Marthas Briefe an Maria

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Heyse
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Marthas Briefe an Maria
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45–49, S. 748–751, 762–764, 780–784, 792–797, 815–818
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[748]
Marthas Briefe an Maria.
Ein Beitrag zur Frauenfrage, mitgeteilt von Paul Heyse.[1]

Die nachfolgenden Briefe wurden mir vor einiger Zeit aus England zugeschickt, mit der Anfrage der Dame, an die sie gerichtet waren, ob ich nicht auch der Meinung wäre, durch ihre Veröffentlichung möchte denen, die in Wort und Schrift für die Berechtigung des Frauenstudiums eintreten, ein Dienst geleistet werden. Sollte ich diese Ansicht teilen, so sei sie zu der Erklärung ermächtigt, daß auch die Frau, die diese Briefe geschrieben, nichts dagegen hätte, sie gedruckt zu sehen, wenn sie auch bei ihren Mitteilungen an die Jugendfreundin nicht von fern an etwas anderes gedacht habe, als sich das Herz zu erleichtern. Sie müsse es daher zur Bedingung machen, daß der Herausgeber ihren Stil sorgfältig von allen Unklarheiten und Flüchtigkeitsfehlern reinige, und zweitens, daß Name und Wohnort der Schreiberin nicht kenntlich gemacht würden.

Daß sie – die Empfängerin – mit diesem Anliegen sich an mich wende, hätte ich dem lebhaften Interesse für diese brennende Frage zu verdanken, das ich schon zu einer Zeit, da nur erst schüchterne Funken des heutigen Brandes herumschwärmten, durch meine „Fastenpredigt“ über Frauenemancipation an den Tag gelegt hätte. Sie hoffe, dies Interesse sei inzwischen nicht erkaltet und ich würde gern das Meinige dazu beitragen, ihren Wunsch zu erfüllen.

In dieser Hoffnung soll die werte Frau sich nicht betrogen haben. Zwar ist die Frage, die das Thema dieser Briefe bildet, in einer schier unübersehbaren Litteratur verhandelt worden, eine Aufzählung der wichtigsten Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Aufsätze, die sich mit ihr beschäftigen, findet man in dem ausgezeichneten Buche des Göttinger Professors Dr. Gustav Cohn „Die deutsche Frauenbewegung“ (Berlin, 1896). Immerhin ist für solche, die durch das Für und Wider einer theoretischen Debatte leicht ermüdet werden, die Betrachtung eines Lebensbildes von überzeugenderer Kraft, wie denn jeder Prediger weiß, daß er seiner Gemeinde durch Beispiele tiefer ans Herz greift als durch die bloße Lehre. So habe ich es mir zur Ehre gerechnet, die Herausgabe dieser Briefe – an deren klarem und die Person und die äußeren Verhältnisse der Schreiberin ihrem Wunsche gemäß einen Schleier gebreitet, dessen sie, wie ich meine, trotz ihrer Bescheidenheit wohl hätte entraten können.

Martha an Maria.
Erster Brief.
W.... 15. September 189 .     

Ist es denn wahr? Geschehen wirklich noch Wunder am Ende dieses ungläubigen neunzehnten Jahrhunderts? Wunder, die sich mit Händen greifen und ans Herz drücken lassen, wie eine vor acht Jahren begrabene und jetzt von den Toten wieder auferstandene Jugendfreundschaft?

Aber nein, meine liebste, einzigste Mary, sie war ja gar nicht richtig gestorben, diese unsre alte junge Liebe! Sie war uns nur abhanden gekommen, aber nicht abherzen (kann man das sagen?[2]), hatte Verstecken mit uns gespielt und sich so gut versteckt, daß sie sich am Ende selbst nicht mehr zu uns zurückfand.

Gewiß, mein alter Schatz, es war keine Herzenshärtigkeit Deiner Martha, daß sie selbst die große Neuigkeit ihrer Verheiratung Dir verschwieg. Wußte ich denn, wie ich Dir das fröhliche Blatt mit den kurzen und guten acht Worten:

Dr. Hellmuth Born
Martha Born, geb. Körting
Vermählte

zukommen lassen sollte, da ich Deine Spur so gänzlich verloren hatte. Erst, wenn ich mein Ziel erreicht habe, lass’ ich von mir hören! hattest Du gesagt, als wir uns am Bahnhof zum letzten mal umarmten, to sever for years,[3] und ich wenigstens half broken–hearted[4], denn ich verlor ja mit Dir mein halbes Herz, und die Hälfte, die zurückblieb, lag schwer wie Blei in meiner achtzehnjährigen Brust. Du gingst einer Zukunft voll Müh’ und Arbeit entgegen, einem harten aber erfrischenden Kampf mit dem Leben, der alle Deine Kräfte beflügelte, und ich blieb in einem bequemen müßigen Scheinleben zurück, ohne andere Pflichten, als die einer guten Tochter gegen liebe Eltern, die aber von dem, was ihr Kind bedurfte und ersehnte, keine Vorstellung hatten.

Wie oft habe ich dann an meine Herzensfreundin gedacht, von ihr geträumt, sie gescholten, daß sie ihr Wort so streng und stolz halten und mich nach einem Lebenszeichen verschmachten lassen konnte. Sie muß doch längst „ihr Ziel erreicht“ haben, sagte ich mir. Aber freilich, sie hat nun Wichtigeres zu thun, [750] als sich an eine unbedeutende Schulfreundin zu erinnern; wer weiß, sie ist vielleicht noch weiter von mir verschlagen, bis über das große Wasser und eines Tages bringt die deutsche Zeitung in New York Bild und Biographie einer berühmten deutschen Aerztin, die wissenschaftliche Abhandlungen schreibt und in ihren Sprechstunden täglich von hundert Hilfe suchenden Frauen und Kindern überlaufen wird. Konnte ich denn denken, daß ein Brief verloren gegangen war, jener Brief, in dem Du mir, wie Du sagst, die Geschichte Deiner Studienjahre in der Glasgower School of Medicine for Women erzählt und Deine Promovierung zur Doktorin verkündet hattest? Und wie nun gestern der eingeschriebene Brief aus Glasgow kam, die Adresse in einer mir fremden echt englischen Handschrift, und ich, während ich den Empfang bestätigte, mir den Kopf zerbrach, wer mir aus Glasgow schreiben könnte – zu meiner Schande gesteh’ ich’s, nicht von fern kam mir die Vermutung, er könne von meiner alten Mary sein, von ihr, an die zu denken ich nie aufgehört hatte, deren Photographie über meinem Schreibtisch, auch wenn ich hätte untreu werden wollen, mich vor dieser Todsünde bewahrt haben würde.

Aber wie ich nun das Couvert aufgriffen hatte und unter den acht engen Seiten den geliebten Namen las und in dem photographischen Kärtchen das liebe alte Gesicht wiederfand, jetzt freilich noch etwas ernster und „sibyllinischer“ – Du entsinnst Dich wohl unserer alten Neckerei – aber immer noch meine Mary und jedes ihrer Worte so schwesterlich vertraut, – o meine alte Unvergeßliche, es überströmte mich eine so heiße Freudenflut, daß sie im Herzen nicht Raum fand und aus den Augen wieder herausstürzen mußte! Du weißt, ich habe Lori Schumacher nicht ausstehen können. Ich verachtete sie, daß sie in der Litteraturstunde, wenn wir die „Jungfrau von Orleans“ lasen, unterm Tisch ein Buch von Paul de Kock verschlingen und dazu Pralinés naschen konnte. Aber nun will ich ihr alles abbitten, weil sie es war, durch die Du mündliche Nachrichten über mich erhieltst und erfuhrst, daß ich weder untreu, weder tot sei, sondern acht lange Jahre nicht ein Wort von Dir erfahren hatte.

Die Freude hat mich so taumelig gemacht, Du kannst heute keinen vernünftigen Brief von mir erwarten, keinen, der, wie der Deine, Dir ein Bild meines Lebens gäbe. Auch wenn ich dazu imstande wäre, wär’s immerhin kein so erfreuliches, wie mich’s aus Deinem Brief anblickt. O Mary, ich habe so eins vor Dir voraus: den Besitz eines geliebten Mannes, den ich täglich mehr achten und verehren lerne, während Du, Aermste, den Deinen nach so kurzem Glück hast hingeben müssen. Aber Dir sind ja Deine Kinder geblieben, drei so liebe Bübchen – Du mußt mir ihre Bilder schicken, hörst Du? – und Dein Beruf, der Dich mit so reiner Genugthuung erfüllt und Dir die Gewißheit giebt, nicht nur der Menschheit, insbesondere ihrem weiblichen Teil, eine Helferin und Wohlthäterin zu sein, sondern auch Deine Knaben frei von drückenden Sorgen anziehen zu können, umgeben von der Achtung aller, die Dich kennen für Dein rechtschaffenes Tagewerk, belohnt durch die Dankbarkeit derer, denen Du in leiblichen Nöten Hilfe gebracht hast, während ich – – –

Aber nein, dieser erste Brief soll keinen bitteren Ausklang haben. Wir sind wieder beisammen und können uns nie mehr verlieren. Da wirst Du es freilich ertragen müssen, daß ich wie in unsrer jungen Zeit Dir nur allzu schrankenlos mein Herz ausschütte, als Dein altes, trostbedürftiges „Beichtkind“, wie Du mich damals nanntest. Nur fürchte nicht daß ich den Trost, den Du mir gewährst, nach der Länge Deiner Briefe messen werde. Ich werde nie vergessen, daß Du eine Sprechstunde hast und ich nur – Plauderstunden, so viel ich haben will. Nur von Zeit zu Zeit einen Gruß von Dir zu erhalten, ein liebevolles Wort, das mir sagt, ich falle Dir nicht lästig mit meinen Herzensergießungen – zumal ich keinen Rat und keine Hilfe von Dir erwarte – das wird mir sein, wie wenn Du neben mir säßest und mir wie auf der Bank im Schulhof, wenn ich Dir mein Leid geklagt hatte, mit der warmen Hand übers Haar strichest und mit Deiner klaren, ruhigen Stimme zurauntest: Kopf oben, kleine Dulderin! Wir suchen uns unser Leben nicht aus, aber we must try to make the best of it[5].

Du warst schon damals die Erste im Englischen, auch in englischem self-government. Ich bewunderte Dich auch weniger um Deine anderen Gaben als um Deine Tapferkeit. Freilich, auch der Tapferste macht nur ein Loch in seinen eigenen Kopf, wenn er damit durch die Wand rennen will.

Es ist zu dumm, ich komme doch wieder in den elegischen Ton! Also nichts mehr für heute als nur einen Jubelruf und Herzensdank für das beseligende „Wunder“, und jetzt in alle Ewigkeit Dein treues Beichtkind

Martha.     


Zweiter Brief.
W. ..... 25. September.     

Das hätt’ ich denken können, liebste Mary, vielmehr, ich hab’ es gedacht, gleich nachdem mein Brief fort war, daß Du wegen der Stoßseufzer, die ich törichterweise nicht unterdrückte, als ich mein Leben mit dem Deinen verglich, Dir allerlei Sorgen machen, vor allem den Verdacht schöpfen würdest, ich sei nicht so glücklich in meiner Ehe, wie ich nach dem Zeugnis, das ich meinem Manne ausgestellt, von Gottes und Rechts wegen sein müßte. Ich war drauf und dran, dem Brief gleich am andern Tage ein langes Postscript nachzuschicken, mit einer ausführlichen Liebeserklärung für meinen Hellmuth, dessen Bild ich beilegen wollte. Dann unterließ ich es, denn ich sagte mir: wenn ich sie gleich zu Anfang unseres Wiederhabens dermaßen mit Briefen bestürme, wird sie erschrecken und am Ende wünschen, die auferstandene Jugendfreundschaft, die sich so geschwätzig gebärdet, legte sich wieder – wenn auch nicht ins Grab, doch zu einem friedlichen Schlummer hin, statt ihr ihre kostbare Zeit zu stehlen.

Nun aber fragst Du mich geradezu, was ich denn hätte, das mich in der glücklichsten Ehe nicht zur Ruhe kommen lasse. Da muß ich wohl antworten. Und wenn ich ein wenig weit aushole, ist’s nicht meine Schuld, sondern die der acht Jahre unserer Trennung, deren Geschichte nicht merkwürdiger ist als der Lebenslauf von Tausenden unseres Geschlechts in dieser entscheidenden Periode der reifen Mädchenjahre, deren Erfahrungen Dir aber gottlob fern geblieben, da Du zu den Ausnahmsnaturen gehörst und früh in ein Land geflüchtet bist, wo freiere und gesündere Lüfte wehen.

Du hast meine guten Eltern gekannt, soviel man Menschen kennen lernt, deren gastliches Haus man zuweilen besucht und die einem ein freundliches Gesicht machen, weil man mit ihrer Tochter innige Freundschaft hält. Daß ihnen diese Freundschaft zuweilen Sorge machte, hast Du wohl nie gemerkt, und ich hütete mich wohl, Dir’s zu verraten. Sie hielten Dich für ein gefährliches Wesen, weil Du immer, mit aller Bescheidenheit, offen heraussagtest wie Du fühltest und dachtest, selbst wenn es gegen die hergebrachten Anschauungen und Vorurteile der guten alten Zeit verstieß. Sie fürchteten, Du möchtest auf ihr Kind einen unheilvollen Einfluß ausüben, mich zu ähnlichen „extravaganten“ Grundsätzen verführen, die ihnen ein Greuel waren. Aber sie liebten mich zu sehr, um mir den Umgang mit Dir zu untersagen, und atmeten nun auf, als Du, bald nachdem wir die höhere Töchterschule verlassen hatten, Deinen alten Vorsatz, in England Medizin zu studieren, ausführtest und mit der kleinen Erbschaft von der guten alten Tante Bettine auf und davon gingst.

Auch waren sie liebevoll genug, meine Trauer um Dich zu schonen und Dich mir nicht als warnendes Exempel vorzuhalten, wohin die „Emancipationssucht“ der modernen Jugend führe. Bleibe im Lande und verheirate Dich redlich! Zumal wenn Du durch ein kleines Heiratsgut gegründete Aussicht dazu hast. Daß der Mensch, auch der weibliche, nicht vom Brot allein lebt, und wäre es selbst, wie man’s früher gewohnt war, im eigenen Ofen gebacken kam diesen lieben trefflichen Seelen nie zum Bewußtsein.

Die Tochter gehört ins Haus ihrer Eltern, bis sie in das ihres Mannes eintritt! war die oft ausgesprochen felsenfeste Ueberzeugung meines lieben Papas. Er war ein ausgezeichneter Jurist, aber von der alten Schule, die sich um die seit hundert Jahren so vielfach veränderten Lebensverhältnisse und die neuen Rechtsfragen, die sich daraus ergaben, nicht ernstlich bekümmerte. Auch war er durch sein Amt zu sehr in Anspruch genommen, um sich mit Problemen dieser einzulassen, die ein umfassendes Studium erforderten.

Wie vielen hochgebildeten Männern bin ich seitdem begegnet, die über brennende Lebensfragen unserer heutigen Gesellschaft mit der oberflächlichen Kühnheit absprechen, ohne sich je die Mühe zu geben, ihnen ein ernsteres Nachdenken zu widmen! Die Rechtschaffensten darunter sind diejenigen, die ein so gehäuftes Maß täglicher Arbeit zu bewältigen haben, daß sie an das, was [751] darüber hinausgeht, nicht rühren mögen, es also vorziehen, sich an die Erbweisheit ihrer Väter und Großväter zu halten, durch die wir’s ja so herrlich weit gebracht haben. Aus reiner Gewissenhaftigkeit, weil sie ihren Fürwitz von dem lassen wollen, was ihres Amts nicht ist, gehen sie über die schwersten Aufgaben der Zeit leichten Herzens zur Tagesordnung über.

Bei meinem lieben Vater kam noch eins hinzu, ihn in der leidenschaftlichen Abneigung gegen alles, was zur „Frauenbewegung“ gehört, zu bestärken: die unbedingte Verehrung, ja Vergötterung seiner eigenen Frau. Wie liebenswürdig meine Mutter war, wird Dir selbst noch in lebhafter Erinnerung sein. Das wärmste, gütigste Herz, allerlei kleine Talente, vor allem das, es jedem wohlzumachen, der in ihre Nähe kam, das anmutige, bis in die späteren Jahre jugendlich frische Gesicht, und doch keine Spur von Gefallsucht, gern auf alle gesellschaftlichen Erfolge verzichtend, da die Verhältnisse eines unvermöglichen preußischen Regierungsrates nicht erlaubten, ein glänzendes Haus zu machen; ihrem Manne die aufopfernde Gefährtin, ihren zwei Kindern die sorgsamste Mutter – kein Wunder, daß mein guter Vater in ihr das Musterbild aller weiblichen Tugenden sah, das Weib, wie es sein soll, der Maßstab, an dem er alle anderen Exemplare unseres Geschlechts zu messen gewohnt war.

Auch ich hing an ihr mit größter Zärtlichkeit. Aber da unsere Naturen grundverschieden waren und ich schon als ganz junges Ding mir Rechenschaft über alles gab, was ich um mich her und in mir selbst wahrnahm, konnte ich mir nicht lange verhehlen, daß es dieser trefflichen Frau an etwas fehlte, was im menschlichen Dasein doch auch sein Recht behaupten muß. an zusammenhängender Klarheit des Denkens. Sie war und blieb ihr Leben lang das reine Geschöpf ihrer Instinkte, ohne jemals über die Berechtigung derselben sich den geringsten Skrupel zu machen. Und weil sie eine so gute und reine Natur war, konnte sie auch des regelnden und stützenden Verstandes mehr als tausend andere entbehren und besinnungslos ihrem Herzen und Temperamente folgen.

Nur das war schlimm, daß sie in Ermangelung eigener Gedanken sich hartnäckig auf einen kleinen Vorrat überlieferter sogenannter Grundsätze verließ, deren Bewahrung ihr als eine Art religiöser Pflicht erschien. Daß sie ganz in ihrem Haushalt und der Sorge für Mann und Kinder aufging, – wer hätte ihr das zum Vorwurf machen können! Wenn nach Goethes Wort der Mann „die Welt in seinen Freunden sehen“ soll, wie viel berechtigter ist die Frau, ihre Welt in ihrer Familie zu sehen, wenn es ihr so gut geworden ist, eine eigene Familie zu besitzen, die ihre ganze Liebeskraft in Anspruch nimmt. Aber so edel und beglückend das Ziel sein mag, so verkehrt sind doch oft die Wege, die zur Erreichung desselben eingeschlagen werden.

Meine Mutter war von der ihren an eine längst veraltete pedantische Führung des Haushalts gewöhnt worden, die selbst ihrem Manne manchmal zu weit ging. Erst die Leinenschränke, dann Mann und Kinder! neckte er sie wohl einmal. Und wie litt er unter ihrem Fanatismus im „Stöbern,“ wie man hier in Bayern das Zurückführen des Hausstandes in ein entsetzliches Chaos nennt, aus welchem hernach die alte Ordnung nur in etwas staubfreierem Zustande hervorgeht! Sie wäre für ihren Mann unbedingt durch Wasser und Feuer gegangen. Aber von den zwei alljährlichen großen Scheuer- und Ausleerfesten, die jedesmal volle vierzehn Tage dauerten, ihm auch nur eines zu schenken, hätte sie als eine empörende Zumutung angesehen, der die gehorsamste Ehefrau einen unerbittlichen Widerstand entgegenzusetzen verpflichtet sei.

Mein armer Papa ergab sich seufzend darein, zweimal im Jahre im eigenen Hause alle Klopfgeister der Hölle toben zu hören. Er sah das als den einzigen Schatten bei dem sonst so strahlenden fleckenlosen Licht dieser Krone des Geschlechtes an. Und da dies die einzige Eitelkeit war, auf der er die geliebte Frau betraf, gewöhnte er sich daran, auch diese Schwäche als eine Tugend zu verehren.

Und so war er auch fest überzeugt, für seine Tochter könne es kein größeres Glück geben, als unter den Augen einer solchen vollkommenen Hausfrau, nachdem sie die Schule absolviert, in die Hochschule des weiblichen Berufs aufgenommen zu werden.

Wir waren ja nun beide endlich „mit dem Zeugnis der Reife“ für Bälle und Gesellschaften von unseren bisherigen Lehrern und Lehrerinnen entlassen worden. So sehr ich Dich darum beneidete, daß Du nun weiter studieren, ja das richtige Lernen jetzt erst beginnen solltest, so war ich doch eine zu gute Tochter, um mich dagegen zu sträuben, bei meiner lieben Mama in die Lehre zu gehen, da ich bisher mich um nichts im Hause bekümmert hatte und der Meinung war, es handle sich auch in der Hauswirtschaft um ganz interessante Probleme.

Wie bald erkannte ich, daß es auf eine praktische Thätigkeit hinauslief, die in einem einfachen bürgerlichen Hause mit etwas gutem Willen und klarer Einsicht auch ohne Urmütterweisheit bald zu bewältigen ist. Mein Papa, der übrigens Goethes Werke in seinem „Giftschrank“ verschlossen hielt, auch nachdem ich schon über das Konfirmandenalter längst hinaus war, citierte mit Vorliebe jene bekannte „Epistel“, in der der alte Herr über Mädchenerziehung Maximen zum besten giebt, die – wie ich unehrerbietig genug bin, zu glauben – schon vor hundert Jahren nur auf das engste philiströseste Familienleben passen konnte. Aber selbst wenn er damit die goldenste Weisheit gepredigt hätte, daß den Mädchen im Hause die Lust zum Lesen – und Denken – ausgetrieben werden sollte, damit „der kuppelnde Dichter“ sie nicht mit allem Bösen bekannt macht – indem einer jeden ein eigenes Departement des Hausregiments zuerteilt wurde – in unserem Hause hielt Mama die Zügel der Herrschaft so eifersüchtig fest, daß ich weder in Keller und Küche noch – wenn wir einen gehabt hätten – im Garten das Geringste zu thun gehabt hätte.

Alles blieb bei einigen theoretischen Unterweisungen die sehr leicht zu kapieren waren und, wie doch eine gute Erziehung soll, für Geist und Herz nicht die geringste Nahrung boten. Und das Wort des Dichters:

„Wünscht sie dann endlich zu lesen, so wählt sie gewißlich ein Kochbuch“, traf auch bei mir nicht ein. Selbst Brillat-Savarin reizte mich nicht zu wissenschaftlichem Eindringen in ein Gebiet, das vor allem das Bewahren angeborener künstlerischer Talente verlangt, wenn eine höhere Strafe als die der bescheidenen Hausmannskost erreicht werden soll. – Und wir gaben ja keine Diners.

Hier aber muß ich für diesmal abbrechen. Sehr zur rechten Zeit, ehe dieser Brief sich zu einem doppelten auswächst, ruft mich meine Köchin vom Schreibtisch weg, da ich meinem lieben bayrischen Gatten – er ist in Ansbach geboren – ein norddeutsches Gericht versprochen habe, was unsere Kathi ohne meine Hilfe nicht zustande bringt. Du siehst, Liebste, ein mütterlicher Tropfen fließt trotz alledem auch in meinem Blut. Und da ich morgen Wäsche habe – shocking, nicht wahr? – werde ich erst in nächster Woche den abgerissenen Faden weiterspinnen.

Tausend, tausend Grüße und Küsse Deiner alten

Martha.     

[762]
Dritter Brief.
Den 1. Oktober abends.     

Mein Mann ist in seinen ärztlichen Verein gegangen, der einzige Abend der Woche, an dem er mir untreu wird. So will ich die einsame Stunde benutzen, liebste Mary, in meiner Generalbeichte fortzufahren, wenn sie auch leider ganz arm ist an lustigen oder leidenschaftlichen Abenteuern, aus denen sich ein „Roman meines Lebens“ für irgend eine Wochenschrift zusammenschreiben ließe. Sogar von so unschuldigen Eintagsverliebungen, wie ich sie Dir in meiner Backfischzeit anvertraute, kommt nichts darin vor. Und daß ich, wie es zwischen Siebzehn und Zwanzig bei so vielen unseres Geschlechts üblich ist, auf den Männerfang ausgegangen wäre, traust Du Deiner Martha gewiß nicht zu.

Ich hätte auch weder Zeit noch Gelegenheit dazu gehabt. Denn obwohl mich die Mutter in ihrer häuslichen Vielgeschäftigkeit nur als zuschauende Volontärin duldete, die Hände durfte ich darum nicht in den Schoß legen.

Es war ja noch einer ihrer Glaubenssätze, ein Mädchen müsse jedes Stück seiner Aussteuer selbst anfertigen. Gewiß beklagte sie es im stillen als einen Verfall weiblicher Sitte, daß die Zeit vorüber war, wo man auch die Leinwand dazu im Hause spinnen und weben mußte. um sich der Ehre, in den heiligen Ehestand zu treten, durchaus würdig zu machen. Wie manches sitzengebliebene arme Ding mag damals einen wahren Haß und Abscheu gegen den wohlgefüllten Leinenschrank gefühlt haben, der sie an so viel verlorene Liebesmüh’ erinnerte! Und heute, in der Zeit der Nähmaschinen, da sich die anspruchsvollste Braut ihren Trousseau in einigen Tagen zusammenkaufen kann – – wie viel stille Thränen sind mir in die schöne Leib- und Tisch- und Bettwäsche geträufelt, die ich einer altmodischen Grille zuliebe eigenhändig zuschneiden, säumen und fertig nähen mußte!

Handarbeit – das Los des Weibes in der guten alten Zeit! Aber wir waren doch auch mit der neuen Zeit fortgeschritten, auch die schönen Künste wurden gepflegt, jeden Tag zwei Stunden Klavier gespielt, dazwischen Blumen auf Kästchen und Porzellan gemalt, zu billigen und doch besonders wertgeachteten Geschenken. Leider nur beides ohne eigentliches Talent. Die Frau aber soll „das Leben schmücken lernen“, um selbst ein Schmuck des Lebens zu sein!

Durch nichts wird grausamer an uns Armen gesündigt, als durch schönklingende Maximen, mit denen man uns schmeicheln will!

Wenn ich damals meinem guten Papa geklagt hätte, daß ich unter der gräßlichsten Langweile litt, hätte er mich groß angeschaut. Wär ich nicht von morgens bis abends „beschäftigt“? Lobte mich nicht die Mutter über meinen Fleiß? Und wurde mir nicht zur Belohnung für diesen Fleiß erlaubt, während des Winters manchmal ins Theater oder in ein Konzert und oft auf einen Ball zu gehen, und im Sommer dann und wann eine Landpartie mitzumachen, wo auch Gelegenheit war, mit jungen Männern Bekanntschaft anzuknüpfen? Und dennoch Langweile?

Daß sie je nach den Naturen etwas Verschiedenes ist, bei dem einen das ungestillte Bedürfnis nach Zerstreuung, bei anderen das brennende Bedürfnis nach fruchtbarer innerer Sammlung, eine Art geistiger Hunger, das hätte ich meinen Eltern nicht klar machen können. Sie hatten mir ja auch nicht das Lesen verboten. Aber sie überwachten meine Lektüre, und wenn ich nach einem Buche verlangte, das mehr bot als Anregung der Phantasie, wurde mir entgegnet, das sei „zu schwer für mich“. Ich wolle ja keine Gelehrte werden, eine Spielart des weiblichen Blumenflors, gegen die mein guter Vater eine heftige Aversion hatte und die meine Mutter nicht minder verabscheute, da die heiratsfähigen jungen Männer sich vor einem Mädchen, das etwas von Darwin oder Ranke oder gar von Helmholtz wisse, mit heiligem Schauder zu bekreuzigen pflegten.

Nun, ich wußte von diesen drei großen Männern und anderen Führern der Menschheit nicht viel mehr als die Namen, und doch hatte ich wenig Glück gerade bei den Epouseurs, an denen der Mama am meisten gelegen war. Ich tanzte gut und sah, ohne Ruhm zu melden, nicht übel aus, so daß ich von meinen Bällen stets eine reichliche Ernte von Cotillonsträußchen mit heimbrachte. Dennoch verging mein dritter Ballwinter wie mein erster, ohne daß es zu einer Verlobung kam. Je mehr der Berg meiner Aussteuer in die Höhe wuchs, je tiefer sanken die Zukunftshoffnungen meiner guten Mama.

Ich stand ohne Zweifel in dem schwarzen Buche, in welchem die Namen aller Töchter aus guten Familien verzeichnet sind, die außer dem bewußten Schrank voll Leib-, Tisch- und Bettwäsche ihren Freiern nichts Erhebliches mitzubringen haben.

Dies machte mir freilich nicht den geringsten Kummer. Denn unter all den jungen Männern, mit denen ich getanzt, soupiert, ja, gesteh’ ich’s – auch ein wenig kokettiert hatte, war keiner gewesen, der mich länger als einen Ballabend interessiert hätte. Du entsinnst Dich wohl meines Bruders, Liebste? Er ist als wohlbestellter Referendar noch ein ganz so guter Junge geblieben, wie er damals war, als er Dir auf dem Eise im Tiergarten die Schlittschuhe anschnallte und Dich dabei als ein überirdisches Wesen verehrte. Im übrigen aber muß seine eigene Schwester ihm das Zeugnis geben, daß er sich über den Durchschnitt der heutigen jungen Männerwelt nicht um einen Zoll breit erhebe. In der Welt kommt es darauf an, seine Ellbogen zu rühren, um Carriere zu machen, nie mehr zu arbeiten als nötig, nicht mehr zu genießen, als der Gesundheit zuträglich ist, und sich mit überflüssigem Nachdenken über die sogenannten höheren Menschheitsfragen den Kopf nicht warm zu machen, sondern diese brotlosen Künste den Specialisten zu überlassen. So sei auch die Frau für ihren Mann eine um so erfreulichere Lebensgefährtin, je weniger geistige Bedürfnisse sie habe, die sie nur dazu verführen könnten, sich über ihren Gatten zu erheben, unbequeme Fragen zu stellen oder gar durch eigenes geistiges Schaffen ihm Konkurrenz zu machen. In ihrem eigenen Interesse müsse sie sich vorm Denken hüten, das nun einmal den Männern vorbehalten sei und die Weiber um ihre natürliche Anmut, den Reiz und Zauber echter Weiblichkeit bringe.

Unglaublich, wie diese „denkenden Herren“ der Schöpfung so gedankenlos die uralten tausendfach widerlegten Albernheiten immer wieder nachbeten können!

Daß ich also bei meinem leiblichen Bruder keine Unterstützung fand, als ich meinen Eltern erklärte, einen vierten Winter würde ich um keinen Preis mich von schönbefrackten Herren zu den Klängen der „Schönen blauen Donau“ herumschwenken lassen [763] brauche ich nicht zu versichern. Auch begriff er nicht, daß ich den brennenden Wunsch hegen könne, noch „etwas Ordentliches“ zu lernen. Ich sei ja schon gescheiter als nötig wäre, spräche drei fremde Sprachen – du lieber Gott! das Französisch und Englisch, das man uns auf der Schule beigebracht, kaum ausreichend, um einen Roman notdürftig lesen zu können, aber sprechen! Du entsinnst Dich, wie wir heimlich lachten, wenn in der oberen Klasse unser Direktor aus Racines „Athalie“ vorlas, den Accent immer auf der ersten Silbe, und die ongs und angs – und dann das bißchen Italienisch, das ich mir selbst mühsam aus den „Promessi sposi“ angeeignet hatte! Ob ich gar noch mein Lehrerinnenexamen machen oder der überspannten Freundin Maria nach England folgen wolle, obwohl die da drüben verdorben und gestorben zu sein scheine, da sie nichts wieder habe von sich hören lassen? (So weit entblödete sich Dein früherer Anbeter nicht, Dich zu verunglimpfen, da er um ein abschreckendes Beispiel für mich verlegen war!)

Ich erwiderte ganz ruhig, ich hielte es nicht aus, so beruflos herumzugehen und mir selbst zur Last zu fallen. Auch ich erkennte es als die natürlichste und beglückendste Aufgabe des Weibes an, am eigenen Herde für Mann und Kinder zu sorgen. Wenn ich nun aber zufällig zu den Millionen unverheirateter Mädchen gehören sollte, die nach den statistischen Ermittelungen das Deutsche Reich bewohnen, so könne man mir’s nicht verdenken, daß ich mich dazu vorbereiten möchte, für den geistigen Hunger, den ich fühlte, mir die zusagende Nahrung zu schaffen.

Dazu würden mir auch die schönen Vorträge im Lyceum, die ich einen Winter lang hatte besuchen dürfen, nicht verhelfen. Da werde eben geistiges Konfekt geboten, sehr appetitlich zum Naschen für die Töchter der oberen Zehntausend. Ich aber hungerte nach Brot, nach nahrhaftem, selbst verdientem und erarbeitetem Brot, nicht nach Kuchen, wie sie zum Dessert für einen verwöhnten Gaumen geeignet sein möchten! Hartes Holz wollte ich bohren, von der Pike auf dienen und mich gar nicht schämen, mich auf meine alten Tage – ich war ja schon einundzwanzig alt! auf die unterste Bank eines Mädchengymnasiums zu setzen, um mit mensa mensae meine Lehrjahre zu beginnen. Otto lachte dazu. So alte Schülerinnen würden ja an den paar weiblichen Gymnasien gar nicht aufgenommen. Wenn ich einen so unbezwinglichen Heißhunger nach Latein und Griechisch hätte, die er nur immer mit Widerstreben habe hinunterwürgen können, so wolle er mir seine alten Grammatiken schenken – „nein“, setzte er hastig hinzu und errötete (in dem Bewußtsein, sie längst „verklopft“ zu haben), du für dich allein kannst ja nicht weit kommen, du müßtest Privatstunden nehmen. Und auch in den anderen Gymnasialfächern, wenn du das Abiturientenexamen machen willst, um zu studieren. Das kostet ein Heidengeld. „Und was möchtest du denn studieren?“

Das hatte ich noch nicht genauer überlegt. Er wisse wohl, sagt’ ich, daß ich früher leidenschaftlich gewünscht hätte, Medizin zu studieren. Eine ältere Schwester unsrer Mutter, Tante Lisbeth, hatte zehn Jahre lang mit uns gelebt, in einem kläglichen Zustande. Sie hatte sich als junges Mädchen, da sie von einer schweren Unterleibskrankheit befallen wurde, nicht entschließen können, sich der Untersuchung durch einen Arzt zu unterziehen, und Aerztinnen gab es damals noch nicht in Berlin. So war das Uebel mit der Zeit unheilbar geworden, hatte ihre Jugend zerstört, ihre späteren Jahre verdüstert so daß sie in einer Schwermut dahinlebte, die an Irrsinn grenzte.

Sobald ich dies alles eingesehen, war in meiner jungen Seele das brennendste Mitleid erwacht mit dieser armen Dulderin und den Unzähligen, die gleich ihr an ihrem weiblichen Zartgefühl zu Grunde gehen. Aber die Eltern wollten davon nichts wissen, daß ich in die Schweiz ginge, um zu studieren, und als die arme Tante endlich von ihrem Leiden erlöst war, trat auch mir der Gedanke wieder fern, zumal ich ein geheimes Grauen vor der Anatomie und allem sonstigen schwer zu Ueberwindenden hatte, was mit dem ärztlichen Beruf zusammenhängt. Dich, meine Maria, bewunderte ich um so mehr, daß keine Blutscheu, kein Schauder und Ekel vor dem Handwerk der Kunst, der Du Dich widmen wolltest, Dich von Deinem Vorsatz zurückschrecken konnte. Und daß das weibliche Schamgefühl verletzt werden müsse durch das ärztliche Studium – wie die Professoren behaupten, die unser Geschlecht aus ihren Hörsälen fernhalten wollen –, ist doch nur ein leeres Gerede, ebenso wie die Behauptung, wir seien für diesen anstrengenden Beruf körperlich nicht kräftig genug. Als ob der Pflegedienst von Diakonissen und barmherzigen Schwestern nicht oft eine härtere Arbeit wäre und das weibliche Zartgefühl dabei nicht auf ebenso schwere Proben gestellt würde, ohne daß die Männer, die immer mit doppeltem Maße messen, Einspruch dagegen thaten! Haben sie sich nicht auch von jeher darein ergeben, einen Teil ihrer Pflichten an die „weisen Frauen“ abzutreten? Und gestehen die Ehrlichsten unter ihnen nicht ein, daß es nur die Furcht vor der vermehrten Konkurrenz ist, was ihnen das Eindringen unseres Geschlechts in den medizinischen Beruf bedenklich erscheinen läßt? Aber wenn ich für meinen Teil zur Aerztin verdorben war, gab es nicht andere Wissenschaften, die das Ungenügen einer nachdenklichen Mädchenseele stillen konnten? Freilich nur, wenn ihr erlaubt würde, von dieser Speise zu essen, nicht bloß zu naschen. Wäre wirklich ein weibliches Gehirn nicht groß genug, Geschichte, Litteratur- oder Kunstgeschichte aus dem Grunde zu studieren, eine der Naturwissenschaften sich anzueignen und daraus einen Lebensberuf zu machen? Hat es nicht Frauen gegeben, die sogar in Mathematik und Astronomie die Bewunderung ihrer Fachgenossen gewonnen haben? Ausnahmen! warf mein Bruder mir ein. Ja freilich, da heute noch ein ausnahmsweises Maß auch von Willenskraft und Mut dazu gehört, die angeborene Begabung zu so strengen Disziplinen auszubilden, und überdies eine besondere Gunst der äußeren Umstände! Mädchen, die acht Jahre lang keinen anderen Unterricht genießen durften als den unserer „höheren Töchterschulen“, von den „Instituten“ ganz zu schweigen, deren Kopf nur angefüllt wurde mit einem Haufen zusammenhangloser bunter Namen und Daten, deren Denkkraft nicht einmal an dem logischen Bau einer der alten Sprachen sich üben durfte, da alles Gewicht auf das Nachplappern von Vokabeln und Sätzen der ausgeschliffenen modernen gelegt wurde – wie kann es solchen Mädchen ohne eine übermäßige Anstrengung gelingen, nachdem sie die schönste Zeit, wo das Gedächtnis noch frisch ist, verloren haben, noch einmal von unten anzufangen und das, was die Knaben in acht methodisch eingeteilten Schuljahren lernen, auf ihre eigene Hand nachzuholen und, immer nur mangelhaft und auf Kosten ihrer leiblichen Gesundheit, in sogenannten „Humanistischen Kursen“ sich anzueignen?

Aber selbst auf die Gefahr hin, bleichsüchtig zu werden und bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahr den ganzen Wissensstoff halbverdaut zu verschlingen, der zum Zeugnis der Reife erforderlich ist, – ich hätte mit Freuden alles daran gesetzt, um nur das Gefühl geistiger Ohnmacht und Unzulänglichkeit los zu werden. Was ich dann für ein Studium wählen würde, wär mir einstweilen noch dunkel, aber auch sehr gleichgültig. Alles prüfen und das Beste, mir Gemäßeste behalten! Wissen denn die Knaben in der Prima alle schon genau, für welche Wissenschaft sie sich eignen würden? Höchstens, was sie werden wollen, und auch das meistens nur, weil ihre Väter es ihnen vorschreiben! Ich aber wollte zunächst nichts werden, nur etwas sein, etwas, was mich innerlich befriedigt, daß ich vor mir selbst Respekt haben könnte. Irgend einen Kreis von Erkenntnissen vollständig beherrschen, so daß ich mich darin zu Hause fühlte. In Liebe, das ist das Wort. Mit unserer oberflächlichen Schulbildung waren wir nicht weiter gekommen als ein Mensch auf Reisen, der an jedem Ort nur ein paar Wochen bleibt, dann wieder in einem anderen Gasthofsbette schläft und von den Städten, die er durchfliegt, nur die Kirchtürme und ein paar Straßen kennenlernt. Ich wollte mein eigenes Bett haben, das unter meinem eigenen Dache stände, und rings umher Bescheid wissen um Menschen und Dinge, und wenn es nur auf ein paar Meilen im Umkreis sein sollte.

Das alles sprudelte ich in wachsender Aufregung heraus, während mein Bruder mich mit verständnislos ironischem Lächeln wie eine halb Verrückte anstarrte. In der Verlegenheit, mir die Berechtigung zu dieser meiner Forderung mit Gründen zu bestreiten, kramte er die tausendmal widerlegten frivolen Einwände gegen Frauenstudium und das Streben des weiblichen Geschlechts nach männlichen Berufsarten hervor, immer mit der beleidigenden Kühle wie einer Unmündigen gegenüber, da doch seine eigenen Reden bewiesen, wie unreif sein Denken, wie flach seine Begriffe waren, daß ich endlich meine Besonnenheit verlor und mich zu [764] bitteren und höhnischen Repliken fortreißen ließ. So gab es ein häßliches Rededuell, das endlich durch den Eintritt meines guten Papas zum Stillstand kam.

Ich schwieg, denn der Bundesgenosse, den ich in meinem Bruder zu finden gehofft hatte, um meine Sache beim Vater durchzufechten, hatte sich als gehässiger Gegner erwiesen. Ich war ratloser als zuvor. Wie sehnsüchtig dachte ich an meine Maria, die mir mit ihrer ruhigen Klugheit in meinen kleinen Backfischnöten zur Seite gestanden hatte und auch jetzt mir gesagt haben würde, was mein Recht und meine Pflicht gewesen wäre.

Aber es kam ja auch nicht dazu, daß ich diesen Konflikt mit eigener geistiger Schärfe lösen sollte. Das Schicksal löste ihn und verwies mich einzig auf die nächste, sehr sehr traurige Pflicht.

Mein lieber Vater, der sich in seinem Amt übermäßig angestrengt hatte – preußische Beamte werden nicht geschont – verfiel in eine schwere Krankheit – die seine letzte sein sollte. Als er nach einem monatelangen Hinsiechen die Augen schloß, waren alle Gedanken an mein eigenes Lebensrecht in mir verstummt. Ich hatte keine andere Aufgabe vor mir, als meiner kraftlosen Mutter eine Stütze zu sein und ihr wenigstens die peinlichsten Lebenssorgen abzuwehren.

Denn wir fanden uns plötzlich nach einem leidlichen Wohlstand in sehr engen Verhältnissen. Die Witwenpension reichte nicht entfernt dazu hin, das Haus auf dem alten Fuße fortzuführen, zumal mein Bruder mit zu erhalten und verschiedene Gläubiger zu befriedigen waren. Nun erst erhielt ich auch einen Einblick in die üble ökonomische Wirtschaft, zu der gewisse Vorurteile veralteter Solidität und häuslicher Tüchtigkeit meine gute Mutter geführt hatten. Ich will dich mit den Details verschonen! Sie hatte es immer gut gemeint, aber nie gelernt, das Hauswesen im ganzen zu übersehen und nach einem vernünftigen Plane zu leiten. So Vieles, was mit einem unverhältnismäßigen Aufwand von Müh’ und Zeit zu Hause gemacht werden mußte, wäre so viel wohlfeiler im Laden gekauft worden. Als ob Zeit nicht auch Geld, und Mühe nicht auf edlere Dinge zu verwenden gewesen wäre! Schon früher hatte ich mir bei dieser oder jener Anschaffung oder einer Maßregel, die mir ebenso kostspielig als unzweckmäßig schien, eine bescheidene Einwendung erlaubt und war immer damit abgewiesen worden, auch bei ihrer Mutter sei es so gehalten worden. Vierzig Jahre früher, als Berlin noch nicht Weltstadt war! Jetzt ließ die schwergebeugte arme geliebte Seele die Zügel des Hausregiments ohne Widerstand aus den Händen gleiten. Sie hatte mit dem geliebten Manne allen Halt, allen Lebensmut verloren. Noch kein Jahr war vergangen, so geleiteten wir auch sie zur letzten Ruhe.

An ihrem Sarge hat mir mein Bruder nach jenem heftigen Streit zum erstenmal wieder die Hand gereicht. Er schien nun doch zu ahnen, daß er im Unrecht gewesen war. Denn er sah seine Schwester vor die Aufgabe gestellt, sich mit eigner Kraft durchs Leben zu helfen. Und hatte die Erziehung, die sie erhalten, ihr die Mittel dazu gegeben?

Laß mich mit dieser ungelösten Zukunftsfrage für heute schließen liebstes Herz. Mein Mann kommt eben aus seiner Gesellschaft zurück, ich sehe mit Schrecken, daß es halb Mitternacht ist. Dich um Entschuldigung zu bitten, daß ich diese Bekenntnisse einer armen Seele so weitläufig vor Dir ausbreite, enthalte ich mich, da ich Dein Herz kenne und aus jedem Deiner lieben Worte die Gewißheit schöpfe, daß Du mein Bedürfnis begreifst, über die bunte Kluft der acht Jahre die zwischen uns liegt, eine Brücke zu schlagen.

Gute Nacht, Mary! Küsse Deine lieben Buben von Deinem alten                „Darlingchen.“

[780]
Vierter Brief.
W. 7. Oktober     

Ich habe der Versuchung widerstanden, Liebste, gleich am andern Tage in meinem „Lebensläuflein“ fortzufahren. Ich erschrak denn doch, als ich den korpulenten Brief ins Couvert steckte, über seinen unvernünftigen Umfang und wollte Deine Antwort abwarten. Wenn ich den leisesten Verdacht daraus geschöpft hätte, Du begriffest nicht, daß diese Dinge mir selbst jetzt nicht als abgethan erscheinen könnten, zumal sie noch so vielen in ähnlicher Lage zu schaffen machen, hätte ich den Faden nicht weitergesponnen.

Nun aber bist Du so liebevoll auf alles eingegangen, hast es als Dein Recht in Anspruch genommen, jedes Blatt im Lebensbuch Deiner Martha zu lesen, daß ich getrost in meinen helldunklen Erinnerungen fortfahren kann.

Die helle Seite daran ist nur das Bewußtsein, redlich das Meinige gethan zu haben. Wenn wenig damit erreicht wurde, wer trug die Schuld als unsere hergebrachte Erziehung, die uns zum Lebenskampf so unzulänglich ausrüstete!

Denn jetzt, da ich ganz auf meine eigene Kraft angewiesen war, wo sollte ich ein mir gemäßes Feld der Thätigkeit finden. Ich war gesund, aber zu schwerer körperlicher Arbeit nicht kräftig genug. Die weisen Männer, die kein Bedenken tragen, in Bergwerken, Fabriken und zum Mörtel- und Steinetragen bei Bauten das schwächere Geschlecht den Männern gleichzustellen, haben so stets die zarteste Sorge geäußert, ob wir Mädchen den Beschwerden eines gründlicheren humanistischen Studiums gewachsen wären. Als ob wir in unseren Töchterschulen nicht auch zuweilen von Ueberbürdung zu erzählen gewußt hätten, wenn wir bis in die Nacht hinein einen Haufen Schreiberei zu bewältigen und uns am Memorieren eines bunten Gedächtniswustes abzuquälen hatten!

Und alle diese Plage hatte uns nur dazu verholfen, in einer Salon-Konversation nicht eine gar zu unglückliche Rolle zu spielen.

Jetzt aber, da sich’s darum handelte, mein Brot zu erwerben – denn von dem Verkauf unserer Möbel und des Silberzeugs waren nach Bezahlung aller Schulden nur ein paar hundert Mark auf mein Teil gekommen –, was sollte ich beginnen.

In verschiedenen Häusern, wo ich mich um eine Gouvernantenstelle bewarb, fand man mich nicht genügend dazu vorgebildet. Mein bißchen Französisch und Englisch reichte zum Sprechen dieser Sprachen nicht hin. Meine Kenntnisse in Geschichte und Geographie waren lückenhaft, mein dilettantisches Klavierspiel befähigte mich nicht zum Unterricht in der Musik, und für mein Porzellanmalen hatte man nur ein mitleidiges Lächeln.

Ich taugte allenfalls zur Bonne; aber ich hatte ein Grauen vor der weißen Sklaverei der unglücklichen Geschöpfe, denen die Sorge für unmündige Kinder anvertraut ist, ohne daß sie die Macht haben, ihre Erziehung nach eigenem Ermessen zu leiten, die allen Launen und Unarten der süßen Kleinen wehrlos preisgegeben sind und kaum, wenn diese zu Bett gebracht sind, sich selbst angehören dürfen.

Nun, ich war ja fürs Haus erzogen worden. „Das Weib gehört in die Familie. Wenn sie keine eigene hat, soll sie sich in einer fremden nützlich machen.“

So versuchte ich es denn, mich als „Stütze der Hausfrau irgendwo unterzubringen. Und da ich mit gutem Gewissen versichern konnte, daß ich, was die Wissenschaft von Küche und Keller betraf, die Behandlung des Weißzeugs und das Einkochen von Früchten, jede Prüfung mit Ehren zu bestehen vermochte, fand ich auch bald Aufnahme in einem sehr angesehenen wohlhabenden Hause, dessen Herrin durch ein langes Leiden an die Chaiselongue gefesselt war.

Sie war eine freundliche arme Seele und kam mir vertrauensvoll entgegen. Ich dachte einen Augenblick, ich sei im Hafen angelangt.

Zwar für meine geistigen Bedürfnisse bot sich mir hier nicht die geringste Nahrung, es herrschte in der Familie ein frivoler, durchaus konventioneller Ton, den der Hausherr, ein kaum halbgebildeter Geldmann, für das richtige Kennzeichen der höheren Gesellschaft hielt und der von seinen zwei Kindern, einem jungen Gecken, der sich zur diplomatischen Carriere vorbereitete, und seiner achtzehnjährigen unhübschen, aber desto eitleren Schwester, eifrig nachgeahmt wurde.

Zwar übersah und überhörte ich alles, was mir widerwärtig war, da ich doch in den Abendstunden, nachdem ich den Thee bereitet hatte, auf mein Zimmer flüchten und mich in ein Buch vertiefen konnte.

Nicht volle drei Monate aber hatte ich dies bescheidene Glück genossen, da erklärte mir die gute Frau eines Tages mit sichtbarer Befangenheit, es thue ihr leid, mich entlassen zu müssen. Sie habe aber zu bemerken geglaubt, daß Sohn Alfred sich mehr für mich interessiere, als für seine Ruhe erwünscht sei, und auch mit ihrer Elsa hätte ich mich nicht zu stellen gewußt. „Mir selbst, liebes Kind, sind Sie sehr wert geworden. Aber lassen Sie mich Ihnen, da ich Sie gern glücklich sähe, den mütterlichen Rat geben: suchen Sie sich einen anderen Beruf. Zum Mitglied einer Familie, wie die unsere, sind Sie zu jung und hübsch. Das führt immer zu unliebsamen Verwicklungen.“

Ich küßte der wohlwollenden Dame die Hand und verließ ihr Haus ohne sonderliches Bedauern. Nicht nur der Herr Sohn hatte sich für mich zu „interessieren“ angefangen, auch die Gunst des Hausherrn drohte mir lästig zu werden, und die kleine Eifersucht der Tochter war bereits in einen förmlichen Haß ausgeartet. In kurzem hätte ich selbst den Entschluß fassen müssen, den Dienst zu kündigen.

So stand ich denn wieder auf dem Pflaster und überlegte, welche Form wohl das neue Joch haben möchte, unter das ich meinen geduldigen Rücken beugen sollte.

Die Wahl wurde mir erleichtert, da mich die Dame, die ich eben verlassen, einer ihrer älteren Bekannten empfahl, die eine Gesellschafterin und Reisebegleiterin suchte. Ich besann mich nicht lange und nahm die Stelle an.

Ein ganzes Jahr harrte ich in dieser neuen Fron aus. Was ich da erlebte, würde sich in einem englischen Roman der bekannten Sorte gut verwerten lassen. Meine neue Herrin war erst sechzig Jahre alt, machte aber den Eindruck einer hexenhaften Urgreisin mit scharfen, verblichenen Zügen, die aber noch erkennen ließen, daß sie einst eine gefeierte Schönheit gewesen war. Von jenen Tagen ihrer Triumphe, die sie in ihrem frühen Witwenstande ohne jedes sittliche Vorurteil genossen haben sollte, war ihr noch das Bedürfnis unbedingter Herrschaft und beständiger Huldigung geblieben und eine grenzenlose Selbstsucht. Da ich mich nur zu blindem Gehorsam, nicht aber zum Götzendienst ihrer Eitelkeit verpflichtet fühlte, rächte sie sich in dem „Stolz“, den sie mir beständig vorwarf, durch eine Menge kleiner Tücken, mit denen sie mich in meinen Wünschen und Neigungen zu verwunden, meine Geduld zu ermüden hoffte. So erlaubte sie mir auf der Reise, wenn wir in die sehenswürdigsten Städte und Gegenden kamen, niemals, das Hotel ohne sie zu verlassen, um meine Schaulust zu befriedigen. Sie selbst kannte bereits alles und fuhr dann mit mir nur im halbgeschlossenen Wagen aus, um etwas frische Luft zu schöpfen.

Ich hielt aber ohne Murren bei ihr aus. Eine innere Erschöpfung jedes eigenen Willens, eine Lähmung meines Ich war über mich gekommen, ich erschien mir selbst, wie ein pendelnder Automat, der sich geduldig jeden Tag aufziehen ließ.

Uebrigens war der Umgang mit dieser bösen alten Frau nicht ganz ohne Reiz. Sie hatte einen hellen Verstand und eine scharfe Zunge und fand ein besonderes Vergnügen daran, mein [782] sittliches Gefühl durch Erzählungen von bedenklichen Erlebnissen oder cynisches Aussprechen sehr unbedenklicher Maximen zu empören.

Ich betrachtete das als einen Kursus in der höheren Welt- und Menschenkenntnis und machte ihr nicht die Freude, mich als Unschuld vom Lande von ihr verhöhnen zu lassen.

Wer weiß, wie lange ich es bei ihr ausgehalten hätte! Da fanden wir sie eines Morgens tot in ihrem Bette, auf dem kalten weißen Gesicht noch den Zug von rücksichtsloser Selbstsucht und um die eingesunkenen Lippen, die ein ziemlich starkes Bärtchen beschattete, eine ironische Falte.

In ihrem Testament aber hatte die seltsame Frau mir ein Legat von zweitausend Mark ausgesetzt, begleitet von ein paar freundlichen Worten für mich, die ich mit Rührung las und dabei der Widersprüche gedachte, die ein Charakter, der uns offen zu liegen scheint, in seinem Innersten verbergen kann.

Jetzt aber war ich frei und schwor mir zu, mich nicht wieder in eine persönliche Dienstbarkeit zu schmiegen. Zum Studium einer Wissenschaft war ich zu alt geworden, auch hätten meine Mittel dazu bei weitem nicht ausgereicht. Aber für ein paar Jahre war bei meiner frugalen Lebenweise ausgesorgt, und in dieser Zeit konnte ich mich zu einem praktischen Beruf vorbereiten.

Ich kehrte nach Berlin zurück und trat in eine Handelsschule ein. Mein Ehrgeiz ging nicht höher, als Buchhalterin zu werden. Ich war so eifrig bei diesem neuen Bestreben, so vollständig mein Verzicht aus Beschwichtigung meiner höheren geistigen Triebe, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam, wenn ich mich im Spiegel betrachtete. Das Leben freilich, das ich führte, war von einem Scheintode nur dadurch unterschieden, daß die junge Leiche von Zeit zu Zeit das Bedürfnis fühlte, ihr altes Sterbekleid mit einem nach neuerer Mode zu vertauschen.

Mein Bruder war indessen als Assessor nach Berlin gekommen und hatte das Ziel seiner innigsten Wünsche, die Verlobung mit einem reichen Mädchen, erreicht. Er wollte nichts davon wissen, daß ich ferner darauf ausging, mir in einer subalternen Stellung meine Unabhängigkeit zu wahren. Es schien ihm wohl hauptsächlich gegen die Ehre zu gehen, eine Schwester zu haben, die als Buchhalterin in seinen jetzigen Kreisen sich nicht sehen lassen dürfe.

Ich blieb aber auf meinem Willen und erklärte ihm, daß mir „seine Kreise“ nicht verlockend genug seien, um die Genugtuung, mir selbst mein Leben zu verdanken, dafür aufzugeben.

Und so säße ich heute wohl, statt diesen Brief zu schreiben vor einem dicken rotregistrierten Kassabuch und malte schöne Zahlen in die Rubriken von Soll und Haben, hätte nicht ein gütiger Zufall sich ins Mittel gelegt und mich nach dem ersten Lehrjahre der doppelten Buchführung abtrünnig gemacht.

Davon in meinem nächsten Brief, liebster Schatz. Du wirst ihn ruhiger erwarten können, da Du jetzt „Land siehst“. Einstweilen lege ich Dir die Photographie des lieben Steuermannes bei, der mein Lebensschifflein aus allen Stürmen und Klippen herausgelenkt hat.

Yours truly

Martha.     


Fünfter Brief.
13. Oktober abends.     

Es hat mir sehr wohlgethan, liebste Freundin, daß mein lieber Gemahl auch vor Deinen Augen Gnade gefunden hat, obwohl er kein sogenannter „schöner Mann“ ist und es dem Photographen versagt war, ihn „sprechend ähnlich“ zu machen. Denn wenn Du ihn sprechen hörtest, würdest Du begreifen, wie er in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft mein Herz für immer gewinnen konnte.

Es macht aber Deinem physiognomischen Scharfblick Ehre, daß Du aus diesem stummen Konterfei die Grundzüge seines Wesens herausgelesen hast, seine Kraft und Güte, seinen Seelenadel und Wahrheitssinn, und trotz der dicht zusammengewachsenen Brauen und des Bartgestrüpps um den Mund hast Du ihm sogar den kindlich harmlosen Humor zugetraut, der ihn in lichten Intervallen zwischen seiner aufreibenden Thätigkeit so besonders liebenswürdig macht.

Du bist eben als Aerztin eine Seelenkundige, die sich nicht bloß auf die Diagnose leiblicher Zustände versteht.

Ja, Liebste, er ist ein seltener Mensch, und ihn zu besitzen, wäre eine himmlische Belohnung, selbst wenn ich ein weit schlimmeres Fegefeuer überstanden hätte, als mir verhängt war.

Wie wir uns gefunden haben, ist zum Glück so kurz erzählt, daß Du nicht zu fürchten brauchst, mit einem langen Liebesroman voll „Langen und Bangen“ in schwelender Pein behelligt zu werden.

Ich besuchte in Berlin zuweilen die Vorträge, die in einem Volksbildungsverein gehalten wurden, wenn mich die Themata reizten. Freilich trug ich oft genug nun erst recht eine brennende Sehnsucht mit heim, die Anregung, die ich empfangen, gründlicher auszubeuten und die Trauer darüber, daß dazu keine Aussicht war. Doch war’s immerhin eine Birne für den Durst, eine kleine geistige Erfrischung nach den ermüdenden Stunden in meiner Handelsschule.

An einem der Abende sollte ein fremder Arzt einen Vortrag halten über das Verhältnis des Willens zu unserem Nervenleben. Das interessierte mich sehr und ich ging zeitig mit einer Bekannten hin.

Das erste Auftreten des Redners versprach nicht eben viel. In einen solchen Lehrer, sagt’ ich mir, würden wir uns in unserer höheren Töchterschule nicht verliebt haben.

Er hatte aber kaum fünf Minuten gesprochen, so hing ich an seinen Lippen und als er nach fünf Viertelstunden geendet hatte, saß ich wie in einen Traum verloren, in dem mir der Klang seiner Stimme noch immer im Ohre forttönte und der feste, helle Blick seiner Augen mich mit Licht und Wärme zugleich überflutete.

Man pflegte in dem Saale, wo die Vorträge gehalten wurden nach ihrem Schluß noch zusammenzubleiben, die Herren vom Vorstand mit ihren Familien und wer sonst ihren Kreisen näher stand. Ich war immer fortgegangen, aus Sparsamkeit, da mein bescheidenes Abendessen zu Hause mich weniger kostete. Diesmal blieb ich mit meiner Begleiterin. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, zu deuten, daß der Mann, der es mir so mächtig angethan, nächster Tage verreisen sollte und ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Ich blieb also und bestellte mir ein Glas Bier und ein Brötchen, und wir setzten uns an ein leeres Tischchen in schicklicher Entfernung von der ansehnlicheren Gesellschaft. Wir sprachen eifrig von dem eben Gehörten, ich äußerte meine Unklarheit über einiges, was mir dunkel geblieben war oder was mit früher gefaßten Meinungen im Widerspruch stand, und ließ dabei kein Auge von ihm, der sich in heiterer Unterhaltung bald zu diesem, bald zu jenem wandte.

Indem er so, alte Bekannte begrüßend, durch den Saal ging, kam er einmal unserem Tische ganz nahe. Da erkühnte sich meine Begleiterin, die mich schon mit meinem Interesse für ihn geneckt hatte, ihn anzureden und zu meiner tödlichen Bestürzung ihm zu verraten, daß hier eine Zuhörerin sitze, die nicht mit allem, was er gesagt, einverstanden sei.

Er richtete sogleich freundlich das Wort an mich, erbot sich ohne jede überlegene Herablassung zu dem beschränkten Weiberverstande, mir auf meine Fragen Rede zu stehen, und setzte sich zutraulich auf den Stuhl mir gegenüber. Ich faßte mich dann auch rasch nach der ersten Verwirrung, und nun hatten wir ein sehr angeregtes Gespräch, das ihn selbst zu fesseln schien. Wenigstens verabschiedete er sich nicht eher, als bis einer der Vorstände an unseren Tisch kam, ihn an die Polizeistunde zu erinnern, die seine Damen nach Hause trieb.

Beim Abschied hatte er noch versprochen, mir eine kleine Schrift von Kant zu schicken, die ein ähnliches Thema behandelte und die er in seinem Vortrage citiert hatte, „Ueber die Macht der Vernunft“, unserer krankhaften Zustände Herr zu werden oder wie der Titel genauer heißen mag.

Statt sie zu schicken, brachte er sie mir selbst. Als er nach [783] drei Tagen Berlin verlassen müsse; er war von einem reichen Manne dorthin berufen worden, der ihn bei einem leichten Erkranken auf der Reise durch seine Stadt kennengelernt und ein so großes Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, daß er in einer neuen Krankheit ihn wieder zu Rate ziehen wollte, und seine Freunde und Studiengenossen hatten die Gelegenheit wahrgenommen, ihn zu einem Vortrage im Verein zu werben, nach drei kurzen Tagen also – verließ er mich als mein Verlobter.

Du kannst denken, daß ich ihm nichts verschwieg, was ihn, den schon reifen Mann – er ist zwölf Jahre älter als ich – von diesem leichtsinnigen Jugendstreich abschrecken konnte, meine Armut (die schöne Aussteuer, die ich mir selbst gemacht hatte, war längst mit ihrem großen Schrank verkauft worden), meine konfuse Bildung, meinen Hang zum Grübeln, der mich wohl nicht befähigte, ihm eine immer heitere Lebensgefährtin zu werden. Er lächelte zu dem allen und erwiderte, auch ich würde als Frau eines Armenarztes in einer bayrischen Mittelstadt kein großes Los ziehen. Und dann fügte er so liebevoll überschätzende Worte hinzu, daß mir ein Glücksgefühl heiß wie nie übers Herz lief und ich so unbedenklich mit zugedrückten Augen den Sprung ins Dunkle machte, wie wenn sich mir die Pforten des Paradieses aufgethan hätten.

Ich habe es keine Stunde meines Lebens zu bereuen gehabt, in dem ganzen Jahre, das wir nun verbunden sind. Und wenn mich doch oft genug an der Seite dieses besten Mannes, der mich auf Händen trägt, ein Ungenügen quält. Du wirst mich nicht für eine der unersättlich begehrlichen Närrinnen halten, die das schönste Glück sich durch bloße Grillen aber hochfahrende Ansprüche verbittern, oder gar für eine jener weiblichen Karikaturen die sich selbst „unverstandene Weiber“ nennen und mit ihrem wahren Namen unverständige und unausstehliche heißen sollten. Was mir fehlt, ist Arbeit, harte, rechtschaffene geistige Arbeit im Schweiße meines Angesichts. Mein Herz sitzt an voller Tafel, mein Geist hungert nach wie vor. Vielleicht ist das eine Krankheit, aber sie zehrt nun einmal an meiner innersten Natur und ist nicht mit kleinen Palliativmitteln zu heilen.

Laß Dir das noch ein wenig näher erklären.

Als ich meinen Mann heiratete, diesen Mann, glaubte ich, nun sei alles gewonnen, was ich je ersehnt hatte. Er wüßte alles, vor seinem klaren Auge konnte keines der Welträtsel sich in seine Schleier hüllen und da wir als Mann und Frau keine Geheimnisse voreinander hatten, würde mir in der geistigen Gütergemeinschaft, in der wir lebten, alles zufallen, wonach ich nur je Verlangen getragen.

Ich mußte bald erkennen, daß dies eine Illusion gewesen, die aus inneren und äußeren Ursachen sich nicht verwirklichen konnte.

Zunächst, weil er beim besten Willen mir nicht so viel von seinem Leben widmen konnte, wie ich hatte und bedurfte. Jean Paul, wenn ich nicht irre, hat einmal gesagt, der Unterschied der Liebe bei den beiden Geschlechtern bestehe darin, daß das Weib in einem fort liebe, während der Mann dazwischen zu thun habe. Ich halte das für einen jener geistreichen Sprüche, die nur zur Hälfte oder zu einem Drittel wahr sind. Auch das Weib, wenn es nicht ein ganz stumpfsinniges, geistesarmes Wesen ist, hat „dazwischen“ zu thun, und wäre es nur zu lachen, zu waschen und ihre Kleider zu flicken, was bei der leidenschaftlichen Natur schwerlich von einem ununterbrochenen Liebesgefühl begleitet sein wird. Wo aber zwei Menschen mit höheren geistigen Anlagen sich fürs Leben angehören, wird es die Frau sich nicht nehmen lassen, sich zu einem vollen Menschen auszubilden, in dem keine seiner Geistes- und Seelenkräfte schlummern oder neben dem thätig wirkenden Manne ein bloßes Schattendasein führen.

Nun sah ich meinen Mann dermaßen von seinem Beruf in Atem gehalten, daß für mich nur die kurzen Pausen übrig blieben, die mit unseren hastigen Mahlzeiten ausgefüllt wurden. Auch in diesen Ruhestunden gehörte er nur halb mir an, die Gedanken an seine Patienten ließen ihn oft nicht los, und am Abend, wenn alle Besuche hinter ihm lagen, war er meist so erschöpft, daß es grausam gewesen wäre, wenn seine Frau ihm zugemutet hätte, nun noch für ihre Bildung zu sorgen.

Unser junger, kleiner Haushalt machte mir nicht viel zu schaffen, obwohl ich überall selbst mit angriff. Dann kamen die langen Stunden, wo ich über mir allein saß und in den Büchern meines Mannes herumstöberte, „ob etwas käme und mich mitnähme“. Es waren meist medizinische Werke, die ich nicht zu lesen begehrte. Einige historische, die ich schon kannte. Dann philosophische, die ich zuerst mit heller Freude in die Hand nahm, da ich glaubte, hier hätte ich endlich den Schlüssel gefunden, der mir die Thore zu den Geheimnissen der Unter- und Oberwelt öffnen würde. Aber ich merkte bald, daß meine Hand zu schwach war, ihn zu gebrauchen. Die Sprache, in der die meisten geschrieben waren, klang wie eine Art Geheimsprache die nur solche leicht sich aneignen können, die mit Griechisch und Latein vertraut sind. Und selbst, wo die Dichter sich Mühe geben, in der allgemeinen Menschensprache zu reden, versagte mir bald das Verständnis. Wir waren ja nie dazu angehalten worden, eine strenggegliederte Kette von Schlüssen zu verfolgen, unter dem Vorwande, unser Gehirn sei zu schwach dafür. Als ob selbst das stärkste Gehirn nicht auch einer geistigen Gymnastik bedürfte, um schwereren Aufgaben gewachsen zu sein. Und was den Mangel an natürlicher Logik betrifft, den man uns vorzuwerfen pflegt, wie oft hatte ich im Disput mit Männern erfahren, daß auch viele von ihnen mit dieser edlen Gabe der Götter nicht eben reichlich gesegnet sind, da sie sich der Mühe überhoben glauben, uns mit Gründen zu überzeugen, wenn wir unsere Menschenrechte verteidigen, und nicht imstande sind, unsere Gründe zu widerlegen.

Ich hatte Tage, wo ich in meiner drückenden Unthätigkeit wahrhaft verzweifelt herumging.

Die leeren Stunden durch Geschwätz mit Nachbarinnen auszufüllen, konnte mir schon darum nicht in den Sinn kommen, weil wir sehr zurückgezogen lebten. Der Beruf meines Mannes und unsere beschränkten Mittel erlaubten uns nicht, an der ziemlich lebhaften Geselligkeit teilzunehmen, die mir von seiten der Männer wohl manche Anregung geboten hätte. Die Frauen, zumal der Professoren, die ich gelegentlich kennengelernt hatte, zogen mich wenig an. Ein gewisser Zunfthochmut machte die meisten der letzteren unliebenswürdig, und daneben betraf ich auch sie darauf, daß sie mit Vorliebe von ihren Kindern und Mägden sprachen.

Ja wenn ich selbst ein Kind hätte –! Vielleicht wäre auf einen Schlag all meinem heimlichen Ungenügen abgeholfen. Da mir dies Glück bis jetzt versagt ist, was gäbe ich darum, mit irgend einer ernsten Thätigkeit mir das Gefühl zu erringen, daß ich nicht so gar tief unter meinem Manne stehe! Hätte ich auf einer Universität Botanik studieren dürfen oder Chemie, Physik, irgend eine der Naturwissenschaften – ich hätte doch von fern an seinem geistigen Leben teilnehmen können! Und am schönsten, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, auch meinerseits etwas zu erwerben, unsere beschränkte Lage dadurch zu erleichtern, etwa durch Unterricht in einer Mädchenschule, wenn mein Talent und Wissen auch nicht ausgereicht hätte, die Wissenschaft selbst zu bereichern!

Nun habe ich Dir genug vorgeklagt, liebste barmherzige Schwester.

Da ich meinem ohnehin so vielgeplagten Manne das Herz nicht noch schwerer machen mag durch solche unfruchtbaren und hoffnungslosen Bekenntnisse, sondern, wenn ich ihn haben darf, ihm ein heiteres Gesicht zeigen muß, mußt Du schon still halten. Dies aber soll das letzte Mal gewesen sein, daß ich Deine Güte mißbraucht, und der längste Brief, mit dem ich mich über den Kanal hinweg an Dein mir immer nahes, verstehendes Schwesterherz geflüchtet habe.

Lebewohl!

Deine M.     

[784]
19.

Die Drei, die zu den Mandarinen gegangen waren, kamen vom Hause her zurück, Schilcher hatte jetzt statt der Serviette etwas wie einen Brief in der Hand, das er wie eine Fahne schwenkte. „Eine Depesche!“ rief er, während sie näher kamen. „Ein Telegramm! An dich!“

„Endlich!“ sagte Rutenberg und nahm es ihm aus der Hand. „Du, Alter! Errätst du, von wem es ist?“

„Hab' so eine Ahnung!“

Rutenberg öffnete die Depesche und las sie vor: „Heute, mit dem Dampfer. Whist, Wild, Lugau.“

„Siehst du wohl, sie sind es! Lakonisch, aber deutlich. Schilcher, wir haben sie! Wo ist die Hotelkanone, um sie zur Begrüßung abzufeuern, wo ist eine deutsche Flagge! – ,Mit dem Dampfer‘ steht da. Nach meiner Uhr muß der schon da sein. Schilcher, sie sind schon da!“

Fritz deutete mit dem Arm hinaus. „Der Dampfer hält bei der Marine –“

„Richtig!“ rief Rutenberg, der an die Brüstung stürzte und hinuntersah. „Da rudert auch schon eine Barke vom Dampfschiff her. Sie sitzen ja auch drin! Sie sind‘s!“ – Er zog sein Taschentuch heraus und wedelte damit. Schilcher und Gertrud, von seiner Freude angesteckt, thaten es ihm nach. „Kinder!“ rief Rutenberg und blickte triumphierend herum. „Nun werden wir also wieder Lugaus Imitationen und Wilds Erfind – –“

Er sprach das Wort nicht zu Ende. Eben kam ihm Arthurs Gesicht vor die Augen, das rosige, glatte, gleichsam abgeleckte; dabei fielen ihm Fritz Waldecks Worte wieder ein ‚jede Gefahr vermeidet er meilenweit, wenn es möglich ist!‘ – Wilds Erfindungen, dachte er. Ah! Wild wäre mein Mann!

Schilcher war auch an die Brüstung getreten, noch immer sein Taschentuch schwenkend. „Sie sehn uns!“ rief er jetzt. „Bei Gott, sie sehn uns. Sie ziehn auch ihre Flaggen auf. – Rutenberg, ich geh‘ hinunter, geh‘ ihnen entgegen, diesen alten Jungen!“

Er wollte sich schon in Bewegung setzen, doch Rutenberg hielt ihn fest. „Nein, nein,“ sagte er. „Ich! – Laß mich, Schilcher,“ flüsterte er hastig, ihn ein paar Schritte weiter führend. „es ist eine Idee über mich gekommen, von diesem Wild soll sie ausgehn; ich führ‘ ihn herauf und sag‘ sie ihm. Gieb dann acht, gieb dann acht!“

Er stieß seinen Schilcher freundschaftlich zurück und ging allein zur Felsentreppe. „Ich bin der Hausherr!“ rief er noch über die Schulter. „Ich begrüße sie!“

Schilcher sah ihn hinuntersteigen, sah die andern landen. Pasquale und dessen Gehilfe Antonio schifften das Gepäck aus. „Gepäck!“ summte er und wandte sich zu Gertrud. „Die müssen also doch auch wohnen, das ist nicht zu leugnen. Wo sollen sie wohnen, Kind? Das kleine Hotel ist voll. Wir müssen vorläufig zusammenkriechen wie die Mäuse!“

„O nein, sagte Fritz Waldeck. „das müssen Sie nicht. Mein Zimmer wird frei. bald. in einer Stunde.“

„Was? Sie wollen fort?“

Auch Schilcher war erschrocken. Gertrud sah den jungen Mann herzlich an und schüttelte den Kopf. Indem er that, als bemerk‘ er das nicht, indem er ihr seine Gefühle mit Gewalt zu verbergen suchte, entgegnete Fritz auf Schilchers Fragen „Ja, natürlich. Was ich hier zu thun hatte, das ist ja gethan! …“

Wie rührend freundlich schauen Sie mich an, Herr Oberappellationsrat. Sie drücken mir gar die Hand. Sie schütteln den Kopf … Ich muß ja fort.“

„Warum müssen Sie? …“

„Meine Reisegesellschaft, in Pompeji … morgen wollen sie nach Neapel zurück. Von da dann nach Rom … – und von Rom wieder nach Haus!

Schilcher ließ verzagend den Kopf hängen. So gefällt mir‘s! dachte er. „Der andre“ geht uns durch und wir sitzen wieder da – er warf einen grimmigen Blick auf Arthur, der über die Brüstung dem Ausschiffen zusah …. mit dem Wasserhuhn, der Taucherente allein!

„Und was wollen Sie dann zu Hause? fragte er verdrießlich.

Fritz Waldeck lächelte, ihm war selber nicht gut dabei. „Was ich will? Was lernen.“

„Und was lernen Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf?“

„So ungefähr Kunstgeschichte,“ erwiderte Fritz, die Achseln zuckend. „Das sieht ja nicht nach Broterwerb aus. aber mein Professor – der uns jetzt nach Neapel und Rom führt – der macht mir auf jede Weise Mut. Er glaubt an mein Talent, mein Auge, meinen – und so weiter. Ich soll an seiner Zeitschrift mitarbeiten, Mitredakteur werden, sobald ich so weit bin. Ein Lehrstuhl, meint er, wird mir dann auch nicht fehlen. Er will mir auf jede Weise beistehn,“ sagt er. Fritz zuckte wieder lächelnd die Achseln. „Er hat mich eben merkwürdig gern!“

„Kann ich ihm gar nicht verdenken,“ brummte Schilcher. „Und das nötige Geld haben Sie einstweilen?“

„Mein Onkel hat's, er will aber durchaus Vater an mir spielen. Studier' du nur drauf los, sagt er, ich lass' dich nicht im Stich, darauf kannst du Gift nehmen! – Kurz – es ging mir früher so schlecht – aber seit einiger Zeit geht's unsinnig gut. Auch dieser Onkel hat mich sehr lieb – wie ein eignes Kind –“

„Kann's ihm auch nicht verdenken,“ fiel Schilcher ein. „Aber daß Sie uns so ventre à terre wieder verlassen wollen – – das hatt' ich mir schöner gedacht!“

Man hörte jetzt Wilds und Rutenbergs Stimmen, die beiden stiegen voran herauf, Lugau folgte mit den gepäcktragenden Schiffern. Der kleine Oberappellationsrat lief ihnen entgegen, auf der obersten Stufe der Treppe blieb er stehn, mit beiden Armen zum Willkomm grüßend.

„Aber das ist ja ein Felsenmärchen“ sagte Wild, der entgegenwinkte, „wie aus dem alten Vater Homer. Nu, was sagen Sie, Gottfried Schilcher? Auf Tassos heiligem Boden sehen wir uns wieder!“

Schilcher drückte ihm die Hand, dann streichelte er ihm mit drolliger Zärtlichkeit das volle, humoristisch behagliche Gesicht. „So gescheit waren Sie noch nie, lieber Wild, wie in dieser Sache. – Ich freue mich! Sehr! – Lugau! Mensch!“

Etwas atemlos keuchte. nun auch Lugau zur Terrasse hinauf; er winkte mit dem Taschentuch, mit dem er sich die Schläfen getrocknet hatte. „Man hat uns gerufen,“ sagte er, „und wir sind gekommen. Uebrigens, Sie sind noch am Geben, Schilcher!“

„Bin ich noch am Geben?“

„Ja. – Sehen Sie mich an. Wild behauptet, ich wär' auf der langen Fahrt von der Ostsee bis Neapel um hundert Pfund magerer geworden. Finden Sie das auch?“

Schilcher betrachtete den kleinen dicken Mann mit ernsten Naturforscheraugen. „Ich kann keinen Unterschied wahrnehmen, Lugau, aber es mag ja doch sein!“

Alle hatten die Höhe erreicht, alles begrüßte sich, Rutenberg schickte die Schiffer, die mit Handkoffern und Reisetaschen beladen waren, einstweilen in sein Zimmer hinauf. Er stellte die jungen Männer vor, „junge Wandervögel“, er drückte dann vor Vergnügen die wohlbeleibten alten Herren gegeneinander und an seine Brust. „So, und nun seht euch hier gefälligst um, so wohnen wir und so leben wir. Unter uns die Brandung, vor uns der Vesuv!“

„Bei Gott, ein Irrtum ist nicht mehr möglich,“ sagte Wild, der die vertretenden Schelmenaugen rundum wandern ließ, „wir sind wirklich hier. Vierzig Jahre lang hab' ich mir's gewünscht, auf diesem Felsen zu stehn, vierzehn Tage lang hab' ich euch beneidet, jetzt steh' ich da! Das ist schon der Mühe wert, meine Freunde, sich in Gefahr zu begeben, da werden wir uns denn auch mit dem nötigen jugendlichen Leichtsinn –“

„Gefahr? Wieso?“ fragte Schilcher.

Rutenberg, der Schilcher gegenüberstand, winkte ihm heimlich, fast nur mit den Augen. der andre bemerkte es auf der Stelle. „Wieso?“ antwortete Wild, mit seinem unerschütterlich behaglich ernsten Gesicht. „Nu, in Neapel war man heute früh

[792]
Sechster Brief.
19. Dez. 0 Schönes stilles Schneetreiben vor meinem Fenster. Der Gatte sitzt in seinem Arbeitszimmer über einer wissenschaftlichen Abhandlung für ein medizinisches Journal. Mir ist immer wohl in seiner Nähe, auch wenn die Thür zwischen uns geschlossen ist. Dein lieber Brief liegt auf meinem Schreibtisch vor mir, was könnte mir noch zum inneren Frieden fehlen?

Und so ergreife ich mit Vergnügen die Feder, um Dir zu berichten, daß ich die letzte Zeit in glücklicherer Stimmung zugebracht habe, als ich mich seit lange entsinnen kann.

Zuerst aber zu Deiner Frage, ob ich nie daran gedacht habe, zu „schreiben“, zu schriftstellern, wie es heutzutage tausend Frauen und unvermählten Fräuleins ein Trost in ihrer Einsamkeit und eine oft reiche Erwerbsquelle geworden ist.

Ja, Liebste, ich habe daran gedacht, in meinem dritten Ballwinter, als ich die Gespräche meiner Tänzer nachgerade auswendig wußte und der Duft der Cotillonsträußchen mir herzlich fade vorkam. Es ging mir freilich nicht viel anders mit den Novellen aus weiblicher Feder, die ich in Feuilletons und Wochenschriften hie und da gelesen hatte. Das könntest Du allenfalls auch, sagte ich mir. Das Rezept ist so einfach – nimm einen reizenden jungen Maler – oder Lieutenant, oder Ingenieur, oder Referendar –, ein „entzückendes“ junges Mädchen – Tochter eines hohen Beamten, Generals, Millionärs, Konsistorialrates – laß sie zwei Stunden miteinander zusammen sein, – auf einem Ball, einem ländlichen Fest, in einem Badeort, und über Ibsen, Nietzsche, Richard Wagner naive Gespräche führen, die sie für geistreich halten, – die Herzen finden sich, die Eltern aber sind grausam, ein widerwärtiger alter Bewerber erscheint auf der Bildfläche, Thränen, Verzweiflung – vielleicht ein Entführungsversuch, den der fatale alte Spekulant, dem es nur um die reiche Mitgift zu thun ist, vereitelt, tiefstes Unglück des edlen Liebenden, er fordert den Nebenbuhler, aber ehe es zum Schießen kommt, legt sich der Zufall, der Gott der Liebenden ins Mittel, entlarvt den alten Sünder und macht das junge Paar glücklich.

Diese allbekannten Elemente der landläufigen Frauenzimmerromane lassen sich leicht durch kleine Vertauschungen und Verschiebungen so unendlich variieren, wie man die Kunst erfunden hat, mit Würfeln Sonette anzufertigen. Und da es immer ein großes Publikum giebt, das dergleichen zusammengewürfelte [794] „spannende Geschichten“ mit herzklopfendem Interesse verschlingt, ist es kein Wunder, daß selbst begabte Frauen, die anfangs ein inneres Bedürfnis zum Fabulieren fühlten, so lange sie aus ihrem eigenen Leben den Stoff zu ihren Erzählungen nehmen konnten, die Sache mit der Zeit fabrikmäßig betreiben, da sie ihre Rechnung dabei finden.[6]

Auch ich, so alltäglich mein äußeres Leben verlaufen war, hatte ja allerlei innere Kämpfe durchgemacht und fühlte mich berufen, der Welt „zu sagen, was ich leide“. Hatte ich doch auch im deutschen Aufsatz immer die beste Censur bekommen. Schreiben können wir ja fast alle, wenn wir auch nicht ordentlich lesen lernen, da zu dieser Kunst die Uebung im Denken gehört. Und so setzte ich mich eines Morgens nach einer besonders langweiligen Soiree wohlgemut hin und fing meine erste Novelle an. Keine in dem gewöhnlichen Stil, sondern eine satirisch-humoristische, von der ich nur noch so viel weiß, daß ihre Heldin ein tapferes junges Mädchen war, die ihr Lehrerinnenexamen machen wollte und einer „berückenden“, eitlen und ganz unbedeutenden Bankierstochter das Herz ihres Verlobten abtrünnig machte. Bis dann schließlich Buridans Esel, zwischen die zwei Heubündel gestellt, das größere und nahrhaftere vorzog, ohne daß der armen Verschmähten das Herz darum brach. Eine hübsche kleine Galerie von Karikaturen, zu denen meine Tänzer die Modelle geliefert hatten, bildete den Hintergrund.

Ich war sehr zufrieden mit diesem Erstling meiner litterarischen Thätigkeit und sandte das Manuskript an die Redaktion eines weitverbreiteten Journals.

In den sechs Wochen, bis der Bescheid eintraf, entwarf ich im Kopf schon den Plan einer zweiten „Lebensstudie“, wie ich meine novellistischen Exerzitien bescheidentlich nannte, und sah mich dabei in anderer Frauenlitteratur um, da man doch gut thut, sich über die „Technik“ bei bewährten Meistern zu unterrichten. Ein glücklicher Zufall führte mir zwei Bücher der Ebner-Eschenbach in die Hand, „Bozena“ und „Das Gemeindekind.“

Als ich diese beiden Meisterwerke gelesen hatte, mit heißen Wangen und in fieberhafter Weltentrücktheit, und nun an meine eigene Schreiberei dachte, war mir zu Mut, wie wenn ich mit Juwelen behangen in eine Gesellschaft getreten wäre und ein guter Freund käme auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: Wie können Sie sich in solchem Putz hier sehen lassen und sollten doch wissen, daß die Steine Straß und das Gold Talmi ist!

Da kam denn auch mein Opus zurück. Ich dachte, in dem begleitenden Brief werde ungefähr dasselbe stehen. Der Schreiber schien aber keine Ahnung gehabt zu haben, daß der Schmuck nicht echt war. Er lobte vielmehr Stil und Charakterzeichnung und bedauerte nur, daß „die Tendenz nicht in den Rahmen ihrer Zeitschrift passe“, bat aber um fernere Zusendungen.

Ich war froh, an der Schwelle abgewiesen zu sein, ehe ich mich öffentlich meiner Thorheit zu schämen gehabt hätte. Das Manuskript wanderte in den Ofen. Ich war für alle Zeit von dem Wahn, der Kranz des Dichters lasse sich „im Spazierengehn“ erringen, geheilt.

*  *  *
Zwei Tage später.     

Der letzte Brief ist unterbrochen worden, ich habe ihn abgeschickt, ohne ihn noch einmal durchzulesen. Weihnachten ist vor der Thür, es giebt viel zu thun für unseren Heiligabend, da ich meinem lieben Mann doch allerlei selbstverfaßte Ueberraschungen zugedacht habe (keine langwierigen Stickereien, die mir nie gelingen wollten, mein bißchen Malkunst mußte herhalten für ein kleines Frühstücksservice, da diese Morgenstunde die einzige gemeinsame ist, auf die ich sicher rechnen kann).

Und dann, wir haben noch einen Weihnachtsgast geladen, einen neugewonnenen Hausfreund, von dem ich Dir schon längst hätte erzählen sollen.

Ein junger Russe, Dimitri von L., der mit zweiundzwanzig Jahren sich in Berlin den Doktorhut aufgesetzt hat, nach so eifrigen Studien – Philosophie und Naturwissenschaften – daß seine Gesundheit schwer darunter leiden mußte.

Denk’ nur, wie seltsam sich das gefügt hat! Er war an jenem Abend, als ich meinen Mann kennenlernte, mit unter den Zuhörern und empfing gleich mir einen so tiefen Eindruck von seinem Geist und Charakter, daß er, als die Nervenkrankheit bei ihm ausbrach, zu keinem der berühmten Berliner Aerzte ging, sondern hieher reiste, meinen Mann zu konsultieren, Da er sehr reich, verwöhnt, von früh an sein eigener Herr war und an jener Willensschwäche leidet, die mehr oder weniger allen Slaven im Blute liegt, fühlte er, daß er einer strengen Zucht bedurfte, wenn er genesen sollte, und daß er niemand williger unbedingt gehorchen würde, als diesem zur Zeit noch unberühmten Distrikts- und Armenarzt in unserer bayrischen Provinzstadt.

Seit vier Monaten ist er nun hier und hat sich als der fügsamste, geduldigste Patient erwiesen, wofür denn auch der Lohn nicht ausgeblieben ist. Denn die schlimmsten Symptome seiner Neurasthenie sind schon im Schwinden begriffen, die Nervenschmerzen in den Extremitäten haben fast gänzlich aufgehört, seine Melancholie hellt sich zusehends auf, und die körperlichen Uebungen, die mein Mann ihm vorgeschrieben hat, ermüden ihn so wohlthätig, daß er auch die Enthaltung von geistiger Arbeit, die ihm anfangs eine Qual war, kaum noch dumpf empfindet.

Nun ist es rührend, mit anzusehen wie dankbar er zu seinem „Retter“ hinaufblickt. Wenn er mit ihm zusammen ist – er ist unser regelmäßiger Tischgast an den Sonntagen, und meine anfängliche Sorge, ob diesem Sybariten meine einfache Küche genügen möchte, ist längst geschwunden, er hat eine reizende Art, jedes Gericht, das „Matuschka Meta“ ihm vorsetzt, zu loben – dann erscheint sein sehr bleiches Gesicht, das mit dem langen, tiefschwarzen Bart an den slavischen Christus-Typus erinnert, so harmlos fröhlich wie das eines wohlerzogenen Knaben, der bei guten Leuten zum Essen eingeladen ist.

Kommt dann ein wissenschaftliches Thema aufs Tapet, so leuchten ihm freilich die Augen wie die eines geistvollen reifen Mannes. Aber ich brauche nur, als seine Pflegemama, den Finger aufzuheben, um ihn vor allzu angestrengtem Denken zu warnen, so wird er wieder zum heiteren jungen Menschen, der uns mit Erzählungen aus seiner Heimat und Jugend unterhält, mit unserem Kätzchen spielt und mit drolliger Schüchternheit fragt, ob er von einer Schüssel, die ihm besonders schmeckt, wohl noch zum drittenmal nehmen dürfe.

Daß er an unserer Kathi eine Eroberung gemacht hat, ist hiernach kein Wunder. Aber auch mein Mann schätzt ihn sehr, hat eine hohe Meinung von seiner philosophischen Begabung und seinen Kenntnissen in Physik und Physiologie und freut sich immer, wenn er in unser kleines „Salönchen“ eintritt und fragt, ob er zum Thee dableiben dürfe.

Mir ist er lieb geworden, schon weil er meinen Hellmuth so innig verehrt. Ich werde, wenn im Frühling seine Kur beendet ist und er nach Petersburg zurückkehrt, die Lücke sehr empfinden. Zumal er in der letzten Zeit – seit etwa sechs Wochen – sich um meine eigene Bildung ein Verdienst erwirbt, das ich ihm ewig danken werde.

Davon aber im nächsten Brief. Ich will mich nicht wieder verführen lassen, doppeltes Porto zu bezahlen und Dich Wehrlose mit sechzehn Seiten zu überrumpeln.

Du Glückliche, daß Du für drei liebe Buben den Weihnachtsbaum zu rüsten hast! Ein Mistelzweiglein mußt Du mir durchaus in Deinen nächsten Brief einlegen.
Deine Martha. 




Siebenter Brief.

Am heil. Dreikönigstag.     
Ich feiere diesen katholischen Festtag, da ich in Bayern lebe und einen Katholiken zum Mann habe – er läßt mich übrigens, so viel ich noch Protestantin bin, gewähren, da er selbst sich mit seinem Gott außer der Kirche zurechtfindet. Heute mittag aber haben wir drei (Dimitri war mit uns) die traditionelle Torte mit der Bohne gegessen, Dimitri ist Bohnenkönig geworden [795] und hat sich außer seiner Königin mit einem einzigen Unterthan begnügen müssen.

Nun komme ich auf eine Plauderstunde zu Dir, liebstes Herz, die Männer sind spazieren gegangen, Kathi hat ihren Ausgang, ich und das Miezchen hüten das Haus. Draußen eine so stille, klare Wintersonne, wie es in mir still und klar aussieht nur um viele Grade wärmer. Und in der Ecke des Wohnzimmers, wo mein Schreibtisch steht, sieht's aus wie in einer tropischen Gartenlaube, zwei schöne Palmen, herrliche Orchideen, dazwischen duftet ein Rosenstrauch mit vielen halbaufgeschlossenen Blüten – Maréchal Niel!

Du hast mich wohl nicht im Verdacht, daß ich mir diesen Luxus von erspartem Wirtschaftsgelde angeschafft habe oder daß Hellmuth so unvernünftig gewesen sei, mir eine so ausschweifende Weihnachtsbescherung zu machen. Die ganze Herrlichkeit kommt von Dimitri. Wir hatten ihn, als wir ihn zum Heiligabend einluden, geloben lassen, daß er uns nicht beschenken wolle. Eine Blume wird aber doch erlaubt sein, Matuschka? hatte er errötend gefragt. Das konnten wir ihm nicht abschlagen, und so hat er die Erlaubnis mißbraucht. Ich war ernstlich böse. Aber da ich seine kindliche Freude sah, meinen kahlen Arbeitswinkel so herrlich geschmückt zu sehen, mußte ich wohl Gnade für Recht ergehen lassen.

Diese Russen sind geborene Verschwender, mit ihrer Gesundheit wie mit ihrem Gelde. Denk' nur, der Kathi hat er zu Weihnachten eine goldene Uhr geschenkt. Das gute Tier hat vor Freude fast den Verstand verloren, zumal sie heimlich in den Geber verliebt ist, seit er ihre Dampfnudeln für die Blüte der Kochkunst erklärt hat.

Nun aber muß ich Dir doch endlich erzählen, wieso ich diesem guten, kindlich harmlosen Menschen in einer sehr ernsten Sache ewigen Dank schuldig geworden bin.

Es war im November, an einem sehr melancholischen Regentage. Mein Mann war über Land gerufen worden, ich hatte noch stundenlang auf ihn zu warten. Um der grauen Oede in mir und um mich zu entfliehen, nahm ich ein Buch aus seiner Bibliothek, dessen Titel mich schon lange reizte, obwohl Hellmuth mir gesagt hatte, es sei griechisch oder böhmisch für mich – „Kants Kritik der reinen Vernunft“. Also uns Frauen traut man das Verständnis für „rein Vernünftiges“ nicht zu! dacht’ ich in meinem gekränkten Selbstgefühl und wollte meinen hochmütigen Herrn Gemahl damit überraschen, daß ich dies Buch zu meiner Lieblingslektüre erwählte.

Ich war aber nicht weit darin gekommen, so merkt’ ich, daß er mit seinem Abraten nur allzu sehr recht gehabt hatte. Kaum eine ferne Ahnung dämmerte mir auf, was es mit den philosophischen Kunstausdrücken a priori, synthetisch, analytisch usw. für eine Bewandtnis habe, und nachdem ich mir eine Weile vergebens den Kopf zerbrochen hatte, überkam mich ein so unselig hilfloses Gefühl, wie ein Kind, das sich in einen wilden Wald gewagt hat und, da es nicht aus noch ein weiß, sich auf einen Stein niedersetzt und zu weinen anfängt.

Da ging die Thür auf und Dimitri trat ein. Er wollte Hellmuth in einer wissenschaftlichen Frage zu Rate ziehen, denn jetzt fing er wieder an, sich leicht zu beschäftigen. Als er mich mit nassen Augen über dem Buche sitzen sah, fragte er erst scherzend, welcher Roman mich so tief gerührt habe.

Ich konnte nicht ausweichen, wollte es auch nicht. Es war mir eine zu große Wohlthat, endlich einen Menschen zu finden, dem ich meine Not klagen konnte, – da ich, wie Du weißt, meinen Mann damit verschone, – einen Menschen, der mir vielleicht helfen konnte.

Er hörte mich mit der ernstesten Teilnahme an. „Ja, Matuschka,“ sagte er endlich, „Ihr Gemahl hat recht, dies Buch wird Ihnen vielleicht für alle Zeit ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es giebt auch unter Männern, die sonst im methodischen Denken geschult sind, nicht allzu viele, die in den Geist des Weisen von Königsberg bis zur letzten Tiefe eindringen. Aber auf dem Wege zu diesem Gipfel liegen viele Punkte, die auch für eine nachdenkliche Frau zu erklimmen sind, wenn sie ihren Geist nur beharrlich trainiert, wie es Alpenwanderer mit ihrem Körper thun müssen. Es würde mir die größte Freude sein, wenn ich Ihren Führer dabei machen dürfte – vorausgesetzt, daß Ihr Gemahl damit einverstanden ist. Denn eine so hohe Meinung er von Ihnen hat, er könnte doch auch zu den Männern gehören, die glauben, allzu angestrengtes Grübeln über die Welträtsel streife den Schmelz von einer Frauenseele.

Du begreifst, Liebste, wie mich diese Worte glückselig machten zumal ich Hellmuth kannte, daß er mir in meiner inneren Entwicklung alle Freiheit ließ. Und als er abends heimkehrte und sich an einem heißen Grog ein wenig restauriert hatte, trugen wir – ich hatte Dimitri nicht fortgelassen – ihm unseren Studienplan vor. Der Gedanke, daß ich mir ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie lesen lassen sollte, kam ihm zuerst etwas abenteuerlich vor. Als ihm aber Dimitri auseinandergesetzt hatte, wie er es damit meine, leuchtete ihm die Sache sehr ein und er bedauerte nur, daß er selbst nie Zeit gehabt hatte, meinem „geistigen Hunger“ die rechte Nahrung zu suchen.

Freilich erfuhr er jetzt zuerst, wie lange ich schon mit Schmerzen empfunden hatte, daß auch die Frau nicht vom Brot allein lebt.

Und nun begannen gleich am folgenden Nachmittag unsere „Trainier-Uebungen und wurden ohne Unterbrechung täglich fortgesetzt. Eine neue Welt ging mir auf, als ich erfuhr, wie in den frühesten Zeiten der griechischen Welt weise Männer sich bemüht hatten, die ungeheure Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter ein Prinzip zu sammeln, einen Urquell nachzuweisen, aus dem alle Dinge durch Mischung und Sonderung sich herausgebildet hätten, wie sie damit vom rein Sinnlichen begannen, erst das Wasser, dann die Luft oder Erde und Feuer als den Urstoff der Welt bezeichnend, dann zu geistigeren Anschauungen fortschritten, Liebe und Streit, sogar die scheinbar so unsinnliche Zahl als das weltbildende Prinzip hinstellten, und so immer höher hinauf, bis zu den Ideen des Plato.

Nie im Leben habe ich eine größere innere Befriedigung gefühlt, als da mir nach und nach so viele dunkle Begriffe gelichtet wurden, ich das Erwachen des Menschengeistes aus dem anfänglichen unbeholfenen Tasten zu immer sichrerer Erkenntnis an mir selber nacherleben durfte und nun große Namen, die in der allgemeinen „Bildung“ nur Schatten geblieben waren, mit klaren Zügen leibhaftiger Verkörperung vor mich hintraten. Auch die ewigen Probleme des Weltzusammenhanges, die noch heute die scharfsinnigsten Denker beschäftigen, verloren ihr unheimliches Ansehen, da ich sie in ihrem embryonischen Beginn, dann in ihrer naiven Jugendentwicklung betrachten durfte. Ich will nicht sagen, daß ich alles sogleich begriff und nichts mißdeutete. Aber das Ringen nach Verständnis war doch nicht mehr unfruchtbar und hoffnungslos und ich durfte den herrlichen Stich der „Schule von Athen“, der über dem Arbeitstisch meines Mannes hängt, ohne allzu tiefe Beschämung bedachten, da die einzelnen Gestalten darauf nicht mehr mich an meine Unwissenheit erinnerten.

An jedem Vormittag, wenn ich mein Hauswesen besorgt hatte, arbeitete ich das Pensum schriftlich aus, das wir am Tage vorher absolviert hatten.

Der neuen Lektion ging dann die Vorlesung des „Protokolls“ voran. Dimitri hatte nur selten einen Irrtum zu berichtigen, was mich nicht wenig freute.

„Hören Sie, Frau Meta,“ sagte er neulich, „wenn wir mit dem ganzen Kursus durch sind, müssen Sie mir Ihr Heft geben. Ich redigiere es dann noch ein wenig und ergänze hie und da eine Lücke, denn ich bin der Meinung, es eigne sich dazu, gedruckt zu werden. Was Ihnen wertvoll gewesen, sollte noch so manchen Ihres Geschlechts erwünscht sein, zur ersten Einführung in ein Gebiet, das Frauen sonst verschlossen zu bleiben pflegt.

Ich stimmte ihm natürlich mit Freuden bei, nur sollte er seinen Namen dazu geben. – „Es würde dann höhere Ansprüche auf wissenschaftlichen Wert machen,“ versetzte er. „Ich dächte, wir betitelten das Büchlein ,Ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie für Frauen, nachgeschrieben von Matuschka'. Wir lachten beide und ich sagte: „Wer weiß, ob die Studentin Ihre gute Censur auch verdient, wenn wir in die neuere Zeit gelangen, z.B. nur bis Spinoza vor dessen Philosophie ich stets, ich weiß nicht warum, eine Art Furcht gehabt habe wie vor einem bodenlosen Abgrund, da er für einen Gottlosen verschrieen wird, der selbst so klare Denker wie Lessing verführt habe.

[796] „Sie werden sich wundern,“ erwiderte er, „wie grundlos diese Furcht gewesen sein wird, wenn Sie an diesen herrlichen Menschen näher herantreten.“

Ihre Vorstellung von ihm ist nur ein Rest Ihrer flachen, gedankenlosen Mädchenerziehung, bei der es keine sündhaftere Verirrung gab, als sich einen Gott zu denken, der nicht im Katechismus stand. Diesem edelsten aller Sterblichen kann man eher zum Vorwurf machen, daß ihm in seinem Gottesbegriff die ganze Welt verschwand. Aber von der ,intellektuellen Liebe‘ zu diesem Allgott, die in seinem einsamen Herzen glühte, wissen freilich nur wenige von denen, die täglich zu ihrem ‚lieben Gotte‘ beten.“

Verzeih, Liebste, ich habe mich fortreißen lassen, Dir beinahe selbst ein philosophisches Kollegium zu lesen. Weß das Herz – und auch der Kopf – voll ist, deß fließt die Feder über. In der nächsten Zeit werde ich Dich mehr in Ruhe lassen. Das „Heft“ nimmt den größten Teil meiner freien Zeit in Anspruch, und seit vom Herausgeben die Rede ist, muß ich mich ganz anders zusammennehmen, als da ich nur Notizen zum eigenen Repetieren machte.

Wünsche mir Glück, Liebste. Ich habe ja endlich gefunden, was mir not thut!

Und immerhin ist es für das eine versagte Glück ein Ersatz, den ich dem Himmel nicht genug danken kann.Deine M. 


Achter Brief.

Am 15. Januar.     
Dein Getreuer Eckartsbrief, liebste Mary, trifft soeben in meiner Arbeitsstunde bei mir ein. Ich lasse Sokrates, der mir gerade zu schaffen machte, einen Augenblick warten, um Dich über Deine schwesterliche Sorge umgehend zu beruhigen.

Nein, Liebste, Du siehst Gespenster. Wenn Du so einem Privatissimum beiwohntest, würde Dir nicht von fern der Gedanke kommen, mein eheliches Glück könne auch nur einen Augenblick dadurch gefährdet werden. Für mich ist Dimitri nur der verehrte Lehrer, der meinen Kopf beschäftigt, nicht mein Herz. Für ihn bin ich – Matuschka, sein Mütterchen, das, wenn sich’s nicht um Philosophie handelt, ihm an Autorität, Erfahrung, Lebensweisheit weit überlegen ist und überdies – die Frau seines Freundes und Lebensretters, dem sein junger Hausfreund für viele geistige und leibliche Wohlthat Dank schuldig ist. Der Hausherr selbst ist und bleibt der einzige und unumschränkte Herr und Gebieter in meinem Herzen, und zwischen mir und dem „Dritten im Bunde“ kann von einer anderen als geschwisterlichen Neigung nie die Rede sein, auch nicht von der leisesten sogenannten platonischen Liebe, höchstens von der „intellektuellen“, wie Spinoza sie verstanden hat.

So! und nun sage ich, wie Du zuweilen thatest, wenn ich Dir mit meinen Backfischsorgen in der Freiviertelstunde. den Kopf warm gemacht hatte: „Beruhige Dich!“ und fahre fort in der schwierigen Aufgabe, zu erklären, warum man sagen konnte, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeführt.

Farewell, dearest! Deine alte getreue   M.

[815]
Neunter Brief.

Am 18. Februar.     
O Dein prophetisches Gemüt! Wie muß ich mich vor Dir meiner Blindheit schämen, da Du über den Kanal hinüber das Unheil herankommen sahst, das meinem Auge unsichtbar blieb! Ich habe ein paar Tage gezaudert, ob ich Dich auch darin einweihen sollte, da es nicht meine Schuld zu beichten galt, sondern die eines guten, thörichten Menschen, der Dir fremd ist. Aber Du würdest dennoch merken, aus dem veränderten Ton meiner Briefe, daß etwas nicht in Ordnung sein müsse, und argwöhntest am Ende Schlimmeres, als sich in Wirklichkeit zugetragen hat.

Nein, Du Scharfsichtige, Deine Martha könnte Dir frei ins Auge blicken, wenn Du jetzt bei ihr einträtest. Nur traurig bin ich, daß die reinsten menschlichen Verhältnisse vor dem Unbestand alles Irdischen nicht sicher sind und, wer in einem festen Hause zu wohnen glaubt, über Nacht durch einen Erdstoß an die vulkanischen Elemente erinnert werden kann, die seinen harmlosen Frieden zu erschüttern suchen.

Ich will mich kurz fassen. Ich schreibe ja keinen Roman.

Also: in den vier Wochen seit meinem letzten Brief ging alles bei uns den gewohnten Gang. Auch Hellmuth äußerte oft seine Befriedigung, meine müßigen Stunden nun so ersprießlich ausgefüllt zu sehen. Er ließ sich sogar zuweilen aus meinem Heft ein und das andere Kapitel vorlesen und machte dazu sehr feine Anmerkungen. Auch er hat in seinen Universitätsjahren sich leidenschaftlich mit philosophischen Problemen herumgeschlagen, zuletzt aber war er beim Verzicht auf die Erkenntnis der tiefsten Welträtsel angelangt, beim sogenannten Agnosticismus. Immer wieder kam es zwischen ihm und Dimitri zur Debatte darüber, ob überhaupt eine Metaphysik möglich sei, da unser beschränktes Gehirn sich keine klare Vorstellung zu bilden vermöge von allem, was in das Gebiet des Unendlichen und Absoluten hinaufreiche. Dimitri will das berühmte Ignorabimus nicht gelten lassen. Er glaubt an eine unaufhaltsame Entwicklung des Menschengeistes bis zu dem Punkt, wo die letzten Schleier, die ihm das Wesen der Welt noch verhüllen, fallen würden. Ich saß bei diesen oft sehr hitzigen Disputen mit allen Ohren horchend dabei.

Und freute mich, wenn kluge Männer reden.
Daß ich verstehen kann, wie sie es meinen,

oder doch glaubte, es verstehen zu können. Und war stolz auf meinen Mann, der die geschickten logischen Fechterstreiche seines Gegners so gelassen zu parieren wußte.

Dabei konnte mir nicht entgehen, daß Dimitris Wesen sich veränderte. Er verlor seine Munterkeit, war reizbar und trübsinnig, und auch sein Aeußeres ließ darauf schließen, daß die Besserung seines Leidens nicht stetig fortschreite. Wenn wir ihn fragten, klagte er über nichts als über schlechten Schlaf. Hellmuth bestand darauf, daß er eine angefangene physiologische Abhandlung eine Weile liegen lassen sollte. Er versprach es, nach seiner gewohnten Art, seinem Arzt sich fügsam zu zeigen. Ich hatte ihn aber im Verdacht, daß er trotzdem rastlos fortarbeite.

Auch in unseren Lehrstunden war er nicht wie früher. Mitten in seinem Vortrag konnte er in ein seltsames Brüten versinken und zehn Minuten lang zu Boden starren oder, mit einer Schere oder einem Falzbein spielen, die auf dem Tische lagen. Es schien dann ein Alp auf seiner Brust zu lasten, den er endlich mit einem tiefen Seufzer abschüttelte, wenn ich mit einem Scherz ihn aus seinen Träumen weckte. Seine Hand, die er mir zum Abschied bot, war kalt und feucht. Er sah mich dann wohl mit einem langen Blicke an, wie wenn er im Grunde meiner Seele lesen wollte. Dann rüttelte er sich in die Höhe und stotterte. „Verzeihen Sie mir – mir ist heute – nicht ganz wohl. Ich will einen Dauerlauf machen. Vielleicht schlaf’ ich dann besser die nächste Nacht.“ Ueber all das machte ich mir anfangs keine Gedanken. Er war ja ein Nervenpatient, von dem man sich allerlei Wunderlichkeiten zu versehen hatte.

Eines Nachmittags aber – es war am letzten Dienstag – steigerte sich dieses krankhafte Wesen in ungewohntem Maße. Er kam wie sonst zu unserer Lektion, setzte sich, seinen langen weichen Bart mit den weißen Fingern kämmend – ich neckte ihn damit, daß seine ganze Philosophie wohl in diesem Barte stecken mochte, aus dem er sie herausstreicheln müsse, – er lächelte aber nicht zu meinem Scherz, sondern sprang wieder auf und trat ans Fenster, mit der Hand die leichtüberfrorenen Scheiben anstarrend. Draußen war nichts zu sehen, was sein Interesse hätte fesseln können. Ich wartete daher ein wenig ungeduldig, daß er sich zu mir umwenden und mich auffordern würde, das „Protokoll des letzten Vortrags“ vorzulesen. Er schien aber ganz zu vergessen, zu welchem Zweck er gekommen war.

Ich fragte ihn endlich, ob er sich zu angegriffen fühle, um heute in unserm Studium fortzufahren. Ob ich ihm ein Glas Wein oder sonst irgend eine Stärkung bringen sollte. Ob er wieder schlecht geschlafen habe.

Da sagte er, immer gegen das Fenster gekehrt. „Kann der schlecht schlafen, der gar nicht schläft? Wenn Sie mir eine Flasche echten alten Lethe vorsetzen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber nein, auch der könnte mir nicht helfen, weil ich nicht von ihm trinken wollte.“

Nun erschrak ich in allem Ernst. In solchem Zustande hatte ich ihn nie gesehen.

„Lieber Freund,“ sagte ich, „wir werden heute nicht philosophieren, heute nicht und überhaupt nicht eher, als bis Sie diesen Rückfall überwunden haben. Sie müssen mit meinem Manne sprechen, dann aber auch wieder ganz folgsam werden. Denn daß es so nicht fortgehen kann, sehen Sie wohl selbst ein.“

„Ob ich es einsehe?“ sagte er dumpf. „O gewiß! Aber der alte Spinoza hat nicht recht: einsehn und wollen ist nicht ein und dasselbe. Denn von der Krankheit, die mich befallen hat, wie ich nur zu klar einsehe, will ich nicht genesen. Ohne sie weiterzuleben, wäre schlimmer, als daran zu sterben!“

Noch immer ging mir keine Ahnung auf.

„Kommen Sie,“ sagte ich. „Setzen Sie sich zu mir und lassen Sie uns vernünftig reden oder wenigstens einen von uns beiden, bis auch Sie wieder Vernunft annehmen. Es muß dem Lehrer doch schmeichelhaft sein, wenn seine Schülerin klüger geworden ist als er, wenn auch nur, so lange er krank ist. Und nun verlange ich, daß Sie mir genau sagen, wie Ihnen zu Mut ist, und sich von Ihrer Matuschka gehorsam bemuttern lassen.“

Da drehte er sich langsam um, heftete die Augen mit einem stieren Blick auf mich, daß mir angst und bange wurde, that ein paar Schritte zu mir hin und lag plötzlich zu meinen Füßen, meine Kniee umfassend, während er in ein konvulsivisches Schluchzen ausbrach.

Ich war so furchtbar erschüttert, daß ich zuerst mich kaum fassen und besinnen konnte, was dieser heftige Ausbruch bedeute. „Dimitri!“ hauchte ich nur, „was thun Sie? Stehen Sie auf! Sie sind außer sich! Wie können Sie – und was soll ich –“

Es war, als hörte er mich nicht, er blieb wohl fünf Minuten in dieser jammervollen Lage, stöhnend in dumpfen Schmerzenslauten, mehr wie ein verwundetes Tier als wie ein unseliger Mensch. Erst als ich die Umklammerung seiner Arme von mir zu lösen suchte und mit einem gewaltsamen Ruck mich vom Stuhl erhob, schien ihm die Besinnung zurückzukehren. Mühsam, wie an allen Gliedern zerschlagen, raffte er sich auf und stand, das Kinn tief auf die Brust gesenkt, mit herabhängenden Armen vor mir, wie ein armer Sünder, der sein Urteil erwartet.

Ich war so außer mir, daß ich vergebens nach Worten suchte. Als ich aber keine fand, hörte ich ihn plötzlich sagen:

„Sprechen Sie nicht, Frau Meta! Ich weiß alles, was Sie mir sagen könnten. Und ich – auch ich habe Ihnen alles gesagt. Weil ich fühle, daß ich kein Recht dazu hatte, daß ich mich in Ihren Augen entehrt habe, daß ich ein elender Mensch bin, ein jämmerlicher Schwächling, der die Liebe und Güte der edelsten Menschen verscherzt hat, darum muß ich mich selber richten und [816] zu ewiger Verbannung verdammen. Ich weiß nicht, ob Sie oder Ihr Mann mir je verzeihen werden. Aber glauben Sie mir, die Buße, zu der ich mich verurteile, Sie nie wiederzusehen ist eine Pein, mit der die Verbrecher in den Bergwerken Sibiriens nicht tauschen würden. Und so – leben Sie wohl! Ich wage nicht einmal, Sie noch um eine Hand zum Abschied zu bitten. Und sprechen Sie nichts. Ich möchte Ihre Stimme mit fortnehmen, wie ich sie zuletzt gehört, voll Mitleid und Sorge um einen Unglücklichen.“

Ehe ich noch zu mir selbst kommen konnte, hatte er sich zu mir herabgeneigt den Aermel meines Kleides ergriffen und einen Kuß darauf gedrückt. Dann war er aus der Thür gestürzt, und ich hörte nur noch, wie die Kathi ihm seinen Hut und Mantel auf die Treppe hinaus nachtrug.

Ich sollte ihn nicht wiedersehn. Am Abend kam ein Billet von ihm an meinen Mann, er sei plötzlich durch eine telegraphische Depesche nach St. Petersburg abgerufen worden. Von dort aus werde er Näheres hören lassen.

Acht Tage sind vergangen, der versprochene Brief ist nicht gekommen. Er wird auch nie kommen, sagte Hellmuth. Und was sollte er uns auch noch zu sagen haben?

*  *  *

So weit war ich gestern gekommen, und kann heute nur wiederholen: was sollte ich Dir noch zu sagen haben? Und doch, noch eine Hauptsache: daß mein geliebter Mann auch in diesem Wirrsal sich als der unerschütterlich feste und klare, milde und gütige Nothelfer bewährt hat, den ich immer in ihm bewundert hatte.

Denn er fand mich, als er eine Stunde später nach Hause kam, in einer kläglichen Verfassung. Er erschrak, da er glaubte, ich sei plötzlich krank geworden. Als ich ihm erzählt hatte, was mir begegnet war, und dann in Thränen ausbrach, wiegte er den Kopf, sah mich mit tiefem Mitleid an und sagte endlich: „Armes Kind! Es ist also gekommen, was ich gefürchtet habe!“ – Ich sah aus meinen Thränen auf und sagte: „Du hast es kommen sehen? Warum hast du mich nicht gewarnt?“ – „Weil ich deiner sicher war und von ihm hoffte, er werde noch die Kraft finden, sich zu bezwingen, wenn auch nur aus Furcht vor der Beschämung, auf die er, wie er dich kannte, gefaßt sein mußte. Wäre ich eingeschritten und du hättest ihn von dir entfernt, so würde er sich haben einbilden können, du fürchtetest eine Gefahr für dich. Nun ist die Krisis ohne unser Zuthun eingetreten und so betrübend es ist, wieder einen Menschen verloren zu haben, es ist doch ein Gewinn, daß wir nun wieder auf uns selbst angewiesen sind und darauf denken müssen, wie wir's in Zukunft klüger anfangen sollen.“

Er war den ganzen Abend ungewöhnlich weich und heiter und um mich besorgt, verschonte mich auch mit weiteren Betrachtungen über das Vorgefallene und erzählte nur gegen seine Gewohnheit von einigen interessanten Krankheitsfällen, die ihm unter tags vorgekommen waren.

Auf einmal sagte er: „Weißt du, Kind, was du thun könntest? Mir bei meinem mühsamen Geschäft ein wenig an die Hand gehen. Es ist für den Menschen nicht gesund, nur ein geistiges Leben zu führen. Wenn man sich umsieht in der Welt, ja nur in seiner nächsten Nähe, findet man nur allzu viel Gelegenheit, thätig zu werden und zur Milderung des Weltelends das Seinige beizutragen. Das giebt eine innere Befriedigung, die wohlthuender ist als die Lösung der spitzfindigsten Rätselfragen. Ich will dich nicht etwa dazu anregen, einen Wöchnerinnen- oder Volkssuppenverein zu gründen, obwohl dergleichen auch in unserer Stadt einem ‚längstgefühlten Bedürfnis‘ abhelfen würde. Du hast es zum Glück näher, wenn du mich dann und wann begleiten und mit deinen kundigen Frauenaugen mich darauf hinweisen willst, woran es in den Häusern der Armut am dringendsten fehlt. Ich sehe oft nur, daß meine Kranken in übler Lage sind, und suche dem mit Geld ein wenig abzuhelfen. Aber eine Frau verstände es besser, und oft ist ein bißchen Wäsche und etwas Vorrat in die Küche wirksamer, der Not zu steuern, als ein Stück Geld, das unzweckmäßig verwendet wird. Wir haben’s ja dazu.“

Du mußt nämlich wissen, Mary, daß wir in diesem Jahre uns ganz anders rühren können als zu Anfang. Dimitri hat an gute Freunde in seiner Heimat ein so großes Rühmens gemacht von seinem „genialen“ Arzt, daß eine Menge reicher Russen ihr Heil bei ihm gesucht haben. Der erste Gasthof der Stadt ist in kurzem eine Art Privatklinik des Doktor Born geworden, und wenn er wollte, könnte er ein Modearzt werden, der sich um arme Tagelöhner und Handwerker nicht mehr kümmern müßte. Aber Du kannst denken, daß ihm diese einträgliche Praxis nur darum erwünscht ist, weil sie ihm die Möglichkeit giebt, nun auch da zu helfen, wo die Arzenei nicht aus der Apotheke zu holen ist.

Gleich am anderen Tage bin ich mit ihm über Land gefahren, nach einem Dorf, das von einer Scharlachepidemie heimgesucht worden ist. Als ich abends mit ihm zurückkehrte, hatte ich Kopf und Herz so voll von all dem, was ich an Elend und Not gesehen hatte, daß für philosophische Grübeleien kein Platz mehr darin war, und anderen Tages hatte ich alle Hände voll zu thun mit Anschauungen und Vorbereitungen für unseren nächsten Besuch.

Mein Mann nennt mich seinen Assistenten. Ich bin stolzer auf diesen Titel, als wenn ich ein Dr. phil. vor meinen Namen schreiben dürfte.

Und er nimmt meinen Beistand auch noch zu anderem in Anspruch. Es kommen Patienten in seine Sprechstunde, die einer fortwährenden Behandlung bei chronischen Leiden bedürfen täglich eine Einspritzung ins Auge oder einen neuen Verband erhalten müssen. Dazu hat er mich nun angeleitet, da ihm selbst die Arbeit über den Kopf wuchs. Ich habe eine geschickte Hand, und die Freude, Schmerzen lindern zu können, hat mich bald den natürlichen Schauder vor allerlei menschlichen Wunden und Gebrechen überwinden gelehrt.

Manchmal denk’ ich, dies sei auch eine Art, die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückzuführen, wenn auch Sokrates nichts damit zu schaffen hat.

Und nun, liebes Schwesterherz, nehme ich für ein Weilchen Abschied von Dir.

Laß mich’s gestehen – seit meine Hand sich in so ganz anderen Geschäften thätig beweisen muß, ist ihr das Schreiben verleidet. Das Heft Matuschkas habe ich im untersten Fach meines Schrankes vergraben. Hellmuth sagt zwar, ich würde es noch eines Tages wieder hervorholen, um es fortzusetzen, wenn wir älter geworden wären und er vielleicht nicht mehr die Kraft hätte, in Wind und Wetter herumzukutschieren. Dann wolle er selbst seine alten Kollegienhefte wieder zur Hand nehmen und versuchen, den Faden da mit mir fortzuspinnen, wo der arme Dimitri ihn abgerissen hat. Einstweilen trage ich kein Verlangen danach. Aber er mag wohl recht haben: wenn man aufhören muß, thätig zu sein, kann man Gott danken, wenn er einem die Fähigkeit verliehen hat, die Welt mit klaren Augen zu betrachten, in der zu wirken einem nicht mehr vergönnt ist.

Ich umarme Dich, Liebste, und danke Dir für Deine Güte und Geduld, mit der Du meiner oft so unholden Beichte nicht nur Dein Ohr, sondern auch Dein Herz geliehen hast. Küsse Deine Kinder und denke zuweilen, auch wenn sie nur selten mehr von sich hören läßt, Deiner alten ewigen                 Martha.


Zehnter Brief.

Ein Jahr später.     
Ich wollte Dir erst schreiben, wenn alles glücklich vorüber wäre. Aber Dein lieber, zärtlicher Brief, der mir beweist, daß es Dir ein Bedürfnis ist, mit mir fortzuleben, drängt mir die Feder in die Hand.

Ja, Liebste, mein heißester Wunsch soll in Erfüllung gehen, die weise Frau sagt, schon in den allernächsten Tagen!

Seit zwei Monaten hat Hellmuth seinem „Assistenten“ nur noch im Hause zu thun gegeben. Die Fahrten über Land auf oft grundlosen Vicinalwegen hätten mir schaden können. Ueberdies, wie Du denken kannst, ließ mir die Sorge für die kleine Ausstattung wenig Zeit für meine Patienten, denn obwohl ich – Du entsinnst Dich – gegen das Vorurteil der guten alten Zeit mich ereifert habe, daß jedes Stück Wäsche, das im Laden [818] fertig zu kaufen wäre, im Hause zugeschnitten und genäht werden müsse – die ersten Hüllen, mit denen ein kleines Menschenkind bekleidet werden soll, mit eignen Händen ihm zu bereiten ist ein so beseligendes Geschäft, daß man nicht darauf verzichten möchte, und würden einem auch die spitzenbesetzten Hemdchen und Häubchen, wie eine Prinzessin sie erhält, ins Haus gebracht.

Schade, daß ich Dir nicht das Fach in meinem Schrank zeigen kann, in welchem der Trousseau dieses kleinen Fräuleins aufgestapelt liegt!

Denn, daß es ein Mägdlein sein wird, steht mir fest, so sehr mich Hellmuth mit meinem Glauben an allerlei Vorzeichen neckt, die unter uns Frauen nun einmal für untrüglich gelten. Unter uns gesagt, ich gebe gar nichts auf diese Ammenweisheit. Der brennende Wunsch, das Wesen, das mir das Leben verdanken soll, glücklicher aufwachsen zu lassen, als es mir beschieden war, hat mich in meinem Glauben bestärkt. Ich würde in Verlegenheit sein, einem Sohn gegenüber, da ich stets die Mütter beneidet habe – Dich z. B. – die so viel Latein und Griechisch gelernt haben, daß sie ihren Knaben durch die ersten Schuljahre hindurchhelfen können. Ein Mädchen aber davor zu bewahren, daß es nicht in ähnliche Not gerät wie ihre Mutter, dazu fühle ich mich berufen und befähigt.

Vorausgesetzt, daß es nicht ein Gehirnchen mit auf die Welt bringt wie so viele seines Geschlechts, denen die Fähigkeit zu ernsterem Erfassen des Lebens versagt ist. Diejenigen weisen Männer, die darin das unterscheidende Kennzeichen des Weibes sehen, vergessen nur, daß auch die überwiegende Zahl der Knaben für alles höhere Streben verdorben ist und nur mit Not und Mühe zu den Berufsarten herangezüchtet wird, die das Studium auf einer Universität voraussetzen.

Wenn aber mein kleines Mädchen einen hellen Kopf hat und die Sehnsucht, ihn nicht bloß mit dem üblichen Frauenzimmertrödel vollzustopfen, soll es, nachdem es die Volksschule durchgemacht hat, eine bessere Schule besuchen, als es seiner Mutter vergönnt war. Denn ich zweifle nicht daran, daß bis dahin auch in allen größeren Städten Bayerns Mädchengymnasien gegründet sein werden, wie sie in allen Kulturländern, ja auch in solchen, die man sonst nicht dazu zu rechnen pflegt, wie Rußland und Spanien, bereits bestehen. Du weißt, ich bin eine Preußin, aber in dem engeren Vaterlande meines lieben Mannes lange genug heimisch, um es mir zu Gemüte zu ziehen, daß Bayern in diesem Punkt hinter den übrigen Staaten des Deutschen Reiches zurücksteht, ja sogar hinter Oesterreich, wo die kirchliche Partei, die, wie es heißt, bei uns der höheren Frauenbildung abgeneigt ist, doch auch mächtig genug wäre, um die humanistische Mädchenerziehung nicht zu dulden, falls sie darin eine Gefahr für unser Seelenheil erblickte. Und doch hat neulich – Du hast es vielleicht auch in einer englischen Zeitung gelesen – der Unterrichtsminister in Wien bei Gelegenheit der Doktorpromotion einer Dame sich in den wärmsten Worten über das Frauenstudium ausgesprochen.

Das aber ist Dir vielleicht entgangen, daß man seit Jahr und Tag in München an der Gründung eines Mädchengymnasiums arbeitet. Ein Verein hat sich gebildet, schon vor drei Jahren, dem eine große Anzahl von Frauen und Männern angehört. Woran es liegt, daß seine Bemühungen noch immer nicht zum Ziele geführt haben, ist rätselhaft. Doch trotz wiederholter wohl motivierter Eingaben ist die Konzession der Staatsregierung nicht zu erlangen gewesen. Daß der Widerstand von der allerhöchsten Stelle ausgehe, ist undenkbar. Wo eine Prinzessin des königlichen Hauses Mitglied der Akademie der Wissenschaften ist, muß man doch auch in den höchsten Kreisen von der Fähigkeit des weiblichen Geschlechts zu ernsten Studien überzeugt sein. Du kennst auch gewiß die historischen Werke der geistvollen Lady Blenner-Hassett, die in München geboren ist, die Tochter bayrischer Eltern. Sollte nicht auch dies glänzende Beispiel einer Frau, die von den bedeutendsten Gelehrten als ebenbürtig betrachtet wird, das veraltete Vorurteil endlich zu beschämen imstande sein?

Nein, Mary, ich glaube daran, „daß das Gute wachse, wirke, fromme,
und daß der Sieg der Wahrheit endlich komme!“

Wenn mein Kind in die Backfischjahre eingetreten sein wird, wird es nicht nach Berlin, Karlsruhe, Leipzig, Breslau, Wien oder gar nach Zürich oder Florenz reisen müssen, um seine klassischen Studien zu beginnen – auf die – große! – Gefahr hin, wenn es seine Abgangsprüfung bestanden hat, sich dann doch keinem wissenschaftlichen Beruf zu widmen, sondern einem lieben Manne eine kluge und nicht ganz unwissende Hausfrau zu werden. Ich hoffe sogar, daß ich nicht nötig haben werde, sie nach München zu schicken, da sie es in unserer Stadt näher haben wird. Die Bewegung nach diesem Ziele hin ist eine zu allgemeine, zu berechtigte, als daß sie nicht auch von denen endlich anerkannt und gefördert werden sollte, die bisher die Augen verschlossen haben gegen den Widersinn, die Mädchen aufs Haus beschränken zu wollen, ohne einer jeden ein Haus bieten zu können, von unserem Geschlecht zu verlangen, daß wir uns redlich ernähren und unsere Steuern zahlen, gleich den männlichen Staatsbürgern, während man von den mancherlei Mitteln und Wegen, dies zu erreichen, uns nur die niederen, mechanischen offen läßt, zu denen die höher Begabten unter uns verdorben sind. Denn wenn meine Tochter ihrer Mutter nachschlägt, wird sie schwerlich für eine zwölfstündige Arbeit an der Nähmaschine oder dem Telegraphen, geschweige denn zur Fabrikarbeiterin die nötige Befähigung besitzen und auch für die doppelte Buchführung keinen Beruf in sich spüren.

Genug für diesmal. Das Schreiben greift mich doch an. Mein nächster Brief soll Dir, hoff' ich, eine frohe Botschaft bringen.

Es umarmt Dich von Herzen Deine glückliche und doch bange

Martha.     


N. S. Du hast nach Dimitri gefragt, ob er nichts mehr von sich habe hören lassen. Kurze Zeit nach seiner Trennung von uns kam ein Brief von ihm an meinen Mann, mit einem Wechsel auf eine sehr hohe Geldsumme. Dabei lag seine Visitenkarte „mit dem Ausdruck des innigsten unauslöschlichsten Dankes“. Hellmuth sandte den Wechsel sofort zurück, von einem Freunde und halben Kollegen lasse er sich seinen ärztlichen Rat nicht honorieren.

Vor einem halben Jahr endlich lasen wir in der Zeitung, der hochbegabte russische junge Gelehrte Dr. Dimitri v. L. sei im Duell mit einem Grafen W. von einer Kugel tödlich getroffen worden und am anderen Tage gestorben. Anlaß zu dem beklagenswerten Zweikampf sei die Rivalität um die Gunst einer Dame vom Ballett gewesen.

Was ich bei dieser Nachricht empfand – – – –

Zweite Nachschrift (nicht von weiblicher Hand) vierundzwanzig Stunden später.

Die Geburt eines gesunden Mädchens zeigen hocherfreut an

Dr. Hellmuth Born     
Martha Born geb. Körting.     

Da Martha darauf besteht, daß ihre geliebte Mary nicht wie alle anderen Freunde und Bekannten diese Neuigkeit durch ein gedrucktes Blatt erfahren dürfen, müssen Sie sich, verehrte Frau, eine Nachschrift des glücklichen Gatten und Vaters gefallen lassen, und zwar auf dem letzten freien Raum des obigen Briefes, den die Schreiberin nicht mehr ausfüllen konnte, da die Nähe ihrer schweren Stunde sich plötzlich ankündigte.

Ich füge nur noch hinzu, daß Mutter und Kind sich den Umständen nach wohlbefinden. Das kleine Fräulein ist ein kräftiges und doch zierliches Geschöpfchen, das hoffentlich es nicht bedauern wird, sich in diese Welt gewagt zu haben, obwohl es gleich beim Eintritt in dieselbe sich der Verleumdung preisgegeben sieht. Sämtliche weibliche Hausgenossen nämlich erklären einstimmig, das kleine Wesen sei dem Vater „wie aus dem Gesicht geschnitten“, während dieser das gute Zutrauen zu ihm hat, es werde so gescheit sein an Leib und Seele der Mutter nachzuarten.

Mit herzlichsten Grüßen dieser lieben Frau

Ihr sehr ergebener     
H. B.     
  1. Vor 31 Jahren ist Paul Heyse mit der viel besprochenen Dichtung „Frauenemancipation. Eine Fastenpredigt“ (vgl. Jahrg. 1866, S. 720) in die Reihe der Mitarbeiter der „Gartenlaube“ getreten. Heute, da die Frauenbewegung bereits so große Fortschritte gemacht hat, ergreift der berühmte Dichter gern die Gelegenheit, die sich ihm in der Veröffentlichung dieser Briefe bietet, auf seine vor 31 Jahren nur angedeuteten Ansichten über die Notwendigkeit einer gründlicheren und höheren Ausbildung des weiblichen Geschlechts jetzt ausführlicher zurückzukommen. Dieselben werden durch das Lebensbild, das sich in diesen Briefen darstellt, nach seiner Ansicht durchaus bestätigt. Wir können zwar nicht in allen Punkten den Ausführungen der Schreiberin unbedingt beipflichten, finden aber in den Briefen Marthas an Maria eine solche Fülle wichtiger Anregungen, daß wir unseren Lesern und Leserinnen diesen eigenartigen „Beitrag zur Frauenfrage“ nicht vorenthalten möchten.
    D. Red.
  2. Warum nicht? Anm. d. Herausgebers.
  3. um uns für Jahre zu trennen. D. Red.
  4. halb gebrochenen Herzens. D. Red.
  5. wir müssen versuchen, von ihm den bestmöglichen Gebrauch zu machen. D. Red.
  6. Nach unseren langjährigen redaktionellen Erfahrungen sind die hier gerügten litterarischen Mängel keineswegs ausschließlich den Erzählungen minder begabter Schriftstellerinnen eigentümlich, sondern man begegnet ihnen auch häufig genug in Novellen und Romanen männlicher Autoren. Die Redaktion.