sie! Strafe ihren Mörder!‘ Ich warf mich auf die Kniee neben dem Baumstumpf auf den ich Dich gelegt, und streckte die Hände gen Himmel. Kein Gebet ist jemals heißer und inbrünstiger hinaufgestiegen als der Fluch und Racheschwur, den ich damals aus tiefster Seele dem Allmächtigen gleichsam in die Hände gelobte. Als ein verwandelter Mensch stand ich auf – ich hatte jetzt wieder ein Ziel im Leben, und wenn es auch noch so fern stand: daß ich es erreichen würde, eines Tages, das wußte ich sicher!
Mein erster Schritt war, von Ruitenheim wegzuziehen; ich verhandelte mein armseliges Häuschen an einen Bauern, der es zu einem Stalle brauchen konnte, und mit dem geringen Erlöse desselben und einem Kapital, das mir der brave Pfarrer von Eckartshausen verschaffte, zog ich in die Welt und fing ein festes Geschäft an. – Von da an hab’ ich Dich als meinen eigenen Sohn gehalten. Sag’ selber: hab’ ich nicht?“
„Ja, ja,“ rief Emil mit von Thränen erstickter Stimme, indem er seinen Pflegevater umarmte, „Du hast mich überschüttet mit Güte und Liebe, Dir dank’ ich, daß ich lebe – Alles, Alles dank’ ich Dir!“
„Nun denn,“ sagte Felsing, die Hand seines Pflegesohnes ergreifend, „so folge mir!“
Aber Emil wich nicht von der Stelle.
„Kann ich denn?“ rief er aus. „Alles was Du sagtest, ist schlimmer, als ich es für möglich hielt, und dennoch fühle ich auch jetzt wieder nur das Eine: er ist – mein Vater!“
„Er ist der Mörder Deiner Mutter,“ entgegnete Felsing hart. Ein schmerzliches Zucken des jungen Mannes zeigte, wie furchtbar ihn diese Worte berührten. Er brauchte lange, um sich wieder zu fassen und zu sammeln.
„Wo find’ ich Worte,“ begann er endlich, „Dir zu entgegnen? Wo die Kraft, wider die ungeheure Anklage zu kämpfen, die sich aus jedem Deiner Worte gegen ihn erhebt? – Er hat Dich schwer verletzt, Dich hart geschlagen, aber was ist all’ das Unrecht, das er Dir gethan gegen das, welches er meiner armen Mutter zugefügt! Dir raubte er die Braut, ohne Dich zu kennen; ihr raubte er die Ehre und das Leben, ihr, die ihm vertraute!“
„Du sprichst sein Urtheil!“ unterbrach ihn Felsing.
„Nein, Vater, nein!“ fuhr Emil fort, „denn meine arme Mutter hat ihm verziehen und als ein Pfand ihrer Verzeihung vermachte sie mich ihm in ihrer Todesnoth. Dir aber hat sie zum Zeichen ihres höchsten Vertrauens die Vollstreckung ihres letzten Willens übertragen. Wie sicher baute sie doch auf Dein Herz! Und Du – hast Du nun ihren Willen so erfüllt, wie sie’s erhoffte? Als Du mich dem Vater damals brachtest, wolltest Du ihn schonen, so wie sie’s wollte? War jener Weg ins Schloß nicht schon der Anfang Deiner Rache? – Im peinvollen Drange des Augenblicks, von falscher Scham verführt, hat auch er den rechten Weg damals nicht gefunden. Er wies Dich von seiner Schwelle, Dich, den er schwer verwundet, dem er so viel genommen! Er hat es schwer gebüßt! Dein ganzes Lebensglück aber hat nicht er, Dein Rachedurst hat es Dir geraubt; denn wie ein Kranker, der, immer nach der Stelle tastend, die ihn schmerzt, den Schmerz dadurch erneuert und die Heilung hindert, so hast Du in der Wunde, die er Dir schlug, ohn’ Unterlaß gewühlt, daß sie sich niemals schließen konnte. Laß sie endlich, endlich sich schließen und versöhne Dich mit meinem Vater, welcher glücklich wäre, Alles wieder gut machen zu können, was damals wider seinen Willen Dir geschah!“
„Wider seinen Willen? Wer sagt das? Hat er denn das Mindeste gethan, um sein Unrecht gut zu machen? Hat er auch nur einmal nach mir, nach Dir wieder gefragt?“
Emil war stumm an den Tisch getreten und hatte aus den dort liegenden Papieren eines ausgesucht, welches er nun dem Konsul überreichte. „Lies das,“ sagte er.
Es war der Brief des Pfarrers von Eckartshausen mit der Quittung Felsing’s.
Der Konsul flog die Papiere durch und seine Züge bekundeten das lebhafteste Erstaunen. „Das ist die Quittung über das Geld, mit welchem ich meinen jetzigen Wohlstand gründete. Wie kommt –“
„Dieses Geld kam von meinem Vater,“ unterbrach ihn Emil.
Es trat eine lange Stille ein. Felsing starrte unverwandt auf das Papier, auf die Unterschrift, die er damals in seiner größten Noth für den unbekannten Wohlthäter gegeben.
„Vom Grafen!“ murmelte er endlich. „Wenn ich’s gewußt hätte, wahrlich, ich hätt’ es nicht genommen! Nun, ich hab’ es zurückbezahlt, das Geld, mit dem er mich zu bezahlen wähnte! Und glaubst Du wirklich, daß er mit diesem Gelde seine Schuld bezahlt hat: den Verrath an Deiner Mutter und die Vernichtung meines Lebensglücks? Glaubst Du, daß er damit das Recht erkauft habe, mir meinen letzten Trost, Dich, zu rauben und sich weiter seines Lebens zu freuen?!“
In diesem Augenblick hörte man im Nebenzimmer ein Geräusch von Schritten, welche sich der Thür näherten. Dieselbe wurde geöffnet und heraus trat, von der Gräfin und Gabriele geführt und von Richard gefolgt, Graf Erich.
Der vor wenigen Monaten noch so stattliche und jugendlich aussehende Mann war kaum mehr zu erkennen. Tiefe Falten durchfurchten sein mageres Gesicht, welches von langen, schneeweißen Haaren eingerahmt war.
Mühsam nur schleppte er sich mit Hilfe der beiden Frauen fort.
„Warum wollt Ihr mich durchaus auf die Terrasse führen?“ kam es in abgerissenen Lauten von seinen Lippen. „Ich kann das Licht nicht ertragen! Laßt mich im Dunkeln! Ich bitte Euch! Laßt mich!“
Emil hatte seinen Pflegevater rasch in die Ecke gedrängt, aber schon hatte der Graf denselben gesehen und seinen Blick unverwandt auf ihn gerichtet.
Es lag weder Furcht, noch Schreck, noch Haß – nicht einmal Ueberraschung in diesem Blick.
„Sind Sie endlich gekommen, Felsing? Ja, ja, ich dachte mir’s, daß Sie kommen würden – habe Sie lange erwartet. Sie wollen mir meinen Sohn nehmen und ich weiß ja wohl, Sie haben das Recht, ihn zu besitzen, das ich verwirkt habe!“
Mit Felsing, der beim Erscheinen des Grafen denselben mit finstern Blicken gemessen hatte, ging bei diesen Worten eine seltsame Veränderung vor. Alle seine Gesichtsmuskeln waren in Bewegung, er griff mit der Hand nach dem Herzen, sein Mund öffnete sich, als wollte er sprechen, aber kein Laut entrang sich demselben.
„Mein Eugen dahin,“ begann der Graf wieder mit beinahe tonlosem Flüstern – „und nun werd’ ich wohl auch diesen nicht mehr wiedersehen, der mir erschienen war als Pfand der Verzeihung meiner schweren Schuld!“
[579] Die Schwäche des Grafen wurde bei den letzten Worten so groß, daß die beiden Frauen Mühe hatten, ihn zu halten, und Emil und Richard zu ihrer Unterstützung beispringen mußten, um den Grafen zu einem Stuhle zu geleiten.
„Ihr Eugen, Herr Graf, ist gerettet! Ich – ich habe ihn wieder auf die Füße gestellt – in diesem Augenblicke ist er wieder bei seinem Regimente und von seinen Thorheiten gründlich geheilt!“
„Felsing!“ rief der Graf, den die Worte mit neuer Lebenskraft zu erfüllen schienen; „Sie – Sie hätten – o Dank! Dank!“
„Ich verlange keinen Dank, es war nur so eine Marotte von mir,“ erwiederte Felsing und seine Stimme hatte einen weicheren, milderen Klang bekommen. „Auch Magdalenens Sohn will ich Ihnen nicht rauben. Er soll frei sein in seinen Entschließungen. Ich habe ja das Entsagen gelernt! Leben Sie wohl, Graf Erich! Unsere Rechnung ist ausgeglichen!“
Lautlos hatten Alle auf diese Jedem unerwarteten Worte gelauscht. Jetzt aber eilten Emil, die Gräfin und Gabriele auf Felsing zu und faßten in überströmendem Dankesgefühle seine Hände.
„Nicht doch, Felsing,“ redete die Gräfin ihm zu – „Sie dürfen nicht von uns gehen, Sie können so nicht von uns gehen. Ihr edles Herz wird das nicht zulassen.“
Und mit einem Blick auf ihren Gatten fuhr sie fort: „Was er verschuldet, hat er schwer gebüßt! Wollen Sie den Tiefunglücklichen, Schwerbereuenden nicht mit einem Worte aufrichten? Wollen Sie die zitternde Hand, die er Ihnen entgegenstreckt, nicht ergreifen?“
„Wenn ich es auch wollte – ich kann es nicht,“ erwiederte tiefergriffen Felsing. „Magdalena steht zwischen uns und wehrt mir ab!“
„Nicht doch, mein Vater,“ sagte Emil feierlich, „Du irrst! Der Wahn, der Haß sind nur von dieser Welt, da droben schwinden sie, und wenn meine arme Mutter jetzt auf uns hernieder schauen kann, so wird sie den Augenblick segnen, wo Ihr Beide dem Sohne zulieb Eure Hände in einander legt!“
Felsing machte einen Schritt dem Grafen entgegen, dann zauderte er wieder.
„Ich stehe schwer in Ihrer Schuld, Felsing,“ flüsterte der Graf.
„Wir haben Beide geirrt und gefehlt,“ erwiederte Felsing. „Auch ich habe gethan, was mich reut! – Hätt’ ich gewußt, daß Sie es waren, der mich damals unterstützte, Manches wäre nicht geschehen! Was ich an Gütern dieser Welt besitze, dank’ ich Ihnen!“
„An Gütern dieser Welt! Sie haben Ihnen kein Glück gebracht,“ sagte der Graf. „Sie sind mir keinen Dank dafür schuldig. Ich aber, ich danke Ihnen einen Sohn – zwei Söhne!“
Felsing stand in heftigem inneren Kampfe; er vermied es, einem der Anwesenden ins Gesicht zu sehen, und Niemand wagte, in diesem Augenblick das Wort an ihn zu richten. Da trat Gabriele, die bis jetzt zur Seite gestanden, leise zwischen ihn und ihren Vater. Sie hob die feuchten Augen mit kindlich bittendem Ausdruck zu Felsing empor, und indem sie seine Hand nach dem Grafen hinzulenken suchte, drückte sie schweigend einen Kuß auf dieselbe.
Die einfache Liebkosung wirkte erschütternd wie keine der vorhergegangenen Reden, sie schmolz den letzten harten Groll von seinem Herzen – und laut aufschluchzend umfing er das blonde Haupt und drückte es fest und innig an seine Brust.
Dann streckte er die Rechte dem Sohn entgegen und rief mit bebender Stimme:
„In Gottes Namen – ja – Ihr habt gewonnen – die Vergangenheit soll begraben sein – für immer!“
„O Vater,“ rief Emil, indem er ihn stürmisch umarmte, „wie glücklich machst Du mich!“ –
„Denn ich habe in den letzten Stunden erkannt,“ fuhr Felsing ernst und feierlich fort, „daß der Mensch sich nicht vermessen soll, den Richter und Rächer zu spielen. Unser Haß ist blind und eine höhere Hand schnellt den Pfeil auf den Schützen zurück. Wir haben es erlebt. Und jetzt heißt es umkehren!“ rief er mit seiner alten Energie, „den falschen Weg verlassen und den rechten einschlagen. Die Sühne, das fühle ich jetzt tief, liegt nicht in der Rache – ich glaube,“ fügte er leiser hinzu, „sie liegt in der Selbstüberwindung, in –“
„Im Verzeihen,“ vollendete die Gräfin und legte die Hände der beiden Männer in einander.