Ἀείζωον[1] (quoniam vireat semper, Plin. n. h. XXV 160. Diosc. de mat. med. IV 88. Hesych.: φυτὸν ἀειθαλές), sempervivum, sedum, sesuvium bei Opilius Aurelius (Festus p. 343), zur Familie [479] der Crassulaceen (Dickblätter oder Fettpflanzen) gehörig, war Collectivbezeichnung für Fetthenne, Mauerpfeffer, Hauslauch, Hauswurz. Theophrasts Äusserungen über das Ἀ. sind spärlich: Es hat fleischige (h. pl. I 10, 4), glatte und längliche Blätter, bleibt immer saftig und grün und wächst auf den Ebenen am Meere, desgleichen an Mauern und selbst auf Ziegeln, wenn daselbst zufällig etwas sandiges Erdreich zusammengeschwemmt ist (h. pl. VII 15, 2). Hiernach bezieht Sprengel den Namen Ἀ. auf das auf Mauern in und um Athen häufige Sempervivum tenuifolium Sibth. (vgl. Smith Prodr. fl. graec. I 335), Dierbach (Flora mythol. 214) auf Sedum heptapetalum Poiret, während Fraas (Synops. plant. fl. class. 135) schwankt, ob er Sedum amplexicaule Cand. oder Sempervivum tectorum L. für Theophrasts Pflanze halten soll. Sicherlich zog man bei der leidigen Unsicherheit der antiken Nomenclatur den Namen auch bald auf verwandte Arten über, wie aus Dioskorides hervorgeht, der sogar eine τηλέφιον-Art τρίτον εἶδος ἀειζώου nennt (ΙV 89). Plinius unterscheidet von A. (n. h. XXV 161) zwei Arten: die grössere (sedum magnum) wird über eine Elle hoch und dicker als ein Daumen. Ihre Blätter sind an der Spitze zungenähnlich, dabei fleischig, fett, saftreich und von der Breite eines Daumens. Einige Blätter wenden sich nach unten, andere nach oben, so dass sie augenförmige Kugeln bilden. Hiervon hiess die Pflanze auch „Ochsenauge“, „Tierauge“ oder kurzweg „Auge“ (Plin. XXV 160, wo noch andere Bezeichnungen angegeben sind). Ganz ähnlich lautet die Beschreibung des grossen Ἀ. bei Dioskorides (IV 88). Übereinstimmend mit Plinius (XXVII 14) giebt er an, dass es auch in irdenen Gefässen auf Dächern gezogen werde; frei komme es namentlich in bergigen Gegenden vor. Entweder ist das μέγα Ἀ. auf Sempervivum arboreum L. (hauptsächlich auf den Inseln des aegaeischen Meeres und Cypern) zu deuten (Fraas l. l. 135 Diosc. tom. II p. 614 Sprengel) oder auf Sempervivum tectorum L. Diese Pflanze heisst noch jetzt in Italien semprevivo maggiore und wächst daselbst allenthalben auf Mauern, Dächern, Felsen und Bergen (Lenz Bot. d. a. Gr. und R. 602). Die kleinere, ebenfalls in Italien und Griechenland häufige Art (Sedum acre L. oder sedum rupestre s. reflexum L.?; vgl. Diosc. tom. II p. 615 Sprengel; jetzt semprevivo minimo) des Ἀ. hiess nach Plin. XXV 160 auch erithales, trithales, chrysothales oder isoetes. Sie wächst auf Mauern, Felsen, Wänden und Dachziegeln, ist von der Wurzel an buschig und hat schmale, spitzige, saftreiche Blätter und zarte Stengel von der Höhe einer Spanne (9–12 Zoll); vgl. Diosc. IV 89. Über die zahlreichen (über 60) Arten des sedum bezw. sempervivum vgl. Leunis Synopsis II. Teil³ II. Bd. § 478 und S. 236. Anm. 14. Billerbeck Flora class. 114. 121. Die Verwendung des Ἀ. in der Heilkunde war wegen der allen Arten angeblich innewohnenden kühlenden und zusammenziehenden Kräfte (Plin. XXV 162) eine vielseitige: man brauchte teils die frischen, zerquetschten Blätter, teils den ausgepressten Saft gegen mit Fieber auftretende Katarrhe (Plin. XXVI 32), Augengeschwüre, zum Aufweichen klebriger Augenlider, gegen Kopfschmerzen, [480] zur Bekämpfung der schlimmen Wirkungen der giftigen Wolfswurz und des Bisses giftiger Spinnen, als Schutzmittel gegen Scorpionenbiss (Plin. XXV 163), ferner gegen rote Hautentzündungen (z. B. Rose), alle möglichen Geschwüre (Plin. XXVI 145), Augenentzündungen, Brandwunden, Podagra (Plin. XXVI 101), Durchfall (Plin. XXVI 45), Eingeweidewürmer, zur Stillung übermässigen Blutverlustes bei der monatlichen Reinigung, gegen das Triefen der Augen. Diosc. IV 88. Gal. XI 815; vgl. X 951. XI 740. 751. Ferner fand das Ἀ. Verwendung gegen kranke Brüste bei Frauen (Plin. XXVI 163), gegen Nasenbluten (Plin. XXVI 131), Gürtelrose (Plin. XXVI 121), Schlaflosigkeit (Plin. XXVI 101), Verhärtungen (Plin. XXVI 127), Ohrenschmerzen (Plin. XXV 164) u. s. w.; vgl. auch Plin. XXVI 129. 137. In der Landwirtschaft schätzte man das Ἀ. wegen des reichlichen Saftes, der sich mühelos aus seinen Blättern drücken lässt. Mit diesem durch Wasser etwas verdünnten Safte wurden alle Getreide- oder sonstigen Samen kurz vor der Aussaat befeuchtet, eine Nacht stehen gelassen und alsdann gesät. Auf diese Weise präparierte Saat blieb gefeit gegen alle Beschädigung durch Würmer, Raupen, Erdflöhe und sonstiges die Wurzeln durchfressendes Ungeziefer. Diese Vorschrift stammte von Demokrit. Plin. XVIII 159. Colum. II 9, 10. X 356. XI 3, 61. 64. Plin. XIX 179. 180. Geopon. II 18, 1. XII 7, 3. 20, 4. Pallad. de r. r. I 35, 3. X 3, 2. Auch legte man getrocknete Blätter des Ἀ. auf die Gerste oder sonstige Getreidehaufen, um alle Schäden fernzuhalten und die eingesammelten Körner besser zu conservieren. Geopon. II 27, 6. 30, 2. Für die Mythologie ist das Ἀ. dadurch von Bedeutung, dass Glaukos nach dem Genusse dieses wunderreichen Krautes von ekstatischer Raserei ergriffen sich ins Meer stürzt, wo er fortan als Gott haust. Es wird in diesem Mythus dem Ἀ. ganz deutlich eine an das homerische μῶλυ erinnernde belebende bezw. Unsterblichkeit verleihende Wirkung zugeschrieben; wenn also Ovid (met. VII 232) das griech. Ἀ. mit vivax gramen übersetzt, so scheint er Ἀ. causativ (= immerwährendes Leben hervorbringende, belebende Pflanze) aufgefasst zu haben. Doch muss hervorgehoben werden, dass verhältnismässig nur wenige alte Quellen die Pflanze, von der Glaukos ass, wirklich mit Ἀ. bezeichnen: zwei Aischylosfragmente aus dem Γλαῦκος Πόντιος bei Bekk. Anecd. I 347 (fr. 28 und 29 Nauck²). Athen. XV 679a. Tzetz. Lycophr. 754 τὴν δὲ βοτάνην, ἧς ἐγεύσατο (sc. Γλαῦκος), φασί τινες ἀείζωον εἶναι, während die meisten nur ganz allgemein von πόα, βοτάνη, ἀθάνατος βοτάνη, herba, immortales herbae, gramen, gramina sprechen; vgl. Serv. Georg. I 437. Palaeph. de incred. 27. 28. Paus. IX 22, 7. Auson. Mos. 277. Ov. met. XII 936. 941. Claudian de nupt. Honor. et Mar. 158. Schol. Ap. Rhod. I 1310. Möglich, dass die ἀείζωος πόα des Glaukos erst später mit dem Hauslauch identificiert wurde. Roscher Nektar und Ambrosia 32. Bergk in den Jahrb. f. Philol. 1860, 385, 75. Gaedechens Glaukos der Meergott 33ff. Lobeck Aglaoph. II 866. Meineke Anal. Alex. 238f. Roscher Lex. I 1679. Dierbach [481] Flora myth. 214. Murr Die Pflanzenw. i. d. gr. Myth. 212. Grimm Deutsche Kinder- und Hausmärchen III 26. Auch im Mythos eines anderen Glaukos, des Sohnes des Minos und der Pasiphaë, begegnet uns ein ähnliches (oder das gleiche?) Zauberkraut; vgl. Apollod. III 3, 1 (ποία). Tzetz. Lyc. 811. Hyg. fab. 136. Roscher Lex. I 1687. Ob das Ἀ. deswegen auf den Dächern der Häuser gehegt wurde, weil man sich davon eine blitzableitende, die Gewitter fernhaltende Wirkung versprach, ist nicht mit Bestimmtheit zu erweisen, doch nicht unmöglich. Festus p. 343 vgl. mit Plin. XXV 160: nascitur in suggrundiis (auf den Wetterdächern). Ein Herleiten des Wortes sedum von sedare (sc. tempestatem) ist natürlich wissenschaftlich ausgeschlossen – Vaniček (Etym. W. 1011) erklärt sĕdum (sădum) als „aufsitzend, d. h. platt auf der Erde wachsend“ zur Wurzel sed (sad) „sitzen“ –, doch haben wir eine immerhin beachtenswerte Volksetymologie vor uns, der ein im Norden noch jetzt fortlebender Volksglaube zu Grunde liegt; vgl. Leunis a. O. 230 Anm. 3.