Mein Auftreten mit der Melba
Als ich im jahre 1895 externer berichterstatter des „New Yorker bannerträger“ war, fand ich eines tages im briefkasten folgendes billet:
Ich verfügte mich zur festgesetzten stunde in die redaktion, wo mir der chefredakteur folgende frage vorlegte:
„Sagen sie, herr L., können sie musikreferate schreiben?“ Ich wollte ihm zuerst mitteilen, daß ich vollständig unmusikalisch sei und mich besonders zusammennehmen müsse, um einen violinschlüssel von einem haustorschlüssel zu unterscheiden. Allein ich unterdrückte diese antwort. Es fiel mir ein, daß ich von einem weisen manne bei meiner ankunft im neuen lande folgende lebensregel gehört hatte: „Wenn sie in Amerika jemand fragt, ob sie dies oder jenes können, so antworten sie vor allem mit einem stolzen und freudigen ja! Dann kann es ihnen nicht schlecht gehen.“
Ich sagte daher: „Aber natürlich, herr Smith, das ist, ja gerade mein fach!“
„Das trifft sich ausgezeichnet. Wie sie wissen, schreibt herr Schulze, der besitzer der bekannten klavierschule, unsere konzertreferate. Da wir aber keine freibillets für die oper besitzen, so hat bisher herr Alexander Neumann, der fast mit allen logenbesitzern bekannt ist, das opernreferat innegehabt. Herr Neumann verläßt uns aber und geht zur englischen presse über. Wollen sie nun die oper [195] übernehmen? Allerdings können wir ihnen für die aufführung nur ein stehparterre-entrée bezahlen. Lassen sie sich aus der kasse einen dollar und fünfzig cents ausfolgen. Morgen ist saisoneröffnung. Wir erwarten bis spätestens ein uhr nachts den bericht.“
Ich ging. Der kassier zahlte mir den dollar und die fünfzig cents aus. Mir war etwas bange geworden. Die Sache schien mir nicht recht geheuer. Ich begab mich sofort in das café Manhattan und studierte die musikberichte sämtlicher blätter. Ich sah bald: hauptsache sind die fachausdrücke. Das imponiert. Es-dur, dreigestrichenes C, kontrapunkt, dynamik, crescendo. Nach drei stunden wußte ich genug. Ruhig sah ich dem morgigen tag entgegen.
Ein bekannter war am nebentisch aufgestanden, zahlte und zog den rock an. Wir begrüßten uns. „Wie gehts? – wohin?“ – „In die Metropolitan-oper?“ – „Was dort?“ – „Ich bin wohlbestallter statist an diesem kunstinstitut. Ja, was wollen sie, in Amerika muß man ergreifen, was sich einem bietet.“
Die entschuldigung erfolgte wohl, weil ich ein etwas merkwürdiges gesicht machte. Dieses merkwürdige gesicht rührte aber von einem ganz anderen gedanken her. Wie wäre es, kalkulierte ich, wenn ich mich diesem manne anschlösse? Ich könnte dann ein- und einen halben dollar ersparen und doch die vorstellung mitmachen. Und dann: statieren dürfen, wer wollte das nicht?!
Ich sagte daher: „Sie irren, lieber freund, ich finde ihren beruf im gegenteil beneidenswert. Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich zehn jahre der komparserie der wiener hofoper angehört habe. Das ist ja gerade mein fach! Würden sie mich nicht mitnehmen?“
[196] Mein freund lächelte gönnerhaft. „Kommen sie, ich will es versuchen.“ Wir bestiegen den cablecar und waren in zehn minuten an der ecke der 49. straße des Broadway. Hier wurde ich dem statistenführer vorgestellt.
„Waren sie beim militär?“ fragte er.
„Gewiß“, sagte ich, „ich war zehn jahre offizier, das ist ja gerade mein fach!“
„Dann sind sie engagiert.“ Darauf rief er in die kulisse: „Die wache ist komplett!“
Bald wurden mir die seltsamen worte klar. Man gab Carmen, und die wache, die im ersten akt von don José angeführt wird, sollte aus lauter gedienten militärs bestehen. Auf das richtige „klappen“ der griffe wurde großer wert gelegt. Wir konstatierten bald mit genugtuung, daß sich unter den vierzehn mann wache elf gewesene offiziere befanden, die teils der deutschen, teils der österreichischen armee angehört hatten. Wir wurden einexerziert, und der aufzug der wache klappte binnen kurzem ausgezeichnet.
Der abend kam. Jean de Reszke sang den José, sein bruder Eduard den Escamillo, die Calvé die Carmen und die Melba die Micaëla. Erlassen sie mir alle details. Das wichtigste ereignis war, daß uns Jean de Reszke am schlusse der vorstellung zehn dollars überreichen ließ.
Die vorstellung war zu ende. Fieberhaft rasch kleidete ich mich um, ließ mir mein honorar, fünfzig cents, auszahlen und fuhr mit der hochbahn in die redaktion. Knapp ein uhr nachts hatte ich mein manuskript fertig und las mit befriedigung ungefähr folgendes: „Sehr gefallen hat uns frau Melba, besonders ihre oberen orgelregister sind sehr schön, aber der kontrabaß, der kontrabaß! Und der generalpunkt scheint auf gespannten oktaven [197] zu stehen. Alles in allem bildet die sonore mittellage mit dem dreifach gestrichenen C eine wirkungsvolle kadenz.“
Jawohl, es war eine leistung. Die vielen fachausdrücke mußten wohl oder übel imponieren.
Stolz begab ich mich nach hause, und schlief froh und glücklich ein. Am nächsten morgen – der zeitungsmann hatte wie immer den „New Yorker bannerträger“ vor die tür gelegt – las ich meinem anfangs noch schlafenden zimmergenossen, dem baron N., meine meisterleistung mit lauter stimme vor.
Der baron erwachte zusehends. Dann sagte er: „Ich weiß nicht, was mir fehlt. Aber ich höre ganz merkwürdige sachen. Vielleicht bin ich nicht ganz ausgeschlafen. Lies mir die geschichte noch einmal vor.“
Ich las noch einmal. Das gesicht des barons nahm den ausdruck des entsetzens an. Dann brach er los:
„Aber du dreimal gestrichener unglückswurm! Was hast du denn da angerichtet!“ Kurz, er schimpfte und nannte mich einen kretin.
Und nun erklärte er mir satz für satz. Langsam dämmerte mir die erkenntnis, daß ich mich blamiert hatte. Ich war vernichtet. Ich traute mich nicht mehr auf die gasse. Jedermann mußte mir meine schmach von der stirne ablesen. Und dann – ich erbleichte – die redaktion!
Der baron war schon lange in seine office gegangen. Ich brütete noch immer stumpf dahin. Es war elf uhr geworden. Der zeitungsmann brachte das abendblatt der „New Yorker staatszeitung“. Unser abendblatt erschien erst um halb zwölf uhr mittags. Die englischen abendblätter erscheinen gewöhnlich schon vor sonnenaufgang.
[198] Mechanisch griff ich nach der zeitung. Da – was war das! Ich las wie im fieber:
Der musiksudler von der ‚morgenposaune‘ erfährt sie!
Eine tat des ‚New Yorker bannerträger‘!!!“
Das war erst der kopf, wie man im amerikanischen zeitungsdeutsch sagt, und nun las ich:
„Wir haben häufig auf das schändliche treiben des burschen hingewiesen, der seine totale unkenntnis musikalischer dinge zum schaden des ganzen deutschtums auf der halbinsel Manhattan in der ‚morgenposaune‘ absetzt. Dieser elende skribler ist ein schandfleck im blanken ehrenschilde des deutschen Amerika. Wir standen bisher im kreuzzuge gegen dieses individuum allein da. Mit genugtuung können wir heute konstatieren, daß der ‚New Yorker bannerträger‘ (obwohl sein besitzer der mosaischen konfession angehört) das kreuz genommen hat. Unser bewährter kollege von dieser tapferen zeitung hat die unart und weise jenes subjekts in seinem heutigen opernreferate zu allgemeiner freude aller wahren kunstfreunde trefflich kopiert, an den pranger gestellt und dadurch dem allgemeinen gespötte preisgegeben. Wir glauben, daß die ‚morgenposaune‘ sich von diesem schlage nicht mehr erholen wird. Wir können uns nicht versagen, dieses opernreferat, eine satirische großtat, für unsere leser abzudrucken.“
Und nun folgte mein referat.
Ich tanzte zuerst ein von mir auf der stelle komponiertes bacchanale, warf mich in meinen winterrock, stürzte zur hochbahn und trat dem redakteur meines blattes fast die tür ein. So stürmte ich mit der „staatszeitung“ in der hand dahin. John Smith, der chefredakteur, sah mich erstaunt [199] an. „Wie, sie wagen es noch, in unsere redaktion zu kommen?“ herrschte er mich an. Ich übersah sofort die situation. Der mann hatte offenbar das abendblatt der „New Yorker staatszeitung“ noch nicht gelesen. Ich lächelte daher überlegen und sagte: „Ich glaubte nicht daß wir der ‚morgenposaune‘ irgendwelche rücksichten schuldig wären!“
„Was geht uns dieses schundblatt an! Uns haben sie blamiert!“
„Wie? Sollten sie wirklich der einzige sein, der die tiefe satire nicht verstanden hat? Sie scheinen nicht zu wissen, daß gerade die satire mein fach ist. Na, da hat die ‚staatszeitung‘ die sache doch schneller aufgefaßt.“
Er las. Man erspare mir, zu schildern, wie sehr der mann sich schämte.
Am nächsten morgen las man in der „morgenposaune“: „Unser musikreferent ist von seinem posten zurückgetreten.“
Am übernächsten morgen erhielt ich einen schweren brief. Ich öffnete ihn erwartungsvoll. Er enthielt die mitteilung, daß die New Yorker music critic-association mich zu ihrem ehrenmitgliede ernannt hatte.
Und so hatte ich mit dieser meiner ersten und letzten musikkritik eine erfahrung gemacht, die der philosoph, der literarhistoriker oder kunstgeschichtler niemals machen können. Denen glücken die fachausdrücke immer, sobald sie über malerei, architektur oder gewerbe schreiben. Niemand wird es dem kunstschriftsteller nachrechnen, ob das „sprengwerk“ vielleicht ein „hängewerk“ ist. Materialgerecht, tischlerisch, verzapfung, gehrung und ähnliche werkstattworte kann er ganz nach freiem ermessen über sein referat austeilen. Er kann ruhig behaupten, [200] daß Ruskin bereits gestorben sei, wenn er auch glücklicherweise gerade in der nächsten woche, unter allgemeiner teilnahme der gebildeten welt, seinen achtzigsten geburtstag feiert. Und er kann furchtlos dem maler nachsagen, daß ihm die lichtwirkung besonders gelungen sei: zauberisch scheint der mond durch das geöffnete fenster ins gemach, obgleich das vermeintliche fenster ein spiegel und der mond reflektiertes kerzenlicht ist. Das sind dinge, die in einem amerikanischen blatte immer vorkommen können. Und in der musik sollte es wirklich nötig sein, noten zu kennen und zu wissen, was generalbaß und kontrapunkt sind?
Eine ungerechtigkeit bleibt das auf alle fälle, obgleich die sache bei mir gut abgelaufen ist.
Anmerkungen (H)
- ↑ [453] erstdruck im „neuen wiener tagblatt“, 34. jahrgang, 20. januar 1900. Die angabe „20. april“, die sich durch alle ausgaben von „ins leere gesprochen“, und leider auch in der vorliegenden, erhalten hat, stimmt nicht.