Neue Studienwerke für den Clavierunterricht
[140] Neue Studienwerke für den Clavierunterricht. Es kann zwar kaum in Abrede gestellt werden, daß die productive Kraft der Gegenwart auf dem Gebiete der musikalischen Composition eine untergeordnete ist, aber kein Sachverständiger wird leugnen können, daß speciell für das Bedürfniß des angehenden Clavierspielers jetzt Besseres geschrieben wird, als früher. Wir wollen die Verdienste eines Czerny und Diabelli auf diesem Gebiete keineswegs schmälern, müssen aber doch behaupten, daß ihr Streben fast einzig und allein auf Fingerbildung gerichtet war und daß sie es fast gänzlich verschmähten, das jugendliche Gemüth auch poetisch anzuregen und den Sinn für die classischen Formen heranzubilden. Bei der mit der Zeit gänzlich veränderten Claviertechnik bedürfen wir aber auch solcher Unterrichtswerke, welche auf die Claviercompositionen eines Weber, Mendelsohn, Schubert, Schumann, Chopin vorbereiten, und wenn wir zugleich mit besonderem Hinblick hierauf die Unterrichtswerke eines Stephan Heller, R. Schumann etc. anführen, so wird man unsere obige Behauptung gewiß gerechtfertigt finden. Zu denen, welche wahrhaft Verdienstliches für das Clavier und die angehenden Spieler dieses Instrumentes geleistet haben, gehören in neuerer Zeit namentlich Louis Köhler und Carl Reinecke. Auf zwei neue und gelegene Werke von Köhler wollen wir hier zunächst aufmerksam machen, von denen das eine unter dem Titel: „Die ersten Etuden für jeden Clavierspieler als technische Grundlage der Virtuosität“, Op. 50., vor Kurzem erschienen ist. Wir kennen nichts so Concentrisches, beide Hände im Leiter- und Accordspiel gleichmäßig Bildendes, als die Etuden; sie greifen tiefer in die Fingerschwächen, als z. B. das erste Heft der Czerny’schen Schule der Geläufigkeit, und der Schüler kann nach Köhler’s „ersten Etuden“ unmittelbar zu den Cramer’schen Etuden übergehen. Ein zweites Werk des genannten Componisten sind seine „Heiteren Vortragsstudien für den Clavierunterricht,“ Op 47. Sie sind eben so ansprechend als poetisch, bei Leichtigkeit doch frisch wirkend, auch für mittlere Spieler bequem spielbar und für den Unterricht höchst praktisch. – Von Carl Reinecke erschienen vierhändige Clavierstücke (Op. 54, zwei Hefte), deren didaktischer Zweck uns zu ihrer besonderen Empfehlung an Clavierlehrer veranlaßt. Sie sind „im Umfang von fünf Tönen bei stillstehender Hand“ geschrieben. Seit Diabelli’s und Enckhausen’s vierhändigen Stücken ist der musikalischen Kinderwelt nichts so Zweckmäßiges und Gelungenes in diesem Genre gewidmet, aber noch mehr als jene Genannten hat Reinecke es verstanden, in dem geringen Tonumfange anziehende und frische Melodien zu erfinden, denen man die enggezogenen Grenzen kaum anmerkt, und deren Wohlklang und Reiz die Kinder gern zum Lernen fesseln wird. Die genannten drei Etuden-Werke sind im Verlag von Bartholf Senff in Leipzig erschienen und haben noch den Vorzug schönsten Notenstichs und sauberer Ausstattung.