Mosigkau und Adelaide

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Autor: J. M.
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Titel: Mosigkau und Adelaide
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 12, 14–15
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Mosigkau und Adelaide.

Wer wüßte nicht vom alten Dessauer und kennte nicht wenigstens einzelne Züge aus seinem Leben als Held und Mensch? Der populäre „alte Schnurrbart“, für dessen lebhaftes und stürmisches Temperament sich selbst der rührendste Choral unserer Kirchenmusik in den Dessauer Marsch umwandeln, und jeder Kirchenliedertext, mochte er nun: „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern“, „Alle Menschen müssen sterben“, oder gar „O Haupt voll Blut und Wunden“ – lauten, sich der Marschmelodie anschmiegen mußte, die unbekümmert um Orgel und Gemeinde im tiefen Basse ertönte; dieser neben dem alten Fritzen und dem alten Blücher fortlebende Volksheld ist zugleich der Held verschiedener epischer und dramatischer Dichtungen geworden und im deutschen Volke eine stets willkommene Figur. Wie viele haben sich an seinem Heldenthum begeistert; wie viele wieder mit ihm für die schöne Apothekerstochter Anna Louise Föhse geschwärmt, die der Kaiser, nachdem Fürst Leopold sie „ohne jegliche adelige Zuthat“ zum Altare geführt hatte, schließlich nothgedrungen in des Reiches Fürstenstand erhob, um den Skandal, daß das Haus Dessau sich mit seinem Volke vermähle, zu mindern, weil es denn doch nicht gelang, den jungen Eisenkopf von einem einmal festgefaßten Entschlusse abzubringen. Und hat Fürst Leopold von Dessau wohl seine Wahl bereuen dürfen? Sein musterhaftes, biederes, echt deutsches Familienleben spricht dagegen, derb ging es zuweilen bei dem Alten her, aber nicht minder herzlich, und als die Annalise im Februar 1745 das Zeitliche segnete, da war Leopolds Schmerz wild und ungestüm. Der rauhe Krieger weinte wie ein Kind, und diese Thränen gaben das herrlichste Zeugniß für das fromme und musterhafte Leben dieser Tochter aus dem Volke.

Nicht minder groß und schön äußerten sich Leopold’s menschliche Eigenschaften in der Liebe zu seinen Kindern. Seine fünf Söhne bildeten seinen Stolz, die Töchter seine Freude und den Gegenstand seiner steten, rührenden Sorgfalt. Als seine Tochter Louise, die regierende Fürstin von Bernburg, im Jahre 1732 tödtlich erkrankt war und den einzigen Wunsch laut werden ließ, den geliebten Vater noch einmal an der Spitze seines Regimentes zu sehen, da beeilte sich Leopold, dieses Verlangen einer echten Soldatentochter zu erfüllen. An der Spitze seiner braven Grenadiere marschirte er von Halle nach Bernburg und stellte sie daselbst im Schloßhofe auf. Da erschien am Fenster droben die todtkranke bleiche Fürstin, deren Anblick des rauhen Kriegers Vaterherz zerriß. Schluchzend commandirte er zu den Uebungen des Regimentes, denen die Fürstin vom Fenster aus zusah. Als nachher die ermüdeten Soldaten bewirthet wurden, da vermochte der gebeugte Leopold es nicht zu seinem kranken Kinde hinaufzugehen, sondern er setzte sich allein auf das Geländer der Saalbrücke, um sich auszuweinen. Da betete er denn auch nach seiner Weise, aber gewiß aus Herzensgrunde: „Lieber Gott, ich bin kein solcher Lump, der Dir bei jeder Hundsfötterei beschwerlich fällt; ich komme nicht oft und will auch sobald nicht wiederkommen, aber nur diesmal hilf mir und laß mein armes Kind gesund werden ...“ Leopold mußte die Tochter nach wenigen Tagen sterben sehen und marschirte mit seinen Soldaten, ernst und schweigend, wie in einem Leichenzuge, nach Halle zurück.

Auch seinen Erbprinzen Wilhelm Gustav verlor der alte Dessauer im Jahre 1738 durch den Tod. Die Geschichtsbücher lehren uns „unvermählt und unbeerbt“, allein mit Unrecht. Der Erbprinz war in des Vaters Fußstapfen getreten und hatte Herz und Hand einer Tochter aus dem Volke, der Brauerstochter Sophie Herre, geschenkt. Der Prinz mochte Ursache haben, bei dem Alten für seinen Thronfolger nicht mehr dieselben Ansichten herrschend zu finden, denen derselbe für sich mit seinem Eisenkopfe Geltung verschafft hatte, denn er breitete über seine Verheirathung, über seine Frau und Kinder den Schleier strengsten Geheimnisses. Erst als der alte Dessauer erschüttert am Sterbebette seines Erbprinzen stand, entdeckte dieser ihm das Geschehene und empfahl seine Wittwe und Waisen der Sorge und Verzeihung des Vaters, der sie in schmerzlicher Rührung zusagte. Er hat auch Wort gehalten, denn er erkannte die Ehe an und ernannte die Wittwe seines Sohnes und seine Enkel zu Grafen und Gräfinnen von Anhalt.

Doch zurück zu noch früheren glücklicheren Zeiten, ehe der Tod dem Fürsten Leopold so tiefe Wunden schlug.

Es war an einem schönen Herbsttage, als die Fürstin Anna Louise mit ihrem Töchterchen Wilhelmine an einem Fenster des Schlosses in Dessau stand und der Heimkehr des Fürsten von der Jagd wartete. Leopold pflegte von der Jagd stets einen Wolfshunger mitzubringen, und die Fürstin ließ bereits einen tüchtigen Imbiß bereit halten, weil Geduld bekanntlich nicht zu Leopold’s Haupttugenden gehörte. Endlich wirbelten die Trommeln und der Fürst fuhr in den Schloßhof. Die junge Prinzessin enteilte der Mutter und lief dem Vater in den Schloßhof entgegen, wo er eben noch Befehle ertheilte.

Fürst Leopold hatte eine gute Jagd gemacht und war wohlgelaunt und in froher Stimmung, wie selten. Seinen Jägerhut zierte ein Eichenzweig, der noch im prächtigsten Grün schimmerte. Seine Augen leuchteten auf, als er das liebliche Kind erblickte, das ihm froh entgegenhüpfte.

„Ach liebes Väterchen,“ rief die Prinzessin, „wie spät kommst Du heim und wie ermüdet wirst Du sein! Die Mutter wartet schon auf Dich mit dem Imbiß!“

„Ei,“ sagte der Alte guter Dinge und beugte sich zärtlich zu dem Kinde nieder, „der wird jetzt um so besser munden, und er ist auch ehrlich verdient worden.“

„Väterchen, der schöne Zweig, wie schön! O, schenke mir den Zweig!“ bat das Kind, das jetzt den nickenden Eichenzweig auf des Fürsten Hut gewahrte.

„Den Zweig – ja so, recht gern, mein Kind,“ sagte der Vater voll seltener Milde, indem er den grünen Schmuck vom Hute nahm; „doch was willst Du mit dem Zweige allein, der morgen verwelkt ist? Ich schenke Dir Mosigkau dazu, mein Freigut, das soll Dir eine Erinnerung sein an den heutigen glücklichen Waidmannstag.“ ...

Die kleine Prinzessin freute sich an jenem glücklichen Tage des Eichenzweiges, des Spielwerks, mehr, als des fürstlichen Geschenkes, dessen Werth sie noch nicht begriff. Tauschte doch ein glückliches Kindergemüth, das jeden Werth nach seinem Vergnügen daran zu berechnen pflegt, wohl gern jedes Freigut für ein begehrtes Spielwerk aus! Aber Prinzessin Wilhelmine wuchs zur Jungfrau empor und lernte das kostbare Geschenk des Vaters schätzen. Gern und oft weilte sie später in Mosigkau und ließ es freigebig verschönen. Eine starke Stunde von Dessau liegt das freundliche Dorf in einer moosigen Aue, von welcher es den Namen empfing, so recht geschaffen zum stillen Asyle.

Da Prinzessin Wilhelmine unvermählt blieb, wohl aber den Beruf in sich fühlte, noch etwas mehr zu thun, als blos eine Prinzessin, welche ihren Stand repräsentirt, darzustellen, so ließ sie in Mosigkau einen parkartigen Garten anlegen und denselben mit einem Schlosse krönen, welches man anfänglich für ein Lustschloß hielt. Nach Vollendung dieser Anlagen gründete sie in Mosigkau ein Stift für unverheiratete Damen adeligen Standes. Sechs Kanonissinnen und eine Aebtissin erhielten Schloß und Garten zu ihrer Verfügung und fanden auch für ihre sonstigen Bedürfnisse eine anständige Versorgung. An den sogenannten Capiteltagen tragen die Stiftsdamen den Orden der Stiftung: am blauen Bande den silbernen Stern mit einem Eichenzweige. Auch das Siegel der Stiftung, mit welchem mancher Act stiller Wohlthätigkeit versiegelt wird, erinnert durch den Eichenzweig an den glücklichen Waidmannstag und das Geschenk des Fürsten Leopold, durch welche der Grund zu einer wohlthätig wirkenden Stiftung gelegt worden ist.

Prinzessin Wilhelmine hing mit Liebe an ihrer Stiftung und pflegte sie wie ein Kind. Sie selbst blieb die Protectorin derselben und weilte gern in ihren Räumen, die sie ihr Leben lang schmückte und verschönte. Werthvolle Oelgemälde und andere Kunstwerke schmückten den Saal des Schlosses, dessen Thüren in den mit reicher Orangerie ausgestatteten Garten führen, und das neben ihm gelegene Capitelzimmer, in welchem auch ein lebensgroßes Oelbild der Gründerin selbst Aufnahme fand; und ringsum an den Wänden kann man noch heute die kunstvoll gearbeiteten Lehnstühle bewundern, welche Prinzessin Wilhelmine damals mit ihren Damen unter ernsten und heiteren Gesprächen gestickt hat, bis der Tod der Prinzessin dieses schöne Verhältniß löste. ...

Allein die Zukunft ihrer Stiftung war von ihr glänzend gesichert [14] worden. Außer dem Freigute Mosigkau selbst hatte die Prinzessin noch mehrere Güter in Anhalt, und ein Capital in Geld als Stiftsvermögen festgestellt. Dadurch ist es gekommen, daß die Stiftung nicht nur bis heute fortblüht, sondern daß sogar die Zahl der Kanonissinnen beträchtlich vermehrt werden konnte.

Die Prinzessin selbst hatte noch vor ihrem Tode eine Nachfolgerin als erste Aebtissin von Mosigkau ernannt und ihre Nichte, die älteste Tochter des verstorbenen Erbprinzen Wilhelm Gustav und seiner morganatisch angetrauten Frau, die Gräfin Sophie von Anhalt, dazu erwählt. –

Mehr als dreißig Jahre im neuen Jahrhundert sind vergangen, da treten wir wiederum in das Fräuleinstift zu Mosigkau. Die Schöpfung der Fürstin blüht so ziemlich unverändert im sechsten Jahrzehnte – nur die Personen darin sind andere geworden und genießen ihre Segnungen.

In dem mit einer Allee aus Orangenbäumen besetzten Hauptwege des Schloßgartens lustwandelte an einem Herbstnachmittage eine Dame, deren schwarzes Haar und feine Züge ihr Alter von sechszig Jahren zu verneinen schienen. Sie sah überhaupt wie eine Erscheinung aus einem andern Zeitalter aus. Ihr schwarzes Kleid trug den Schnitt des vorigen Jahrhunderts, nicht minder der schwarze Ueberwurf, den die behandschuhte Rechte leicht zusammenhielt. Ein blauer Hut in seltsam alterthümlicher Form mit wogender blauer Feder bedeckte, etwas nach links geneigt, das dunkle Haar und gab der Trägerin ein halb malerisches, halb phantastisches Ansehen, das gar sehr verschieden war von den Moden dieser Zeit.

Doch die Dame wußte dieses entweder gar nicht oder kümmerte sich nicht darum. Stolz und hoch aufgerichtet schritt sie auf dem mit feinem Kiese bedeckten Wege hin und her, erwiderte freundlich die ehrfurchtsvollen Grüße der Dorfbewohner, welche zum Schlosse gingen oder aus ihm kamen, und zog sich endlich ermüdet in einen kleinen Pavillon japanischen Styles zurück, um auf bereitem Ruhesitze zu rasten.

Auch Bücher lagen darin zur Lectüre bereit. Die Dame ergriff eines derselben auf’s Gerathewohl und blätterte darin – es war „Götz von Berlichingen“. Aber sie las nur wenige Zeilen, da sanken ihr Hand und Buch nieder und ihre Augen schienen in das Unendliche zu schweifen. Die Goethe’sche Dichtung hatte schöne, heilige Erinnerungen in ihr wachgerufen. Kaum zehn Jahre war es her, seit ihr jugendlicher Freund Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, mit diesem selben Buche in der Hand vor ihr gesessen und ihr die Dichtung des Altmeisters vorgelesen hatte. Und wie hatte er sie gelesen! Das war nicht Lesen mehr, das war ein Mitleben gewesen – bei der Schlußscene waren Thränen seinen Augen entstürzt und seine Stimme war gebrochen. … So hatten sie einen heilig schönen Augenblick gefeiert! Wie hatte sie diesen jungen Dichter verehrt, und nun lag er mit gebrochenem Herzen schon fast ein Jahrzehnt in der Gruft, während sie, die ältere Freundin, welche gehofft hatte, dereinst von ihm betrauert zu werden, noch immer lebte, einsamer als jemals. Auch ein anderer Dichter, ein Freund von ehemals, o damals mehr als Freund! war Jenem nach wenigen Jahren gefolgt, und nur sie lebte immer noch. Was sollte sie noch allein auf Erden? War es denn nicht genug der Sühne, daß sie jetzt seit beinah vierzig Jahren in diesem Stifte weilte? – Doch, sie durfte ja noch einen Beruf erfüllen. Die Wahl des Ordenscapitels zur Aebtissin hatte sie kürzlich aus ihrer abgeschlossenen Einsamkeit herausgerissen. Sie war zwar überrascht, daß man ihren Jahren noch diese Bürde auferlegen wollte, aber sie nahm sie an mit den Worten: „Ich hatte mit der Welt abgeschlossen; nun aber tritt mir unerwartet dieser Beruf entgegen. Ich sehe ihn als einen Beruf von oben an.“ ...

Am Ausgange des Schloßgartens hielt ein Wagen still. Herrschaftliche Diener öffneten den Wagenschlag und halfen einem Paare beim Aussteigen. Es war ein stattlicher Herr in den besten Mannesjahren und von höchst distinguirtem Aeußern mit einer jungen und reizenden Dame. Der Herr winkte dem Diener, bei dem Wagen zu bleiben, der auf der Dorfstraße weiter fuhr, und trat mit seiner Begleiterin in den Garten.

Wer war das stattliche Paar, das hier in der Einsamkeit lustwandelte, das aber wohl geeignet gewesen wäre, selbst in dem glänzendsten Salon Aufsehen zu erregen?

Es war ein drittes Ehepaar aus dem fürstlichen Hause Anhalt, welches nur die Liebe, nicht aber die Gleichheit des Standes mit einander verbunden hatte. Prinz Georg von Dessau, der Bruder des regierenden Herzogs, hatte sich mit dem schönen Fräulein von Erdmannsdorf verbunden, welche vom Herzoge zur Gräfin von Reina ernannt wurde. Weniger nachsichtig als ihr Gemahl, der nicht vergessen hatte, daß seine Urgroßmutter die Tochter eines Apothekers gewesen war, zeigte sich die Herzogin Friederike, eine königliche Prinzessin von Preußen. Fräulein von Erdmannsdorff war vorher Kammerdame der Herzogin gewesen, und diese soll von einer Ohnmacht überrascht worden sein bei der Kunde, daß sie die seitherige Kammerdame in Zukunft als ihre Schwägerin zu begrüßen hätte. …

Die neue Gräfin Reina sollte es bald erkennen müssen, welches Opfer sie gebracht hatte, als sie die Liebe des Prinzen erhörte und seine Hand annahm. Nur diese Liebe ihres Gemahls eben versüßte ihr Alles – der Prinz bewies sich ihres Opfers würdig. Die Tafel seines herzoglichen Bruders stand dem Prinzen offen, allein der Gräfin nicht, und er hat sie nicht mehr besucht; die herzogliche Loge des Hoftheaters erschloß sich dem Bruder des Herzogs, aber nicht seiner Gemahlin: Prinz Georg miethete sich eine Privatloge, in welcher er fortan mit seinem geliebten Weibe zu sitzen pflegte, bis er endlich dieses Etikettentrödels überdrüssig wurde und seinen Wohnsitz in Dresden aufschlug, wo er erst vor wenigen Jahren gestorben ist.

Zu der Zeit, von welcher hier die Rede ist, lebte das Paar noch in Dessau, brachte aber wöchentlich mehrere Nachmittage in Mosigkau zu, wo der Prinz und seine Gemahlin an der Aebtissin eine treue Freundin besaßen.

Diese verließ den japanischen Pavillon, als sie die erwarteten Gäste des Weges daherkommen sah, und ging ihnen entgegen.

Wie seltsam nahm sich die ganze Erscheinung der Aebtissin neben der modernen Gräfin aus, wie wenn zwei Jahrhunderte neben einander gestellt worden wären! Es blieb den Bewohnern von Mosigkau kaum zu verdenken, wenn sie die Aebtissin, welche ihnen so treue Fürsorge weihte, trotzdem eine alte wunderliche Dame nannten, die sich wegen einer unglücklichen Liebe allerlei Sonderbares in den Kopf gesetzt hätte. Die Masse entscheidet ja immer nach dem, was sie gerade sieht.

„Frau Aebtissin,“ rief der Prinz ihr begrüßend zu, „wir kommen pünktlich, wie Sie es gefordert. Doch welche Ueberraschung bereiten Sie uns heute! Ein Concert in Mosigkau! Wollen Sie die schönen alten Zeiten wieder heraufzaubern, da nicht nur die Verbannten des Dessauer Hofes, sondern der Hof selbst öfter hierher kam und dort drüben im Theater mit seinen natürlichen Waldcoulissen die Stiftsdamen und die Cavaliere des Hofes Komödie spielten?“

„Wobei Sie stets eine tüchtige Actrice gewesen sein sollen!“ fügte die Gräfin hinzu.

Die Aebtissin schüttelte leicht das Haupt, während ein kurzes Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge flog, geweckt von freundlichen Erinnerungen.

„O nein,“ sagte sie dann, „lassen wir das Vergangene vergangen sein. Mein Concert gilt einem besondern Zwecke. Sie wissen, daß wir einmal im Jahre, am zweiten April, den Todestag der hohen Gründerin unseres Stifts, durch einen Privatgottesdienst im Saale des Schlosses feiern. Ich habe ihn ziemlich vierzig Male mitgefeiert und jedesmal den Klang der Orgel schmerzlich vermißt. Mein Concert gilt der Einweihung eines Orgel-Positivs, welches in Zukunft diesen Mangel ersetzen soll.“

Der Prinz und seine Gemahlin freuten sich dieses schönen Gedankens und wandelten mit der Aebtissin langsam dem Schlosse zu, wobei diese ihnen noch mittheilte, daß noch verschiedene Gäste als Zuhörer und als ausübende Künstler erwartet würden.

Sie schritten durch den freundlichen, blumengeschmückten Saal mit seiner reichen Sammlung von Oelgemälden hindurch, die Treppen empor, nach der Wohnung der Aebtissin. In einem Vorzimmer hing, gerade über der Eingangsthür zum Zimmer, ein Portrait des Dichters Matthisson in Oel gemalt. Wie gewöhnlich, wenn sie dieses Gemach durchschritt, ruhte der Blick der Aebtissin einen Augenblick lang auf des Dichters sanften edlen Zügen … durch die geöffnete Thür traten sie in ihr „Heidenthum“.

So nämlich nannte sie das erste ihrer beiden Wohnzimmer. Die Verzierungen desselben mahnten wirklich an das classische Heidenthum. Wo es der Geschmack erlaubte, da waren Nachbildungen der classischen Plastik aufgestellt worden. Dort rechts ein ägyptischer Apisdienst, links eine klagende Niobe, weiter ein [15] Amor mit Psyche, ein Prometheus etc. Die Flügelthüren zum zweiten Zimmer standen stets geöffnet, und eine halbhohe Gitterthür mit vergoldeten Spitzen, die von lebendigem Epheu umrankt wurde, diente mehr als Grenzzierde, denn als Verschluß.

Im zweiten Zimmer betrat man das „Christenthum“ der Aebtissin. Doch schmückten dasselbe nicht nur ein schönes Christusbild und mehrere Scenen aus der heiligen Geschichte, sondern auch die Portraits von Schiller und Goethe. In der Mitte des Gemaches standen zwei weiße Säulen, zwischen ihnen ein Ruhesopha. Aus den Fenstern genoß man einen anmuthigen Blick über den Schloßgarten, der dieses Zimmer besonders verschönte.

Am Abend versammelte sich eine zahlreiche Gesellschaft im Bildersaale des Schlosses. Außer den Stiftsdamen waren von der Aebtissin Gäste aus Mosigkau, der Umgegend und aus der Residenz zu dem Concerte eingeladen worden, mit welchem das neue Orgel-Positiv der Stiftung eingeweiht werden sollte. Nachdem die Aebtissin und ihre prinzlichen Gäste erschienen waren und im Vordergrunde Platz genommen hatten, wurde die Thür zum Capitelzimmer geöffnet und das unter derselben aufgestellte Positiv ward sichtbar. Der Lehrer des Ortes eröffnete das Concert mit einem Präludium und Choral auf demselben.

Dann folgten weitere Vorträge eingeladener Künstler. Concertmeister Haase aus Dresden ließ seine Violine mit Meisterschaft erklingen, die Opernsänger Krüger und Diedicke aus Dessau reihten Gesangsvorträge an. Letzterer hatte die letzte Nummer des Programms und fand rauschenden Beifall. Er verbeugte sich, bereit, noch einen Vortrag anzureihen. Plötzlich ertönten, der Aebtissin unerwartet, wohlbekannte, doch seit vielen, vielen Jahren verklungene Accorde – mit Beethoven’s bezaubernder Musik sang Diedicke’s schmelzender Tenor die Adelaide von Matthisson. Eine fast unheimliche Stille, wie Schwüle vor dem Gewitter, breitete sich über den Saal – unwillkürlich eilten die Blicke Aller zu der Aebtissin hin, die still, mit leise vorgeneigtem Haupte dasaß, ganz in die Töne versunken. In die Töne nur?

„Einst, o Wunder! erblüht auf meinem Grabe
Eine Blume der Asche meines Herzens;
Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:
 Adelaide.“

Die Töne verklangen – es blieb ringsum feierliche Stille. Selbst der Sänger wich nicht vom Platze, obgleich das Concert beendigt war. Die Aebtissin schien ganz in sich zusammengesunken, in Erinnerungen verloren. Die Anwesenden ehrten still den heiligen Tempeldienst eines Herzens. Endlich richtete sie sich empor – und das Leben erwachte wieder. Ihre Züge trugen den Ausdruck seelischer Heiterkeit, seligen Friedens. Mit bewegter Stimme dankte sie dem Sänger, der ihr eine Ueberraschung bereitet hatte, die tief in die heiligsten Erinnerungen ihres Herzens griffe. Und welche Erinnerungen waren dies, und wer war die Dame? – Die alte Aebtissin selbst war die von Dichter und Componist so unsterblich verherrlichte, sie war einst in der Jugend Glück und Schönheit die angebetete Adelaide!

Wir stehen vor einem kleinen, aber tieferschütternden Drama. Im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts bekleidete Friedrich Matthisson, der vorher Lehrer am Basedow’schen Philanthropin gewesen war, bei der geistvollen Fürstin Louise von Dessau die Stellung als Vorleser und Reisebegleiter. Auf einer Reise nach Süddeutschland und der Schweiz befand sich auch das siebenzehnjährige Fräulein Annette von Glafey im Gefolge der Fürstin. Auf dieser Reise lernten Matthisson und Annette sich kennen und lieben. Wohl um den Adel der Geliebten in ihre Verherrlichung zu verflechten, las er aus ihrem Namen den poetischen „Adelaide“ heraus, und so wurden unter diesem ihr von nun an die Liebesblüthen des Dichters geweiht. Allein der Adel seiner Adelaide, mit welchem Matthisson also poetisch gespielt hatte, sollte bei ihrer Rückkehr in die Heimath sehr prosaisch zwischen die beiden Herzen treten. Die Liebe seiner hochgebornen Tochter zu einem gewöhnlichen bürgerlichen Pfarrerssohn, wie Matthisson, empörte den Stolz des Herrn Hofmarschalls von Glafey. „Eine standesgemäße Heirath oder Eintritt in das Fräuleinstift zu Mosigkau,“ so hieß die Alternative, welche Annetten von ihm gestellt wurde. Annette wählte das Letztere. Sie begrub ihre Liebe in der Einsamkeit von Mosigkau, um sie nicht verrathen zu müssen, denn den Schatz ihrer Erinnerungen konnte man ihr so nicht rauben, den durfte sie mit sich nehmen in ihr klösterliches Dasein. Sie hoffte auf eine baldige Erlösung durch den Tod; aber man stirbt leider nicht schnell am gebrochenen Herzen, das sollte auch sie erfahren. Sie lebte und lebte von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Alles sah sie um sich her in die Gruft sinken – auch den geliebten Freund, der lange Zeit in Württemberg gelebt hatte, dessen König ihn in den Adelstand erhob, bis er sein treues Weib verlor und in Wörlitz, wenige Stunden von Mosigkau, seinen Lebensabend verlebte und an einem Märztage 1831 die müden Augen für immer schloß.

Annette von Glafey lebte noch immer. Ein paar Jahre später wurde sie, die fast Sechszigjährige, zur Aebtissin gewählt. Tausende und aber Tausende empfindsamer Herzen sangen Matthisson’s und Beethoven’s Adelaide, ohne zu ahnen, daß diejenige, der einstmals diese süße Liebesklage des deutschen Dichters erklungen war, noch in dem unbekannten Stifte zu Mosigkau als Greisin weile. Endlich, nach einem klösterlichen Leben von mehr als sechszig Jahren, nahte auch der achtzigjährigen Aebtissin der erlösende Engel mit der umgestürzten Fackel am 4. Mai 1858. In feierlichem Zuge wurde die Leiche von Mosigkau nach Dessau übergeführt, um in der Familiengruft beigesetzt zu werden. Die Glocken läuteten in den Dörfern, durch welche der Trauerzug sich bewegte; der wohlthätigen Aebtissin von Mosigkau folgte die Theilnahme der Bevölkerung, flossen die Thränen der Armuth nach – aber nur wenige wußten davon, daß dieser düstere Sarg die Ueberreste von Matthisson’s Adelaide barg, die einst im jugendlichen Alter einen deutschen Dichter zu den köstlichsten Schöpfungen seines Genius begeistert, selbst jedoch, unter der scharfen Ruthe des Standesvorurtheils, ein verlornes Liebes- und Lebensglück in dem kleinen Mosigkau begraben hatte.

J. M.