Mesmer in Wien
Ganz Wien war seit einigen Wochen in einer aufgeregten Stimmung; in allen Gesellschaften, allen Café’s, allen Häusern und Restaurationen, auf allen Straßen und Plätzen sprach man von ein und demselben Gegenstand, mit leidenschaftlicher Heftigkeit die Wahrheit dessen, was man erzählte, vertheidigend, oder sie bestreitend. Dieser Gegenstand waren die wunderbaren, unerhörten Kuren des schwäbischen Arztes Franz Anton Mesmer, der sich seit einiger Zeit in Wien niedergelassen hatte, Kuren, welche allen Erfahrungen der Wissenschaft spotteten, und sich jedem Urtheil der Vernunft und Erkenntniß zu entziehen schienen. Denn Mesmer heilte seine Kranken nicht, wie die andern Aerzte, mit Medicinen und Latwergen, mit Aderlässen und Umschlägen, er verordnete ihnen keine Bäder und künstliche, nach lateinischen Recepten gemischte Getränke, sondern er kurirte seine Patienten einfach durch das Auflegen seiner Hand, durch das Anblicken seiner großen, dunkelblauen Augen; er beschwichtigte ihre Fieberphantasien mit dem zornigen Schütteln seines Hauptes, oder machte die stummen Kranken reden von wunderbaren Gesichten und entzückenden Träumen, indem er ihre Stirn anhauchte, oder mit den Spitzen seiner Finger leise und in gleichmäßigen Schwingungen über ihr Antlitz und ihre Brust auf und nieder fuhr.
Seine Hände und sein Auge, das war die Apotheke, aus denen Mesmer seine Heilmittel schöpfte, mit denen er seine Kranken kurirte.
Kein Wunder also, daß ihn die Aerzte einen Charlatan, die Apotheker einen verdammungswürdigen Quacksalber nannten! Kein Wunder, daß das Volk, welches so leicht geneigt ist, das Wunderbare zu verehren, und an das Uebersinnliche zu glauben, selbst wenn es an Schwindelei anstreift, Mesmer verehrte und an ihn glaubte, wie es an alle Wunder überhaupt glaubt.
Weshalb sollte nicht Mesmer so gut mit seiner Hand Wunder thun können, als es Moses mit seinem Stabe gethan, indem er dem dürren Felsen Wasser entlockte? Weshalb sollte das Anblicken seiner Augen nicht eben solche belebende Kraft ausüben können, als es einst die Augen der Apostel gethan, die mit ihrem bloßen Anschauen Todte erweckten und Stumme reden machten? Mesmer war auch ein Apostel! Der Apostel einer neuen Lehre! Er verwies die leidende Menschheit auf den Himmel, auf die Sonne und die Planeten und sagte ihnen, daß vom Himmel allein ihre Krankheiten kämen, daß der Himmel allein sie zu heilen vermöchte!
Der Einfluß der Planeten, sagte er ihnen, mache die Menschen krank oder gesund, der Strahl der Sonne übe auf sie eine magnetische Kraft. Nicht die künstlichen Heilmittel und Medicamente könnten ihnen Genesung bringen, sondern einzig und allein diese magnetische Kraft, welche die Natur in das Eisen und den Stahl gebannt, und welche sie in ihrem höchsten, geheimnißvollen Wirken auch einigen wenigen bevorzugten Menschen mitgetheilt.
Und das Volk glaubte an ihn, und die Kranken und Leidenden eilten zu ihm, um unter der sanften Berührung seiner Hand, unter dem Anschauen seiner mächtigen Augen ihrer Schmerzen ledig zu werden.
Aber jemehr Glauben Mesmer bei den Laien fand, desto mehr empörten sich gegen ihn die Aerzte. Jede neue Heilung brachte ihm neue Segnungen von den Genesenen, neue Angriffe von den Aerzten ein. Die Aerzte, welche einst Paracelsus in Salzburg von dem Felsen herniedergestürzt, weil er eine neue Lehre in die Wissenschaft gebracht, weil er gesprochen von den geheimnißvollen Kräften, welche in der Erde und in den Planeten schlummern, die Aerzte konnten jetzt zwar Mesmer, der dieselbe Lehre predigte, nicht heimlich ermorden, aber sie konnten ihn verfolgen mit ihrem Haß, sie konnten ihn hinstellen als einen Betrüger und Charlatan, sie konnten mit schlagenden Deduktionen es beweisen, daß diese ganze neue Lehre von Mesmer eine schamlose Lüge, ein lächerlicher Unsinn sei, nur erfunden, um die Menschen zu hintergehen, um das Geld aus ihren Taschen zu locken, und sich zu bereichern auf Kosten ihrer Leichtgläubigkeit.
Diejenigen, welche nichts anerkennen wollten, wozu ihnen die Vernunft nicht den Schlüssel lieferte, stimmten natürlich mit ein in das Hohngelächter und die Angriffe der Aerzte.
Diejenigen, welchen eine gläubige Seele inne wohnte, welche so gut an die Mysterien der Natur, wie an die Mysterien der Kirche glaubten, nannten Mesmer einen Wunderarzt, den Gott auf die Welt gesendet, daß er den Leidenden helfe, und der Lehre der Wissenschaft die Lehre der Natur gegenüber stelle.
So bestand Wien endlich nur aus zwei Parteien, aus Freunden oder Feinden Mesmer’s, die sich gegenseitig mit der größten Heftigkeit bekämpften, und einander der Lüge und der Verhüllung der Wahrheit beschuldigten. Die Freunde erzählten mit staunendem Entzücken die wunderbaren Kuren, die Mesmer täglich an den von andern Aerzten als „unheilbar“ zurückgewiesenen Kranken durch das bloße Auflegen seiner Hand bewirkt hatte, die Feinde erklärten alle diese Kuren für Betrügereien, welche Mesmer mit bezahlten Individuen, mit abgerichteten Helfershelfern ausführe.
Und diese Streitigkeiten, wie gesagt, bewegten sich durch alle Schichten der Gesellschaft, selbst der Kaiserhof nahm Theil an [298] ihnen, selbst Maria Theresia ließ sich täglich Bericht erstatten über die neuen Kuren, welche Mesmer in einem Zeitraume von wenigen Tagen an Schwerleidenden bewirkt hatte, und wenn ihre beiden Leibärzte van Swieten und Störk in allem stürmischen Zorn sie beschworen, diesem Unwesen ein Ende zu machen, und dem „Betrüger und Charlatan“ sein ferneres Treiben und Practiciren zu untersagen, so wiegte die Kaiserin sinnend ihr Haupt, und erwiederte die Anschuldigungen der gelehrten Herren mit einem festen und entschiedenen „Nein!“
„Wollen’s abwarten,“ sagte sie, „was der Mann thut und zu Stande bringt. Seine Kurarten sind nicht gefährlich, weil er den Leuten nichts eingiebt, und mit dem Auflegen seiner Hand wird er sie nimmer vergiften können, wie es mancher Arzt schon mit einer übel gewählten Arznei gethan, mit dem Anblicken seiner Augen wird er sie nicht tödten, während es wohl schon passirt ist, daß andere Aerzte mit, Aderlässen und Blutentziehungen ihre Kranken getödtet haben. Laßt mir also den Mann in Ruhe, denn so lange er nichts Böses thut, soll er unangefochten hier in Wien bleiben und seine Kunst ausüben dürfen! Hat sich ja jetzt selber eine Probe auferlegt, die beweisen muß, ob er ein Betrüger ist oder ein Mann Gottes. Wenn er meine kleine Schutzbefohlene, das blinde Fräulein von Paradies, sehend macht, dann werde ich an ihn glauben, und ihn einen Wundermann nennen, und wehe dann Euch Allen, wenn Ihr es noch ferner wagt, ihn zu lästern. Ich werde dem Mesmer mehr glauben, als all’ Eurer Gelahrtheit, denn wer die Blinden sehend macht, ist in Wahrheit der Arzt Gottes! Seid also ruhig und wartet es ab, ob es dem Mesmer gelingt, das blinde Fräulein Therese von Paradies wieder sehend zu machen.“
Das also war es, worauf jetzt alle Welt gespannt war, das war es, was alle Gemüther beschäftigte: die Kur, welche Mesmer mit dem Fräulein von Paradies begonnen und, von der er behauptet, daß sie zu einer Heilung führen werde.
Ganz Wien kannte dieses junge blinde Mädchen. Ganz Wien wußte, daß sie in ihrem zweiten Lebensjahre, in Folge zurückgetretener Masern, erblindet sei, und daß seitdem die Nacht, welche sie umgab, niemals durch einen Lichtstrahl unterbrochen worden. Ganz Wien liebte dieses junge Mädchen, in dessen Seele die allmächtige und allgütige Natur ein anderes, als das Licht der Sonne aufleuchten ließ, dem sie als Ersatz für ihre blinden Augen die Weihe der Kunst verliehen, dem sie es gegeben, Gott zu schauen nicht in der Natur, aber in der Musik. Wenn Therese von Paradies am Klavier saß, wenn ihre Hände mit schwindelnder Schnelligkeit über die Tasten hinglitten oder ihnen langsame volle Accorde entlockten, wenn sie mit ruhigster Sicherheit die schwierigsten Concertstücke spielte, welche die größten Virtuosen jener Zeit nur nach langer Uebung, nach langem Einprägen der Noten erlernt, von denen Therese aber sich nur zwei Mal die Noten vorlesen ließ, um sie alsdann ohne Anstoß spielen zu können, wenn sie, eine vollendete Virtuosin, öffentliche Concerte gab, in denen sie das Publikum entzückte durch so wundervolles Spiel, dann hätte Niemand glauben sollen, daß dieses reizende junge Mädchen mit den großen glänzenden Augen doch eine Blinde sei. Es leuchtete so viel Geist und Gefühl von diesem reinen, unschuldigen Angesicht, ihre Züge waren von einer so wunderbaren Beweglichkeit, ihre Augen schienen, wenn sie lachte, aufzublitzen in Freude, sie schienen umdüstert und traurig, wenn sie ernst war. Und dennoch war Therese von Paradies wirklich blind; aber es leuchtete eine glühende Seele von diesem Angesicht, und diese Seele war es, welche ihren Augen das Licht gab, das die Natur ihnen versagt hatte.
Therese von Paradies.
Therese von Paradies war in ihrem Zimmer; ihre Mutter war bei ihr, und mit Hülfe derselben hatte die Kammerjungser eben den Anzug ihrer jungen Herrin vollendet. Therese war heute in einer besonders gewählten und glänzenden Toilette, und sie selber schien große Freude an derselben zu haben.
„Sage mir, Mutter,“ fragte sie jetzt, nachdem ihr Anzug vollendet war, „sage mir, von welchem Stoff ist doch dies Kleid, das so wunderbar weich und glatt ist, wie ein Menschenangesicht und sich so dem Körper anschmiegt, wie eine schöne Melodie der Seele?“
„Es ist Atlas, mein Kind,“ sagte ihre Mutter lächelnd.
„Und die Farbe?“
„Weiß!“
„Weiß!“ wiederholte sie sinnend. „Ihr nennt das die Farbe ohne Farbe. Wie wunderbar das sein muß, wie entsetzlich! Eine Farbe ohne Farbe! Ah, mir schaudert, wenn ich denke, daß ich die jetzt auch kennen lernen soll!“
„Dir schaudert?“ fragte Frau von Paradies lächelnd. „Freuen solltest Du Dich, diese schöne Gotteswelt mit all’ ihrer Herrlichkeit und ihren Wundern kennen zu lernen!“
„Freuen!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Wie kann ich das? Ich werde in eine neue Welt treten, in eine Welt, die mich entsetzen wird mit ihrem fremdartigen und unerhörten Wesen. Jetzt kenne ich Euch Alle mit meiner Seele, jetzt leuchten Eure Angesichter in wunderbarer Herrlichkeit in meinem Herzen, aber wenn ich Euch sehe, werdet Ihr mir fremd sein, und nur an Euren Stimmen werde ich Euch wiedererkennen können, nur an dem Ton Eurer Seele! Ach Mutter, Mutter! Warum wollt Ihr mir meine Blindheit nehmen? Sie war so voll seligen Schauens! Ich war so glücklich in ihr!“
„Thörichtes Kind,“ sagte ihre Mutter, „Du wirst noch viel glücklicher werden, wenn Du sehen kannst. Es ist wirklich kindisch, und albern, um das sich zu ängstigen, was, wenn es sich erfüllt, doch für Dich ein unaussprechliches Glück ist!“
„Und warum nennst Du das albern?“ fragte sie. „Geht nicht die Braut am Tage ihrer Hochzeit auch ihrem Glücke entgegen, und bangt sie nicht vor seligem Weh, und klopft nicht ihr Herz auch zum Zerspringen, und schaudert nicht ihre Seele in süßem Erschrecken? Nun, ich bin heute auch eine Braut, eine Braut des Lichtes, und ich erwarte meinen Bräutigam, den Tag!“
„Aber wer weiß, ob er kommen wird,“ seufzte ihre Mutter.
„Er wird kommen,“ sagte sie zuversichtlich. „Ich habe das gestern gefühlt, als Mesmer die Binde zum ersten Mal seit meiner Kur von meinen Augen nahm. Es war nur einen Moment, aber ich sah etwas wie einen Blitzstrahl, es fuhr mir wie ein schneidendes Schwert durch meine Augen, und ich stürzte besinnungslos zusammen.“
„Thörichtes Kind, es war nur ein Strahl des Tageslichtes, ein erster Blick Deines Bräutigams!“
„Dann werde ich sein volles Anschauen nimmer ertragen können,“ rief Therese bebend. „Aber, sage mir, Mutter, bin ich denn seiner auch werth? Habt Ihr mich schön geputzt, daß mein Bräutigam Freude an mir haben wird?“
„Gewiß, Therese, Du bist geschmückt wie eine Braut, und wie es sich geziemt, an dem Tage, an welchem eine junge Dame zum ersten Mal in die Gesellschaft tritt. Denn wir werden heute große Gesellschaft haben. Ganz Wien möchte dabei sein, wenn die Binde von Deinen Augen genommen wird. Selbst die Kaiserin hat den Besuch eines ihrer Kammerherren ansagen lassen, damit der ihr sogleich vermelden kaun, ob ihr Schützling wirklich sehen kann, und auch die beiden Leibärzte der Kaiserin, die Herren van Swieten und von Störk werden kommen, das Unerhörte zu schauen, und Fürstinnen und Fürsten, Gräfinnen und Grafen, Minister und Generale werden in Menge da sein. Gewiß, es ist für Dich ein Ehrentag, und deshalb habe ich Dich festlich geschmückt.“
„Ist auch mein Haar recht schön frisirt?“ fragte Therese, indem sie ihre beiden Hände erhob und sie prüfend über ihren hohen Kopfputz hingleiten ließ.
„Gewiß, wir haben Deine Lieblingsfrisur genommen, à la Matignon, und die Pepi hat einen wahren Wunderbau gemacht, die Frisur ist fast drei Viertel Elle hoch, und oben darauf schwebt eine ungeheuere Puffhaube mit langen himmelblauen Flatterbändern.“
„Ja, es ist wirklich sehr hoch, ich kann das Ende mit meinen Händen nicht erreichen,“ rief Therese lächelnd. „Ach, es muß wundervoll aussehen. Aber ich will Dich noch etwas fragen,“ fuhr sie dann ernsthaft fort, und ich bitte und beschwöre Dich, antworte mir die Wahrheit! Versprich mir, daß Du es thun willst.“
„Ich verspreche es Dir!“
„Nun dann, so sage mir, wie ist mein Aussehen? Bin ich so, daß ich den Menschen gefallen kann? Bis jetzt sind die Menschen gut und freundlich mit mir gewesen, weil sie Mitleid mit [299] mir hatten, um meines Unglücks willen begegneten sie mir mit Wohlwollen. Aber werden sie mir das nun auch thun, um meiner selbst willen? Werde ich im Stande sein, mir ihre Gunst zu erhalten? Sage mir, o, ich beschwöre Dich, sage mir, bin ich hübsch genug, daß die Menschen ihre Freude an mir haben können?“
„Ja, Du bist hübsch, Therese,“ sagte ihre Mutter lächelnd. „Du bist eine schöne, schlanke und volle Gestalt, das Oval Deines Gesichtes ist von einer reizenden Lieblichkeit, Deine Züge sind edel und regelmäßig, Deine Stirn ist hoch und mächtig, und wenn erst in Deinen großen dunklen Augen der Strahl des Lichtes aufleuchten wird, dann wirst Du ein schönes Mädchen sein!“
„Ich danke Dir, meine Mutter, ich danke Dir!“ rief Therese freudejauchzend, indem sie die Mutter fest in ihre Arme schloß und ihren Mund mit Küssen bedeckte. Die Mutter machte sich sanft aus ihren Armen los.
„Jetzt muß ich eilen, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen,“ sagte sie. „In zwei Stunden schon soll die Operation gemacht werden, und vorher werden sich alle Verwandte, Freunde und die andern vornehmen Gäste bei mir im Salon versammeln. Ich muß also eilen. Alles einzurichten und selber Toilette zu machen. Ich werde Dir die Kammerjungfer rufen, daß sie bei Dir bleibe!“
„Nein, rufe sie nicht,“ rief Therese lebhaft. „Ich bedarf der Einsamkeit und Stille. Auch ich muß mich vorbereiten, muß zu der wunderbaren Stunde meine Seele sammeln und meine Gedanken ordnen, muß allein sein mit meinem Gott, muß zu ihm sprechen in meiner Sprache!“
Sie begleitete ihre Mutter bis zu dem anstoßenden Gemach, und nahm von ihr mit einem herzlichen Kuß Abschied.
Die Blinde war jetzt allein, aber sie durchschritt das Gemach mit vollkommener Sicherheit und ging gerade zu ihrem Instrument hin, das immer geöffnet war.
„Ich will spielen,“ sagte sie leise, „ich will ihn rufen mit meinen Tönen. Er muß es fühlen, und er wird kommen.“
Sie ließ sich auf das Tabouret vor ihrem Flügel niedergleiten und begann zu spielen. Eine wunderbare Musik war es, welche ihre Finger den Tasten entlockten, es war die Verkündigung einer Seele, welche jauchzt und klagt, betet und weint, liebt und verzweifelt. Bald schien diese Musik wie ein Hymnus der Freude aufzurauschen, bald flüsterte und seufzte es aus ihr wie eine tiefe Schmerzensklage, dann wieder schwoll sie empor zu heitern, sonnigen Melodien, und alle Schmerzen und Dissonanzen schienen sich aufzulösen in einem seligen Strom von Harmonie.
Auf einmal durchflog ein Zittern ihre ganze Gestalt, und eine Purpurglut schoß über ihr Antlitz hin. Ihre Hände sanken von den Tasten nieder, ihr Haupt neigte sich auf die Brust, aus der schwere, angstvolle Athemzüge hervorquollen. Wie von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, erhob sie sich dann von ihrem Sessel und richtete sich gerade und steif empor, dann mit einer schnellen Bewegung schritt sie von dem Instrument weg bis in die Mitte des Zimmers hinein. Aber hier wieder blieb sie wie festgewurzelt stehen, und ihre beiden Hände krampfhaft auf ihr Herz drückend, flüsterte sie athemlos: „Er kommt! O, ich fühl’s, er kommt! Jetzt, jetzt steigt er die Treppe herauf, jetzt schreitet er über den Flur, jetzt, o, jetzt legt er die Hand auf die Thür, ,d – –“
Die Worte erstarben auf ihren bebenden Lippen, der Athem kam fieberhaft schnell und ächzend aus ihrem wogenden Busen hervor, ihr ganzes Wesen war in Aufruhr und Bewegung.
In diesem Moment öffnete sich die Thür ihres Zimmers leise, so leise, daß auch das schärfste Ohr es kaum zu hören vermochte. Aber Therese hörte es doch. Ein Schrei des Entzückens tönte von ihren Lippen, sie streckte die Arme aus, sie wollte vorwärts stürzen, aber ihre Füße waren wie eingewurzelt, und so mit ausgebreiteten Armen, mit vorgebeugtem Haupt blieb sie stehen. Sie hatte mit ihrem Herzen die Gestalt gesehen, welche da drüben auf der Schwelle der Thür erschienen war. Diese Gestalt war die eines Mannes von kaum vierzig Jahren[1], von stolzem, imposantem Aeußern, von schönen einnehmenden Zügen. Seine großen blauen Augen, in denen ein wunderbaren Leuchten war, ruhten mit einem gebieterischen festen Ausdruck auf dem jungen blinden Mädchen, das im innersten Mark ihres Lebens seinen flammenden Blick empfand und unter ihm erzitterte. Den rechten Arm hielt er ausgestreckt gegen sie gerichtet, anfangs steif und ohne ihn zu regen, dann aber senkte er ihn tiefer hinab und deutete mit dem Finger auf den Fußboden, gerade auf die Stelle hin, wo Therese stand.
Sofort sank die Blinde auf ihre Knie nieder. Ein triumphirendes Lächeln flog durch das ernste Antlitz des Mannes, er hob den Arm wieder empor und winkte mit der Hand.
Die Blinde sprang sofort von ihren Knien empor, ein Freudenruf tönte von ihren Lippen; als hätte sie gesehen, daß er ihr die Arme jetzt ausbreitete, sprang sie vorwärts, stürzte sie, ohne zu schwanken und zu irren, geradeaus in seine Arme und lehnte ihr Haupt an seine Brust.
„Mesmer! Mein Freund! Mein Arzt, mein Erlöser!“ flüsterte sie leise.
„Ich bin’s,“ sagte er mit voller melodischer Stimme. „Ihr Herz hat mich gesehen und erkannt, Therese! Bald sollen es auch Ihre Augen!“
Er führte sie zu dem Divan und ließ sie sanft auf demselben niedergleiten. Dann streckte er zwei Mal seine Fingerspitzen gegen sie aus, und sofort flog ein Zittern durch ihre Gestalt.
„Sie sind heute sehr erregt, Therese,“ sagte er mit leisem, mißbilligendem Ton.
„Ich bin es, weil Sie es sind, mein Freund,“ flüsterte die Blinde. „Ihr Antlitz glüht, Ihre Pulse schlagen, Ihre Augen schießen Blitze, welche eine Welt zerschmettern möchten.“
„Eine Welt der Lüge, der Unwissenheit und der Bosheit,“ rief er mächtig. „Ja, Therese, die will ich heute zerschmettern mit meinen Blicken und mit meiner Hand! Und eine neue Welt will ich dafür aufrichten, eine Welt des Rechtwissens aber des Schauens, des Uebernatürlichen und doch so Natürlichen! O, Therese, wird mir es gelingen? Wird meine Hand die Kraft haben, Ihre Augen zu erlösen, wird mein Geist so mächtig herrschen über dem Ihren, daß er ihm befehlen kann, aus Ihren Augen hervorzublitzen und zu schauen? Werden Sie mir gehorsam sein mit Ihrer Seele und Ihrem Körper?“
„Mit meiner Seele gewiß,“ hauchte sie leise, „denn meine Seele gehört Ihnen einzig und unbedingt, ob mit meinem Körper, weiß ich nicht.“
„Die Seele muß dem Körper gebieten!“ sagte Mesmer streng.
„Sie will es!“ sagte Therese flehend. „O, zürnen Sie nicht, wenn sie es nicht kann!“
„Sie zweifeln, Therese?“ fragte Mesmer, und seine Augen bohrten sich wie zwei Dolche in ihr Angesicht.
„O, Ihre Augen thun mir weh,“ ächzte sie, indem sie ihr Antlitz mit ihren Händen bedeckte, als wolle sie es schützen vor seinen Blicken.
Mesmer schlug seine Augen nieder und wiederholte sanft: „Sie zweifeln, Therese?“
„Ich zweifle, weil ich fühle, daß Sie zweifeln,“ sagte sie ausathmend. „Aber wenn es nun auch wäre, mein Freund? Wenn Ihr großer erhabener Geist nur meiner Seele, nicht meinem Körper gebieten könnte? Was thut das? Ich werde deshalb nicht unglücklich sein, ich werde mich nicht beklagen! Ich sehne mich nicht nach dem Licht da außen, denn das Licht ist in mir! Mein Herz sieht Sie, was thut es also, wenn auch meine Augen Sie nicht zu sehen vermögen! Nein, glauben Sie mir, ich zittere und bange der neuen Welt entgegen, und mir ist, als müßte ich mich vor ihr verbergen in der tiefsten Einsamkeit. meiner Blindheit. O, mein Freund, mein Herr und mein Meister, wenn irgend Zweifel in Ihnen sind, wenn das Werk mißlingen könnte, so versuchen Sie es nicht! Ich bin glücklich und zufrieden, denn ich trage eine Welt in mir und bedarf keine Welt außer mir!“
„Nein!“ rief Mesmer, „das Werk ist begonnen, es muß vollbracht werden. Und es soll und muß gelingen! Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, Therese, ob Sie wünschen, sehend zu werden oder blind zu bleiben. Sie müssen sehend werden oder Alles, was ich gewollt, gedacht und erstrebt habe, stürzt in Trümmern über mir zusammen und zerschmettert mein Leben nicht allein, sondern auch meinen Namen und meine Ehre! Der heutige Tag ist der Tag der Entscheidung! Heute wird Mesmer seinen Feinden, und seinen Freunden beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen, daß der thierische Magnetismus, den die Aerzte verspotten, den die Wissenschaft verleugnet, weil sie ihn noch nicht kennen, den die Laien für Zauberei oder Betrug halten, daß der thierische [300] Magnetismus die göttliche Heilkraft ist, welche den Menschen mit der Natur und dem Himmel verbindet, daß dieser wechselweise Einfluß unter den Himmelskörpern, der Erde und allen belebten Wesen, den die dummen klugen Menschen ableugnen wollen, wirklich existirt. Nein, Therese, ich werde Sie heilen mittelst der magnetischen Kraft, welche uns Beide einander vereint, uns Beide zugleich dem Himmel verbindet!“
„Heilen Sie mich, mein Herr und mein Meister,“ rief die Blinde begeistert, „ich nehme von Ihnen das Licht an, und Sie sollen durch mich ein neues Licht ausstrahlen über die ganze Welt!“
Er legte sanft die Hand auf ihr Haupt und sah sie mit leuchtenden Blicken an. „Du glaubst also an mich, Therese?“ fragte er. „Nicht wahr, Du glaubst?“
„Ich glaube an Dich, verstehe Dich,“ sagte sie leise. „Ich werde sehend werden, ich weiß es, ich fühle es! Und dann wird Niemand mehr zweifeln dürfen. Die Binde, die von meinen Augen fällt, wird auch abfallen müssen von den Augen Deiner Feinde, von den Augen der Wissenschaft und der Gelehrsamkeit. Sie werden sehen, daß es eine Kraft giebt, welche sie nicht kannten und nicht ahnten, eine Kraft der Natur, welche ohne menschliches Zuthun das verrichtet, was die Arzneikunde bisher der Kunst oder der Natur zugeschrieben hat!“
„O, Du sprichst meine Gedanken aus, Therese,“ rief Mesmer zärtlich, „Du siehst in meine Seele hinein, und findest auf Deinen Lippen meine Worte wieder! Du weißt also auch, daß ich die Wahrheit sage! Es giebt einen thierischen Magnetismus, eine übersinnliche Kraft, welche besser als alle Arzneien im Stande ist, den Menschen Gesundheit und Heilung zu bringen. Mögen die Aerzte darüber lachen, eines Tages werden sie doch erkennen müssen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Die Aerzte sind Reisende, welche, einmal von der rechten Straße abgekommen, sich immer tiefer verirren, weil sie, statt umzukehren und sich zurecht zu finden, beständig gerade forteilen!“[2] „Aber Sie werden ihnen die rechte Straße zeigen, mein Meister,“ rief Therese begeistert, „Sie werden die Verirrten zurückführen auf die rechte Straße, und der Dank der zukünftigen Geschlechter wird Ihnen dafür lohnen!“
„Wenn der Undank des gegenwärtigen Geschlechtes es dazu kommen läßt,“ sagte Mesmer wehmüthig. „Es ist schwer, in dem Labyrinth des Wissens und des Glaubens sich zurecht zu finden. Ich weiß das, denn auch ich war lange Zeit ein Verirrter in diesem Labyrinth, aber ich sehnte mich nach der Befreiung, nach der Erkenntniß! Ein verzehrendes Feuer füllte meine ganze Seele! Ich suchte die Wahrheit nicht mehr voll zärtlicher Neigung, sondern voll der äußersten Unruhe. Ich floh in die entlegensten Wälder, die tiefste Einöde. Da fühlte ich mich näher der Natur. In der heftigsten Bewegung glaubte ich zuweilen, daß mein von ihren vergeblichen Lockungen ermüdetes Herz die Natur wild von sich stieße, und mit zürnender Stimme rief ich ihr zu: O Natur, was willst du von mir? Lasse ab von mir! Laß mich weiter ziehen in meiner Dunkelheit, wenn du mir doch das Licht nicht zeigen willst! – Dann wieder glaubte ich sie zärtlich zu umarmen, und beschwor sie mit der glühendsten Ungeduld doch endlich meine Wünsche zu erfüllen. Ein Glück für mich, daß in der Stille der Wälder nur die Bäume die Zeugen meiner Heftigkeit waren, denn die Menschen würden mich für wahnsinnig gehalten haben!“
„Ich nicht, Meister,“ rief Therese glühend. „Ich hätte bei Ihnen sein mögen, und ich hätte Sie verstanden!“
Mesmer drückte ihr zärtlich die Hand und fuhr fort: „Alle übrigen Beschäftigungen wurden mir verhaßt, jeder Augenblick, den ich ihnen widmete, schien mir ein an der Wahrheit begangener Diebstahl zu sein! Ich bereute sogar die Zeit, die ich bedurfte, um Ausdrücke für meine Gedanken zu finden. Ich fand, daß wir jeden Gedanken unmittelbar ohne langes Nachsinnen in die Sprache einzukleiden pflegen, die uns die bekannteste ist. Und da faßte ich den seltsamen Entschluß, mich von dieser Sclaverei loszumachen. Drei Monate dachte ich ohne Worte! Als sich dies tiefe Nachdenken endete, sah ich mich voll Erstaunen um! Meine Sinne betrogen mich nicht mehr wie vorher. Alle Gegenstände hatten für mich eine neue Gestalt, und mit einem nie gefühlten Entzücken ward ich mir bewußt, daß ich die Wahrheit, die ich so lange gesucht, endlich gefunden hatte! Es kam wieder Ruhe in meine Seele, denn sie hatte die Wahrheit erkannt, und sie entfernte sich nicht mehr von meiner Erkenntniß. Freilich stand mir nun noch ein schwerer Kampf mit den Meinungen der Menschen bevor, aber das schreckte mich nicht. Vielmehr fühlte ich die Nothwendigkeit, die Unzahl der Hindernisse dadurch zu vergrößern, daß ich’s mir als die heiligste Pflicht auferlegte, der Menschheit das unschätzbare, meinen Händen anvertraute Gut in seiner vollen Reinheit so unverfälscht, als ich es von der Natur erhalten hatte, zu überliefern, und nur da helfend einzuschreiten, wo ich meiner selber gewiß war. Viel habe ich gelitten von dem Unverstand und der Bosheit der Menschen, am Meisten von dem Neid und dem Hohne der Aerzte, welche in ihrem Hochmuth lieber blind bleiben, als sich von Andern ein Licht anzünden lassen wollen! [3] Aber der Tag ist gekommen, an dem ich sie zur Erkenntniß zwingen will! Heute sollen sie erkennen müssen, daß all’ ihr Wissen Stückwerk ist, und daß die Natur mit ihren heiligsten Offenbarungen ihnen bis hierher verschlossen war. O, Therese, Du bist das Evangelium meiner neuen Religion, welche Gottes und der Natur überschwellend voll ist! Verkünde ihnen, mein Kind, die neue, die heilige Religion! Schlage Deine Augen auf und lasse sie in ihrem hellen Stern die allewige Urkraft der Sterne und Planeten erkennen, die sie zu leugnen gewagt!“
„Ich will es, Meister, ich will es,“ rief Therese begeistert, „ich will den Ungläubigen und Zweifelnden Dein Evangelium verkünden und wider ihren Willen sollen sie glauben müssen! Ja, mein Herr und mein Meister! Die Stunde der Erkenntniß ist gekommen, und meine sehenden Augen sollen alle die Andern überzeugen, daß auch sie blind waren. Komm, Meister, nimm die Binde von meinem Angesicht, das Licht wird mich nicht mehr blenden, ich werde nicht mehr wie gestern ohnmächtig vor seinem Strahl zusammensinken! O, laß mich sehen, laß mich Dich sehen!“
Sie fuhr mit beiden Händen zu ihrem Haupte empor, um sich die Binde abzunehmen, aber Mesmer hielt sie zurück.
„Nein,“ sagte er, „noch nicht! Im Beisein aller meiner Feinde, die sich indeß Deine Freunde nennen, muß es geschehen, nicht eher!“
„Aber sie werden schon im Salon unserer warten! Hörst Du nicht, Meister, wie die Wagen vor unsere Thür rollen. Hörst Du nicht, wie sie die Treppe heraufsteigen! O, sie werden Alle schon da sein! Komm also, laß uns gehen!“
„Noch nicht, Therese, denn wenn alle diejenigen da sind, die ich erwarte, wird man, wie ich es erbeten habe, uns benachrichtigen.“
„Wen erwartest Du denn, Meister?“
„Meine Feinde, Therese! Und ich sage Dir, sie werden kommen! Der Professor Barth wird kommen, um den Charlatan zu sehen, der die Vermessenheit hat, durch eine unsichtbare Kraft zu heilen, was er, der berühmte Staarstecher nur vermöge seiner Pincette und seiner Messer vermag. Doctor Ingenhaus, mein erbitterter Gegner, wird da sein, um zu sehen, welche infernalische Künste der Charlatan anwendet, der schon mehr als hundert Kranke geheilt hat, die seine Gelahrtheit für unheilbar erklärt hatte; Pater Gall wird da sein, um zu sehen, ob die Gegenwart eines großen Astronomen mich nicht schrecken wird, oder ob der Charlatan wirklich den Muth, hat, selbst in Gegenwart Pater Gall’s, der es doch besser weiß, zu behaupten, daß die Planeten da oben im Zusammenhang stehen mit den Menschen und Einfluß haben auf ihr Sein und Denken. Ja, ja, sie werden Alle kommen, nicht um sich überzeugen zu lassen, sondern um zu triumphiren! Denn nach ihrer Meinung ist es keinem Zweifel unterworfen, daß der Charlatan heute vernichtet ihnen gegenüberstehen wird!“
[313] „Nenne Dich nicht mit so unwürdigem Namen, Meister,“ bat Therese schmerzlich.
„Sie nennen mich ja Alle so, warum also soll ich es nicht auch thun?“ rief Mesmer lachend.
„Sie nennen Dich jetzt noch so, aber heute schon werden sie Dich, wie ich, als ihren Herrn und Meister begrüßen. Heute noch werden sie zur Erkenntniß kommen, heute noch werden sie zu Deinen Füßen niedersinken und weinend und innerlich zerknirscht, Dich um Vergebung flehen, daß sie so lange an Dir zweifelten, so lange im Irrthum befangen waren.“
,O, mein Kind, wie wenig kennst Du die Welt!“ rief Mesmer schmerzlich. „Die Menschen verzeihen niemals denen, welche sie eines Irrthums überführten, und für empfangene Wohlthaten pflegen sie sich durch Verleumdung und Verdächtigung zu rächen.“
„O, wenn es so ist, Meister, so lasse mir meine Blindheit! Begehre nicht, daß ich Diejenigen sehen soll, welche Deine Feinde sind, oder gieb meinen Augen die Kraft eines Dolches, damit ich die Unwürdigen durchbohre, gieb –“
Sie stockte, und sank ächzend in die Kissen des Sopha’s zurück. Mesmer hatte seine Hand gegen sie ausgestreckt und die Spitzen seiner Finger berührten fast ihre Stirn.
„Du bist aufgeregt,“ sagte er, „schlafe!“
„Nein,“ murmelte sie, „nein, ich will nicht schlafen!“
„Ich will es!“ sagte Mesmer gebieterisch, und die Spitze seines Vorderfingers berührte leise ihre Stirn.
Therese seufzte tief auf, ihr Haupt sank zurück, und die schweren und ruhigen Athemzüge, welche aus ihrer Brust hervorgingen, bezeugten es, daß sie Mesmer’s Befehl erfüllt hatte, daß sie eingeschlafen war.
Nun neigte sich Mesmer über sie und begann seine Manipulationen. Er näherte sich ihren halbgeöffneten Lippen, und auch seinen Mund öffnend, hauchte er ihren Athem ein und strömte seinen Athem in ihren Mund zurück, den jetzt ein Lächeln unaussprechlicher Wonne umzitterte. Dann erhob er seine beiden Hände und mit den Spitzen seiner Finger der Schlafenden Scheitel berührend, ließ er seine beiden Hände einen Halbkreis durch die Luft beschreiben und dann auf der Brust Thereseus sich wieder vereinigen, um dann in leiser Schwingung wieder empor zu steigen zu ihrer Stirn. So auf und ab in gleichmäßigen Wellenlinien bewegten sich seine Hände, und immer tiefer ward der Schlaf der Blinden, und immer wieder neigte sich Mesmer zu ihren Lippen, um ihren Athem zu trinken und ihr den seinen einzuhauchen.
Und jetzt öffnete sich die Thür und Theresens Mutter erschien auf der Schwelle.
„Die Eingeladenen sind Alle versammelt,“ sagte sie feierlich.
Mesmer nickte gravitätisch. „Wir sind bereit!“ auwortete er.
„Mein Gott, Sie sagen das, und doch schläft Therese?“ rief Frau von Paradies verwundert.
„Ich werde sie wecken, wenn es Zeit ist. Wo ist meine Glasharmonika?“
„Im Salon, wie Sie angeordnet hatten!“
„So lassen Sie uns dahin gehen, und von dorther Therese rufen!“
Der erste Tag des Lichts.
In dem Salon des Herrn von Paradies war die Elite der wiener Gesellschaft versammelt. Die Aristokraten, die Wissenschaft, die Kunst und die Industrie war hier vertreten, ja selbst die Kaiserin, wie gesagt, hatte einen ihrer Kammerherren gesendet, um ihr Bericht zu erstatten über die merkwürdige Operation, die der neue Wunderdoktor heute an der „Pensionärin der Kaiserin“ vornehmen wollte. Aber auch aus dem niedern Bürgerstande, sogar aus den untersten Schichten des Volkes waren auf ausdrückliches Begehr Mesmer’s einige Bevorzugte eingeladen worden; die Bewohner der Paläste wie der Hütten sollten Zeuge sein des Triumphes der neuen Wissenschaft über die alte, des Triumphes des thierischen Magnetismus über die Satzungen der bisherigen Arzneikunde.
Ein geheimnißvolles Halbdunkel herrschte in dem Saale, denn auf Mesmer’s Anordnung waren die grünen Vorhänge der Fenster heruntergelassen. Ringsum im Saale waren Stühle aufgestellt, die mehrfach gereiht in einem Halbkreise die Estrade umgaben, die sich da in der Mitte des Saales befand. Auf dieser Estrade stand ein Divan, einige Stühle und ein Tisch, auf welchem man einen verschlossenen Kasten bemerkte.
Auf diesen Kasten waren die neugierigen, fragenden Blicke der Versammlung gerichtet, und selbst Herr Professor Barth konnte sich trotz seines stolzen, ironischen Lächelns, seiner olympischen Haltung und seines hoheitsvollen Wesens, eines Anflugs von Neugierde nicht erwehren, und wandte seine stolzen Blicke immer wieder zu dem Kasten hin.
[314] „Sie werden sehen, Herr Kollege“ sprach er, sich zu seinem Nachbar neigend, „er wird uns Allen ein X für ein U gemacht haben. Er wird die Gelegenheit benutzen, um vor einer glänzenden Gesellschaft seine erste Augenoperation zu machen, um auf diese Weise schnell einen Ruf zu erwerben. Der Kasten wird seine Instrumente enthalten! Sie werden sehen, im entscheidenden Moment wird er eine Lanzette aus jenem Kasten nehmen, und sie damit operiren.“
„Das heißt, operiren wollen, Herr Kollege,“ sagte Doktor Ingenhaus bedächtig. „Diese Blinde zu operiren, ist unmöglich, wie Ew. Hochwohlgeboren ja selbst zu allererst erkannt haben. Wie soll man operiren, wo nicht zu operiren ist? Das Messer und die Lanzette können doch den erstorbenen Sehnerven ihrer Augen nicht neue Thätigkeit verleihen?“
„Wenn er eine Lanzette nimmt, um ihr damit in die Augen zu bohren, werde ich ihn verhindern!“ rief der Professor mit drohender Stimme. „Man soll es in meiner Gegenwart nicht wagen dürfen, die Wissenschaft zu verhöhnen und die gesunde Vernunft Lügen zu strafen. Ich werde genau Acht geben, und wehe dem Betrüger, wenn ich ihn erwische.“
„Aber der Kasten enthält gewiß keine chirurgischen Instrumente,“ flüsterte der zweite Nachbar des Professor Barth. „Ich denke, ich weiß, was darin ist.“
„Nun, was ist darin, Herr Pater Hell?“ fragten die beiden Herren mit lebhafter Neugier.
„Ein Planet wird darin sein, meine Herren,“ rief der berühmte Astronom. „Sie wissen ja, der Wunderdoctor hat nicht genug an Euren Apotheken, er pfuscht mir in meinen Himmel hinein, und will sich aus meinen Fixsternen und Planeten Arzneien und Latwergen brauen, mit denen er seine Patienten heilt. Hoffe indeß, daß er sich da in seinem Kasten einen Planeten mitgebracht hat, den noch Niemand kennt, und den er daher ungestraft sich vom Himmel herunter langen konnte. Wehe ihm aber, wenn ich heute Abend auf meiner Warte einen meiner Sterne vermisse! Ich werde dann sogleich die Polizei requiriren, und den Monsieur Mesmer als einen frechen Dieb einstecken lassen.“
Die Herren lachten fröhlich über den sarkastischen Scherz des Astronomen, wurden aber in ihrer Fröhlichkeit durch das Eintreten Mesmer’s unterbrochen, der, dem Ruf der Frau von Paradies folgend, jetzt in den Saal trat.
Ohne die Versammlung eines Blickes, eines Grußes zu würdigen, durchschritt Mesmer den leeren Raum und trat auf die Estrade. Sein Antlitz war bleich, aber ernst und energisch, und wie er jetzt, neben dem Tisch stehend, seine großen blauen Augen mit einem langsamen Blick über die Gesellschaft hingleiten ließ, fühlte Jedermann, daß in der Seele dieses Mannes kein Zweifel und keine Unruhe, sondern nur festes, unwandelbares Vertrauen wohne.
Jetzt öffnete Mesmer den Kasten. Ein athemloses Schweigen herrschte in der Gesellschaft, alle diese leuchtenden, fragenden, gierigen Blicke waren unverwandt auf den Doctor gerichtet.
Er schien das nicht zu fühlen. Mit vollkommener Gelassenheit nahm er einen Stuhl und setzte sich nieder. Nun legte er seine Hände in den geöffneten Kasten, dessen Rückseite dem Publikum zugekehrt war.
„Jetzt wird er die Instrumente heraus nehmen,“ murmelte Professor Barth seinem Nachbar zu; aber noch ehe dieser Zeit fand zu einer Erwiederung, erschallte ein Ton von so wunderbarer, seltsamer Gewalt, daß selbst der gelehrte Professor sein Herz davon erbeben fühlte. Und jetzt ein neuer Ton, noch mächtiger anschwellend, noch langsamer in geisterhaftem Geflüster verklingend, und nun reihte sich Ton an Ton, nun durchrauschte den Saal die wunderbarste, nervenerschütterndste Musik. Und alle Gesichter erbleichten, und von den fremdartigen, seltsamen Klängen fühlte sich jedes Herz bewegt, und wie verzückt hingen Aller Augen an diesem Zauberer, der seinem Kasten so merkwürdige, herrliche Musik zu entlocken vermochte.
„Ach, sehen Sie da, Herr Professor,“ flüsterte der Pater Hell, „Sie haben sich nur im Pronomen geirrt. Der Mann hat in seinem Kasten nicht Instrumente, sondern nur ein Instrument.“
„Ja, wahrhaftig,“ flüsterte Professor Barth, „der Planet, den Sie prophezeihten, hat sich in eine Glasharmonika verwandelt.“
„Und die Lanzette, die er führt, ist ein Fischbeinstab mit einem Pfropfen daran,“ sagte Doctor Ingenhaus achselzuckend.
Mesmer spielte weiter; immer lauter, immer machtvoller durchrauschten die Töne den Saal, mit immer sehnsuchtsvollerer Gewalt schienen sie einen unsichtbaren Geist beschwören zu wollen, daß er erscheine.
Und jetzt nahte da durch das Vorgemach eine weiße Gestalt. Sie schwebte näher heran, ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, man hörte sie nicht, man sah sie nur nahen. Jetzt stand sie auf der Schwelle der Thür. Da blieb sie stehen, angewurzelt, unbeweglich, denn Mesmer streckte abwehrend eine Hand gegen sie aus und bannte sie an diese Stelle.
Aller Augen wandten sich jetzt auf diese Gestalt hin, auf diese „Braut des Tages,“ die da in dem Schmucke ihres bräutlichen Festes sich nahte. Noch waren ihre Augen verhüllt von einer dicken Binde, noch gehörte diese rührende, zarte Gestalt dem Gott des Schweigens und der Finsterniß an, aber sie stand schon auf der Schwelle einer neuen Welt, und das selige Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, schien diese Welt mit einem ersten Liebeshauch zu begrüßen.
Athemlose Stille herrschte in dem Saal, langsam nur und leise ließ sich dann und wann ein sanft anschwellender Harmonikaton vernehmen; dann wieder ward Alles still, feierlich, geheimnißvoll.
Da ließ Mesmer die Hand, welche er gegen Therese ausgestreckt hatte, sinken; bald jedoch legte er sie wieder auf die Tasten, und nun durchrauschte der volle Strom der Melodien aufs Neue den Saal.
Therese bewegte sich, sie schritt vorwärts. Lauter, mächtiger erschallte die Musik.
Im Saal ward jetzt das tiefe Schweigen hier und da durch lautes Schluchzen, durch halblaut gemurmelte Gebete unterbrochen. Jedermann fühlte die Bedeutung dieses Momentes und ließ sich von demselben hinreißen. Auf einmal entstand eine Bewegung; einige Damen waren ohnmächtig geworden; ihre zart besaiteten Nerven waren überwältigt worden von dem Eindruck dieser Stunde und dieser Musik[4].
Aber Niemand kümmerte sich um sie, Niemand wollte seinen Platz verlassen, um die Ohnmächtigen aus dem Saal zu führen. Man vergaß ihrer und schaute nur in athemloser Erwartung auf Mesmer und Therese hin.
Er spielte immer fort, aber das Haupt halb rückwärts gewandt, heftete er seine großen flammenden Blicke mit einem gebieterischen Ausdruck auf Therese.
Sie fühlte diesen Blick und erbebte unter demselben. Mit raschem Schritten näherte sie sich jetzt, wie getragen von unsichtbaren Genien schwebte das junge, lächelnde Mädchen mit den verhüllten Augen zu der Estrade hin, und stand jetzt auf derselben, dicht neben Mesmer.
Er deutete mit einem einzigen kurzen Wink seines Fingers auf den Divan hin. Sofort wandte sich Therese von Mesmer ab und ging zu dem Divan, auf dem sie sich niederließ.
„Sie ist gut abgerichtet,“ murmelte Herr Professor Barth. „Das ist natürlich eine verabredete und einstudirte Scene.“
„Wenn man mit einer Glasharmonika Blinde sehend machen kann,“ flüsterte Doctor Ingenhaus, „so verbrenne ich morgen meine Bücher und werde wandernder Musikant.“
„Wenn man mit dem Winken seiner Hand Planeten citiren kann,“ sagte Pater Hell, „so zerschlage ich heute noch meine Gläser und werde Famulus von Mesmer. Es scheint in der That, als ob –“
Die Harmonika verstummte und machte dem leisen Gespräch der gelehrten Herren ein Ende.
Mesmer stand auf, und seine hohe muskelkräftige Gestalt emporgerichtet, näherte er sich Theresen. Sie erbebte und lehnte, schwer athmend, ihr Haupt zurück in die Kissen. Mesmer erhob seine Hand und beschrieb über ihrem Haupte langsam einige Kreise durch die Luft.
„Es brennt und bohrt in meinen Augen wie glühende Dolche,“ murmelte Therese.
Jetzt richtete er die Spitzen seiner Finger gerade gegen ihre Augen und berührte mit denselben die Binde.
„Nimm die Binde ab und sieh!“ rief Mesmer mit gebieterischer Stimme.
[315] Therese hob hastig ihre Hände empor und riß die Binde von ihren Augen fort.
Eine athemlose Stille herrschte in dem Saal, alle Herzen klopften angstvoll, mit glühender Neugierde waren alle Blicke auf dieses bleiche, junge Mädchen gerichtet, das da mit weit geöffneten Augen auf der Estrade stand und starr und unverwandt auf Mesmer hinschaute, der unbeweglich ihr gegenüber stand.
Jetzt hob Therese die Hand empor und deutete auf Mesmer hin. „Wie,“ rief sie mit einem Ausdruck tiefen Entsetzens, „ist das das Bild eines Menschen?“[5] Mesmer antwortete nicht, er nickte nur mit dem Kopfe; seine Arme auf die Hüften stützend, ließ er seinen Körper allerlei schwankende Bewegungen machen.
Therese stieß einen Schrei aus und fuhr zurück. „Das ist fürchterlich zu sehen!“ rief sie entsetzt. „Dies Menschenbild wird über mir zusammenstürzen. Wo ist Mesmer, zeigt mir Mesmer!“
„Ich bin es,“ sagte Mesmer, sich ihr nähernd.
Sie zuckte zusammen und betrachtete ihn lange mit prüfenden trüben Blicken. „Ich glaubte, ein Menschenantlitz sei strahlend wie das Glück,“ sagte sie, „und dies Gesicht, dünkt mich, sieht aus wie der verkörperte Schmerz. Sehen alle Menschen so aus? Wo ist meine Mutter?“
Frau von Paradies hatte nur auf den Ruf ihrer Tochter gewartet. Sie kam mit ausgebreiteten Annen, ihr Antlitz überströmt von Freudenthränen zu ihr herangeeilt.
Aber Therese warf sich nicht in ihre Arme, sie stieß einen Schrei aus, und verhüllte sich mit beiden Händen das Gesicht.
„Therese, mein geliebtes Kind,“ rief ihre Mutter zärtlich, „sieh mich an, schau in meine Augen und erkenne darin die Liebe einer Mutter.“
„Ja, das ist die Stimme meiner Mutter,“ rief Therese freudig, indem sie ihre Hände wieder von ihrem Antlitz gleiten ließ. Ihre Mutter stand neben ihr und schaute sie lächelnd an.
„Du, Du bist meine Mutter?“ flüsterte Therese. „Ja, ja, ich erkenne Dich, ich kenne diese Augen, sie sehen aus wie eine verklärte Thräne der Liebe! O, Mutter, laß mich Dich anschauen und zu Deinen Augen beten!“
Frau von Paradies neigte ihr Haupt vorwärts, um ihre Tochter zu küssen, aber wieder fuhr Therese mit einem Aufschrei des Entsetzens zurück und verhüllte ihr Gesicht.
„Weshalb drohst Du mir so fürchterlich?“ fragte sie angstvoll. „Geh zurück, Du wirst mir mit dem entsetzlichen Ding die Augen ausbohren.“
„Womit, Therese?“ fragte ihre Mutter erstaunt. „Sieh mich an und sage mir, was Dich in meinem Antlitz erschreckt!“
„Blicken Sie empor und schauen Sie Ihre Mutter an, Therese,“ befahl Mesmer.
Sie gehorchte dieser Stimme, welche ihr Herz erbeben machte, und ließ ihre Hände von ihrem Antlitz gleiten.
„Nun sage mir, was Dich erschreckt hat,“ bat Frau von Paradies.
Therese hob ihre Hand empor und deutete schüchtern auf die Nase ihrer Mutter.
„Das da,“ sagte sie, „was ist das?“
„Das ist meine Nase,“ rief ihre Mutter lächelnd, und durch den ganzen Saal hörte man jetzt das melodische Rauschen eines frohen Lachens.
„Diese Nasen sind fürchterlich in dem Menschengesicht,“ rief Therese entsetzt. „Es kommt mir vor, als wenn sie mir entgegen drohten und mir meine Augen ausstechen wollten*.“
„Ich will Ihnen das Bild eines drohenden Menschen zeigen, Therese,“ rief Mesmer, indem er eine solche Stellung annahm, und mit geballten Fäusten, mit blitzenden Augen, mit fest aufeinander gepreßten Lippen zu ihr heranschritt.
Therese brach zusammen und stürzte auf ihre Knie nieder. „Sie werden mich tödten,“ schrie sie entsetzt.
Diese Scene, zugleich so einfach und so dramatisch, machte auf alle Anwesenden einen überzeugenden Eindruck. Selbst der gelehrte Professor Barth ließ sich hinreißen von der Gewalt des Momentes.
„Bei Gott, das ist keine Täuschung, sie kann sehen,“ rief er.
„Wenn das Herr Professor Barth sagt, so wird wohl Niemand es mehr zu bestreiten wagen,“ gegenredete Mesmer, laut genug, um von Jedermann im Saal verstanden zu werden.
Der Professor runzelte finster seine Stirn und gab sich das Ansehen, die Worte Mesmer’s gar nicht gehört zu haben. Er bereute schon, was er gesagt, und hätte, trotz seines bekannten Geizes, jedes seiner Worte mit einigen Ducaten zurückkaufen mögen. Aber es war zu spät, alle Anwesenden hatten sie vernommen, und Jeder flüsterte es froh dem Andern zu: „Auch Professor Barth ist jetzt überzeugt. Auch er gesteht zu, daß Therese sehen kann. Mesmer ist in Wahrheit ein Wunderdoktor!“
Therese indeß hatte jetzt auch ihren Vater und ihre nächsten Verwandten begrüßt. Aber sie, welche während ihrer Blindheit immer ein so zärtliches, liebevolles Wesen gegen alle ihre Angehörigen gezeigt, hatte jetzt gegen sie Alle ein kaltes, fast zurückstoßendes Benehmen.
„Ich wußte es wohl,“ seufzte sie traurig, „ich wußte es, daß das Sehen mich nicht glücklicher machen könnte. Ich sah Euch Alle mit meinem Herzen und ich liebte Euch! Jetzt, wo ich Euch sehe mit meinen Augen, bebt mein Herz zurück und entsetzt sich vor all’ den traurigen Geheimnissen, die mir Eure Gesichter verrathen. Ach, ich glaube, um die Menschen recht lieben zu können, muß man blind sein! Aber,“ fuhr sie lebhafter fort, „weshalb entzieht Ihr mir Bello, meinen Liebling. O, laßt mich meinen treuen Hund sehen, er ist so lange mein Führer in meiner Blindheit gewesen, laßt mich ihn sehen!“
Bello, der große schwarze Bernhardinerhund, hatte längst an der verschlossenen Thür eines Nebengemaches, die Nähe seiner Herrin witternd, laut gebellt und gewinselt.
Frau von Paradies eilte jetzt hin, die Thür zu öffnen, und sofort stürzte der Hund mit langen Sätzen zu Theresen hin, um zu ihren Füßen niederzukauern und ihre Hände zu lecken.
Therese neigte sich lächelnd zu ihm nieder und hob seinen Kopf empor. Das kluge Thier, als errathe es den Wunsch seiner Herrin, legte seinen Kopf auf ihre Knie und schaute mit seinen großen, dunklen Augen klug und verständig zu ihr empor.
Therese streichelte sanft sein glänzendes schwarzes Fell. „Dieser Hund,“ sagte sie sinnend, „dieser Hund gefällt mir weit besser als ein Mensch. Es liegt so viel Güte und Wahrheit in seinen Augen, und sein Hundekopf erschreckt mich lange nicht so sehr als ein Menschenangesicht[6].“
„Ich denke, wir könnten uns jetzt von dannen begeben,“ brummte Professor Barth, „das Schauspiel ist zu Ende, und jetzt werden die lieben Verwandten und Freunde nichts Eiligeres zu thun haben, als dem Autor und der ersten Liebhaberin zu applaudiren. Ich sehe für mich keine Verpflichtung ein, dabei zu sein!“
„Ich auch nicht,“ stimmte Doctor Ingenhaus bei, indem er sich anschickte seinen Herrn Collegen zu begleiten. „Ueberdies fühle ich mich etwas verwirrt im Kopfe von all’ den Gedanken, die dieser verteufelte Doctor darin zerbröckelt hat. Lassen Sie uns gehen!“
„Nehmen Sie mich mit,“ sagte Pater Hell, ihnen folgend. „Ich muß wirklich nachsehen, ob der Zauberer keinen Planeten vom Himmel gestohlen hat, mit dessen Hülfe er dieses Wunder hier zu Stande gebracht!“
Die drei Herren durchschritten gravitätisch, und ohne sich zu verabschieden, den Saal, um sich hinweg zu begeben. An der Thür trafen sie den Grafen von Langermann, den Kammerherrn der Kaiserin.
„Ah, Sie machen es wie ich, meine Herren,“ redete der Graf sie an, „Sie enteilen dem Zaubersaal, um die Wunder, die Sie erschaut, Ihren Freunden mitzutheilen. Ganz Wien wird heute und morgen von nichts Anderem sprechen als von der glücklichen Heilung der schönen Therese von Paradies. Niemand wird jetzt mehr zweifeln können, da unser berühmter Professor Barth selber die glückliche Heilung constatirt hat. Ich werde mich beeilen, das der Kaiserin mitzutheilen, und Ihro Majestät wird sehr erfreut sein, ihren Schützling genesen zu wissen.“
„Sie können der Kaiserin auf alle Fälle mittheilen, daß wir eben eine sehr gut gespielte Theaterscene erlebt haben, Herr Graf,“ sagte Professor Barth verdrießlich.
„Eine Theaterscene?“ fragte der Graf verwundert. „Aber die Heilung des blinden Mädchens ist indeß doch eine Wahrheit, und Sie selber haben das vorhin bestätigt!“
[316] „Ein flüchtig hingeworfenes Wort, das man halb aus Höflichkeit, halb aus Uebereilung äußert, ist noch keine Bestätigung,“ rief der Professor Barth ärgerlich. „Man sagt Manches im Salon, was man in seiner Studirstube nicht zu rechtfertigen unternähme.“
„Auch bedarf ein solcher Fall der reiflichen Erwägung,“ sprach Doctor Ingenhaus bedächtig. „Es ist unmöglich, in einem Tage über ein Factum von so ernster Bedeutung zu entscheiden.“
„Aber, meine Herren,“ rief der Graf lachend, „das Factum steht mindestens fest, daß das Fräulein von Paradies nicht mehr blind ist, und daß Mesmer sie ohne Instrumente und Arzneien, blos durch das Auflegen seiner Hand curirt hat! Ich eile, der Kaiserin diese Nachricht zu bringen!“
Er grüßte die Herren mit einer flüchtigen Verbeugung und eilte von dannen.
„Da geht er hin,“ murrte Professor Barth, „thut, als ob er eine wunderbare Freudennachricht in der Burg als Herold zu verkünden habe. Im Hofcirkel wird man heute natürlich nur von dem Wunderdoctor Mesmer zu sprechen wissen.“
„Und wir? Was werden wir thun?“ fragte Pater Hell, mit seinen kleinen listigen Augen die beiden Freunde anblinzelnd.
„Ja, sagen Sie, Herr Kollege, was werden wir thun?“ fragte Doctor Ingenhaus.
Professor Barth antwortete nicht. Er schritt mit gravitätischer Ruhe die Treppe hinab und über den Flur der Hausthür zu. Erst als sie auf der Straße angelangt waren und sich einige Schritte von dem Hause der Wunder entfernt hatten, blieb Professor Barth stehen und legte seine Hände schwer und gewichtig auf die Schultern seiner beiden Freunde.
„Was wir thun werden, meine Herren und Freunde?“ fragte er langsam.
„Ja, sagen Sie uns,“ sprach Doctor Ingenhaus, „ist es möglich, daß dieser Mann über uns den Sieg davon getragen hat? Daß er, den wir so lange als einen Charlatan verhöhnt und verspottet haben, jetzt zu Stande gebracht, blos mit seiner Hand, was unser berühmter Augenoperateur mit der Lanzette in seiner Hand nicht zu Stande zu bringen vermochte?“
„Dürfen wir es dulden,“ fragte Pater Hell düster, „daß dieser Mensch mit einem kühnen Handgriff alle Gesetze der Wissenschaft und der Erfahrung umstößt, und uns eine ganz neue, lächerliche Lehre an Stelle Dessen setzen will, was seit Jahrhunderten und Jahrtausenden her in der Wissenschaft erkannt und erforscht war? Wagte er es nicht, zu behaupten, daß er sich seinen thierischen Magnetismus von den Sternen herunter geholt habe? Hat er nicht die Keckheit, zu sagen, was noch kein Astronom der ganzen Welt entdeckt hat, daß nämlich die Planeten einen direkten Einfluß haben auf die Welt und die Menschen?“
„Und endlich,“ sagte Doktor Ingenhaus ingrimmig, „endlich ist er nicht mir, der ich es zur Aufgabe meines ganzen Lebens gemacht habe, Nervenkranke zu behandeln und zu kuriren, mit der frechen Behauptung entgegengetreten, daß nur der thierische Magnetismus die Nervenkrankheiten zu heilen vermöge? Und laufen nicht seitdem alle meine Kranken wie wahnsinnig und toll mir aus der Kur fort, und rennen zu diesem Charlatan hin, der ihnen Heilung verspricht durch das Auflegen seiner Hand? Er ist auf diese Weise Arzt und Apotheker in einer Person, und die wahnsinnigen Menschen zahlen ihm für seine eigene Person das Honorar, was sie sonst zwischen uns und dem Apotheker theilten.“
„Er ruinirt die Astronomie, die Medicin und die Pharmacie, wenn er den Sieg über uns erlangt,“ sagte Professor Barth feierlich. „Ueber uns, das heißt über die Wissenschaft, denn wir vertreten die Wissenschaft, an welche dieser freche Mensch Hand anzulegen wagt. Die Wissenschaft würde in Trümmern zusammensinken, wenn wir diesem Mesmer gewähren ließen. Wir selbst würden durch ihn bei Seite gedrängt und in den Staub getreten, während er triumphirend an uns vorübereilte den höchsten Ehren zu. Schon verkündet der Kammerherr der Kaiserin bei Hofe das Wunder, was er erschaut, und in wenigen Stunden wird ganz Wien entzückt sein über die wunderbare Mähr, die es empfängt. Wenn wir nicht unsere Maßregeln nehmen, ist die Wissenschaft zu Grunde gerichtet, sind unsere Lehrstühle umgeworfen, ist unsere Praxis vernichtet.“
„Wir müssen also unsere Vorkehrungen treffen!“ riefen die beiden Herren schnell. „Sagen Sie also, was sollen wir thun?“
„Einfach die Scene, die wir erlebt haben, für das ausgeben, was sie ist, für ein Theaterstückchen,“ sagte Professor Barth gelassen. „Therese von Paradies ist blind und bleibt blind, und was wir da heute gesehen, war eine einstudirte Farce, weiter nichts!“
„Aber unglücklicher Weise, verehrter Freund, haben Sie uns dies Auskunftsmittel durch den liebenswürdigen Enthusiasmus unmöglich gemacht, mit dem Sie die Blinde laut und öffentlich für geheilt und für sehend erklärten.“
„Sie haben also nicht den Ton der Ironie bemerkt, mit dem ich diese unglücklichen Worte sprach? Ich wollte den Charlatan verhöhnen, weiter nichts! Der Mensch nahm für Wahrheit, was nur Spott war!“
„Und alle Anwesenden haben es unglücklicher Weise auch so gemacht,“ seufzte Pater Hell. „Man wird Ihren Versicherungen leider hinterher schwerlich glauben!“
„Man wird es nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht übermorgen,“ erwiederte der Professor stolz. „Wenn wir Aerzte und Männer der Wissenschaft in einer festen Phalanx auftreten gegen diesen Mann, wird es uns schon gelingen, ihn zu besiegen. Wenn wir es nicht thun, ruinirt er uns Alle. Es ist also Pflicht der Selbsterhaltung, ihn zu bekämpfen und als einen Charlatan zu brandmarken. Das sei unsere Aufgabe, und sie zu lösen, muß unser heiliges Bestreben sein! Therese von Paradies ist eine Blinde, und es ist im Interesse der Wissenschaft nothwendig, daß sie es bleibt. Man wird schon Mittel finden, es zu beweisen, daß sie es auch ist, und daß die guten, leichtgläubigen Wiener sich wieder einmal einen Bären haben aufbinden lassen. Kommen Sie, wir wollen daheim in meinem Studirzimmer das Nähere verabreden!“
Während die drei Widersacher Mesmer’s solche unheilvolle Pläne brüteten, waren die Freunde und Bekannten, die in dem Salon des Herrn von Paradies versammelt waren, noch immer damit beschäftigt, sich Theresen vorzustellen, und die Genesene mit herzlichen Glückwünschen zu begrüßen.
Therese saß bleich und unbeweglich auf dem Divan und starrte die fremden Gesichter mit einem traurigen Lächeln an, und schauderte, wenn man ihr sagte: das da ist die Freundin, welche Du so sehr liebst; das ist der Freund, der Dir sonst durch seine lustigen Geschichten die Zeit verkürzte!
Sie schloß dann die Augen und sagte flehend: „Sprecht zu mir, damit ich Euch wiedererkenne, und mich so ganz allmälig an Euer fremdes Angesicht gewöhne. Sprecht jetzt zu mir, damit meine Augen durch mein Herz lernen, Euch lieb zu gewinnen!“
Auf einmal aber, als eben wieder eine ihrer Freundinnen ihr vorgestellt ward, brach Therese in ein lautes Lachen aus.
„Was trägt denn die für ein lächerliches Ding da über ihrem Haupt?“ fragte sie.
„Nun,“ antwortete ihre Mutter, „das ist ja die Frisur, die Du so sehr liebst. Das ist ein Kopfputz à la Magtignon!“
Therese fuhr entsetzt mit beiden Händen zu ihrem eigenen Haupt empor. „Ja,“ sagte sie traurig, „so unnatürlich, steif und häßlich steigt da auch bei mir das lächerliche Ding in die Höhe. Ich will niemals wieder so frisirt werden, Mutter!“
„Aber mein Kind, diese Frisur ist jetzt die neueste Mode, und Du wirst Dich wohl darein fügen, sie zu tragen, denn was Mode ist, ist schön!“
„Ich werde mich nicht darein fügen,“ sagte Therese, langsam ihr Haupt schüttelnd. „Jetzt, da ich sehen kann, werde ich nicht so sehr fragen, was Mode, sondern was kleidsam, hübsch und natürlich ist. Aber jetzt, da ich Menschen und Thiere kennen gelernt habe, jetzt laßt mich auch die Natur und den Himmel kennen lernen. Mein Arzt, der mir das Licht gegeben, soll mir jetzt auch den Himmel geben. O, Mesmer, führen Sie mich zu Gott, zur Natur und zum Himmel!“
„Kommen Sie, Therese, wir wollen es versuchen, ob Sie den Anblick des Lichtes schon zu ertragen vermögen,“ sprach Mesmer, indem er sanft ihren Arm in den seinen schob, und sie von der Estrade herunter hob.
Aber seltsam, Therese, welche sonst in ihrer Blindheit frei und leicht durch alle Zimmer des elterlichen Hauses ihren Weg fand, ohne nur einmal anzustoßen oder sich zu verirren, bewegte sich jetzt nur schwankend, und mit kleinen, furchtsamen Schritten vorwärts.
[325] „Mein Gott, mein Gott,“ flüsterte sie, sich angstvoll an Mesmer’s Arm klammernd, „sehen Sie nur, wie alle diese Dinge auf mich zuschreiten, sie werden über uns zusammenstürzen und uns zerschmettern.“
Mesmer lächelte, „Diese Dinge stehen fest,“ sagte er, „und wir sind es allein, welche sich bewegen. Sie werden sich an alle diese neuen Eindrücke gewöhnen, Sie werden durch die Erfahrung die Gesetze der Optik begreifen und die Größe der Gegenstände ermessen lernen.“
„Aber was ist denn das?“ rief Therese verwundert, indem sie sich eben dem großen Wandspiegel näherte, der zwischen den Fenstern angebracht war.
„Das ist ein Spiegel, Therese.“
„Aber darin sind Sie ja zum zweiten Mal? Wer ist es, der es wagt, so auszusehen wie Mesmer?“
„Das ist mein Spiegelbild, Therese!“
„Aber welch’ eine wunderliche Gestalt mit der abscheulichen Matignonfrisur hängt da am Arm Ihres Spiegelbildes?“
„Das sind Sie, Therese!“
„Das bin ich,“ rief sie lebhaft, indem sie hastig auf den Spiegel zuschritt. Aber plötzlich wich sie entsetzt zurück.
„Mein Gott,“ sagte sie, „diese Person kommt gerade auf uns zu. Lassen Sie uns zurücktreten, oder sie wird uns umstoßen!“
Und sie wich ängstlich und scheu zurück; auf einmal aber lachte sie fröhlich auf. „O,“ sagte sie, „dieses Mädchen hat eben so wenig Muth wie ich. Je weiter ich mich von ihr entferne, desto ängstlicher weicht sie vor mir zurück.“
„Aber das ist auch nur eine optische Täuschung, Therese.
Das junge Mädchen, welches Sie da sehen, ist auch nur ein Spiegelbild, Ihr Bild!“
„Ach, es ist wahr, ich vergaß es,“ sagte sie, müde, indem sie ihre Hände gegen ihre Stirn drückte. „Kommen Sie, führen Sie mich dicht an den Spiegel, daß ich mich betrachten kann! Ich werde die Augen schließen, um nicht vor der Erscheinung zu erschrecken.“
Sie schloß die Augen und lehnte sich fester auf den Arm Mesmer’s, der sie jetzt zu dem Spiegel geleitete.
„Das also bin ich,“ flüsterte Therese, ihre Augen wieder öffnend, und mit prüfenden Blicken ihr Spiegelbild betrachtend.
„Meine Mutter hat Unrecht,“ sagte sie dann nach einer Pause.
„Das Gesicht da ist nicht hübsch, denn es ist langweilig; die Seele hat noch nichts auf dieses Gesicht geschrieben. Kommen Sie, Meister, beschäftigen wir uns nicht mehr mit diesem langweiligen Gesicht, lassen Sie mich den Himmel sehen!“
„Erst wollen wir versuchen, ob Sie das Tageslicht auch schon in seiner unverhüllten Gewalt ertragen können, Therese. Bleiben Sie hier stehen, ich werde den Vorhang des Fensters öffnen.“
Mesmer trat an das Fenster und ließ den Vorhang langsam aufrollen. Aber Therese stieß einen Schrei des Entsetzenn aus und verhüllte sich das Gesicht.
„Das bohrt in meinen Augen wie Dolchspitzen,“ ächzte sie.
„Ich wußte es wohl,“ sagte Mesmer, „Ihre Augen müssen sich erst an den Tag gewöhnen. Ich werde Ihnen den Himmel heute Abend zeigen. Jetzt, Therese, müssen Sie es sich schon gefallen lassen, die Binde wieder vor Ihr Antlitz zu legen, denn Ihre Augen bedürfen der Ruhe!“
Das Concert.
Die ganze vornehme Welt Wiens war in dem großen Concertsaal versammelt, in welchem Therese von Paradies heute ihr erstes Concert geben wollte, seit sie durch die Wunderkur Mesmer’s ihr Augenlicht wieder erhalten hatte. Jedermann war daher neugierig und gespannt, sich selber durch den Augenschein zu überzeugen, wer von den streitenden Parteien Recht habe, der Doctor Mesmer und die Familie Paradies, welche behaupteten, daß Therese wirklich geheilt sei, oder die Herren Barth und Ingenhaus und das ganze Corps der Aerzte, welche sagten, eine solche Heilung sei ganz unmöglich, und das Ganze sei nur eine Betrügerei Mesmer’s, zu deren Ausführung die Familie von Paradies ihre Hand geboten.
Man war also heute nicht gekommen, um dem wundervollen Spiel Theresens zuzuhören, sondern um sie zu sehen und sein Urtheil zu fällen. Dieses Concert sollte zugleich eine öffentliche Prüfung sein, und Herr von Paradies hatte daher öffentlich in den Zeitungen bekannt machen lassen, daß in den Pausen des Concerts Therese bereit sei, sich mit Jedermann zu unterhalten und Proben abzulegen, daß sie wirklich sehend, und daß ihre wunderbare Heilung keine Chimaire sei.
Auch Herr Professor Barth mit seinen Freunden, dem Doctor Ingenhaus und Pater Hell, war zu dem Concert gekommen und hatte mit triumphirender Miene und einem klugen Lächeln auf [326] der ersten Reihe des Zuschauerraums Platz genommen. Als er jetzt den Herrn von Paradies erblickte, der in den Saal getreten war, mit vergnügtem Gesicht das zahlreiche Publikum überschauend, und sich den reichen Gewinn dieses Abends berechnend, stand Professor Barth auf und ging zu ihm hin.
„Sie sind also noch immer überzeugt, daß Ihre Tochter wirklich sehen kann?“ fragte der Professor.
„Nun, ich denke, Sie sind es eben so gut wie ich,“ sagte Herr von Paradies lächelnd. „Waren Sie nicht zugegen als Theresen zum ersten Mal die Binde abgenommen ward, gaben Sie nicht laut und öffentlich Zeugniß ab, daß sie wirklich sehend sei?“
„Ja, ich machte mir den Spaß,“ rief Herr Barth lachend, „wollte sehen, wie weit die Leichtgläubigkeit der Menschen gehe, wollte auch durch mein Zeugniß den Herrn Mesmer sicher machen, um ihn nachher desto sicherer zu fangen. Und ich denke, es ist mir gelungen, man erzählt sich schon allerlei seltsame Geschichten von Ihrer Tochter, welche gerade nicht dafür sprechen, daß sie besser sehen kann wie früher. Hat sie nicht vor einigen Tagen, als man ihr eine Blume zeigte, gemeint, daß sei ein gar schöner Stern? Und hat sie nicht auch, obwohl sie sehen kann, mit der Nadel, die sie zum Haar ihrer Mutter führen wollte, sich in die Wange gestochen?“
„Allerdings, dergleichen kommt vor,“ sagte Herr von Paradies lächelnd, „aber das gerade spricht für ihr Sehen. Sie ist noch wie ein junges Kind, das die Namen der Dinge, die sie umgeben, nicht kennt und sie oft verwechselt; auch hat sie noch keinen Begriff von Entfernungen, und die entfernten Gegenstände scheinen ihr oft nahe, daß sie nach ihnen greift, die nahen so entfernt, daß sie gerade auf sie zugeht und sich an ihnen stößt. Aber das Alles wird sich durch die Uebung verlieren, und wenn Therese, wie das bald geschehen kann, ganz allein durch die Straßen geht, so wird wohl Niemand mehr zweifeln, daß sie sehen kann.“
„Sie also sind fest davon überzeugt?“
„Ja, ich bin fest davon überzeugt!“
„Es ist von Ihnen wahrhaft großmüthig, dies so offen zu bekennen,“ sagte Professor Barth, ihn starr ansehend. „Dies Bekenntniß wird Ihnen viel Geld kosten!“
„Wie,“ fragte Herr von Paradies erschrocken, „wie kann es mir Geld kosten, wenn Therese sehen kann?“
„Nun, das ist ganz einfach,“ sagte Professor Barth gleichgültig. „Haben Sie, oder vielmehr hat nicht Ihre Tochter eine Pension von der Kaiserin?“
„Gewiß, und eine sehr bedeutende.“
„Nun, diese Pension werden sie natürlich verlieren,“ fuhr Professor Barth fort, indem er mit Vergnügen das plötzliche Erblassen und Zittern des Herrn von Paradies bemerkte. „Die Kaiserin hat diese Pension an Ihre Tochter gegeben, weil sie blind war, jetzt, da sie sehen kann, bedarf sie dieser Pension nicht mehr, weil sie nun selber für sich sorgen kann. Eine Pension, welche nur der Blinden bewilligt worden, kann der Sehenden nicht zu Gute kommen! Ich selber habe heute bei dem zweiten Leibarzt Ihrer Majestät, dem Herrn von Störk, darauf angetragen, daß, wenn sich heute das Sehen Ihrer Tochter bestätigt, Herr von Störk die Kaiserin ersucht, ihr die Pension zu entziehen, um sie einer andern Bedürftigen zuzuwenden.“
„Aber wissen Sie,“ sagte Herr von Paradies entsetzt, „daß Sie dadurch mich und meine ganze Familie in’s Elend stürzen würden? Wir haben nichts als diese Pension, und sie ist groß genug, daß wir anständig von ihr leben können. Wenn uns dieselbe entzogen wird, sind wir Bettler!“
„Pensionen können doch nur Solchen bewilligt werden, die sich entweder um den Staat verdient gemacht oder durch unverdientes Unglück Ansprüche auf eine Staatsunterstützung haben. Der erstere Grund ist bei Ihnen nie vorhanden gewesen, der zweite Grund fällt weg, sobald Ihre Tochter nicht mehr blind ist. Sie ist durch die Gnade der Kaiserin zu einer Künstlerin ausgebildet, und damit ist ihr ein Kapital gegeben, das sie jetzt verwerthen kann. Sie wird Unterricht ertheilen und Concerte geben.“
„Aber es ist unmöglich, davon mit einer Familie zu leben,“ sagte Herr von Paradies ängstlich.
„Sie werden vielleicht nicht so bequem und anständig leben können, wie von der großmüthigen und großartigen Pension der Kaiserin, aber enfin, Sie werden wenigstens das Nothdürftigste haben und nicht zu verhungern brauchen. Die kaiserliche Pension aber bekommt eine arme blinde Gräfin, die ich seit einiger Zeit behandele, und die nach meiner Meinung ebenso unheilbar blind ist, wie Ihre Tochter es war. Ich habe Alles mit dem Herrn von Störk verabredet. Schon morgen früh wird die Kaiserin die Pension, welche bisher das blinde Fräulein von Paradies erhielt, und die ihr jetzt nicht mehr zusteht, auf die blinde Gräfin Dalkeith übertragen, und diese, das versichere ich Sie, wird die Pension ihr Leben lang behalten, denn sie wird niemals daran denken, sich von Herrn Mesmer curiren zu lassen.“
„Aber, mein theuerster Herr Professor,“ flüsterte Herr von Paradies, „haben Sie doch Erbarmen mit mir, mit meiner ganzen Familie. Seit sechzehn Jahren haben wir diese Pension, und sie ist uns zugesichert für Theresens ganze Lebensdauer. Sie uns jetzt nehmen, heißt eine ganze Familie in’s Elend stürzen!“
„Wenn Ihre Tochter sehen kann, verliert sie die Pension, und meine Gräfin bekommt sie. Herr von Störk hat mir sein Ehrenwort gegeben, und die Kaiserin hat ihm noch niemals eine Bitte abgeschlagen, weil er niemals Ungerechtes bittet.“
„So sind wir also verloren,“ murmelte Herr von Paradies dumpf in sich hinein.
„Alles kommt darauf an, ob Ihre Tochter wirklich sehen kann,“ sagte der Professor mit scharfer Betonung. „Wenn sie blind ist, sind Sie gerettet, denn Sie behalten die Pension, und es ist möglich, daß Herr von Störk dann die Kaiserin bewegt, dieselbe noch ein wenig zu erhöhen, in Anbetracht der vielen Leiden und Täuschungen, die Sie und Ihre Familie erduldet haben. Nun, das Alles wird sich ja heute Abend noch entscheiden, und wir Alle werden dann wissen, was wir zu thun haben!“
Er grüßte Theresens Vater mit einem flüchtigen Kopfnicken und kehrte zu seinem Platz zurück, von wo aus er seine Blicke auf das junge Mädchen hinwandte, das bald darauf in den Saal trat.
Ein allgemeines Gemurmel, eine sichtbare Aufregung entstand in dem Publikum. Jedermann erhob sich ein wenig, um Therese anzusehen, die, obwohl man sie seit Jahren kannte, doch heute Alle als eine fremde, nie gesehene Erscheinung interessirte. Eine Blinde, welche alle Aerzte, sogar der berühmte Augenarzt Professor Barth, für unheilbar erklärt hatten, und die Mesmer jetzt durch seine bloße Berührung, durch das bloße Auflegen seiner Hand curirt hatte, das war wohl geeignet, Staunen und Neugierde zu erregen, und selbst das eleganteste Publikum in einige Aufregung zu versetzen.
Vielleicht war Therese sich dieses Eindrucks bewußt, den ihre Erscheinung erregte, denn während sie sonst, wenn sie als Blinde Concerte gab, leicht und lächelnd in den Saal getreten war, kaum geleitet von der Hand ihrer Mutter, schlich sie jetzt schüchtern mit niedergeschlagenen Augen, mit gebeugtem Haupt, linkisch in jeder Bewegung, langsam daher. Sonst hatte das Publikum, sobald Therese in dem Saal erschien, sie mit lautem Applaus begrüßt, heute empfing es sie schweigend, athemlos, in der Spannung der Neugier, alle gewohnte Freundlichkeit gegen die Künstlerin vergessend.
Mit staunendem Interesse sah man indeß wie Therese jetzt langsam den Raum durchschritt, welcher zwischen der Thür und dem in der Mitte des Saals aufgestellten Flügel sich befand. Vielleicht durch ein Versehen oder mit Absicht, standen drei Stühle dicht zusammengestellt, gerade in ihrem Weg. Therese umging sie mit Leichtigkeit, und kam an ihnen vorüber, ohne sie auch nur mit dem Saum ihres weißen Atlaskleides zu berühren.
Eine allgemeine Bewegung entstand in dem Saal. „Sie sieht wirklich! Sie ist wirklich geheilt! Sie ist nicht mehr blind!“ flüsterte und murmelte das Publikum unter einander, und mit erneuerter Theilnahme schaueten Alle wieder auf sie hin.
Drei Personen waren es indessen, auf welche dieses Beifallsgemurmel des Publikums einen ganz andern und verschiedenen Eindruck machte.
Professor Barth vernahm es mit innerer Wuth und legte seine Stirn in finstere Falten, Herr von Paradies erblaßte und fühlte sich von tödtlicher Angst ergriffen, Mesmer aber, welcher da drüben unweit des Flügels an der Wand lehnte, vernahm dieses Beifallsgemurmel mit unaussprechlichem Entzücken, und seine großen, leuchtenden, Augen wandten sich mit einem strahlenden Ausdruck des Glückes auf Therese hin.
Und wie von diesem Blick und diesem Anschauen bezaubert, schlug jetzt Therese von Paradies ihre Augen auf und wandte sie mit einem freudigen Ausdruck gerade hinüber auf Mesmer.
[327] Wieder entstand ein Gemurmel des Beifalls, denn der strahlende, seelenvolle Blick dieser Augen, welche sonst immer stier und seelenlos in das Leere geschaut, war ein neuer Beweis, daß Therese wirklich sehen konnte.
Aber dieses Gemurmel des Publikums erinnerte das junge Mädchen, welche bis jetzt nur Mesmer gesehen, daran, daß sie nicht allein mit ihm sei. Gleichsam erschrocken, wandte sie das Auge von ihm ab und richtete es jetzt zum ersten Mal auf das Publikum, auf dieses Publikum, das da, Kopf an Kopf gedrängt, mit glühenden Augen, mit Blicken kalter prüfender Neugierde sie anstarrte.
Das Anschauen dieser Masse Menschen, diese vielen Gesichter, diese blitzenden Augen, dieses viele Durcheinander machte Therese stutzen und erfüllte sie mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst und des Entsetzens. Sie that einen Schritt rückwärts als wolle sie zurückweichen vor diesen vielen Augen, welche auf sie eindrangen, dann griff sie hastig mit ihren Händen umher als suche sie nach einem Stützpunkt, um nicht umzusinken, und sah doch den Stuhl nicht, der dicht neben ihr stand, und auf den sie sehr bequem ihre Hand hätte lehnen können.
Staunend blickte das Publikum sie an, und jetzt waren es die Gesichter des Professor Barth und des Herrn von Paradies, welche einen freudigen Ausdruck annahmen, während Mesmer’s Antlitz sich umdüsterte und eine finstere Wolke sich auf seine Stirn lagerte.
Therese stand noch immer schwankend allein da, verwirrt einige Schritte vorwärtsgehend, und dann wieder angstvoll und zitternd still stehend.
In athemlosem Schweigen starrte das Publikum sie an, und inmitten dieses Schweigens vernahm man auf einmal aus dem Hintergründe des Saals eine Stimme, welche rief: „will denn Niemand dem armen Mädchen die Hand reichen und sie zum Flügel führen? Man sieht ja, daß sie noch immer blind ist!“
Therese zuckte zusammen und schleuderte einen zornigen Blick hinüber nach jener Richtung, von woher die Stimme erschallte.
„Ich bin nicht blind!“ rief sie heftig und als habe diese Beschuldigung ihr ihre ganze Energie und Thatkraft wieder gegeben, schritt sie rasch vorwärts und ging gerade auf das Instrument hin.
Ein rauschender Sturm des Beifalls erschallte durch den ganzen Saal, Therese dankte mit einem freundlichen Lächeln und einer Verneigung, und während sie dann die Handschuh auszog, um zu spielen, blickte sie hinüber zu Mesmer, dessen Stirn jetzt wieder heiter war, und der sie anschauete mit strahlenden Augen.
Ganz befangen von diesem Anschauen, kaum wissend, was sie that, glitt das junge Mädchen auf den Sessel nieder und begann zu spielen. Nicht einmal, während sie spielte, warf sie den Blick auf die Tasten hin, nicht einmal sah sie hinüber nach dem Publikum, wie gebannt schauten ihre Augen hinüber nach Mesmer, dessen Blicke den ihren begegneten und sich mit gebieterischem Willen in ihr Antlitz bohrten. Und unter diesen Blicken jauchzte ihre Seele auf in Entzücken und Wonne, wie getragen von Begeisterung flatterten ihre Finger über die Tasten hin, in schmelzenden und weichen, in starken und mächtigen Klängen alle diese so glühenden und gewaltigen, so geheimnißvollen und zarten Gefühle verkündend, welche die Seele des jungen Mädchens erfüllten.
Man hatte Therese oft schon so auf dem Flügel in freien Phantasien sich ergehen hören, aber niemals waren ihre Phantasien so voll der edelsten Musik, niemals mit so vollendeter Meisterschaft ausgeführt gewesen.
Als Therese daher geendet hatte, und mit einem Seufzer, als erwache sie eben aus einem entzückenden Traum, ihre Hände von den Tasten gleiten ließ, brach das Publikum wieder in einen lauten, einstimmigen Applaus aus, aber dieser Applaus galt diesmal nicht den Augen Theresens, sondern ihrer Künstlerschaft und ihrem wunderschönen Spiel. Therese fühlte das, und mit einem wunderlieblichen Lächeln ihr Haupt dem Publikum zuwendend, grüßte sie es mit einer leichten Verbeugung.
Aber mit dieser freien Phantasie sollten für heute die Produktionen der Künstlerin beendet sein, und die Productionen der geheilten Blinden beginnen. Herr von Paradies hatte in den Annoncen, welche das Concert seiner Tochter betrafen, das Publikum aufgefordert, Notenhefte und Bücher mitzubringen, damit Therese das Publikum von ihrer Heilung überzeuge, indem sie nach den ihr unbekannten Noten spiele und aus den fremden Büchern lese.
Diesem Programm zufolge trat jetzt Herr von Paradies, welcher sich, während seine Tochter spielte, in finsterm, unheilvollem Nachsinnen in eine Fensternische zurückgezogen hatte, an das Instrument heran, und sich tief vor dem Publikum verneigend, sprach er mit lauter Stimme: „Ich ersuche diejenigen verehrten Damen und Herren, welche meiner Bitte gemäß Noten oder Bücher mitgebracht haben, sie gefälligst mir überliefern zu wollen, damit ich sie meiner Tochter gebe, und sie aus denselben spiele oder lese, auf daß das geehrte Publikum selbst erkennt und entscheidet, ob Therese sehend oder blind ist. Ich ersuche Sie um so mehr, mir diesen Liebesdienst zu erzeigen,“ fuhr Herr von Paradies mit zitternder Stimme fort, „als mein geängstetes Vaterherz durch diese Probe doch endlich seine Zweifel gelöst sehen, und mit Bestimmtheit erfahren wird, wer Recht hat, der Herr Doctor Mesmer, welcher behauptet, daß meine Tochter sehen kann, oder ich, welcher leider befürchtet, daß sie noch immer blind ist!“
Ein Gemurmel des Erstaunens durchrauschte das Publikum, ein Schrei des Entsetzens tönte von Theresens Lippen, und mit einem Ausdrucke schmerzlichen Flehens richtete sie ihre Blicke hinüber zu Mesmer, der todesbleich, wie gelähmt vor Schrecken, unbeweglich dastand, und in dessen Augen für einen Moment das mächtige Feuer erloschen war, mit dem er sonst Alle, die ihn anschauten, zu bannen wußte.
Professor Barth hatte mit einem behaglichen Lächeln diese schnelle, unerwartete Scene beobachtet, und sich an Doctor Ingenhaus wendend, flüsterte er diesem einige Worte zu.
Aus den Reihen des Publikums erhoben sich jetzt zwei Herren und näherten sich Herrn von Paradies. Der Eine überreichte ihm ein Buch, der Andere ein Notenheft.
Herr von Paradies hielt Beides seiner Tochter hin. Sie griff, mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Vater, zuerst nach dem Buch und schlug es auf.
„Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing“, las sie mit lauter, silberheller Stimme.
„Sie kann sehen! Es ist unzweifelhaft, sie sieht!“ flüsterten die Zuschauer untereinander. „Sie konnte doch nicht wissen, was für ein Buch man ihr gab! Sie ist nicht mehr blind!“
Theresens scharfes Ohr hatte dieses Geflüster mit Entzücken vernommen, und sie wollte jetzt dem Urtheil des Publikums eine neue Bestätigung geben.
Sie wandte sich daher wieder dem Publikum zu, und mit einem bezaubernden Lächeln sagte sie: „ich bitte eine der Damen um die Gefälligkeit, mir die Seite bezeichnen zu wollen, welche ich lesen soll, und eine andere Dame, gnädigst hierher zu kommen, und zuzusehen, ob ich die Seitenzahl richtig treffe.“
Sofort erhoben sich zwei Damen. Die Eine, den vornehmsten und größten Kreisen Wiens angehörend, näherte sich Theresen, die andere, eine allbekannte und berühmte Künstlerin des Theaters, sprach: „Ich bitte, Fräulein Therese, gefälligst Seite 71 aufschlagen zu wollen.“
Therese blätterte mit hastiger Hand in dem Buch und reichte es dann lächelnd der Gräfin hin.
„Es ist richtig, meine Liebe,“ sagte die Dame freundlich. „Seite 71! Haben Sie die Güte, zu lesen!“
Immer höher stieg jetzt der Enthusiasmus des gläubigen Publikums. Man flüsterte es jetzt nicht mehr, sondern man sagte es ganz laut: „Sie kann sehen! Es ist keine Lüge! Die Wunderkur ist eine Wahrheit!“
Und immer grollender ward das Gesicht des Herrn Professor Barth, immer ängstlicher und bleicher das des Herrn von Paradies, immer freudiger und strahlender das des Doctor Mesmer.
Therese hatte gewartet, bis die gefällige Gräfin auf ihren Platz zurückgekehrt war, alsdann las sie die ihr von der Schauspielerin bezeichnete Seite des Lessing’schen Trauerspiels, das erst seit kurzer Zeit in Wien bekannt geworden war.
Ein Jubel, stärker noch als derjenige, mit welchem man ihr meisterhaftes Klavierspiel belohnt hatte, erschallte jetzt, als die Lektüre beendet war. Er galt indeß nun nicht wieder der Künstlerin, sondern der geheilten Blinden.
Und aus dem Hintergründe des Saales rief jetzt eine Stimme: „Ich dächte, es wären genug der Proben, und Fräulein von Paradies erfreute uns lieber mit einer ihrer herrlichen musikalischen [328] Leistungen. Jedermann wird sich wohl jetzt überzeugt haben, daß das Fräulein nicht mehr blind, sondern vollkommen sehend ist.“
Eine allgemeine Stille folgte diesen Worten. Herr von, Paradies war es, welcher dieselbe unterbrach.
„Ich kann mich der Meinung des geehrten unbekannten Gönners des Doctor Mesmer nicht anschließen,“ sagte er mit scharfer Betonung. „Ich suche in diesem Streit ganz zu vergessen, daß ich der Vater des Fräuleins von Paradies bin, und stelle mich auf Seiten des zweifelnden, ungläubigen Publikums, welches durchaus mit positiver Bestimmtheit erfahren will, ob wirklich in unsern Tagen noch Wunder geschehen, und ob es möglich ist, daß ein Mensch wie wir durch das bloße Auflegen seiner Hand Lahme gehend und Blinde sehend machen kann.“
„Der Mann spricht plötzlich sehr vernünftig,“ murmelte Professor Barth seinem Freunde zu.
Herr von Paradies fuhr fort: „Indem ich mich aber so auf Seiten des zweifelnden Publikums stelle, muß ich mir eingestehen, daß die eben geleistete Probe mich nicht hat überzeugen können, ja daß es möglich wäre, Zweifel an ihrer Aechtheit zu erheben. Es wäre möglich, zu denken, daß Herr Doctor Mesmer die große Künstlerin, welche die Gnade hatte, die Seitenzahl zu bestimmen, um die Gunst angefleht hätte, gerade diese Seitenzahl zu nennen, und daß sie es in der Großmuth ihres Zutrauens zu Mesmer, der seit einiger Zeit ihr Arzt ist, ihm bewilligt hätte. Es wäre möglich, daß die gnädige Gräfin nicht bemerkt hätte, daß gerade die Seite durch einen schrägen Kniff am obern Ende bezeichnet war, und demgemäß auch von einer Blinden leicht gefunden werden konnte. Daß dem aber so ist, davon bitte ich Jedermann sich zu überzeugen.“
Er nahm das Buch, welches Therese eben auf das Instrument gelegt hatte, und blätterte darin.
„Hier ist Seite 71, und hier ist der Kniff!“ sagte er, das aufgeschlagene Buch in die Höhe haltend.
„Vater, Du hast soeben einen Kniff in das Papier geschlagen, ich hab’s gesehen!“ rief Therese, alles Andere vergessend, glühend vor Zorn.
Ihr Vater wandte das Haupt halb zu ihr hin. „Gesehen!“ sagte er achselzuckend, und sich dann wieder dem Publikum zuwendend, fuhr er fort: „Es wäre ferner möglich, daß der Herr Baron von Horka, einer der gläubigsten Mesmerianer, welcher die Güte hatte, das Buch hier mir zu übergeben, im Auftrage Mesmer’s gerade dies Buch gebracht, und daß Therese dies durch Mesmer erfahren habe. Wer von einer Sache gründlich überzeugt zu sein wünscht, muß mit dem größten Mißtrauen diese Sache prüfen. Nur von dem glühenden Verlangen beseelt, fest und unumstößlich, von der Heilung meiner geliebten Tochter überzeugt zu werden, ersuche ich das hochgeehrte Publikum, zu erlauben, daß Therese jetzt auch versuche, aus diesen Noten zu spielen.“
Das Publikum gab durch allgemeines Applaudiren seine Zustimmung zu erkennen, und Herr von Paradies reichte daher das Notenheft seiner Tochter dar.
Sie achtete nicht darauf und nahm es nicht an. Sie schien ganz und gar der Gegenwart entrückt, sich gar nicht bewußt zu sein, was hier geschah. Die Hand aufgestützt auf die Lehne des Stuhls, welcher vor dem Instrument stand, schaute sie hinüber zu Mesmer, dessen große, glühende Augen jetzt wieder mit feuriger Glut auf sie gerichtet waren, dessen wunderbar schönes und stolzes Angesicht mit dem Ausdruck eines gebietenden Herrschers ihr zugewandt war. Ihre Blicke wurzelten fest in einander, und aus den seinen schien Therese Trost und Freudigkeit zu empfangen, denn ihre Wangen, welche, während ihr Vater sprach, anfangs marmorbleich geworden, strahlten jetzt wieder im schönsten Incarnat, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen.
Ihr Vater hielt ihr noch immer, das Notenblatt hin, ohne daß sie es bemerkte. Im Publikum entstand ein leichtes Murren und Zischeln, eine unruhige Bewegung und sofort wandte Mesmer seine Blicke von Theresen ab, dieser Menge zu, welche ihn heute schon so vielfach in Aufregung versetzt hatte.
Jetzt durchflog ein leichten Beben Theresens ganze Gestalt, und wie aus einer seligen Verzückung erwachend, wandte sie den Blick wieder der Erde zu.
Mit einer Geberde des Schreckens nahm sie das aufgeschlagene Notenblatt aus den Händen ihres Vaters, der sie mit einem kalten, spöttischen Lächeln anblickte, und legte es auf das Pult vor dem Instrument.
„Marsch aus Oedipus von Gluck!“ sagte sie mit lauter Stimme, indem sie sich vor dem Instrument niedersetzte.
„Mein Gott, Therese, Du liesest den Titel, ohne das Titelblatt aufgeschlagen zu haben?“ fragte ihr Vater laut.
Sie schrak zusammen und schlug die Augen zu ihm empor. „Ich habe ihn vorher schon gelesen, als der Herr Kapellmeister Ritter von Gluck die Güte hatte, die Noten zu überreichen.“
„Wie, Du kennst den Herrn Ritter von Gluck?“ fragte ihr Vater verwundert. „Er ist niemals in unserm Hause gewesen.“
„Ich habe ihn bei Herrn Doctor Mesmer gesehen,“ antwortete sie schüchtern.
„Ah, der Ritter von Gluck, der die Noten brachte, ist also gleich dem Baron von Horka, der das Buch überreichte, auch ein Freund des Herrn Doctor Mesmer!“ rief Herr von Paradies mit einem Lachen, welches seine Tochter erbeben machte. Um ihn zum Schweigen zu bringen, legte sie ihre Finger auf die Tasten, und begann ein Präludium, das durch feine Kunstfertigkeit, seine perlenden Läufe, seine klaren doppelten Triller, seine kunstvollen harmonischen Uebergänge Jedermann entzückte und in Staunen versetzte.
[337] Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich jetzt wieder ausschließlich der Künstlerin zugewandt, und mit bewundernder Theilnahme folgte man ihrem herrlichen Spiel und dem meisterhaften Vortrag dieses erhabenen Trauermarsches aus Gluck’s Orpheo.
Auf einmal stockte sie und hielt mitten in einem angefangenen Takt inne. Ihre Augen hefteten sich mit entsetztem Ausdruck bald auf die Noten, bald auf ihre Hände, welche mit hastiger Beweglichkeit über die Tasten hin und her fuhren. Ihr Vater, welcher neben ihr stand, und ihr die Notenblätter umgewandt hatte, betrachtete sie mit einem kalten, spöttischen Blick. Er sah die tödtliche Angst, die aus ihren Mienen sprach, er sah, wie sie bleich geworden war, und mit einem Ausdruck des Entsetzens ihre hüpfenden Finger betrachtete. Jetzt schien sie sich innerlich zusammenzuraffen und fest und sicher spielte sie weiter. Aber nur wenige Takte, alsdann stockte sie abermals, und ein vollkommener Mißton unterbrach ihr Spiel.
Therese schauderte, sie wagte es nicht, hinüber zu sehen nach Mesmer, der unbeweglich, mit niedergeschlagenen Blicken da stand; mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen.
Aber nun auf einmal schien wieder Leben und Kraft sie zu durchströmen und mit erneuerter Energie spielte sie weiter. Wie Schmetterlinge flatterten jetzt ihre Hände über die Tasten hin, wie Perlen rollten die Läufe auf und nieder und dazwischen, in mächtigen, vollen Accorden ertönte die feierliche, majestätische Melodie des Trauermarsches.
Das Publikum, ganz hingerissen von Bewunderung, war kaum noch im Stande, seinen Enthusiasmus zurückzuhalten und die Künstlerin nicht mitten im Spiel mit einer Beifallssalve zu unterbrechen.
Plötzlich aber legte Herr von Paradies seine Hände mit einer ungestümen Bewegung auf die kunstfertigen Finger seiner Tochter, und machte sie verstummen.
„Du spielst schon seit langer Zeit nicht mehr die Noten, welche dastehen!“ rief er entsetzt. „Das, was Du da spielst, ist eine freie Phantasie aus der Oper „Orpheo“, aber es ist nicht der Trauermarsch, der hier vor Dir liegt. Ich frage das verehrte Publikum, ob ich Recht habe, oder ob das wirklich der berühmte Trauermarsch ist, den wir Alle kennen, und der hier auf dem Pulte steht?“
Eine tiefe Stille trat ein, dann sagte eine ernste Stimme: „Nein, das war nicht der Trauermarsch, aber es war eine schöne und herrliche Zusammenstellung von Melodien aus dem Orpheo.“
Herr von Paradies stieß einen Schrei aus, und mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes die Arme um den Nacken seiner Tochter legend, rief er: „O, mein armes, geliebtes Kind, es ist also doch wahr, was ich so lange und mit so bittrem Schmerz befürchtete! Das Wunder bestätigt sich nicht, und meine arme geliebte Therese ist blind und wird blind bleiben so lange sie lebt!“
„Vater!“ schrie Therese, entsetzt emporspringend, „Vater, Du weißt –“
„Ich weiß, daß Du blind bist,“ rief er, sie unterbrechend, und sie fest in seine Arme drückend. „Komm, meine arme Therese, komm, und weine nicht! Verzage auch nicht, noch ist Dein Vater da, der wird Dich stützen und führen, und Dir seine Augen leihen und für Dich sehen. O, mein Kind, mein Kind, Gott vergebe es Denen, welche in unsern Herzen so trügliche Hoffnungen entzündeten! Jetzt ist Alles verloren, Alles hin! Du bist und bleibst blind, und Dein armer Vater kann nur über Dich weinen.“
Das Publikum hatte mit tiefer Rührung diesem glühenden und schmerzlichen Ausbruch der väterlichen Zärtlichkeit zugehört, hier und da sah man die Damen ihre Batisttücher an die Augen drücken, hörte man halblaute Worte der Theilnahme.
Nur Herr Professor Barth ließ sich nicht fortreißen von der allgemeinen Rührung, und als er an dem erbleichten Antlitz seines Freundes Ingenhaus gewahrte, daß auch dieser voll Mitgefühls für den schmerzbewegten Vater sei, flog ein höhnisches Lachen über seine harten Züge hin.
In diesem Augenblicke tönte ein gellender Schrei von Theresens Lippen, mit Ungestüm suchte sie sich aus seinen sie umschließenden Armen frei zu machen.
„Vater, laß mich los!“ rief sie. „Ich bin nicht blind, ich bin geheilt! Mesmer hat mir mein Augenlicht wieder gegeben, und ich kann sehen, aber was ich sehe, ist fürchterlich, o fürchterlich!“
Und mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie ohnmächtig wieder zurück in die Arme ihres Vaters.
Er hob sie in seine Arme empor, sein bleiches, schmerzzuckendes Antlitz mit einem flehenden Ausdruck dem Publikum zuwendend, grüßte er es zum Abschied mit einer leichten Bewegung des Hauptes, und schwankte dann mit seiner rührenden und traurigen Last der Ausgangsthür des Saales zu.
Das Publikum blickte ihm schweigend und tief gerührt nach, bis die Thür hinter ihm geschlossen, dann erhoben sich Alle mit geräuschvollem Stuhlrücken. – Das Schauspiel war zu Ende, aber [338] der Streit nicht, und wie Herr Professor Barth mit Ingenhaus langsam durch die Menge, die sich dem Ausgang zudrängte, sich Bahn machte, hörte er zu seinem Verdruß gar viele und angesehene Personen, welche erklärten, daß sie vollkommen überzeugt worden von der Heilung der Blinden, und daß sie keinem Zweifel mehr unterliegen könne, daß Mesmer ihr wirklich das Augenlicht wieder gegeben habe.
Die Katastrophe.
Erst nach stundenlangem Bemühen gelang es, Therese aus ihrer tiefen Ohnmacht zu erwecken; man hatte sie sanft auf den Divan ihres Zimmers gebettet, und ihre Mutter hatte leise weinend voll zärtlicher Sorge sich um sie beschäftigt, während ihr Vater mit grollenden Mienen, mit finstern Blicken neben dem Divan stand und das Erwachen Theresens erwartete.
Mit einem tiefen Seufzer schlug sie jetzt die Augen auf und blickte befremdet und verwundert umher. „Wo bin ich?“ flüsterte sie leise.
„Du bist in Deinem Zimmer, Du bist bei Deiner Mutter,“ rief ihre Mutter, sich über sie neigend, und ihr Antlitz mit Thränen und Küssen bedeckend.
„Nein, nein, ich bin im Concertsaal,“ flüsterte sie, matt und wie im Traum, „da sitzen sie Kopf an Kopf gedrängt und stieren mich an mit diesen kalten, neugierigen Dolchen, welche sie Augen nennen, und die meinem Herzen so wehe, ach, so wehe thaten. Da sitzen sie und klatschen in die Hände wie die Wilden aus kindischer Freude über die Thränen und Seufzer meiner Seele, welche sich zu Musik krystallisirten. Aber ich muß spielen, ich muß! Laßt mich los, ihre Augen sind auf mich gerichtet und höhnen mich! Läßt mich! Ich bin nicht mehr ohnmächtig! Laßt mich wieder zum Flügel gehen und spielen!“
Sie wollte sich aufrichten, aber ihr Vater drückte sie in die Kissen zurück. „Bleibe, mein armes Kind, bleibe,“ sagte er mit vor Rührung zitternder Stimme. „Du irrst Dich, Du bist nicht mehr im Concertsaal, und wenn Du sehen könntest, würdest Du erkennen, daß Deine Mutter Dich nicht täuscht, daß Du wirklich in Deinem Zimmer bist. Aber ach, mein armes Kind, es ist vergeblich, uns noch länger zu belügen, habe doch Vertrauen zu Deinen Eltern, gestehe es uns nur, Du hast, nur Mesmer zu gefallen, uns die Wahrheit verborgen, aber Du bist nicht geheilt, die Kur ist nicht gelungen, Du bist blind.“
„O, mein Gott, seine Worte und seine Stimme klingen wie Wahrheit, und doch weiß er, daß er eine Lüge spricht,“ rief sie mit durchdringendem Schmerzensschrei, indem sie mit unwiderstehlicher Gewalt sich von dem Divan aufrichtete, und gerade und frei sich ihren Eltern gegenüber stellte. „Ich weiß jetzt Alles, Alles,“ fuhr sie athemlos fort. „Die Ohnmacht hielt vorher noch meine Sinne gefangen, jetzt aber bin ich erwacht und sehe Alles! Ja, mein Vater, ich sehe! Ich sehe dort am Fenster die blühenden Topfgewächse, welche Mesmer mir gestern brachte, dort drüben steht mein Flügel und die schwarzen und weißen Tasten scheinen mir zu winken und mich zu sich zu rufen. Zwei aufgeschlagene Bücher liegen auf dem mit einem schweren bunten Teppich bedeckten Tisch, der in der Mitte des Zimmers steht, daneben liegen Zeichnungen, Malereien und Kupferstiche. O, mein Vater, sage, ob ich das Alles nicht richtig gesehen, und nicht richtig bezeichnet habe!“
„Du weißt, daß es so aussieht in Deinem Zimmer,“ sagte ihr Vater achselzuckend, „und deshalb ist Deine Schilderung richtig.“
„Und dann,“ fuhr sie athemlos fort, „dann sehe ich auch Euch Beide! Ich sehe das liebe, sanfte Antlitz meiner Mutter, welches mit zärtlicher Theilnahme mir zugewandt ist, und deren liebe, milde Augen um mich geweint haben! Ich sehe das strenge ernste Antlitz meines Vaters; dieselbe Wolke, welche schon im Concert seine Züge umdüsterte, lagert noch auf demselben, und es ist mir, als ob aus seinen Augen ein böser, fremder Dämon mich anschauete. Was ist das, mein Vater? Was hat Dich plötzlich so verändert und umgewandelt, daß Du Deine Therese nicht mehr liebst, daß Du ihr Verderben willst und ihr Glück verleugnest?“
„Ich will nicht länger das Spielwerk eines Betrügers sein,“ antwortete ihr Vater finster. „Ich will nicht, daß ganz Wien mich als einen gläubigen Narren verlache, der an die lächerlichen Wunderkuren des Herrn Mesmer glaubt, während alle Welt den Charlatan durchschaut. Ich will endlich den Muth haben, es laut zu bekennen, daß wir betrogen sind, daß Therese noch immer blind ist!“
Ein gellender Schmerzensschrei tönte von Theresens Lippen, ihre ganze Gestalt erbebte wie im Krampf des Schmerzes.
„Nein, es ist nicht wahr, ich bin nicht blind!“ rief sie außer sich. „O mein Gott, erbarme dich mein, sende mir Hülfe in meiner Noth! Ich bin allein, ganz allein, Mesmer, Mesmer –“
Auf einmal verstummte sie, und ihr Antlitz nahm einen freudigen Ausdruck an, ihre Wangen übergoß ein süßes Erröthen. Mit vorgebeugtem Kopf, die halb geöffneten Lippen von einem seligen Lächeln umspielt, die weit geöffneten strahlenden Augen der Thür zugewandt, schien sie zu horchen und auf ein kommendes Glück zu lauschen. Jetzt erbebte ihre ganze Gestalt, und wie durchschauert von Glück murmelte sie leise:
„Er kommt, er kommt!“
Die Thür ward hastig geöffnet und Mesmer’s hohe, gebieterische Gestalt erschien auf der Schwelle. Mit einem Freudenschrei flog Therese zu ihm, und mit glühender Gewalt seine beiden Hände ergreifend, zog sie ihn vorwärts.
„Kommen Sie, Meister,“ sagte sie athemlos. „Jetzt ist Alles gut, jetzt sind Sie da, und Niemand kann mir mehr etwas anhaben. Ihre Hände werden mich schützen, Ihr Arm wird mich aufrecht halten.“
Sie schmiegte sich an ihn und lächelte selig, als er sanft seinen Arm um sie legte, und dann mit seiner Rechten leise aber ihr Antlitz hin fuhr. Ihre großen Augen zu ihm aufschlagend, schaute sie tief in die seinigen, die fest auf ihr ruhten.
„Ich lese in Ihren Blicken, Meister, daß Sie nicht mit mir zufrieden sind?“ fragte sie angstvoll. „Ja, Sie zürnen mir, weil ich mich heute im Concert so kindisch und ungeschickt benahm. Ich weiß es wohl, Meister, es war thöricht und linkisch, aber wie ich den Saal durchschritt und plötzlich ausschauend diese vielen Köpfe erblickte, diese vielen neugierigen, feindlichen Gesichter, diese Blicke, die wie Nadelstiche meine ganze Gestalt verwundeten, da kam die alte Angst wieder über mich und das Entsetzen vor den Menschengesichtern, und da schien es mir wieder, wie ich vorwärts schritt, als ob die Wände mir entgegen kämen, um über mir zusammenzustürzen, und ich konnte nicht vorwärts, denn ich fürchtete den Tod.“
„Und was war es, was Sie im Spiel auf einmal beunruhigte?“ fragte Mesmer sanft.
„O, das war wieder kindisch,“ sagte sie lächelnd. „Ich kann es immer noch nicht lernen, von den Noten zu spielen und dann wieder meine fliegenden, zappelnden Finger zu sehen. Das verwirrt mich, das macht mich befangen, die Noten und die Finger hüpfen dann wie im wilden Tanze durcheinander, und ich weiß nicht mehr, was ich spiele und was ich sehe.“
„Und das Alles ist so natürlich und so wahr,“ sagte Mesmer traurig, „denn auch das Sehen hat seine Sprache und die müssen Sie erst lernen! Aber man wird Ihnen keine Zeit dazu lassen, armes Kind, man wird Sie wieder hinein zwingen in die Nacht und das Schweigen, meine arme Therese!“
Sie warf ihre beiden Arme um seinen Nacken, und hielt sich krampfhaft fest an seiner hohen Gestalt. „Retten Sie mich, Meister, retten Sie mich!“ rief sie flehend.
Er neigte sich über sie und streichelte ihr Haar, und ließ seine strahlenden Blicke lange auf ihrem Antlitz ruhen.
An der andern Seite des Zimmers stand Herr von Paradies und neben ihm seine Gattin, welche in tiefer Bewegung ihrer Tochter zugehört hatte, und jetzt leise ihre Hand auf ihres Gatten Arm legte.
„Sage mir, was dies Alles zu bedeuten hat?“ flüsterte sie leise. „Was quälst und marterst Du die Arme so sehr? Was leugnest Du auf einmal, daß sie sehen kann, da Du doch –“
„Still,“ unterbrach sie ihr Mann leise. „Höre nur dies, wenn Therese nicht mehr blind ist, werden wir die kaiserliche Pension verlieren, und können mit unsern Kindern betteln gehen!“
„Ach, arme Therese,“ flüsterte seine Frau tief aufathmend. „Arme Therese, jetzt weiß ich Alles! Du wirst blind bleiben müssen Dein Leben lang.“
„Ich bin gekommen zu Ihrer Hülfe, Therese,“ sagte Mesmer jetzt, nachdem Therese von seiner Hand beschwichtigt, wieder still [339] und sanft geworden war. „Ich weiß Alles, was hier vorgeht,“ fuhr er fort, seine zürnenden Blicke auf Theresens Eltern heftend. „Sie wollen dieses arme Kind wieder zurückstoßen in ihre Nacht. Aber so schnell soll es Ihnen nicht gelingen. Meine Ehre, mein Name, meine Zukunft und das System einer neuen Wissenschaft, deren Vertreter ich bin, steht auf dem Spiel. Ich werde für Therese und für mich selber kämpfen gegen Ihre Grausamkeit. Sie wissen es, daß diese Aufregungen, diese Kämpfe geeignet sind, Therese wieder blind zu machen, und Sie werden sie doch nicht schonen! Ich bin also gekommen, sie von hier fortzuführen, und sie mit mir in meine Villa zu nehmen zu meinen andern Kranken. O, seien Sie ruhig. Niemand wird dabei etwas Anstößiges finden, denn Therese wird da sein unter dem Schutz meiner Frau, der ich heute zum ersten Mal vergebe, daß sie meine Frau ist, denn sie macht es mir möglich, Therese zu beschützen und über ihr zu wachen, auf daß sie vollständig gesunde. Therese, mein Wagen wartet vor Ihrer Thür. Sind Sie bereit, mit mir zu gehen und bei mir zu bleiben, bis Ihre Kur vollendet ist und Ihre Augen stark genug sind, um das Weinen und die Menschengesichter vertragen zu können?“
„Aber ich werde es nicht dulden!“ sagte ihr Vater, heftig näher schreitend. „Therese ist meine Tochter, und Niemand als ich allein hat zu entscheiden, was mit ihr geschehen soll. Therese verläßt mein Haus nicht, sie bleibt unter dem Schutze ihrer Eltern!“
„Sie geht mit mir!“ sagte Mesmer mit einer Stimme, welche mächtig war wie Donner. „Ihr habt sie in meine Kur gegeben, und so lange sie krank ist, gehört sie ihrem Arzte. Komm Therese, ich trage Dich zum Wagen!“
Leicht wie eine Feder hob er sie empor, und wandte sich mit ihr der Thür zu. Mit einem Ausruf des Zornes stürzte Herr von Paradies ihm nach, während seine Frau zur Erde niedergesunken war und betete.
Wie Mesmer eben die Thür öffnen wollte, stand Herr von Paradies vor derselben, und deckte mit seinem Rücken den Ausgang.
„Lassen Sie uns gehen!“ rief Mesmer glühend und mit flammenden Blicken.
„Gehen Sie, aber lassen sie meine Tochter hier!“
„Nein, sie geht mit mir! Ihr sollt sie nicht wieder blind machen!“
Er suchte mit dem rechten Arm, welchen er frei hatte, während Therese in seinem linken Arm ruhte, Herrn von Paradies von der Thür fortzudrängen. Als dieser sich widersetzte, drang ein wildes, spöttisches Lachen von Mesmer’s Lippen, die Riesengestalt richtete sich in ihrer ganzen Größe auf, sein starker, muskelkräftiger Arm hob die kleine zierliche Gestalt des Herrn von Paradies empor, und schleuderte sie weit hinein in das Zimmer.
„Lebt wohl und fürchtet nichts,“ rief er mit lauter Stimme, „Therese bleibt bei mir! Aber noch ist Euere Pension nicht verloren, noch könnt Ihr ja sagen, daß sie blind ist, denn ich nehme sie mit mir, um sie zu heilen!“
Aber alle Bemühungen und Kämpfe Mesmer’s waren vergeblich.
Das Schreckbild der gefährdeten Pension machte Herrn von Paradies grausam und unempfindlich gegen die Thränen seiner Tochter, gegen die Versicherungen Mesmer’s, daß er Therese für immer zu heilen im Stande sei, wenn man sie nur noch einige Zeit seiner Pflege und Aufsicht anvertrauen wollte.
Herr von Paradies hatte kein Mitleid mehr, Therese mußte durchaus blind bleiben, damit ihre Eltern den Genuß der Pension behielten. Er jammerte und klagte laut in ganz Wien, daß Mesmer ihm seine Tochter geraubt habe und sie ihm vorenthalte; bald nahm ein Theil des Publikums Partei für ihn, und suchte Alles in Bewegung zu setzen, um dem unglücklichen und zärtlichen Vater wieder zum Besitz seines geliebten Kindes zu verhelfen. Herr von Störk, der Leibarzt der Kaiserin, wußte endlich, gedrängt von den Aerzten und den Gönnern des Herrn von Paradies, einen kaiserlichen Befehl zu erwirken, dem gemäß Mesmer das Fräulein Therese von Paradies wieder ihrem Vater übergeben sollte.
Mit diesem schriftlichen Befehl begab sich Herr von Paradies in Begleitung seiner Frau in das von Mesmer bewohnte und ihm gehörige Haus, und forderte seine Tochter zurück. – Eine herzzerreißende Scene war die Folge davon. Therese in Thränen zerfließend, warf sich ihrem Vater zu Füßen, und flehte um Gnade, und schwur, daß sie wirklich sehen könne, wirklich geheilt sei! Als er unempfindlich blieb gegen ihr Flehen, rettete sie sich in Mesmer’s Arme.
„Ihr Vater“, erzählt Mesmer selbst, „wollte sie mit Gewalt wegnehmen und drang mit dem Degen in der Faust wie ein Rasender auf mich ein. Man entwaffnete diesen Wüthenden, aber Mutter und Tochter fielen mir ohnmächtig vor die Füße, die erstere vor Zorn und Schmerz, die letztere, weil sie ihr barbarischer Vater mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen hatte. Die Mutter erwachte bald wieder, aber wegen des Schicksals der Tochter blieb ich in der äußersten Unruhe; sie fiel immer wieder in Convulsionen und Rasereien, ja sie wurde auf’s Neue blind! Ich besorgte, es möchte ihr das Leben, wenigstens die Vernunft kosten, dachte an keine Rache, vernachlässigte alle rechtlichen Mittel und suchte blos die Unglückliche, welche in meinem Hause geblieben war, zu retten.“[7]
Indeß dies Bemühen Mesmer’s war vergeblich. Herr von Paradies kehrte mit dem verschärften Befehl, ihm Therese auszuliefern, wieder, und das unglückliche Mädchen mußte gehorchen.
Von nun an war und blieb sie blind, denn Mesmer war nicht mehr da, ihre gläubigen Augen sehend zu machen, und mit dem Lichte seiner Augen die Nacht der ihren zu durchbrechen. Er verließ Wien, in welchem er so vielfache Verfolgungen erduldet hatte, und wandte sich nach Paris.
Professor Barth und Doctor Ingenhaus triumphirten. Therese von Paradies blieb blind und gab als Blinde noch viele Concerte. Ob sie jemals sehend gewesen, ob ihre ganze Heilung nur eine Mystification Mesmer’s gewesen? das ist eine Frage, die niemals entschieden worden. Denn noch jetzt, wie damals, läugnen es die Männer der Wissenschaft, beschwören es die gläubigen Mesmerianer. [8]
- ↑ Mesmer war geboren den 23. Mai 1734 in Iznang unweit Constanz.
- ↑ Mesmer’s eigene Worte. Siehe Franz Anton Mesmer aus Schwaben. Von Dr. Justinus Kerner. S. 58.
- ↑ Alle diese Reden enthalten Mesmer’s eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 60.
- ↑ Es geschah sehr häufig, daß Damen, ja, sogar auch Herren in Ohnmacht fielen, wenn Mesmer auf der Glasharmonika spielte. Siehe Justinus Kerner. S. 42.
- ↑ Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
- ↑ Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
- ↑ Kerner: Franz Anton Mesmer S. 70.
- ↑ Wie weit Mesmer, der Erfinder des thierischen Magnetismus, ein Mann der Wissenschaft war, wie weit er just in diesem historisch-wahren Falle operativ zu Werke ging, um dann mit dem Ergebniß seiner wunderbaren Kraft zu prahlen, ob er selbst an seine Kraft glaubte oder nur ein gewöhnlicher Charlatan war, ob Therese überhaupt jemals sehend gewesen oder nicht – das zu untersuchen liegt nicht im Bereiche der Novellistik, deren Aufgabe es hauptsächlich mit ist, den Helden der Erzählung möglichst interessant hinzustellen. Ob dies der talentvollen Verfasserin gelungen, mögen unsere Leser selbst entscheiden. Was den thierischen Magnetismus selbst betrifft, so verweisen wir auf Gartenlaube Nr. 32. Jahrg. 1854.Die Redaktion.