Pariser Bilder und Geschichten/Tage des Schreckens

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Autor: Ludwig Kalisch
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Titel: Pariser Bilder und Geschichten
Tage des Schreckens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 162–165
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Pariser Bilder und Geschichten.


Tage des Schreckens.


Von Ludwig Kalisch.


Die Rue de la Roquette ist gewiß eine der interessantesten Straßen von Paris. Sie erstreckt sich von Westen nach Osten, vom Bastilleplatze bis zum Boulevard Montménil; allein sie hat nicht in allen Theilen dieselbe Physiognomie. Wenn man vom genannten Platze in diese Straße tritt, wird man versucht, sie für ein Ghetto zu halten. Sie ist eng und schmutzig und das Pflaster stets schlüpfrig, da hier die Sonne mit ihren Strahlen geizt. Die Häuser sind größtentheils niedrig, jedoch mit geräumigen Höfen versehen. In diesen Höfen herrscht vom frühesten Morgen bis zum späten Abende die regsamste Thätigkeit. [163] Schwere, wuchtige Schläge fallen auf den Ambos; die Blasebälge schnauben; die Dampfmaschinen ächzen und krächzen und aus den Schloten qualmen dichte Rauchwolken, die bei Regenwetter sich als flüssiger Ruß auf die geschwärzten Häuser senken und dieselben noch dunkler färben. Hier befinden sich Blei-, Zink-, und Bronzegießereien, Glashütten, Tapetenfabriken, zahlreiche Werkstätten der Holzschnitzer, Elfenbeindrechsler, Marmorschleifer und Ciselirer. Dieser volkreichste aller Pariser Stadttheile wird fast ausschließlich von der Arbeiterclasse bewohnt. Hier herrscht die Blouse vor, die man nicht gern in den eleganten Stadttheilen sieht; denn die schwieligen Hände, die in ruhigen, friedlichen Zeiten die geschmackvollen Gegenstände verfertigen, welche als „Articles de Paris“ nach allen Enden der Welt versendet werden, um die Kamingesimse oder die Nipptische zu zieren, dieselben Hände greifen in Zeiten der Aufregung schnell zur Waffe und legen sie nicht ebenso schnell nieder.

Ist man etwa zehn Minuten lang durch diese Straße gewandert, so befindet man sich auf einem weiten Platze, von dem sich, rechts bis zur Place Saint Antoine und links bis zum Chateau d’Eau, der unter der Herrschaft Napoleon’s des Dritten und des Herrn Haußmann neu angelegte Boulevard du Prince Eugène mit seinen prachtvollen Häusern ausdehnt. Auf diesem schönen Platze befindet sich die Mairie des elften Arrondissements. Wie der Boulevard selbst trug dieser Platz früher den Namen des Prinzen, dessen Bildsäule auf einem granitenen Sockel vor der Mairie stand. Nach dem Sturze des zweiten Empire wurde der Name Eugène durch den Namen Voltaire verdrängt. Die Statue des Prinzen ward entfernt und an deren Stelle die Bildsäule des Philosophen von Ferney aufgerichtet. Am Fuße derselben ließ die Commune an einem Aprilmorgen die Guillotine, oder wie man dieses Instrument beschönigend nennt: die „bois de Justice“ feierlichst verbrennen. Dieser Verbrennungsproceß hatte dieselben Folgen wie der Scheiterhaufen, auf welchem im Jahre 1848 der Thron Louis Philipp’s in Asche verwandelt worden. Der Thron des Bürgerkönigs ward nämlich bald darauf durch einen andern, durch einen Kaiserthron ersetzt; und so sind auch die verbrannten „Hölzer der Gerechtigkeit“ längst durch eine neue Guillotine ersetzt, welche im Dienste der rächenden Justiz schon rechtschaffen gearbeitet hat.

Was nun die Bildsäule Voltaire’s betrifft, so ist ihr während des Kampfes der Commune der unterste Theil des Rückens durch eine Bombe zerschmettert worden. Man hat das beschädigte Werk vom Sockel gehoben und, nachdem es ausgeflickt war, in dem Jardin Monge am linken Seine-Ufer aufgestellt. Im Quartier latin ist Voltaire’s Statue auch mehr an ihrem Platze. Da man jedoch den Prinzen Eugène nicht wieder aufgerichtet, so steht jetzt der granitene Sockel ohne Bildsäule.

Wir legen diesen Platz zurück und befinden uns in der Fortsetzung der Rue de la Roquette, die sanft aufsteigend einen andern, viel kleineren, mit Platanen bepflanzten Platz durchschneidet. Es ist dies der Platz de la Roquette, der allen Parisern einen Schauder einflößt. Hier finden nämlich die Hinrichtungen statt. Das hohe Thor, das wir rechts in der Mauer erblicken, führt zum Gefängnisse gleichen Namens, und etwa zehn Schritte vor dem Thore bemerken wir am Boden fünf weiße Quadersteine. Auf diesen Steinen wird das Gerüst mit dem Fallbeile errichtet.

Haben wir diesen düstern Platz hinter uns, so erblicken wir zu beiden Seiten der Straße in fast ununterbrochener Reihe große und kleine Magazine und Schuppen, in welchen Grabsteine, Kreuze, Immortellenkränze und sonstige Gegenstände verkauft werden, mit denen der Ueberlebende die Ruhestätten seiner theuren Hingeschiedenen schmückt. Die Straße de la Roquette, die am Bastillenplatze, im Mittelpunkte des Pariser Volkslebens, beginnt, mündet nämlich in den Boulevard Montménil, zwanzig Schritte vor dem Thore des Père Lachaise, wo alles Leben aufhört und Groß und Klein, Jung und Alt, Hoch und Niedrig den ewigen Schlaf schlafen.

In der Rue de la Roquette, in den Seitenstraßen und auf dem Père Lachaise wurde der letzte Kampf der Communards mit den Versaillern gekämpft. In diesem blutigsten aller Bürgerkriege wurde selbst der Schlummer der Todten nicht geschont; denn zwischen den Gräbern hatten die Communards eine Batterie aufgepflanzt, die unaufhörlich Verderben und Zerstörung auf die Stadt schleuderte.

Abwesend von Paris, hatte ich die Schilderungen dieses gräßlichen Kampfes mit um so größerer Angst gelesen, als einer meiner besten Freunde damals in der Straße de la Roquette, und zwar in der Nähe der Bastille, wohnte. Es ist dies ein polnischer Gelehrter, der mit seiner Gattin, einer gutmüthigen, lebhaften Rheinländerin, und zwei Knaben in stiller Zurückgezogenheit lebt. Ich wußte nicht, ob er während der Belagerung und der Herrschaft der Commune in Paris geblieben und was aus ihm geworden war. Ich entschloß mich daher, bei meiner Rückkehr nach Paris seine Wohnung aufzusuchen. Indessen entschwanden mehrere Wochen, bevor ich diesen Entschluß auszuführen vermochte. Ich traf die Familie wohlbehalten, wenn auch etwas bleich und abgemagert, an. Sie hatten Paris keinen Augenblick verlassen, und Mann und Frau versicherten, daß die Belagerung trotz aller Entbehrungen, die sie ihnen verursachte, trotz des Mangels an Feuerung in dem ausnahmsweise strengen Winter, trotz der allerdürftigsten und fast ungenießbaren Nahrung, die unmittelbar vor der Capitulation nur aus Kleienbrod und dürrem Obst bestand, kaum einen Eindruck in ihnen zurückgelassen; denn die Erinnerung an alle Noth und alle Leiden während jenes Winters sei verwischt worden durch den entsetzlichen Kampf, der in ihrer Straße, der vor ihrer Thür gewüthet, und durch die schauderhaften Scenen, die er in ihrem Hause und selbst in ihrer Wohnung veranlaßte.

Ich bat meinen Freund, als ich mit ihm allein war, mir etwas von seinen Erlebnissen mitzutheilen, und er begann:

„Während der Woche, in welcher die Versailler einen Stadttheil nach dem andern den Communards entrissen, lebten wir in beständiger Angst, da wir wußten, daß die Katastrophe in unserer nächsten Nähe stattfinden und wie viel Blut sie kosten würde. Schon der fünfundzwanzigste Mai sollte uns von Dem, was uns erwartete, einen Vorgeschmack geben. Trotz meiner Ermahnungen wollte sich meine Frau, muthig und entschlossen, wie sie ist, nicht abhalten lassen, über den Bastillenplatz zu gehen, um einige Einkäufe für die Haushaltung zu machen.

‚Heute kann ich noch den Gang thun,‘ sagte sie; ‚morgen ist es gewiß schon zu spät. Ich bin ein Weib. Niemand wird mir ein Leid zufügen. Ich gehe nur nach der Rue St. Antoine und bin bald wieder zurück.‘

Sie nahm den Korb und ging.

Aber eine Stunde nach der andern verging, und sie kam nicht. Mich hielt’s nicht mehr in der Wohnung. Ich ermahnte meinen ältern Jungen, seinen Bruder zu überwachen, und begab mich auf den Bastillenplatz, wo rings umher furchtbare Barrikaden aufgerichtet waren. Kaum war ich dort angelangt, als ich auf einige Communards stieß. Einer von ihnen hielt mich sogleich fest.

‚Was treiben Sie sich hier müßig herum ?‘ rief er. ‚An die Barrikaden!‘

‚Ich kann keine Barrikaden machen,‘ erwiderte ich.

‚Die Barrikaden sind längst gemacht Sie werden dieselben vertheidigen helfen, statt hier herumzulungern!‘

‚Ich bin ein Gelehrter,‘ sagte ich.

‚Die Gelehrsamkeit wird Sie nicht verhindern, auf unsere Feinde zu schießen,‘ entgegnete er.

‚Ich habe Weib und Kind,‘ rief ich in Verzweiflung.

‚Wir haben ebenfalls Weib und Kind,‘ schnaubte er mich an und fügte hinzu, indem er mir den Lauf des Gewehrs vor die Brust hielt: Ich schieße Sie nieder, wenn Sie nicht ruhig stehen bleiben. Man wird Ihnen ein Chassepot geben, und Sie werden mit uns kämpfen. Kein Wort mehr!‘

Er hatte kaum das letzte Wort gesprochen, als ich meinen Namen rufen hörte. Mein Weib stürzte herbei und wollte mich den Händen des Communards entreißen. ‚Ich bin seine Gattin,‘ fuhr sie ihn an, indem sie sein Gewehr bei Seite stieß. ‚Es ist feige, einen friedfertigen Familienvater, der als Ausländer sich nicht in Euern Bürgerkrieg mischen will, zum Kampfe zwingen zu wollen.‘

Ein Officier, der einige Schritte von uns mit gekreuzten Armen schweigend der Scene zugesehen, kam nun herbei und sagte zu dem Communard: ‚Lassen Sie ihn los!‘

Der Communard gehorchte mit finsterm Gesichte.

[164] Der Officier begleitete uns nun bis fast an unsere Wohnung. ‚Sie sind ein Pole?‘ fragte er mich.

Ich nickte bejahend

‚Ich habe es an Ihrer Aussprache des Französischen sogleich bemerkt,‘ sagte er. ‚Ich bin ebenfalls Pole. Sie, wie Ihre Gattin haben unklug gehandelt, sich so weit von Ihrem Hause zu entfernen. Verlassen Sie dasselbe nicht mehr, bis der Kampf zu Ende ist! Das Ende wird schrecklich sein. Adieu!‘

In unserm Zimmer angelangt, fiel meine Frau erschöpft in einen Sessel. Sie hatte sich verspätet, da man sie in dem Laden, wo sie Einkäufe gemacht, aus Furcht vor der ihr bevorstehenden Gefahr durchaus zurückhalten gewollt. Wir nahmen uns jetzt vor, den Rath des Officiers zu befolgen und das Unvermeidliche in unseren vier Pfählen geduldig und ergebungsvoll abzuwarten.

Am folgenden Tage, Freitag, wurde bereits in den benachbarten Vierteln gekämpft, und man rüstete sich in unserer Straße zum äußersten Kampfe. Gegen Abend brachte uns eine Arbeiterin aus der Nachbarschaft einen achtjährigen Knaben und bat uns, demselben ein Obdach zu geben.

‚Der Junge ist ein Idiot,‘ sagte sie. ‚Seine Mutter ist während der Belagerung gestorben; sein Vater ist seit einigen Tagen verschwunden. Vielleicht hat er die Flucht ergriffen; vielleicht ist er auf den Barrikaden gefallen. Kein Mensch weiß es, und die arme versimpelte Creatur hat Niemand, der sich ihrer annimmt; denn Jedermann ist in diesem Augenblicke nur mit sich selbst beschäftigt. Ich würde den Knaben gern zu mir nehmen; allein ich weiß noch nicht, wo ich die Nacht zubringen werde; denn in dieser Straße mag ich nicht länger bleiben. Die Angst reißt mir die Nerven entzwei. Sie sind ein Ausländer, ein Gelehrter; Sie haben nichts zu fürchten. Sie sind auch als Menschenfreund bekannt; darum wende ich mich an Sie. Erbarmen Sie sich des unglücklichen Geschöpfes und lassen Sie mich nicht unverrichteter Dinge von Ihnen scheiden!‘

Ich sah meine Frau fragend an.

‚Wie kannst Du noch zögern, Anton?‘ rief sie. ‚Ich würde keinen Hund vor die Thür stoßen, geschweige ein armes, verlassenes, unschuldiges Kind.‘

Ich drückte ihr die Hand.

Die Arbeiterin entfernte sich unter Thränen der Dankbarkeit und mit dem Versprechen, nach beendigtem Kampfe den Kleinen abzuholen.

Wir gaben dem Jungen, der uns mit seinen großen Augen gleichgültig anstarrte, zu essen und bereiteten ihm ein Nachtlager im Schlafkämmerchen meiner Kinder.

Wir thaten die ganze Nacht kein Auge zu. Am frühen Morgen begann der Kampf auf dem Bastilleplatz und zog sich immer näher, immer näher herbei. Die Kanonen donnerten; die Gewehre knatterten, und dazwischen vernahm man ein dumpfes Heulen und Schreien. Wir hielten uns still in der Schlafstube, die auf den Hof geht. Hier wimmelte es von Communards, die ab- und zuliefen und entschlossen waren, die Barrikade an der Ecke der Rue Keller, schrägüber von meinem Hause, auf’s Aeußerste zu vertheidigen. Meine Frau hatte Mühe, die Kinder zurückzuhalten, die, von Neugierde gedrängt, in’s Vorderzimmer gehen wollten, um auf die Straße zu blicken. Was den armen Simpel betrifft, so sprach er kein Wort; aber er lachte hell auf und sprang lustig in die Höhe, so oft er einen Kanonenschuß hörte.

Nach der Mittagsstunde schlug man sich bereits in unserer Straße. Der Kampf entspann sich um die Barrikade in der Rue Keller. Das Geschrei, das Geheul der Kämpfenden, das Krachen und Klirren eingeschlagener Thüren und Fenster zerfleischte fast unser Ohr. Wir glaubten, der jüngste Tag sei gekommen. Da hören wir Waffengeräusch auf der Treppe, und nach einem Augenblicke stehen sechs Versailler vor uns. Meine Frau hatte schnell die beiden Kinder in die Arme gefaßt, und nachdem ich alle Drei in die Küche zurückgedrängt, näherte ich mich den Soldaten, um ihnen zu erklären, daß ich nicht zu den Communards gehöre. Indessen bevor ich noch den Mund öffne, sagte der Anführer derselben: ‚Fürchten Sie nichts, mein Herr! Es wird Ihnen kein Leid geschehen. Wir kommen, um aus den Fenstern des Vorderzimmers die Straße von den Communards zu säubern und sie an der Flucht hinter die Barrikade zu hindern.‘

Es war dies ein junger Mensch mit schönen Gesichtszügen und schwarzen Augen, ein Marseiller, wie er mir sagte.

Ich folgte den Soldaten in’s vordere Zimmer. Sie öffneten die Fenster und schickten sich an, die Chassepotläufe aus denselben zu stecken.

‚Ist es nicht fürchterlich, ist es nicht entsetzlich,‘ fragte ich den Marseiller, der den Hahn seines Gewehrs spannte und vorsichtig aus dem Fenster lugte, ‚auf Menschen wie auf wilde Bestien zu zielen?‘

‚Man zielt auch auf uns, und wir sind ebenfalls keine wilden Bestien,‘ erwiderte er; ‚doch entfernen Sie sich vom Fenster!‘ setzte er hinzu, indem er anlegte, ‚es ist hier nicht –‘

Er konnte den Satz nicht vollenden. Eine Kugel war ihm in die rechte Schläfe gefahren. Ohne einen Seufzer auszustoßen, sank er todt zu meinen Füßen nieder und tränkte den Boden mit seinem Blute.

‚Es war eine von den weiblichen Furien, die ihn getödtet,‘ sagte einer der Soldaten, der eine hellrothe Schramme auf der Stirn hatte. ‚Sie hat sich in einen Durchgang geflüchtet.‘

Ich ging in die Küche zurück und berichtete meiner Frau von dem Vorgefallenen. Sie drückte die Kinder fester an sich und beschwor mich, bei ihr zu bleiben. Ich blieb eine Weile bei ihr; dann ging ich wieder in’s Vorderzimmer. Die Soldaten sagten mir, daß die Barrikade in der Rue Keller genommen und daß vom Bastilleplatze bis dorthin der Aufstand völlig besiegt sei. Sie verlangten ein Glas frisches Wasser und versprachen, den todten Cameraden womöglich in der ersten Abendstunde abzuholen. Sie blieben noch etwa zwei Minuten. Ich hörte nun von ihnen, daß der Gefallene Armand Meunier heiße, in der Schlacht bei Sedan mitgefochten und bis zum Friedensschluß als Gefangener in Deutschland gewesen; in vierzehn Tagen würde er seinen Urlaub angetreten haben.

‚Er war ein braver Soldat und hat ein besseres Loos verdient,‘ sagte einer von ihnen.

Ich athmete auf, als sie sich verabschiedeten.

Meine Frau und Kinder zitterten am ganzen Leibe. Sie hatten beim Oeffnen der Thür den Leichnam im Blute gesehen. Ich bedeckte diesen mit einem Teppiche und schloß die Thür ab.

Wir waren nun auf das Schlafzimmer und das Kinderzimmerchen beschränkt, was bei der schwülen Witterung lästig genug war. Wir hatten zwar noch eine Dachkammer; allein das Dach war von eingefallenen Bomben zerschmettert. Indessen hofften wir, daß sie bald den todten Cameraden abholen würden; allein schon war die Dämmerung eingetreten und Niemand ließ sich sehen. Im Hause herrschte Todesstille. Die männlichen Bewohner desselben waren nämlich sämmtlich Communards und hatten sich entweder geflüchtet, oder waren noch im Kampfe auf den Barrikaden in der Nähe des Père Lachaise begriffen. Selbst der Hausmeister, der Concierge, welcher sich ebenfalls den Communards angeschlossen, war verschwunden. Das Haus blieb also unbewacht.

Inzwischen war die Nacht herangenaht, und wir mußten endlich die Hoffnung aufgeben, den Leichnam vor dem folgenden Tage entfernt zu sehen. Meine Frau und Kinder wollten keinen Bissen zu sich nehmen und gingen zu Bett. Die Ruhe war ihnen in der That mehr Bedürfniß als die Nahrung. Den kleinen Gast aber nahm ich mit mir in die Küche, wo ich ihm sein Lager bereitete. Ich selbst setzte mich auf den Küchenherd, auf welchem ich die ganze Nacht schlaflos verbrachte. Die Nacht war schrecklich genug; denn man schlug sich jetzt auf dem Père Lachaise, auf den Gräbern und zwischen den Gräbern, deren Blumenschmuck statt des Thaues der Mainacht das Blut der Erschlagenen trank. In dieser schlaflosen Nacht hatte ich Augenblicke, in welchen ich an der Menschheit verzweifelte.

Als die Morgenröthe anbrach, war der Kampf zu Ende. Allein das Tödten hörte darum nicht auf. Was sich von den flüchtenden Communards blicken ließ und wer als Communard nur einigermaßen verdächtig war, wurde ohne Weiteres niedergeschossen und zwar ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters. Auf den entsetzlichen Kampf folgte die entsetzliche Rache der Sieger. Besonders waren an der Umfassungsmauer des Père Lachaise an jenem Sonntagmorgen die Chassepotgewehre in fortwährender Thätigkeit.

[165] Meine Frau konnte das Bett nicht verlassen. Sie hatte das Fieber. Ich wußte mir nicht zu helfen und zu rathen. Unsere Wohnung, schon sonst eng genug und nun um das größere Zimmer vermindert, wo die Leiche lag, ward unerträglich. Wir waren nahe daran zu ersticken. Und was sollte ich mit dem Leichnam anfangen? Ich durfte mich nicht aus dem Hause wagen, da ich die Meinigen nicht allein lassen wollte und außerdem das Auge beständig auf dem armen Cretin haben mußte. Ich war der Verzweiflung nahe. Endlich kamen gegen zehn Uhr Morgens vier Versailler, um den todten Cameraden abzuholen. Unter denselben befand sich der mit der Schramme. Zwei von ihnen nahmen den Leichnam auf ihre Schultern; die zwei anderen folgten mit ihren Gewehren. Kaum aber waren ihre Schritte auf der Treppe verhallt, als ich einen Lärm vor meiner Hausthür vernahm. Ich hatte die Fenster geöffnet und sah ein Weib in der Uniform der Nationalgarde. Sie hatte sich in einem der benachbarten Höfe versteckt und sollte nun erschossen werden. Es war eine schlanke Gestalt von stolzer Haltung; doch sah sie schrecklich aus. Ihr Gesicht war von Pulver geschwärzt und ihre bestaubte Uniform hing in Fetzen. Drei Mann mit gestreckten Gewehren begleiteten sie auf dem Gange, von dem sie niemals zurückkehren sollte. Sie war just vor meinem Hause angelangt, als man den Leichnam aus demselben trug, und wurde sogleich von dem Soldaten mit der Narbe erkannt.

‚Schießt sie nieder! Schießt sie auf der Stelle nieder, die Megäre!‘ rief er wüthend. ‚Ich erkenne sie. Sie hat dem Armand Meunier die Kugel in den Kopf gejagt.‘

Die Gefangene hatte sich bis jetzt ruhig und unbeweglich gehalten; als aber der Soldat den Namen des Getödteten nannte, stieß sie einen solchen Schrei aus, daß es Allen durch Mark und Bein fuhr. Sie wollte sich auf die Leiche stürzen. Man stieß sie mit den Kolben hinweg.

‚Es ist mein Bruder, mein armer Bruder Armand,‘ rief sie, ‚und ich, ich habe ihn getödtet!‘

Sie warf in ihrer Verzweiflung das Käppi vom Kopfe und zerraufte sich das Haar, das ihr nun aufgelöst über die Achseln fiel. ‚Brudermörderin! Furie! Ungeheuer!‘ schrie es durcheinander, und ein Soldat hob den Kolben in die Höhe, um ihr den Schädel zu zerschmettern. Seine Cameraden hielten ihn davon ab.

Die Einen gingen nun mit der Leiche nach dem Boulevard Richard Lenoir; die Andern führten, oder richtiger, schleppten das Weib nach der Rue Keller.

Bald tönten von dort her einige Schüsse. Das Drama war zu Ende.

Ich sagte meiner Frau nichts von dieser schrecklichen Scene, die kaum so lange gedauert, als ich sie Ihnen erzähle. Erst einige Tage später hat sie dieselbe von einigen Nachbarinnen erfahren.

Ich hatte nun, da mir Niemand an die Hand ging, den Fußboden von den Blutflecken zu säubern, und verbrachte einen Theil des Tages mit dieser gräßlichen Beschäftigung. Als ich Nachmittags auf die Straße ging, um ein Brod zu holen, sah ich, daß die Leichen noch nicht gänzlich fortgeschafft waren. Sie trugen eben einen todten Jungen herbei, den einzigen Sohn unserer Gemüsehändlerin. Er war gestern mit einem Gewehre singend durch die Straßen gegangen und hatte der Nachbarschaft gesagt, daß er sich gegen die Versailler schlagen würde, wie ein Mann. Er schlug sich und fiel auf einer Barrikade in der Rue Servan am Roquetteplatze. Er war noch nicht sechszehn Jahre alt. Das war ein Sonntag, den ich niemals vergessen werde. Es war für mich der schrecklichste jener Schreckenstage, und ein Schauder und ein Grauen erfaßt mich, so oft ich an denselben zurück denke.“ –

„Und was ist aus dem schwachsinnigen Knaben geworden?“ fragte ich.

„Wir behielten ihn noch eine Woche lang nach dem Ende des Kampfes,“ sagte mein Freund, „und erwarteten mit nicht geringer Sehnsucht die Arbeiterin; denn wir wußten nicht, was wir mit ihm anfangen sollten. An die Polizeibehörde uns zu wenden, schien uns nicht rathsam, da wir fürchteten, dadurch dessen Familie und vielleicht auch uns einem gefährlichen Verdacht auszusetzen, jedenfalls aber widerwärtige Untersuchungen zu veranlassen. Endlich traf die Arbeiterin ein. Sie sagte uns im Vertrauen, daß der Vater des Knaben noch lebe, sich aber versteckt halte und gewiß erschossen würde, wenn man ihn entdeckte. Sie nahm den Knaben zu sich und ernährt nicht nur ihn, sondern auch dessen Vater. Wer dieser Mann ist und wo er sich verbirgt, wissen wir nicht und wollen es auch nicht wissen.“