Marcella Sembrich
[499] Marcella Sembrich, die gefeierte Gesangskünstlerin (Portrait S. 485), ist im Jahre 1858 zu Lemberg in Galizien geboren, wo ihr Vater Musiklehrer war. Unter der Leitung desselben entwickelten sich die früh hervortretenden musikalischen Anlagen der Künstlerin so schnell, daß Marcella im Alter von 12 Jahren bereits als Klavier- und Violinspielerin öffentlich auftrat und großes Aufsehen erregte. Die weitere Ausbildung des jungen, vielversprechenden musikalischen Talentes übernahmen die Professoren Bruckmann und Stengel, beide am Konservatorium in Lemberg. Von hier begab sich Marcella nach Wien, um unter Liszt’s Anleitung sich als Klavierspielerin zu vervollkommnen. Hier in Wien war es, wo sie auf ihre wunderbaren Stimmmittel aufmerksam gemacht wurde und den Entschluß faßte, sich für das gesangliche Fach ausbilden zu lassen. Lamperti junior in Mailand, gegenwärtig am Dresdener Konservatorium als Gesanglehrer thätig, übernahm ihre Ausbildung, die in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit so weit vorgeschritten war, daß die junge Künstlerin am 3. Juni 1877 in Athen als Elvira in den „Puritanern“, als Lucia und Dinorah mit großem Erfolg zum ersten Male auftrat. Nach Wien zurückgekehrt, studirte sie unter Professor Levy’s Leitung das deutsche Opernrepertoire, bis sie sich 1878 in Dresden mit überraschendem Erfolg als Lucia einführte. Hier blieb die Künstlerin bis zum Jahre 1880; ihre Zerline (Don Juan), Susanna (Figaro) und Constanze (Entführung) wurden allgemein eben so sehr bewundert, wie ihre Martha, Gilda, Amina und andere ernste Partien. Nachdem sie am niederrheinischen Musikfeste im Jahre 1880 sich großer Erfolge erfreut hatte, debutirte sie in England an der Royal Italian Opera als Lucia, Amina und Margarete v. Valois und wurde auch für die folgende Saison 1881 auf 1882 angestellt. Als Dinorah und Constanze feierte sie jetzt neue, große Triumphe.
Seit dieser Zeit hat sich Marcella Sembrich durch ihre Gastspielreisen in fast allen europäischen Ländern einen Weltruf erworben und überall, wo sie sang, Publikum und Kritik enthusiasmirt. Sie ist, wenn man von Adelina Patti absieht, in unseren Tagen unbestritten die erste Vertreterin des italienischen „bel canto“. Mit einer sicheren Beherrschung aller denkbaren technischen Schwierigkeiten, welche die genannte Gesangsgattung bietet, verbindet sie deutsche Gemüthstiefe und Innigkeit in glücklichster Vereinigung; als dritter Faktor tritt ein hochbedeutendes schauspielerisches Talent hinzu und eine allseitige, gründliche musikalische Bildung. Die Stimme hat einen Umfang von 2½ Oktaven: von c bis zum dreigestrichenen f, und ist von einer Weichheit und Schönheit in allen Lagen, die an und für sich schon – ganz abgesehen von dem seelenvollen Vortrage – allgemeines Entzücken hervorruft. Sie gehört zu jenen genialen Künstlererscheinungen, die, wie eine Pasta, Franziska Pixis, Schröder-Devrient, Adelina Patti, durch ihren Gesang uns völlig über die Schalheit des italienischen Opernstiles hinwegtäuschen.