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O Weihnacht, wo kein Kind im Haus

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Textdaten
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Autor: Otto Mehner
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Titel: „O Weihnacht, wo kein Kind im Haus! –“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 766–770
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[766]

„O Weihnacht, wo kein Kind im Haus! –“

Ein Wort für elternlose Kinder an kinderlose Ehegatten.

Zu den freiwilligen Pflichten, welche die „Gartenlaube“ im Laufe der Jahre auf sich genommen, gehört auch die nach zwei Seiten hin thätige, erstens armen Ganz- oder Halbwaisen zur Aufnahme bei kinderlosen Eheleuten, deren Verhältnisse dies gestatten, zu verhelfen, oder zweitens kinderlosen Ehegatten, die den Wunsch nach einem armen verwaisten Kinde aussprechen, die Erfüllung desselben möglich zu machen. So einfach beide Aufgaben auf den ersten Blick aussehen, so große Verantwortlichkeit ist, bei näherer Betrachtung, mit ihnen verbunden, und da der Verfasser dieser Zeilen seit längerer Zeit in der Ausführung dieser freiwilligen Aufgaben mancherlei Erfahrungen gesammelt hat, hält er es im Interesse der guten Sache für geboten, einmal darzulegen, nach welchen Grundsätzen vorgegangen werden muß, soll das Liebeswerk für Eltern und Kinder ein gedeihliches sein.

Daß die Erfüllung dieser Pflicht bis jetzt eine gesegnete Thätigkeit gewesen ist, beweisen uns die Zuschriften solcher Eltern, die durch Vermittelung der „Gartenlaube“ Kinder erhalten haben. Nicht nur die Waisen, die meist aus Armuth und Noth heraus in das Behagen eines geordneten Hausstandes, an das Herz liebender, für deren körperliches und geistiges Wohl sorgender Eltern, in günstige Ernährungsverhältnisse kommen, pflegen in der Regel aufzublühen in Frische und Gesundheit wie Feldblumen, die aus dürrem Boden in das fette Erdreich des fruchttragenden Gartens kommen, auch die Eltern sind hochbeglückt; sie haben einen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Liebesstrebens gewonnen, einen Gegenstand, dem sie ihre Sorge widmen können, namentlich von dem Augenblicke an, wo sie sehen, wie das angenommene Kindchen die treue Liebe durch Gegenliebe und Anhänglichkeit vergilt, wie es sich geistig und körperlich entwickelt. So schreibt uns ein Herr auf unsere Anfrage, ob ihm das Töchterchen, das wir ihm am Sylvesterabend 1879 in’s Haus brachten, auch Freude bereite: „Ob Röschen uns Freude macht? Wenn nur jene Leute, die vor der Annahme eines Kindes so wählerisch sind, wüßten, wie viel Freuden und welch hohe Genüsse sie sich durch ihr Zögern entziehen, dann wären längst viel mehr Kinder untergebracht. Wir würden Alles leichter vermissen, als unser liebes, liebes Röschen.“ Und ein anderes Ehepaar, das in selbstloser, hingebendster Liebe sich eines zwölfwöchentlichen Kindes erbarmte, schreibt: „Nun, lieber Herr, nehmen Sie die Versicherung, daß uns das unternommene Liebeswerk noch nicht gereut, und der liebe Gott wird helfen, daß wir es auch später nicht bereuen. Wohl macht es Mühe und Sorge und schlaflose Nächte, aber die Liebe, die wir zu der kleinen Martha haben, die wiegt ja Alles auf, ja noch mehr, wir haben sie so lieb, als ob sie unser eigenes Kind wäre.“ Ein dritter Menschenfreund am Rhein, der sich vor Jahren eines Pärchens, Bruder und Schwester, erbarmte, schreibt: „Die Kinder entwickeln sich recht gut; beide nehmen körperlich und geistig zu, sind recht brav und machen viele Freude.“ Und ein vierter Herr schreibt: „Gott sei Dank, wir haben ein Kind gefunden, ein Kind in uns seine Eltern. Und was für Gefühle sind’s, die unser Herz bewegen, [767] seitdem wir dieses Kind unser nennen dürfen; sie sind unbeschreiblich!“

So könnten wir noch viele Mittheilungen bringen, die alle voll sind der Beschreibung des Glückes, welches der Besitz eines Kindes gewährt.

Wer so gute Erfolge veranlaßt und gesehen, dem liegt der Wunsch nahe, die gute Wirkung, das wahrhaftige Seelenheil dieser Kinder- und Elternverbindung zu möglichster Ausbreitung zu bringen. Dieses Ziel im Auge, will ich, wie oben angedeutet, hiermit darzulegen versuchen, nach welchen Grundsätzen dabei bisher verfahren worden ist und wohl ferner auch verfahren werden muß.

Die Kinder, Voll- oder Halbwaisen, die wir zur An- und Aufnahme anbieten sollen, müssen geistig und körperlich völlig gesund und wohlgebildet sein. Die Confession der Kinder kommt bei uns nicht in Frage; nur wird stets darauf Bedacht genommen, daß womöglich Pflege-Eltern und Kinder gleicher Confession sind.

Wenn ein Elternpaar das Schicksal trifft, ein armes unglückliches Kind, das geistig und körperlich gebrechlich ist, zu erhalten, so ist es das eigene Kind, das ja wunderbarer und rührender Weise von den Elternherzen mit um so höherer Liebe umfaßt und gepflegt wird, je unglücklicher dasselbe an sich ist. Dieser Fall, kann aber auf Adoptiveltern keine Beziehung finden.

Da die Eigenart der Eltern sich zum Theil auf die Kinder mit überträgt, wenn auch die Erziehung auf die Anlage ihren verwandelnden Einfluß ausübt, so ist es nöthig, daß die Eltern der Waisen, die uns zur Versorgung übergeben werden, nicht nur geistig und körperlich gesund waren, sondern daß sie auch, wenn schon arm, sich doch recht und schlecht in Ehrbarkeit durch’s Leben zu schlagen suchten. Es muß nachgewiesen werden können, daß die Eltern ohne Verschulden in Armuth gerathen sind, und bei Halbwaisen, daß der überlebende Theil nicht im Stande ist, die Kinder ohne Schaden für sie selbst zu erziehen. Auch auf die Kinder solcher Unglücklichen, die mit eigener Hand den Lebensfaden durchrissen, muß sich die Aufmerksamkeit der Waisenversorgung erstrecken.

Noch haben wir eines schwierigen Punktes zu erwähnen, es ist der der „ledigen Kinder“. Wir können unmöglich die Versorgung solcher unglücklichen Kinder, die bei der Geburt meist schon Waisen, mindestens vaterlose Waisen sind, von vornherein Ablehnen. Sobald sich Eltern finden, die vorurtheilsfrei genug sind, sich eines solchen armen Kindes anzunehmen, werden wir die Letzten sein, die in falscher sittlicher Entrüstung diese Kinder lieber dem Elend preisgeben, anstatt ihnen die helfende Hand zu bieten.

Am nöthigsten ist die Versorgung von Vollwaisen, die der Armencasse einer Gemeinde zur Last fallen. Ist ein Waisenhaus gut geleitet und eingerichtet, das heißt ist das Familienprincip vorherrschend, so kann es ja Gutes leisten. Aber nur sehr große Gemeinden sind im Stande, entsprechend eingerichtete Waisenhäuser zu gründen und zu unterhalten. Kleinere Gemeinden müssen sich begnügen, vater- und mutterlose Kinder in Pflege oder, wie der landläufige Name sagt, in „Ziehe“ zu geben. Häufig sind die armen Kinder dann nur dazu da, Brod mit erwerben zu helfen. Das Kind hat da in der Regel eine trostlose Gegenwart und meist eine noch schrecklichere Zukunft.

Daß vater- und mutterlose Waisen bei der Versorgung zuerst berücksichtigt werden müssen, steht außer allem Zweifel: es gelingt diese auch gewöhnlich weit eher, als bei Halbwaisen. Gemeinlich wird auf Kinder, deren Vater noch lebt, wo der erwerbende Theil, der Eltern also noch für die Kinder sorgen kann, nur dann Rücksicht genommen, wenn der Vater durch Krankheit dauernd erwerbsunfähig ist.

Anders ist es mit vaterlosen Kindern, besonders dann, wenn deren mehr als vier vorhanden und wohl auch diese zum Theil noch klein sind. Die arme Mutter ist nicht im Stande, das tägliche Brod zu erwerben und zugleich die Kinder zu erziehen. Mangel, Entbehrung und Ordnungslosigkeit ist das Loos solcher armen Halbwaisen. Da wird zu helfen gesucht, sobald man kann. Doch ist dies ohne schwere Opfer der Mütter nicht möglich.

Erstens muß die Mutter auf Rücknahme des Kindes verzichten, da jedes Elternpaar das angenommene Kind zu seinem eigenen erziehen will; zum andern muß die Mutter weiterer Einwirkung auf das Kind sich enthalten, denn das Kind soll eben die Pflege-Eltern als die seinen, als die wirklichen Eltern lieben und sich ihnen anschließen lernen. Man hat gesagt, es sei zu viel verlangt, daß sich eine Wittwe von ihrem Kinde ganz trennen solle. Schwer ist’s gewiß; aber im Interesse der Erziehung und der Zukunft ihrer Kinder wird eine gute Mutter selbst das Schwere auf sich nehmen und im belauschenden Anblick des Gedeihens ihrer Lieben Beruhigung finden.

Zu Eltern eines armen Waisenkindes eignen sich am besten solche Ehegatten, denen entweder eigene Kinder versagt, oder die geschenkten Kinder wieder gestorben sind, und die keine Hoffnung haben, selbst wieder mit Kindern beglückt zu werden. Nur in sehr seltenen Fällen werden angenommene Kinder die rechte Liebe erfahren, wenn eigene Kinder da sind, und doch bedürfen jene der wärmsten Liebespflege.

Es versteht sich wohl von selbst, daß Eltern, die ein solches Liebeswerk ausführen wollen, pekuniär so gestellt sind, daß sie ohne Beschwerde die Opfer, die damit selbstredend verbunden sind, tragen können. Unsere Kinder besitzen gewöhnlich nur das, was sie auf dem Leibe tragen. Es müssen die Kosten der Ueberführung oder Abholung, oft wegen der großen Entfernung ziemlich bedeutend, getragen werden, es will Wäsche, Kleidung, Schuhwerk, Bett u. dergl. m. besorgt sein.

Sollte das Kind Ursache einer Beschränkung in der gewöhnlichen Lebensweise, in den gewöhnlichen Genüssen werden, so fällt schon ein Reif auf die aufsprießende Liebe der Eltern, und gar oft tödtet der anklopfende Mangel als ein kalter Nachtfrost die ersten Blüthen. Ferner müssen unsere Eltern gemüthvoll, gütig und liebevoll sein. Nicht so, daß sie das Kind fortgesetzt mit den zärtlichsten Namen rufen, alle Wünsche desselben erfüllen, sondern so, daß sie die Verlassenheit des verwaisten Kindes selbst empfinden und dem Kinde das Gefühl beibringen, daß innige Liebe und herzliche Zuneigung Alles leitet und Alles bestimmt, was dem Kinde gut ist und was es erfährt. Darum ist vor Allem die aus solcher Liebe hervorgehende Geduld nöthig. Es ist richtig, jedes Kind hat seine Fehler und muß erzogen werden. Kinder aber, die vielleicht längere Zeit ohne richtige Erziehung waren, haben natürlicher Weise mehr Fehler, als solche, die von der ersten Stunde ihres Daseins an ohne Unterbrechung in folgerichtiger Zucht gestanden hatten. Die Erziehung solcher Kinder erfordert eine um so größere Geduld.

Nicht minder ist es aber auch nöthig, daß die Eltern den Ernst der Strenge zu rechter Zeit walten lassen. Wo nicht liebender Ernst und unter Umständen auch strenge Zucht waltet, kommt ein solches Kind vom Regen unter die Traufe. Es ist auch ganz gut, daß die Kinder nicht als vollkommene Wesen übernommen werden. Die Erziehung, die Abgewöhnung mancher Fehler, die Gewöhnung zu allem Guten ist neben der körperlichen Pflege in ihrem Erfolge sehr oft ein besonders festhaltender Kitt inniger Liebe zwischen Pflegekind und Eltern. Weiter müssen unsere Eltern sich völlig der Schwierigkeiten bewußt sein, die mit der „Annahme eines Kindes für immer“ verbunden sind. Denn wer ein Kind durch die Waisenversorgung der „Gartenlaube“ bekommt, erhält es für immer und kann es nicht nach Belieben zurückgeben. Es ist schon Elend genug, in Armuth und Noth aufwachsen zu müssen; das Elend wird aber unerträglich, wenn ein Kind, nachdem es die Annehmlichkeiten eines behaglichen Hausstandes, das Glück einer geordneten Ernährungs- und Erziehungsweise kennen gelernt hat, wieder zurückgestoßen werden soll in die uranfängliche Noth. Darum ist es auch völlig unthunlich, Kinder auf Probe in die suchende Familie zu geben.

Es ist nichts Leichtes, ein fremdes Kind als das seine mit hingebender Liebe und opferwilliger Zuneigung an sein Herz zu ziehen, und Alle, die durch unsere Vermittlung ihren Wunsch erfüllt erhielten, werden bezeugen, daß es ihnen nicht leicht gemacht worden ist. Es erfordert eben die Annahme und Erziehung eines fremden Kindes fast eine größere Liebe, Geduld und Hingebung, als die Erziehung eigener Kinder, und wer sich darüber nicht klar ist und nicht in sich die Kraft zu solcher Hingabe fühlt, mag lieber das schöne Werk nicht beginnen. Besonders gilt dies von den Müttern. Der Vater kommt immer nur in Frage bei Anforderungen an den Geldbeutel; die Mutter aber, die den ganzen Tag sich des Kindes annehmen, selbst bisweilen die Nachtruhe opfern muß, kommt mit ihrer persönlichen Kraft in Frage. Also ein überwallendes Gefühl, eine auflodernde Sehnsucht, [768] ein Kind zu besitzen, reicht nicht aus; nur die eingehendste Selbstprüfung und der durch diese gewonnene Entschluß in nachhaltiger Dauer kann maßgebend sein für die Befähigung zur Annahme eines Kindes.

Viele Anerbietungen haben wir auch schon zurückweisen, bezüglich unberücksichtigt lassen müssen, weil die Bedingungen, unter welchen sich die Eltern erboten, ein Kind anzunehmen, unerfüllbar waren. Wo es sich um Ausführung eines Liebeswerkes handelt, sollte man wahrlich nicht so wählerisch sein. Die Eltern, die wenig Ansprüche machten, haben seit langer Zeit ihre Wünsche erfüllt erhalten, und wir wissen, daß sie glücklich sind. Am stärksten ist Nachfrage und Wunsch nach Mädchen im Alter von zwei bis vier Jahren. Aber das Alter thut es wahrlich nicht. Wir haben ältere Mädchen versorgt und haben die glänzendsten Nachrichten. Kinder allerdings, die bald aus dem schulpflichtigen Alter austreten, würden wir überhaupt nur in seltenen Fällen empfehlen, weil diese bald in die Lage kommen, selbst zu sehen, wo sie bleiben. Es ist wahr, Kinder in frühem Alter gewöhnen sich leichter an die Eltern; aber es liegt die Erfahrung hinter uns, daß Kinder von sechs bis acht Jahren gar bald sich einrichteten und selbst ihre frühere Umgebung völlig vergaßen.

Oft wird von den Eltern Schönheit und guter Charakter als Bedingung ausgestellt. Abgesehen davon, daß sich der Charakter eines Kindes in dem jugendlichen Alter noch gar nicht bestimmen läßt, daß er besonders anerzogen werden muß, so ist auch das Verlangen nach Schönheit ein sehr fragwürdiges. Wenn ein Kind nicht häßliche, abschreckende Gesichtszüge hat, warum es deshalb, weil es nicht dem Ideal von Schönheit entspricht, das man sich gebildet hat, dem Elend überlassen? Wo bleibt dann die Liebe? Eben darum ist kein so schweres Gewicht zu legen auf den Umstand, daß das Kind gebildete Eltern gehabt habe, das heißt Eltern, die den höheren Gesellschaftskreisen angehört haben. Es ist keineswegs immer in solchen Kreisen die beste Erziehung oder sagen wir besser Gewöhnung, dagegen steckt in Kindern armer Eltern, aus sogenanntem niederen Stande häufig eine solche Fülle geistiger Kraft, daß es blos der Liebe bedarf, um diese zur schönsten Blüthe sich entfalten zu lassen.

Diejenigen unserer Leser, welche sich für die Waisensache interessiren, werden gewiß gern einen Einblick in die Technik der Versorgung armer Waisen thun wollen, deshalb müssen wir schließlich, dem hier Dargelegten noch einige Zeilen hierüber anfügen.

Wer Waisen kennt, die in Gefahr stehen, körperlich, geistig oder sittlich zu verkümmern oder zu Grunde zu gehen, kann sich um Versorgung derselben an uns wenden. Hierauf erhält der Antragsteller einen Fragebogen unter Kreuzband und ist der Fragebogen ganz genau ausgefüllt mit thunlichster Beschleunigung an den unterzeichneten Vertrauensmann zurückzusenden. Er dient dazu, ein verhältnißmäßig klares Bild über die zu versorgenden Waisen zu erlangen. Deshalb ist unbedingt nöthig, daß die größte Offenheit, Treue und Genauigkeit bei Ausfüllung des Fragebogens waltet. Wir müssen eben, sollen wir etwas thun können, reinen Wein eingeschenkt erhalten. Wünschenswerth ist, wenn irgend möglich, die Uebersendung der Photographie jedes einzelnen Kindes. Daß alle Nachrichten nach allen Seiten hin discret behandelt werden, liegt auf der Hand und braucht nicht erst versichert zu werden.

Auf Grund des ausgefüllten Fragebogens, der bezüglichen Briefe und der Photographien machen wir nun den Eltern, die sich an uns um Ueberlassung einer anzunehmenden Waise gewandt haben, unsere Vorschläge. Ehe jedoch dies geschieht, werden eingehende Erkundigungen auch über diese Eltern eingezogen, da es wahrlich keine kleine Sache ist, über das Schicksal eines Kindes zu verfügen. Ist die Ueberzeugung gewonnen worden, daß der nachsuchenden Familie ein Kind zu Nutz und Frommen beider Theile anvertraut werden kann, so wird der Vorschlag gemacht, und wird dieser acceptirt, so ist dem Kinde und den Eltern geholfen. [770] Auf demselben Gebiete thätiger Nächstenliebe haben die Gründer der deutschen Reichsfechtschulen durch Ankauf und Einrichtung des Reichswaisenhauses zu Lahr einen glänzenden Erfolg zu verzeichnen. Das Reichswaisenhaus zu Lahr, das die „Gartenlaube“ in Nr. 27 dieses Jahrgangs in Wort und Bild dargestellt hat, ist jedoch nur für Knaben bestimmt. Richtig ist es allerdings, daß speciell die Knaben zur Erziehung in geschlossenen Waisenhäusern oder ähnlichen Instituten, welche dem Internatsprincip huldigen, besser geeignet erscheinen, als die Mädchen, deren Erziehung vorzugsweise in’s Haus, in die Familie gelegt werden sollte.

Wünschenswerth wäre allerdings, daß auch die Knaben in Familien untergebracht wären, sodaß die Waisenhäuser mehr den Charakter von Waisenstationen annähmen, in welchen die Waisen so lange in Pflege genommen würden, bis eine anderweite Versorgung in einer guten Familie sich ermöglichte, wie dies z. B. in Leipzig der Fall ist. So lange man aber die armen Waisen gegen ein entsprechendes Entgelt in sogenannte „Ziehe“, womöglich, wie in manchen Dorfgemeinden, an den Mindestfordernden vergiebt, werden immerhin die Waisenhäuser, in rechter Weise geleitet, von tüchtigen Pädagogen geführt, die nicht nur die wissenschaftliche und praktische Befähigung, sondern auch Herz und Liebe für diese Erziehung der Waisen besitzen, den Vorzug haben, und deshalb begrüßen wir die Errichtung des Reichswaisenhauses mit großer Freude, weil dadurch eine einheitliche Erziehung der Kinder erreicht wird. Wir dagegen haben die Versorgung der Waisen in wohlhabenden Familien auf unser Panier geschrieben.

Da wir nun in den neun Jahren unserer Thätigkeit die Erfahrung gemacht haben, daß von der großen Mehrzahl der kinderwünschenden Ehepaare Mädchen der Vorzug gegeben, fast nur ausnahmsweise nach Knaben gefragt wird, so können wir nun um so freier unsere Hauptbestrebungen auf die Versorgung von Mädchen richten, sobald die Lahrer Anstalt uns die uns angemeldeten Knaben abnehmen kann. Ausgeschlossen ist es jedoch durchaus nicht, daß wir auch Knaben, so oft uns die Gelegenheit dazu geboten wird, dem Glück des Familienlebens zuführen.

Um aber unsere bisherige Einzelwirkung zu einer großen Gesammtthätigkeit zu erheben, ist es dringend nöthig, daß ein Zusammenschaaren aller für die Versorgung armer Waisen begeisterten und für deren Gelingen interessirten Kräfte stattfinde. „Vereinte Kräfte führen zum Ziel“ ist auch unser Wahlspruch. Ein Zusammenhalten vieler Menschen für denselben Zweck ist nöthig, um unablässig Ehepaare, die im Stande sind, sich in Liebe und Erbarmung armer Waisen anzunehmen, auf diese Bestrebungen aufmerksam zu machen, aber auch um in den weitesten Kreisen von dem Nothstand armer Waisen Kenntniß zu erlangen.

Es ist nun vor Allem festzustellen, in welcher Weise eine Vereinigung wohldenkender Menschen zum angedeuteten Zwecke gebildet werden kann.

Zunächst ist es nöthig, daß sich ein Kern von Kinderfreunden bilde, der sich durch Werbung und Anschluß von Gesinnungsgenossen fortgesetzt vergrößert und über ganz Deutschland ausbreitet. Es würde also ebenso wie die Reichsfechtschulen der ganze Verein sich gliedern müssen in Provinzial- und Ortsgruppen. Die Gründung von Waisenstationen zum Zwecke der Behütung der Kinder bei plötzlicher völliger Verwaisung und der Verpflegung derselben bis zur Versorgung in Familien wäre durch freiwillig, nach eigener Abschätzung zu gewährende Unterstützungen eine weitere Nothwendigkeit.

Diese wenigen Andeutungen genügen natürlich nicht, um auch den Weg anzuzeigen, auf welchem die Ausführung des Gedankens einer „allgemeinen deutschen Waisenversorgung in der Familie“ zu ermöglichen sei. Wir haben dies in einem Programm versucht, dessen Abdruck hier nicht möglich war, das aber durch die Redaction der „Gartenlaube“ und den Unterzeichneten Jedem zu Gebote steht, welcher die Sache genauer prüfen und, wenn das Herz zustimmt, auch die Hand zur Durchführung reichen will.

Möge der Segen, dessen wir uns bisher erfreut, bei dem Werke bleiben, wenn auch unser Wunsch, daß allen armen deutschen Waisenkindern sich die Arme liebender Pflege-Eltern öffnen möchten, zu groß und zu schön sein sollte, um ganz in Erfüllung zu gehen.[1]

Otto Mehner, 
Schuldirector in Burgstädt bei Chemnitz.     

  1. Alle Anmeldungen von Kindern und Eltern sind an die Redaction der „Gartenlaube“ zu richten, welche mit ihrem Vertrauensmann in dieser Wohlthätigkeitssache in fortwährendem Verkehr steht.