Nicht zu hoch

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Autor: Hermann Lingg
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Titel: Nicht zu hoch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, 24, S. 369–372, 389–392
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[369]

Nicht zu hoch.

Erzählung von Hermann Lingg.

Aus einer der Berggruppen unserer Alpenkette ragt ein besonders steiler Gipfel empor, der zwar, aus der Ferne gesehen, nur als Zwischenglied mächtiger Höhen und nicht sehr ansehnlich erscheint. Wenn man ihm aber näher kommt, zeigt er sich als eine ganz erhebliche Felsenmasse.

Den Namen dieses Bergriesen, den ich hier verschweigen will, trug auch ein lebendes Wesen, ein Niedriggeborener, der nichts weniger als ein Riese, sondern mehr ein Gnom war, ein Männchen von unscheinbarem Aussehen, klein, etwas verwachsen und von sehr bleicher Gesichtsfarbe. Er hörte es gar nicht gern, wenn man ihn bei seinem stolzen Familiennamen nannte; der Vergleich mit dem Berge fiel doch gar zu spaßhaft ungünstig für ihn aus, und doch mußte er bisweilen spöttische Anspielungen deshalb über sich ergehen lassen. Wer ihm aber wohlwollte – und das war bei der Mehrzahl der Leute seiner Umgebung der Fall – nannte ihn einfach bei seinem Taufnamen Sebaldus „den Herrn Sebald“.

Er war armer Leute Sohn und Schreiber bei dem Anwalte in einem seinem Heimathorte benachbarten Städtchen. Da er von Kindheit an kränklich und zu Feldarbeiten unbrauchbar gewesen, dagegen eine hübsche Handschrift besaß und sich sonst auch fleißig und anstellig erwies, so fand er sich bald an seinem rechten Platze und arbeitete sich in kurzer Zeit so in seinen Dienst hinein, daß ihm sein Herr nicht nur Schreibereien, sondern auch Geld- und andere Commissionen anvertrauen konnte.

Der junge Schreiber wurde nach und nach ein halber Jurist. Jeden Abend ging er in sein Heimathdorf, eine gute Stunde Weges, woselbst er bei einer älteren unverheiratheten Schwester wohnte. Den Mittag über blieb er auf der Schreibstube und verzehrte sein frugales Frühstück, das er von Haus in seiner Rocktasche mitgebracht hatte. Diese freie Zeit, während welcher die Geschäfte ruhten, benutzte Sebald dazu, die juridischen Bücher seines Principals durchzusehen und sich aus ihnen, so gut es ging, [370] Belehrung zu verschaffen Er las Gönner's Civilproceß, den Strafcodex, und bereicherte seine durch die Praxis erworbenen Kenntnisse, indem er die verschiedenen Land- und Statuarrechte mit großem Eifer studirte. Die Sonntage verwendete er ebenfalls zu seinem Studium, nur daß er in den Nachmittagsstunden nach der Vesper einem von seiner Schwester angenommenen Kinde Unterricht gab. Durch das viele Abschreiben, durch aufmerksames Zuhören bei den Verhandlungen mit den Parteien gewann er eine nicht gewöhnliche Geschäftsgewandtheit, und vermochte in Fällen, wenn der Anwalt abwesend war, den Clienten mit Rathschlägen an die Hand zu gehen. Man glaube aber ja nicht, daß er dabei seinen Nutzen suchte; er war und blieb die treueste, uneigennützigste Seele, die es gab.

Indessen waren es vorzugsweise die Paragraphen der Criminaljustiz, die ihn anzogen, die er mit Vorliebe und Beharrlichkeit seinem Gedächtnisse einprägte, über die er nachdachte, die er prüfte und bei sich ergänzte. Er kam darüber zuweilen mit seinem Prinzipale in Wortstreit; denn ihm schienen die meisten Strafbestimmungen zu mild, und daß gar dem Delinquenten ein Advocat an die Seite gegeben wurde, der ihn zu vertheidigen, die Schuld von ihm abzuwälzen bestrebt war, ja selbst dann, wenn sich ihm die moralische Ueberzeugung von dessen Schuld aufdrängte, dies erschien ihm ganz ungehörig; eher wäre er für die Anwendung der Tortur gewesen, wenn ein überwiesener Verbrecher hartnäckig leugnete. Daß er ein Anhänger der Todesstrafe war, versteht sich von selbst.

Nun mußte Herr Sebald, wenn er nach Beendigung der Bureaustunden seiner Heimath zuging, an dem Hause eines Mannes vorüber, der weit und breit im Geruche eines argen Schelmen stand. Oft bestraft und noch öfters durchgeschlüpft, war er ein gefürchteter Mensch, dem man nichts anhaben konnte, den zu beleidigen gefährlich war. Seines Zeichens ein Goldschmied, lebte er mutterseelenallein in einem Häuschen am Rande des Waldes in geringer Entfernung von der Landstraße, und daß sein Gewerbe nur ein Aushängeschild war, leuchtete Jedermann ein. Hösch – so hieß er – war wenig zu Hause; er ging auf Handelschaft, streunte in den Dörfern umher und blieb oft tagelang außer Landes.

Diesen Mann nun haßte unser Schreiber ganz besonders er nahm ihn fest aufs Korn. Oft, wenn er auf seinem Heimwege an des Goldschmiedes Haus vorüberging, hob er drohend seinen Stock und sagte halblaut „Mir kämest Du nicht länger aus, so fein Du auch Dein Handwerk verstehst, Spitzbube!“ Dabei wieder holte er sich im Geiste alle bezüglichen Stellen des Strafgesetzbuches und gedachte, wie er es bewerkstelligen wollte, durch verfängliche Kreuz- und Querfragen ein Geständniß aus dem Manne herauszubringen.

Eines Abends – es war gegen Ende des Winters und die Dämmerung bereits eingetreten – fühlte er bei seiner ihm schon fast zur Gewohnheit gewordenen Standrede einen leichten Schlag auf seiner Schulter, und hinter ihm stand der gefürchtete Hösch selbst.

„Nun, erschreckt Ihr vor mir, Herr Sebald?“ redete er den verblüfften Schreiber an. „ein Jurist, wie Ihr, sollte sich vor dem Teufel selbst nicht fürchten“

„Ich fürcht’ Euch auch nicht,“ entgegnete Sebald, „ nicht weil ich mich etwa für einen Juristen halte, sondern weil ich selbst ein armer Teufel bin, bei dem nichts zu holen ist.“

„Oho,“ lachte der Andere auf, „Ihr glaubt am Ende gar, ich wolle Euch ausrauben? Das Gegentheil davon will ich – ich hab’ da einen kleinen Zins an Euren Principal zu entrichten und würd’ ihn Euch gern anvertrauen, wenn Ihr ihn morgen übergeben möchtet.“

„Das kann schon sein,“ war die Antwort.

„Nun, so kommt die wenigen Schritte mit in meine Wohnung! Da will ich Euch die paar Gulden einhändigen, und Ihr bescheinigt mir den Empfang, Herr Oberschreiber, wenn Ihr so gut sein wollt. Ihr erspart mir einen Gang in die Stadt.“

„Soll geschehen,“ antwortete dieser, der sich schämte, eine Aengstlichkeit zu verrathen. So ging er denn mit. An seinem Hause angekommen, öffnete der Goldschmied die Hausthür und hieß seinen Begleiter eintreten. Unwillkürlich zögerte Sebald ein wenig; ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. In dieses Haus kam sonst selten Jemand; wer konnte, vermied es. Er wollte sich jedoch keine Furcht anmerken lassen und trat ein. Auf dem Ofen im Zimmer brannte ein trübes Licht und ein eigentümlich metallischer Geruch drang daraus hervor.

„Der schlägt auch falsches Geld,“ dachte der Schreiber, während Hösch einen Schrank aufschloß, das in Papier gewickelte Geld herausnahm und ihm einhändigte.

„Es ist schon in der Ordnung,“ sagte er lachend, da Sebald die Summe bei der mangelhaften Beleuchtung im dunkeln Winkel der Stube abzuzählen sich anschickte. Dieser nickte nur, unterschrieb hastig die Quittung und wollte sich eiligst davon machen, aber Hösch hielt ihn nochmals auf; er brachte aus demselben Schrank, in welchem er das Geld verwahrt gehabt, ein kleines schmutziges Gebetbuch hervor und sagte:

„Seht, guter Freund, das Büchlein das hat mich auf den rechten Weg gebracht; Ihr wißt es ja, daß ich früher einmal ein leichtes Vergehen gegen das Gesetz im Gefängniß abzubüßen hatte – aber mit den heiligen Worten, die darin stehen, hab’ ich das Heil gefunden. Gehet mit Gott und denkt besser von mir!“

Sebald sah mit Widerwillen in das heuchlerische Gesicht des Mannes und hörte die süßlichen Reden mit Abscheu; so schnell wie möglich empfahl er sich. Zu Hause prüfte er sorglich Klang und Gepräge der Guldenstücke, es war aber kein falsches Geld dabei.

Am andern Morgen händigte er den Zins seinem Principal ein und erzählte zugleich, wie er gelegentlich dieses Geschäftes zu einem Besuche bei dem berüchtigten Manne gekommen.

„Ich war recht froh, als ich wieder draußen war: der Schelm hat gewiß eine Absicht gehabt; umsonst ließ er mich nicht in seinen Schlupfwinkel blicken.“

„Haben Sie richtig gezählt?“ unterbrach ihn der Anwalt; „es ist ein Gulden zu viel.“

„Nicht möglich,“ rief der Schreiber, „ich glaubte doch so genau abgezählt zu haben.“

„Es ist doch so – nun müssen Sie sich schon entschließen, der Spelunke einen zweiten Besuch abzustatten.“

„Leider,“ antwortete Sebald und dachte bei sich: es hat Zeit bis zum nächsten Sonntag; denn Nachts geh' ich nicht mehr hin. –

Ehe er aber dazu kam, seine Verpflichtung zu erfüllen, trat ein Ereigniß ein, das die öffentliche Aufmerksamkeit in außerordentlicher Weise auf Hösch lenkte.

An einem Sonntagmorgen, als die Landleute aus den Höfen umher nach dem Dorfe zur Kirche gingen, entdeckten sie im Straßengraben einen blutigen Leichnam. Man erkannte in dem Todten einen begüterten Händler, der an jedem Markttage, nachdem er seine Geschäfte im Städtchen abgewickelt hatte, nach seinem einige Stunden entfernten Hofe zurückfuhr, und zwar meistens noch spät in der Nacht. Eine Menge Menschen hatte sich bald an dem Platze versammelt; man brachte Pferde und Wagen des offenbar Ermordeten aus dem nächst der Straße gelegenen Wald, und die Bewohner eines Hauses unfern vom Orte, wo die blutige That geschehen war, sagten aus, sie hätten ungefähr um Mitternacht Schüsse gehört, als ein paar alte Leute aber hätten sie sich nicht vor die Thür getraut. Von dem Gelde, das der Händler, wie man wußte, bei sich getragen, war keine Spur aufzufinden.

Wäre nicht der freundliche helle Sommermorgen gewesen und hätten nicht von allen Seiten her die Sonntagsglocken zusammengeläutet, so hätte man wohl das Gefühl gehabt, daß die Stelle, an der man sich befand, etwas Düsteres, wie für einen Mord Vorausbestimmtes an sich trage. Rechts von der Straße ist dichte Waldung, die sich bis zum Fuße der Berge hin ausdehnt; links erstreckt sich zuerst ein Torfmoor, das mit einzelnen Birken bestanden ist, und weiterhin ebenfalls Waldung, über der sich ein Hügel mit den Ruinen einer alten Burg erhebt. Der Name dieser Burg und einiger der nächsten Ortschaften legen die Vermuthung nahe, daß hier in uralter Zeit eine Gerichtsstätte sich befunden habe und ringsumher der Boden eines heidnischen Götterdienstes. Ein Reiter, der dort einstmals in einer sehr kalten Winternacht auf dem hartgefrorenen Boden hintrabte, hat erzählt, daß er plötzlich Hufschläge aus dem nahen Walde herübertönen hörte, und zwar so deutlich und in gleichem Tacte mit dem seines eigenen Pferdes, als reite unter den Tannen ein gespenstiger Doppelgänger mit ihm. Ein eigener Schauer habe ihn überkommen, und er sei froh gewesen, als er das nächste Gasthaus erreicht und sein schweißtriefendes Pferd in den Stall gebracht habe.

An jenem Morgen nun, als unter den die Leiche umstehenden Leuten die Rede darauf kam, wer wohl das gräßliche Verbrechen begangen habe, wandten sich Aller Blicke scheu nach dem alten [371] Schlosse; denn in dem Ueberreste seiner Mauern – es war fast nichts mehr als ein alter Thurm, der noch stand – wohnte ein Jäger mit zwei Söhnen, denen das Allerschlimmste nachgesagt wurde. Sie waren überdies die vertrautesten Freunde und Spießgesellen des Hösch. Niemand jedoch wagte es, einer Muthmaßung Worte zu leihen – da erschien auf einmal Einer, den man nicht erwartete. Hösch selber war es, der sich mitten unter die Menge hineindrängte, den Todten aufmerksam betrachtete und dann mit kalter Gelassenheit erklärte, was er von der Sache halte.

„Da waren ihrer Mehrere dabei!“ rief er aus. „Seht, das da ist einmal eine Stichwunde, und dies hier ist eine Schußwunde; das hat nicht Einer allein gethan! Verrücke ja Niemand die Lage des Ermordeten! Ich gehe und mache beim Landgericht die Anzeige.“

Damit ging er weg mit einer Ruhe und Sicherheit, als wäre er der Untersuchungsrichter selbst. Die Leute sahen ihm erst stumm nach, dann aber nahm ein alter Bauer das Wort und sprach.

„Ich nehme Euch Alle zu Zeugen, daß aus zwei von den Wunden hier, so lange der Hösch dagestanden, Blut geflossen ist. Ich für meinen Theil weiß jetzt den Mörder; von Euch mag Jeder denken, was er will, aber das Blut habt Ihr Alle gesehen“

„Ja, das haben wir,“ hieß es einstimmig, „und das Gericht soll es hören und erfahren.“

Die Nachricht von dem schrecklichen Vorfall kam nach wenigen Stunden auch dem Schreiber Sebald zu Gehör, und auch er zweifelte nicht, daß Hösch der Mörder sei. Sein Principal warnte ihn jedoch, eine belastende Vermuthung auszusprechen; man könne darum verklagt werden, und wenn der Schuldige höre, daß man ihn im Verdacht habe, so könne er sich bei Zeiten davon machen. Sebald merkte sich das und schwieg. Daß die Unthat auf dem Wege geschehen war, den er jeden Abend zu gehen, den er kaum ein paar Stunden vor dem blutigen Ereigniß selbst noch zurückgelegt hatte, das erschütterte ihn tief, ja es erfüllte ihn mit unsäglichem Schrecken. Als aber nun Hösch wirklich verhaftet wurde, da triumphirte er. Mit fieberhafter Spannung horchte er auf jedes Wort über den Verlauf des Verhörs und faßte Alles zusammen, was die Schuld an den Tag bringen konnte. Er ging auf dem Lande bei den Bauern umher und sammelte Indicien; er machte verschiedene Anzeigen und ergriff jede Gelegenheit, neue Verdachtsgründe herbeizubringen. Am glücklichsten wäre er gewesen, wenn man ihm die Leitung der ganzen Angelegenheit übertragen hätte. In dieser rastlosen, aufreibenden Thätigkeit gönnte er sich weder Ruhe noch Erholung, und mehr als je schlug er die Codices nach und recapitulirte das peinliche Verfahren.

Eines Nachts aber überkam ihn ein seltsamer Traum. Ihm war, es sei wieder an jenem Sonntagsmorgen; der Todte lag an der Straße; er kam dazu, und wie er näher trat – o Schrecken – da fingen die Wunden des Erschlagenen an zu bluten. Aller Augen richteten sich nach ihm; er hatte das Gefühl, daß man ihn für den Mörder hielt, und wie er sich vertheidigen wollte, versagte ihm die Stimme; er brachte kein Wort hervor. Er erblaßt und flieht, und Alles ruft ihm nach. „Er ist’s – er ist der Mörder. Ergreift ihn!“ Mit heftigem Herzklopfen und in Angstschweiß erwachte der arme Mann.

Der Traum ging ihm nicht aus dem Sinne er hatte sich so lange mit all den Anzeigen und Anzeichen des Mordes und der Möglichkeit einer gewichtigen Anklage zu thun gemacht, daß er jetzt vor sich selbst erschrak, sich sagen mußte, wenn man so durchdringend, so unablässig vorgehe, wie er, so könnte am Ende Niemand mehr sicher sein und sogar er selbst, wie im Traum, schuldig erscheinen müssen. Dieser Gedanke setzte. sich nach und nach so in ihm fest, daß er sich nicht wieder von ihm befreien konnten doch hütete er sich sorgfältig, Jemandem davon Mittheilung zu machen; und um so tiefer schlug der Argwohn gegen sich selbst in ihm Wurzel und drohte, seine Vernunft völlig zu überwältigen.

Eines Tages sagte sein Principal ganz unbefangen zu ihm.

„Nun Hösch ist freigelassen; der Verdacht hat sich gegen ein anderes Individuum gerichtet.“

„So,“ erwiderte Sebald ärgerlich, „so – gegen ein anderes Individuum? Wenn es nur kein unschuldiges ist – die Wege der Justiz sind unerforschlich.“

„Ei,“ versetzte der Anwalt, „von Ihnen hätte ich ein solches Mißtrauensvotum gegen uns Juristen am wenigsten erwartet.“

Dem unglücklichen Schreiber kam es vor, als ob der Blick seines Principals durchdringend aus ihn gerichtet fei; er fühlte etwas wie Zorn in seinem Herzen und unmuthig erwiderte er:

„Nun wenn man solch erwiesene Verbrecher freigiebt, dann dürfte sich wohl Niemand mehr sicher fühlen.“

„Ja, ja,“ lachte der Principal, „besonders wenn es nach Ihren Principien ginge und die Tortur wieder eingeführt würde. Aber was ist Ihnen, sind Sie nicht wohl?“

„Ich? O nein, mir ist ganz wohl,“ murmelte Sebald und setzte sich, indem er Feder und Papier zurecht legte, um seine Aufregung zu verbergen.

Was war die Ursache? Sein Unwille über die Freilassung des Hösch, oder hatte er an seinen Traum gedacht? Indem er seine Feder zuschnitt, zitterte seine Hand, sodaß er sich verletzte und einige Tropfen Blut auf den Aermel spritzten

Eben trat der Gerichtsdiener in's Zimmer, der sich gern einen Scherz über den Schreiber erlaubte, weil dieser für einen geizigen Hagestolz galt.

„Ei,“ rannte er ihm zu, „das Blut waschen Sie ja gleich weg! Sonst bringen Sie die Flecken nicht mehr heraus, und man hält Sie am Ende gar für einen Mitschuldigen des Hösch.“

Sebald lächelte, drückte aber das Gesicht tiefer in’s Concept; die Stichelreden des groben Menschen hatten ihn verletzt; er wurde über und über roth.

„Wenn auch noch der Spürhund hinter Dir her ist,“ sagte er zu sich selbst, „dann ist es um Dich und Deinen ehrlichen Namen geschehen.“

So geängstigt und gedrängt von innerer Unruhe, wie er war, konnte ihm nichts angelegener sein, als daß der wirkliche Schuldige möglichst bald entdeckt würde. Er nahm sich vor, ein kleines Wirthshaus, das auf seinem Heimwege lag, zu besuchen, weil er wußte, daß dort allerlei anrüchige Leute zusammen kamen, von denen leicht etwas zu erfahren war – um so mehr, da die Freigebung des Hösch das Stadt- und Landgespräch bildete.

Sonst war er nur mit Grauen und Abscheu an der Thür der verrufenen Kneipe vorbeigegangen; heute zog es ihn mächtig dahin. Die beiden Söhne des Försters kehrten häufig dort ein; von ihnen war vielleicht etwas zu erfahren, wie er es wünschte, aus leichtsinnigen oder frechen Reden vielleicht, die von Anderen nicht beachtet wurden, ihm aber wichtige Anhaltspunkte gaben; dafür war er der Mann; er hatte Praxis in solchen Dingen.

Bei seinem Eintritt erblickte er sogleich die Gesuchten. Die Wirthin grüßte ihn mit besonderer Aufmerksamkeit.

„Eine seltene Ehre,“ redete sie ihn an, „daß der Herr Oberschreiber bei uns einkehrt. Haben Recht. Der Weg ist weit, und einige Stärkung wird Ihnen nöthig sein; die Arbeiten bei Gericht haben sich zu sehr gehäuft, hört man sagen. Was ist gefällig?“

Sebald ließ sich einen Schoppen Wein vorsetzen; sein Blick überflog die Anwesenden. Da waren außer den Jägern noch ein Hausirer aus dem Montafun, ein schwarzbärtiger breitschulteriger Mann aus dem romanischen Berglande, ein paar heimkehrende Maurer und ein sogenannter Wegmacher, ein Steinklopfer von der Landstraße. Oben an der Ecke des Daches saß der Wirth, den Arm seiner Gewohnheit gemäß aufgestützt, als wäre er immer in Bereitschaft sich Platz mit dem Ellenbogen zu verschaffen. Er war ein riesiger Mann und, wie man ihm ansah, von ungewöhnlicher Stärke; sein Gesicht war glatt rasirt, sein Scheitel dünnbehaart, aber ein Büschel rother Haare saß auf seiner gleichfalls rothen Nase, was ihm ein seltsames Aussehen gab. Trotz seiner hünenhaften Gestalt und Körperstärke hatte er doch nie das Faustrecht geübt, sondern alle seine Streitigkeiten vor den Civilrichter gebracht und in seinem Leben mehr Processe als irgend ein Christenmensch geführt. Er war deshalb auch ein ebenso guter Jurist, wie der Schreiber des Advocaten, vor dem er stets großen Respect an den Tag legte.

„Das allein freut mich,“ rief er aus, „daß sie den Hösch wieder freigeben mußten; ich halte zwar selbst nichts Gutes von dem Spitzbuben, aber auf solche Indicien hin Einen zu verhaften, das ist unerhört. Was – weil Blut aus der Wunde des Gemordeten floß – deshalb? Ist das nicht eine Schande für unser aufgeklärtes Jahrhundert? Schöne Justiz das!“

Damit ließ er seine Faust auf den Tisch prallen, daß die Gläser klirrten.

„Erlaubt mir,“ fiel der Schreiber ein, „nicht deshalb hat man den Hösch festgesetzt, sondern weil sein Benehmen, seine Aeußerungen [372] an der Leiche Verdacht erregt haben, und daß er zu Allem fähig ist, wer wollte das leugnen?“

„Richtig,“ antwortete der Wirth, „und was waren das für Aeußerungen? Daß er den Leuten erklärte, welches Schußwunden und welches Stichwunden seien; da müßte jeder Chirurg, der das auch sagt, eingesteckt werden und ein Verbrecher sein.“

„Sind es auch die meisten,“ lachte nun der Jäger hinter dem Tisch, „möchte nicht wissen, wie Viele der unsere schon unter den Boden gebracht hat. Was aber den Mord am Wildberger betrifft, so ist dem nur Recht geschehen; er war ein Tropf; er hat an vielen Leuten schlecht, niederträchtig schlecht gehandelte durch Betrug und Wucher hat er seinen Reichthum erschwindelt – ihm ist Recht geschehen.“

Der Jäger stand auf, nahm sein Gewehr über die Schulter und sagte noch im Abgehen:

„Wer den erschlagen hat, der wird niemals entdeckt werden. Was da geschehen ist, war ein Act der Volksjustiz.“

„Jawohl, Lynchjustiz, wie sie drüben bei uns sagen,“ fiel der Montafuner mit seiner tiefen Stimme ein.

Der Jäger schritt hinaus. Sebald sah ihm staunend nach. „Volksjustiz!“ Das Wort hatte er noch nie gehört. Er mußte lachen.

„Auch ich,“ rief jetzt der Wirth, „weiß schlechte Streiche genug von dem Händler; er war ein Cujon, aber Recht bleibt Recht, und der Rechtsweg darf nicht umgangen werden.“

„Wißt Ihr auch, Wirth,“ begann jetzt einer der Maurer, „daß es heißt – und ich habe es von meinem Vater gehört – es sei an der Stecke, wo der Mord geschah, ehedem ein Gerichtsplatz gewesen; es wurde da unter Gottes freiem Himmel vom Volke, nicht von gelehrten und besoldeten Richtern geurtheilt.“

„Ich hab’ auch davon gehört,“ nickte der Andere dazu, „und beim Abbruch der alten Burg hat man unter den Dielen zwei Gerippe gefunden; dort muß wohl was gewesen sein.“

„So viel weiß auch ich,“ fiel hier der Steinklopfer ein, „daß in der ersten Weihnacht ein Reiter auf einem Schimmel aus dem Berg hervorkommt und dreimal um die Schloßruine reitet; dann verschwindet er wieder.“

„Laß Dich nicht auslachen, Wegmacher!“ sagte der Wirth, „solche Geschichten sind für die alten Weiber.“

Alles lachte. Sebald aber schwieg und schickte sich an, fortzugehen. Während er die Rechnung berichtigte, kam der Wirth auf ihn zu und legte seine Riesenhand vertraulich auf seine Schulter.

„Nicht wahr, Herr Oberschreiber, sagte er, „da sind wir zwei anderer Ansicht, wir Juristen?“

„Ich muß aufrichtig bekennen,“ gab dieser zur Antwort, „ich höre die Worte Volksjustiz und Volksgericht heute zum ersten Mal in meinem Leben und weiß nicht, was ich davon denken soll – ich will aber nachschlagen; ich werde nachschlagen.“

Das Gespräch hatte ihn auf einen ganz neuen Gedankengang gebracht, und er war im Weitergehen ausschließlich damit beschäftigt. Es gab also Menschen, die eine solche That als gerechte Urtheilsvollstreckung betrachteten und aus eigener Machtvollkommenheit ausübten, und zwar da, wo die Hand der gewöhnlichen Justiz ein verbrecherisches Thun nicht erreichen konnte, und dies galt bei ihnen als kein Mord, sondern als ein Rache-Act der beleidigten Menschheit. Sebald hatte wohl einmal von der heiligen Vehme gelesen – und ein solches Gericht sollt’ es jetzt noch geben? Ihn schauderte anfangs, allmählich aber begann ein Gefühl von Genugthuung, ja von Bewunderung sich in ihm zu regen.

Plötzlich fiel ihm bei, daß er einen Auftrag des Advocaten auszurichten, nämlich einen Brief im Hause eines Clienten abzugeben habe. Er hatte, obwohl das Haus nahe bei der Straße lag, ganz vergessen, sein Mandat auszurichten, und war schon eine geraume Strecke davon entfernt, als er sich des Briefes erinnerte; die Sache war von Wichtigkeit – er mußte nochmals zurück.

Da er öfters mit dergleichen Anfangen betraut wurde, so war er mit den Räumlichkeiten des Hauses bekannt und wußte, daß um diese Zeit – denn es war schon ziemlich spät geworden – die Hausthür nach der Straße zu geschlossen, die zum Hofraum führende dagegen um diese Zeit noch unverriegelt war. Um kein Aufsehen zu erregen, nahm er sich vor, durch letztere einzutreten. Er wußte den Drücker, der aufschloß, und konnte seinen Brief an einen der Dienstboten, die um diese Zeit noch wachten, abgeben.

Kaum aber hatte er die Thür so leise wie möglich geöffnet, als ihm die Frau des Hauses begegnete und mit dem Schrei – „ein Mörder, ein Mörder!“ zurückbebte und die Treppe hinaufsprang. Sebald selbst war nicht wenig erschrocken und entschuldigte sich mit ängstlicher Stimme, daß nur er es gewesen sei.

„Aber um Himmelswillen,“ redete die Frau ihn an, „wie mögt Ihr Euch da hereinschleichen und uns erschrecken in so später Nachtstunde?“

Er übergab seinen Brief und beeilte sich, nach wiederholter Entschädigung fortzukommen. Als er draußen in der Nacht allein dahin schritt, gellte der Angstruf „ein Mörder!“ ihm nach, und das gräßliche Wort fand einen grausigen Wiederhall in seiner ohnehin schon geängstigten Seele.

„Nicht zu hoch!“ war sonst seine Antwort gewesen, wenn er den Spott über seinen Namen und Höcker ironisch zurückwies.

„Nicht zu hoch!“ sagte er jetzt zu sich selbst. „Was ging es eigentlich mich an, wer den Wildberger umgebracht hat, und was hab’ ich von meinem Nachspüren ? Dankt's mir Jemand ? Nein – die Spötter haben nur wieder einen neuen Anlaß, über mich zu lachen. Mir schlägt Alles zum Unglück aus; mein guter Wille selbst bringt mir Nachtheil und Verdruß. Nicht zu hoch, Sebald, nicht zu hoch hinaus!“

Traurig wandte er seine Schritte der Heimath zu. – Der folgende Tag war ein Sonntag. Sebald besuchte die Predigt. Der Geistliche, noch ein junger Caplan, predigte über die Gewissensruhe. Seine Rede, mit poetischen Floskeln „aus den Werken der besten Schriftsteller“ geschmückt, schilderte nachdrücklich die Seelenpein des Sünders gegenüber der heiligen Sabbathfeier im Gemüthe des Schuldlosen. Er zeigte, wie Jenen die böse That verfolge, wie sie ihm durch Arbeit und Zerstreuung nachgehe, ihm die Liebe seiner Mitmenschen unerträglich mache, seinen Schlaf, seine Träume vergifte, wie er bei jedem Worte erzittern müsse.

„Er deutet auf mich,“ sprach Sebald zu sich selbst, „genau so sieht es in meinem Innern aus, und doch bin ich unschuldig und habe nichts verbrochen, und der wirkliche Thäter sitzt jetzt vielleicht sorglos in einer Schenke und zecht. Was ist denn nun das Gewissen? – O, der auf seiner Kanzel droben lügt auch, und die ganze Welt lügt und will betrogen sein. Bin ich besser? – Welch schreckliche Gedanken!“ Ein lautes Ach schloß seine Betrachtung. Es wurde gehört, und Alles in der Kirche sah auf und nach ihm. Er hätte aufspringen mögen und unter die Gaffer hineindonnern. „Was seht ihr mich an? Ich bin es nicht.“ Aber er schämte sich und schlug die Augen nieder. – Nach dem Gottesdienst eilte er so schnell wie möglich nach Hause, ohne Jemanden zu grüßen. Die Bauern sahen ihm nach und sagten lachend zu einander: der muß wieder einen schweren Proceß auszumachen haben.


[389] In der That, Sebaldus lag in einem schweren Processe mit sich selbst. Der Glaube an so Vieles, was ihm bisher für unerschütterlich wahr gegolten, was er hinnahm, als ob es so sein müßte, erschien ihm jetzt in einem anderen, in einem zweifelhaften Lichte. Die tausend Kniffe und Schliche, mit denen der Klügere, Rücksichtslosere den blos Redlichen übervortheilt, die Härte, mit der das Gesetz, das nicht den Einzelnen beachtet, gegen den verfährt, der sich nicht zu beherrschen weiß, das allgemeine Uebereinkommen, mit dem man dem Einflußreichen, dem Mächtigen gegenüber Alles, selbst das gemeinste Laster beschönigt, die Bosheit liebenswürdig, die Herzlosigkeit natürlich findet, das Alles trat jetzt vor ihn und erschien ihm in seiner wahren Gestalt; er verachtete die Welt, in der er lebte, die er tagtäglich vor sich hatte, der er, wie jeder Andere, schmeichelte und huldigte. Jetzt fiel ihm wieder das Gespräch in der Wirthsstube ein; er war beinahe stolz darauf, daß er unter Menschen gesessen, die so kühne Aeußerungen gewagt hatten, wie der Jäger.

„Ja,“ sprach er zu sich, „mir wär’ es gleichgültig, wenn man mich auch für einen solchen hielte, einen von denjenigen, die das Unrecht im Verborgenen strafen.“

Jetzt ward an seine Thür gepocht und das von seiner Schwester angenommene Kind, dem er Unterricht ertheilte, trat ein. Seit einem Jahre lebte es im Hause, und Jedermann hatte es lieb gewonnen; dem Schreiber war es geradezu seine einzige Freude.

Veronika war vor etwa zwei Jahren von ihrer Mutter aus dem benachbarten Gebirgsland in den Dienst gegeben worden. In jedem Frühjahr kommen nämlich aus dem Montafun arme Leute herüber und verdingen da ihre Kinder zum Viehhüten an wohlhabende Bauern der Umgegend. Im Herbst werden die Kinder wieder an derselben Stelle von ihren Eltern abgeholt, und der Lohn, den sie sich während des Sommers erwarben, reicht den Winter über aus, ihr karges Leben zu fristen. Nun war an einem Herbsttag auch Veronika am Sammelplatz eingetroffen, nachdem sie den Sommer über im Dienste der Schwester Sebald’s gestanden hatte, aber für sie kam diesmal Niemand, um sie heimzuholen. Durch die Eltern der andern Kinder erfuhr sie, daß ihre Mutter gestorben sei. Von ihrem Vater wußte man ohnehin seit Jahren nichts mehr, er war in die weite Welt gegangen, man glaubte nach Australien. Die Aermste, die nun eine Waise geworden, lief weinend zu ihrer Dienstherrschaft zurück und wurde wieder angenommen, nach einigen Monaten sogar an Kindesstatt. Es hatte freilich einigen Zuredens von Seiten des Bruders bedurft, bis die Schwester sich zu dem Schritte entschloß. Da nun das Kind bisher von Lesen und Schreiben soviel wie nichts wußte, so übernahm es Sebald, sie in beiden zu unterrichten. Anfangs ging es recht langsam, die Vernachlässigung aller geistigen Anlagen hatte ihre Fähigkeiten wie in Schlaf versenkt, und nur die Wißbegierde zu wecken, kostete schon Mühe. Sebald ließ sich diese nicht gereuen und sah sich bald belohnt. Einmal erwacht, entwickelten sich die Talente des Mädchens mit südlicher Raschheit, und mit der geistigen Entfaltung ging auch die körperliche vorwärts. Das Rauhe und Trotzige in Veronika’s Wesen verwandelte sich in jungfräuliche Sanftmuth; ihre Stimme wurde weicher, ihre Gestalt zarter und biegsamer.

Wie Veronika nun Bücher und Hefte vor ihrem Lehrer ausbreitete, wie er ihre Aufgaben durchsah und prüfte, da fühlte er recht tief, welche Beruhigung ihre Anwesenheit ihm bot. Jede Frage, die sie an ihn richtete, jede Antwort, die er von ihr hörte, rückte seinen Geist wieder in geordnete ruhige Bahnen. Er fühlte sich unter der Macht dieser unschuldigen Seele genesen, wie ein Fieberkranker, dem ein frischer Trunk Wasser gereicht wird.

Am Schlusse der Unterrichtsstunde blieb Veronika vor ihrem Lehrer stehen und sah ihn mitleidsvoll an.

„Ach, Herr Sebald,“ sagte sie, „ich habe eine Bitte. Sie dürfen mir es nicht übelnehmen.“

„Gewiß nicht, Kind. Was willst Du?“

„Ich möchte Sie bitten, daß Sie sich der Sache des Hösch nicht weiter annehmen. Sie werden krank darüber.“

Der Schreiber bog seinen Arm um die Stuhllehne und stützte nachdenklich den Kopf darauf – er antwortete nicht.

„Ich versündige mich vielleicht an Ihrem gerechten Eifer,“ fuhr sie fort, „aber auch das muß ich gestehen: ich habe Mitleid mit dem Missethäter; Alles lästert ihn; Alles verfolgt ihn; Jedermann wünscht ihm ein martervolles Ende, und ist er nicht schon elend genug, da er ein Kain geworden ist?“

„Wie!“ fuhr der Schreiber auf „soll ein Mörder frei herumgehen in der Welt, die gleiche Luft mit uns einathmen, soll ihm dasselbe Himmelslicht scheinen, wie den Guten und Braven, die in Angst und Schrecken sind, so lang er straflos bleibt?“

„Es mag so sein,“ antwortete Veronika, „aber vielleicht ist er nicht einmal so schuldig und verabscheuenswerth, wie es den Anschein hat, wer er auch sein mag.“

„Kind, Kind,“ rief Sebald, „das sind Versuchungen. Halte Dein Gewissen frei von solchen Gedanken! Aber zu Deiner Beruhigung will ich Dir versprechen, daß ich mich um diese Angelegenheit nicht mehr und nicht weniger bekümmern will, als ich muß, als es mir zur Pflicht wird.“

[390] Ruhiger, als an den früheren Tagen, kam er des nächsten Morgens in die Amtsstube; die düstern Gespenster schienen hinter ihm versunken; eine stille Freude war in ihm aufgegangen. Es kam ihm vor, als hätte er eigentlich mehr Beruf zum Lehrfache, als zu diesem trockenen Schreiberamt, in dem er es doch nie mehr weiter bringen konnte. Er brauchte dann nicht in die spitzfindige Stadt hinein zu kommen und in der dumpfen Stube zu sitzen. Draußen auf seinem Dorfe, bei weit offenen Fenstern, durch die der Wohlgeruch der Felder hereinzog, da würde das Gebiet seiner Thätigkeit sein und das, was seinem strebsamen Charakter am nächsten lag, auf Andere fördernd und rathend einzuwirken, das wäre dann seine Arbeit geworden. Leider mußte er sich sagen: es war zu spät; sein Loos war entschieden, und so wurde selbst das, was ihn hob, eine Quelle neuer Leiden für ihn; die frohe Stimmung, mit der er gekommen war, hielt denn auch nicht lange nach, und bald versank er wieder in seinen Trübsinn. Ein einziges Wort, eine Miene, die ihm eine Andeutung schien, gab ihn wieder dem alten Wahne preis. Die Woche verging, und der nächste Sonntag goß wieder Zufriedenheit in seine Seele. Alle anderen Tage schienen nur noch für den Sonntag da zu sein. Bald war er nur noch in der Nähe des Kindes wie unter einem höheren Schutze und frei von den quälenden Gedanken, die sein Inneres zerrütteten.

So verfloß ein Monat; der Sommer neigte sich dem Herbste zu. Seine Schülerin brachte ihm ein Körbchen mit Erdbeeren aus dem Walde, die letzten, sagte sie.

An diesen Nachmittage wurde der Unterricht auf eine wenig angenehme Weise unterbrochen. Veronika kam ängstlich die Treppe herauf und sagte zu Sebald, es warte ein Mann vor der Thür, der ihn zu sprechen wünsche. Es war Hösch. Unaufgefordert, aber unter vielen Bücklingen trat er ein und brachte sein Anliegen vor, eine verführte Streitigkeit mit einem Nachbarn wegen des Fahrrechts über eine Wiese, die ihm zugehörte. Augenscheinlich war die ganze Sache nur ein Vorwand; Hösch wollte sich eindrängen und auskundschaften. Zu welchem Zwecke, war freilich nicht abzusehen. Sein lauernder Blick nach dem Mädchen, das sich übrigens nicht weiter um ihn bekümmerte, sondern ruhig an ihren Aufgaben fortschrieb, bestätigte die geheime Absicht seines Besuches. Sebald beschied ihn kurz, und jener entfernte sich unter allerlei Verzögerungen und mit einem höhnischen Lächeln auf der Lippe. Kaum war er fort, so wich die Gleichgültigkeit, welche Veronika während seiner Anwesenheit beobachtet hatte, sie eilte an’s Fenster und kam mit den Worten zurück:

„Es ist noch Einer unten.“

Sebald sah nach und bemerkte den Montafuner, der, wie es schien, seinen Cameraden erwartet hatte. Beide sprachen nun heimlich und eifrig mit einander, wobei sie mehrmals nach dem Haus emporblickten. Die Verstimmung, die der widrige Besuch erregt hatte, klang in dem Schreiber nach, war aber nur eine Vorbedeutung von einer herberen Schickung, die den armen Mann treffen sollte; denn nach der Lehrstunde, als Veronika fortgegangen war, kam die Schwester und eröffnete ihm, daß dem Kinde eine unerwartet günstige Aussicht für seine Zukunft sich biete; sie werde es nach der Hauptstadt zu weiterer Ausbildung bringen. Es sei eine Herrschaft in das Dorf gekommen auf der Durchreise, die zufällig das Mädchen gesehen und gesprochen habe. Voll Theilnahme für das liebe Geschöpf, habe sie gebeten, für dessen Zukunft sorgen zu dürfen. Das ganze Benehmen der Herrschaft habe für deren Aufrichtigkeit gezeugt, und so habe sie sich entschlossen, dem Wunsche nachzukommen.

Sebald fühlte sich bei den Worten seiner Schwester wie an einem Abgrund stehen: er starrte sie an und fragte nur:

„Und soll das schon bald geschehen? Hast Du Alles reiflich erwogen?“

„Ja,“ antwortete sie fest, „und ich glaube eine heilige Pflicht zu erfüllen.“

„Es ist wahr,“ antwortete er, innerlich überzeugt, daß sie Recht habe, aber eine Ahnung sagte ihm, nun sei für ihn das schönste Glück verloren und vielleicht mehr.

Noch an demselben Abend nahm er Abschied; er wunderte sich selbst über die guten Lehren und vernünftigen Grundsätze, die er dem Mädchen auf den Weg mitgab, die er mit so viel Ruhe und Salbung vorbrachte, während ihm das Herz von Zweifel und Qual zerrissen war, und er wunderte sich, daß er sich noch darüber verwundern konnte – es war ja Alles, was geschah, so natürlich, so nothwendig, so ganz in der Ordnung, und doch sprach’s in ihm: dein gutes Werk, dein Engel geht mit ihr dahin.

Wie waren ihm stets seine eigenen Gedanken, seine nüchternen Sonntagsbetrachtungen und Sentenzen ans ihrem Munde so tiefsinnig, so wirklich erhebend vorgekommen, und wie flach und inhaltslos erschienen sie ihm jetzt! Wie sollte seine Standhaftigkeit auf die Probe gestellt werden! Veronika weinte, als er ihr die Hand zum Abschiede bot; er sprach ihr Trost zu, aber sie schluchzte:

„Ach, ich habe ja keinen Vater mehr Sie sind mir Alles gewesen – Ihnen dank’ ich Alles.“

Und mit einmal hielt sie ihn umfaßt; er fühlte auf seiner von ihren Thränen benetzten Hand ihre heiße Stirn; er glaubte das Pochen ihres Herzens zu fühlen ihm war wie einem Armen, der plötzlich Geld gefunden hat und weiß, daß es nicht ihm gehört; es blendet seine Augen, aber er muß, er will es zurückgeben. Er schob sie leise von sich.

„Geh’,“ sagte er, „bleib’ brav! wir sehen uns wieder.“ – –

In der Stadt erwartete ihn eine Neuigkeit: Wiederholt hatten sich Verdachtsgründe gegen Hösch ergeben; man hatte, als er gerade ausgegangen war, Haussuchung bei ihm gehalten, aber nichts Gravirendes gefunden. Das erfuhr nun Sebald über Hösch, und er fühlte sich dadurch nicht wenig aufgeregt.

Als der schlaue Hösch dann nach Hause kam und bemerkte, was vorgegangen, gedachte er sich baldmöglichst aus dem Staube zu machen; zuvor jedoch wollte er noch von dem Schreiber erfahren, was gegen ihn vorliege und was ihm etwa bevorstehe.

Er lauerte ihm daher auf und trat ihm, wie jenes erste Mal, in den Weg. Daß Sebald ihm noch einen Gulden schulde, war ihm ein erwünschter Vorwand.

„Nehmt mir’s nicht übel, daß ich mahne!“ redete er ihn an. „Du lieber Himmel, was ist Euch ein Guldenstück; das konntet Ihr leicht vergessen. Aber Unsereiner, arm und gehetzt wie ein Thier, Herr, Unsereiner rechnet.“

„Ist mir leid, wirklich leid,“ versetzte Sebald, „aber im Tumult der letzten Zeit hab’ ich’s rein vergessen. Hier, hier!“

„Danke Euch,“ versetzte Hösch; „ich werde das Geld brauchen. Unter uns gesagt: man wird mich wohl des Landes verweisen, oder will man mich abermals einsperren?“

„Ihr seid ein angesessener Mann – wer kann Euch ausweisen? Wer überhaupt kann Euch etwas anhaben, wenn Ihr ein gutes Gewissen habt?“

„O, der Verdacht ruht einmal auf mir; alles muß ich verschuldet haben; hält man mich nicht sogar für den Mörder des Wildberger und Ihr selbst auch, Schreiber, he?“

Damit faßte er den neben ihm ruhig Hergehenden heftig am Arm und schüttelte ihn. Dieser sah ihn von der Seite an und warf hin:

„Ich bin’s nicht schuldig, Euch zu beichten.“

Hösch blieb stehen und hielt seinen Nebenmann fest; er schien heftig mit sich zu kämpfen und seufzte tief auf. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen.

„Herr Sebald,“ flüsterte er ihm zu, „hol’ der Teufel die schlechte Meinung, die Ihr von mir Habt! – Hört, ich weiß, wer den Händler erschlug, und ich will ihn Euch angeben, wenn Ihr mir versprecht, acht Tage lang zu warten, bis Ihr die Anzeige macht.“

„Damit der Verbrecher Zeit habe, sich der Justiz zu entziehen? Das wäre mir ein sauberer Pact.“

„Nein, sag’ ich Euch, er soll nicht entkommen: ich werde ihn nicht warnen. Wollt Ihr? Wollt Ihr den Schwur leisten? Wir sind allein auf diesem Fußsteig im Wald; es ist Nacht und weit und breit ist Niemand um die Wege. Wollt Ihr schwören, Herr Schreiber?“

Es lag in diesen Worten etwas so finster Drohendes und sogar Wahrhaftiges, daß Sebald auf den Gedanken kam, gerade die verlangte Frist beweise, daß es Hösch mit dem Geständnisse Ernst sei.

„Was Ihr da sagt,“ rief er und trat einen Schritt zurück, „ist der vollste Beweis gegen Euch: Ihr selbst seid der Thäter.“

„Nein,“ schnaubte Hösch, „nein, bei Gott – ich werde Euch die Wahrheit sagen – ein Anderer ist’s, wollt Ihr schwören?“

„Ja, ich will, ich will Euer Geständniß bei mir acht Tage behalten – das schwör’ ich Euch – so wahr –

„Es gilt,“ rief Hösch aus – „habt Ihr neulich den Vagabunden [391] den Montafuner gesehen? Habt Ihr? – nun, der hat dem Opfer den tödtlichen Streich versetzt; ich war nur sein Helfershelfer und theilte den Raub, und wollt Ihr auch wissen, warum er ihn erschlug? Ich will’s Euch sagen. Es gab eine Zeit, da war der Montafuner ein wohlhabender und ordentlicher Mann, er ließ sich mit dem Händler in Geschäfte ein, und der brachte ihn mit Spiel und Wucherzinsen um Alles, um Hab und Gut, um Ehre und häusliches Glück, denn er hat ihm auch sein Weib gestohlen. Verarmt und elend ist er in die weite Welt gegangen, und arm und elend kam er zurück, da hat er Rache genommen – jetzt wißt Ihr Alles.

„Und warum gebt Ihr den Mann an? Das ist ja grundschlecht von Euch.

„Warum ich ihn angebe?“ versetzte Hösch langsam und in seltsam höhnischer Weise. „Weil ich ihn los sein will, er hängt sich an mich, und ich will ihn los sein; er ist mein böser Stern; er wird mein Unglück werden, und ich bringe ihn nicht eher an, als bis er im Gefängnisse sitzt. Er wird mich angeben, alle Schuld auf mich wälzen – mög’ er’s thun! Wenn’s ihm was nützt, ist mir’s recht – innerhalb der acht Tage bin ich so weit, daß mich Eure Gerichte nicht mehr erwischen. Jetzt wißt Ihr Alles, jetzt Adieu! Ich hab’ Euren Schwur.“

Damit war der Hösch verschwanden.

Erschüttert stand Sebald da; ein furchtbares Geheimniß war auf seine Seele gebunden – er war Mitwissender einer Schuld geworden und hatte sich verpflichtet, diese Schuld tagelang bei sich zu behalten. Durfte er das? War er verpflichtet, seinen Eid zu halten? „Ja.“ sagte er sich, „ich muß und ich werde schweigen.“

Er blickte über sich. Die Zweige der Tannen verschatteten sich zu einem dunklen Gewölbe; kein Stern blickte durch. Er wußte sich’s zu deuten – wie sehr sehnte er sich nach einem mitfühlenden Herzen! Allmählich aber wich das Entsetzen vor Allem, was er eben erfahren hatte, einer weichen Stimmung; war er doch befreit von dem Alp, der ihn schier erdrückt hatte, von der wahnsinnfinsteren selbstmörderischen Gewissensunruhe. Der Schuldige war gefunden, es lag nur an ihm, das Gericht über ihn hereinbrechen zu lassen – in seiner Hand lag das Geschick des Mörders. Der Tag mußte kommen, an dem es sich erfüllte – jede Minute rann ihm unaufhaltsam entgegen.

Seine Arbeiten vollzog er in dieser Zeit wie immer pünktlich; seine Lebensweise ging den geordneten Gang, und nichts verrieth, was er Ereignißschweres in seinem Innern verschloß; nur eine gewisse Hast in seinem Benehmen, ein unruhiges Aufleuchten in seinen Blicken zeugte von der Ungeduld, die ihn nicht mehr verließ. Für seine vormalige Schülerin bemerkte er Folgendes:

„Der Redliche geht seines Weges und hat oft keine Ahnung von den Gefahren, die zu beiden Seiten dieses Weges liegen; er hört nur von fern das Gekrächz der Raben, welche auf Denjenigen warten, der fällt. Er weiß nicht, daß Schlechtigkeit und Unglück schon beinahe das Normale, Tugend und Heil die Ausnahmen geworden sind.“ An dem Tage, der ihn seines Eides entband, verfügte er sich in aller Frühe zu Gericht und gab seine Aussage zu Protokoll. Der Tag verstrich ihm in gewohnter Weise, und als er des Abends, recht froh, die Stadt verlassen zu können, des gewohnten Weges nach Hause eilte, sah er unter dem Hofthore der Schenke den riesigen Wirth stehen, der ihn anrief, einzutreten.

„Kommt herein! Ich hab’ Euch Mancherlei zu erzählen, es ist ohnehin ein Gewitter im Anzuge, das könnt Ihr am besten bei mir aushalten.

Sebald fand, daß er Recht habe, und trat ein. Sein erster Blick traf auf den Montafuner; er erschrak; wußte er doch, was in den nächsten Stunden über diesen Menschen hereinbrechen würde. Aber wie ward ihm erst, als der Wirth begann.

„Das wißt Ihr auch nicht, daß man den Hösch im Anstand aufgegriffen hat? Seine Papiere sollen nicht in Ordnung gewesen sein; man hat entdeckt, daß der Paß, den er bei sich trug, gefälscht war, und liefert ihn daher aus. Morgen bringen sie ihn.“

„Was, was, den Hösch? rief Sebald erstaunt. „Sein Fluchtversuch wird nun allerdings jeden Verdacht gegen ihn bekräftigen. Diesmal kommt er nicht mehr aus.“

„Nicht mehr, meint Ihr?“ rief höhnisch der Montafuner vom andern Dach herüber; „der Hösch ist schon aus schlimmern Fatalitäten glücklich davongekommen; der hat schon andere Riegel und Handschellen als die Eurigen durchbrochen.“

Der Wirth, der eben hinausgerufen wurde, sah den Sprecher verächtlich an, der aber nahm sein Glas und setzte sich in vertraulicher Weise an Sebald’s Seite.

„Geständniß bringen sie schon gar keines aus ihm heraus,“ fuhr er fort, „und ohne solches kann man ihm nichts anhaben.“

„Das ist noch sehr die Frage,“ antwortete kurz der Schreiber. „Hört, Herr Oberschreiber,“ fing der Zudringliche wieder an, es heißt, Ihr hättet ihm ein wenig hinausgeholfen.

„Ich.“ fuhr der so Interpellirte auf – „ich? nein!“

„Nun, nichts für ungut! Aber hört: ich brauchte eigentlich auch einen Reiseschein; möchte wieder einmal in meine Heimath, aber ohne was Schriftliches lassen die Grenzer mich nicht hinüber, gebt mir guten Rath! Könnte mir wer zu einem Paß verhelfen?“ „Wo habt Ihr den Euern? Ihr hattet doch einst gewiß eine Legitimation?“

„Ja,“ lachte der Vagabund, die hab’ ich in Australien vereufelt, hab’ sie dort einem verkauft, der sie nöthiger hatte als ich.“

„Ihr wart in Australien?“

„Manches Jahr, freilich – ja – bin längst todt gesagt zu Haus, längst verschollen. hab’ Niemand als ein armes Kind, das noch mein ist, aber auch das kennt mich nicht – möcht es auch mit mir heimbringen, aber ich bin ja todt gesagt.“

„Euer Kind. wo lebt das?“ fragte Sebald, zitternd vor einer Enthüllung, die ihn zerschmettern mußte. „Euer Kind?“ – eine Aehnlichkeit in den Gesichtszügen des Mannes, der neben ihm saß, mit jenen des sanften geliebten Wesens machte ihn schaudern.

„Wo mein Kind lebt?“ erwiderte heftig der Montafuner. „ich hab’ es gefunden – es lebt bei Eurer Schwester – Herr Oberschreiber.“

Todtenbleich war dieser aufgesprungen.

„So. Veronika ist Dein Kind – Ungeheuer, und Du bist der Mörder des Wildberger!“

Der so Angeredete sprang gleichfalls auf, Sebald packte ihn bei der Brust – „ist es so, bist Du der – dann fort – lauf was Du kannst! Ich will keinen Antheil an Deiner Strafe – fort!“ Er drängte den Menschen nach der Thür, der wie ein Trunkener ihn mit weitgeöffneten Augen anstarrte.

„Du bist verrathen,“ wiederholte er. „flieh! Sonst bist Du verloren. Hösch hat alles bekannt.“

Jetzt schien ihn der Unglückliche zu verstehen, er langte mit der Hand nach dem Dach. als such’ er eine Waffe und stürzte nach der Thür. Hier aber wurde ihm ein Halt entgegengerufen; zwei Gensd’armen nahmen ihn fest. Er widersetzte sich nicht und ließ sich wegführen. In Verzweiflung starrte ihm Sebald nach; er rannte hinaus. Das Gewitter war noch nicht ganz vorüber, schwere Wolken hingen am Himmel; hier und da blitzte es noch. Mitten auf der Straße blieb er stehen und rang die Hände.

„Schrecklich, schrecklich!“ rief er mehrmals aus, „ich habe den Vater des Kindes verrathen, das mein guter Engel war, das allein nur Trost und Leuchte gewesen ist. Wenn sie es erfährt, wenn sie alles erfährt – ihr Vater ein Mörder, zum Tode verurtheilt, und ich sein Verräther! O, wenn ich nur das von ihr abwenden könnte! Es ist nicht auszudenken, welcher Jammer es wäre, wenn sie ihr Unglück hörte.“

Er wandte sich und lief dem Gefangenentransport nach; vor dem Gefängniß suchte er um die Erlaubniß nach, allein mit dem Verhafteten sprechen zu dürfen. Es wurde ihm leicht bewilligt. da man wußte, daß er die Anzeige von der Thäterschaft des Montafuners gemacht hatte, allein auch dieser hatte das in Erfahrung gebracht und sah in dem Eintretenden seinen Todfeind vor sich. Er hörte schweigend und regungslos zu, als Sebald ihn bat, seines Kindes im Verhör nicht zu erwähnen. damit es nicht die Schande zu erdulden habe.

„Schande?“ lachte er wild auf, „die Schande ist Dein, Du Judas. Ich habe mich gerächt an einem Schurken, und mein Kind soll es wissen, wer sein Vater ist, daß er ein Mann ist und denjenigen erschlagen hat, der an meinem und auch an ihrem Unglück schuld ist. Macht, daß Ihr fortkommt, Schreiber!“

„Nein,“ antwortete er, „ich lasse nicht ab, Dich zu bitten und zu ermahnen. Denk’ an Gott und bereue Deine Sünde!“

„Was Sünde? Pack Dich weiter!“

„Bedenke, daß Du ein unschuldiges Leben um seinen zeitlichen Frieden bringst. Deine That ist nicht zu verbessern; nach menschlichen und ewigen Gesetzen bist Du ein Mörder.“

[392] „Tropf Du!“ schrie der Gefangene und stieß die gefesselten Hände mit solcher Gewalt gegen die Brust des Schreibers, daß er ihn an die Mauer warf. Mit einem Aufschrei des Schmerzes sank dieser zu Boden.

Nun wollte der Wüthende noch weiter auf ihn eindringen, aber die Aufseher stürzten herein und befreiten den Blutenden von seinem Würger, der wie ein Rasender sich wehrte und kaum bezwungen und in festere Bande gelegt werden konnte.

Der Verwundete wurde zu einem Arzte gebracht.

Trotz der vorgerückten Nachtzeit hatte der Vorfall einige Leute herbeigezogen die voll Neugier und herumfragend ihre Muthmaßungen und Bemerkungen vorbrachten; denn man hatte aus dem Innern des Gefängnisses den besagen Streit und das Jammern des Verwundeten gehört. Schwer aufathmend lag der Gefangene in seiner Zelle, er, der sich noch vor einer Stunde so sicher geglaubt, er war nun gebunden den Folgen seiner That überliefert.

Stunden lang blieb er so in einer Art von Betäubung, stöhnend, sich verzweiflungsvoll auf dem Stroh herumwälzend; nach und nach kam die Besinnung, kam ein Gefühl von Reue über ihn. Sein Muth war gewichen; er gab sich auf, und den Mord zu leugnen fiel ihm nicht mehr bei; er wünschte nur noch, daß das ihm bevorstehende Urtheil bald vollzogen würde. In den dumpfen Zustand seiner Ergebung drängte sich bald der Gedanke an sein Kind; er erinnerte sich der Worte des Schreibers; er fühlte, daß dieser Recht habe. Das einzige Gute, das er im Leben noch thun könne, schien ihm: daß er des armen Kindes mit keiner Silbe erwähnte und durch nichts verrate, daß er dessen Vater sei.

„So muß es sein. Die Schande soll nicht auf sie kommen; ich kann mich nicht verteidigen; ich kann nichts bereuen, aber ich kann schweigen.“

In diesem Entschluß fühlte er sein Gewissen erleichtert, und er nahm sich fest vor, das Geheimniß mit in’s Grab zu nehmen

Er hielt Wort. In dem Verhör, das sogleich am nächsten Morgen statt hatte, gestand er seine Schuld unumwunden ein. Auf die Frage nach dem Beweggrund seiner That schwieg er anfangs, ließ sich jedoch später zu dem Geständniß herbei, daß er einen Act der Rache verübt, seinen ärgsten Feind, der es tausendfach an ihm verschuldet, aus der Welt geschafft habe. Weiteres war nicht aus ihm herauszubringen, und als man ihm mit körperlicher Bestrafung drohte, schwur er, lieber sich die Zunge abzubeißen als über sein Unglück noch ein Wort zu verlieren.

Einige Tage darauf fanden ihn die Aufseher, als sie den Kerker betraten, todt; er hatte seinem Leben auf furchtbare Weise ein Ende gemacht.

Sebald, dessen Verletzungen nicht tödtlich waren und der sich bereits außer Gefahr befand, hörte die Nachricht mit Entsetzen; die Vorwürfe in seinem Herzen erwachten mit erneuter Gewalt, und mit wahrer Seelenangst blickte er zu dem Mädchen auf, als sie kam, nur nach seinem Befinden zu fragen, aber in ihren Blicken lag nichts, als die Besorgniß nur ihn; keine Wolke trübte noch diese reine Stirn. Er wußte nun, daß der Unglückliche nichts verraten hatte. Die Strafe würde ihn doch früher oder später erreicht haben, sagte er sich, und wer weiß, wie er noch sein Kind mit in’s Verderben gezogen hätte.

Nach einigen Wochen war er so weit hergestellt, daß er nach Hause fahren und bei seiner Schwester der völligen Genesung entgegensehen konnte. Ehe er aber dazu kam, ward ihm die freilich nicht ungetrübte Freude zu Theil, von seiner Schülerin zu hören, daß sie aus der Stadt wieder in ihre zweite Heimath zurückgekehrt sei. Ihre Dienstherrschaft, die sich ihrer anfangs so warm angenommen, hatte ihre Theilnahme aufgegeben; es waren ihr seltsame Gerüchte über des Mädchens Herkunft zugetragen worden, und man fand darin eine hinreichende Ursache, sie auf anständige Weise loszuwerden, Mit Geschenken und unter den ehrenhaftesten Zufriedenheitsbezeigungen wurde sie in das Dorf zurückgebracht. Sebald reichte ihr die Hand zum Willkomm und unterdrückte die bittere Empfindung, die ihn beschlich, als er sie wieder der Armuth und Niedrigkeit anheimgegeben sah. Gedachte er erst all des Andern, was unterdeß geschehen, so hatte er Mühe, den Sturm in seinem Inneren zu beschwichtigen. Ihr Anblick bewegte ihn zu Thränen, aber er gelobte bei sich im Stillen, für sie zu sorgen.

Nach Verlauf einiger Tage war sein Befinden derart, daß er seinen Dienst wieder antreten konnte. Innige Freude überkam ihn, als der Anwalt ihm den vollen Gehalt einhändigte, ohne die Zeit seiner Krankheit in Abrechnung gebracht zu haben; dessen Warnung aber, daß er seine Gesundheit mehr als bisher schonen müsse, beachtete er keineswegs; er legte bald wieder nach wie vor den weiten, nicht immer unbeschwerlichen Weg im Winter wie im Sommer zurück und gönnte sich nur die geringste und ärmlichste Kost. Er sparte, aber nicht aus Geiz, nicht für sich – für sie kargte und entbehrte er. Bald war eine beträchtliche Summe, waren einige hundert Gulden zurückgelegt; sie sollten das Heirathsgut der Waise oder ihr Nothpfennig im Alter werden.

Mit stolzer Befriedigung sah er, wenn er Nachts spät von der Stadt zurückkam, nach ihrem erleuchteten Fenster hinauf; er wußte, daß sie noch las und schrieb; er war glücklich, die Keime der Erkenntniß und Bildung in ein empfängliches Gemüth gelegt zu haben. Aber Entbehrung und Mühsal zehrten an seinem Leben; oft fror ihn, daß er sich kaum erwärmen konnte; oft spürte er ein Stechen unter den Schultern; ein Hüsteln stellte sich ein, das immer wieder kam und schlimmer und schlimmer wurde. Mit dem Frühjahr erklärte der Arzt seiner Schwester, daß ihr Bruder an einer Brustkrankheit leide und unrettbar verloren sei. Sie und Veronika wichen bald nicht mehr von dem Krankenbette des treuen Sebald; Veronika war unermüdlich im Wachen, Vorlesen und Beibringen von lindernden und erfrischenden Mitteln; sie blieb auch in seinen letzten Tagen, was sie ihm stets gewesen war, ein gütiger Engel.

Als man ihn in die Erde gesenkt hatte, ließ sie über seinem Grabe ein schlichtes Denkmal aufrichten und da kam zuerst wieder jener Name zum Vorschein, den auch der majestätische Berg trug, der so hoch und stolz über die Kirchhofmauer hereinschaute auf den armen Namensvetter im kleinen Erdhügel, unter dem ein stillgewordenes, armes Menschenherz schlief.